Cover

1.

 

Missmutig sah er aus dem Fenster. Schon wieder musste er umziehen.

Wie viele Städte würde er noch sehen müssen? Wann würde er endlich einen Ort finden, an dem er bleiben wollte? Wie lange würde er noch suchen müssen, bis er einen Menschen fand, der ihn an einem Ort hielt?

 

Was ist da los?", fragte Derek. Ächzend rollte er sich auf die Seite und wäre beinahe vom Bett gefallen.

"Da zieht jemand ein", brummte ich vom Schreibtisch aus. "Aber ist doch egal! Du hast gesagt, du hilfst mir bei der Hausaufgabe!"

Mein bester Freund stöhnte. "Da geh ich von zu Hause weg, damit ich meine Hausaufgaben nicht machen muss – und dann soll ich deine machen!"

"Je eher du mir hilfst, desto schneller sind wir fertig", stellte ich fest und Derek fügte sich seufzend seinem Schicksal.

"Also, gib das Teil schon her", wies er mich an und ich warf ihm den Papierflieger zu, den ich aus meinem Arbeitsblatt gebastelt hatte.

Mein bester Freund las sich das Gedicht schnell durch, dann drückte er es mir in die Hand. "Also, schau. Hier bei der Aufgabe sollst du sagen, was er mit bestimmten Wendungen sagen will", erklärte er mir.

"Ja, danke. Ich kann lesen", brummte ich.

Derek verdrehte nur die Augen. "Soll ich dir jetzt helfen, oder nicht?", stellte er die Frage, die unweigerlich hatte kommen müssen und ich hielt lieber den Mund.

"Also schau. Er sagt ja: Das Gedicht ist mein Messer, und damit will er den Menschen - "

"Töten!", rief ich dazwischen.

" - auffordern, etwas zu tun", vollendete Derek seinen Satz.

Ausdruckslos sah ich ihn an. Was sollte ich denn mit einer solchen Information anfangen?

"Aufschreiben!", meinte Derek ungeduldig und tippte auffordernd auf das Blatt.

Achso. Okay! Das war vielleicht sinnvoll.

Ich setzte den Stift auf, überlegte kurz und fasste schließlich Dereks ohnehin schon kurze Erklärung noch etwas zusammen.

"Weißt du was?", meinte ich, nachdem ich die nächste Aufgabe gelesen hatte.

"Vergiss es. Ich mach das später irgendwann. Aber nicht jetzt!" Demonstrativ pfefferte ich meinen Stift auf den Schreibtisch. Versehentlicher Weise so fest, dass dieses Plastikteil, mit dem man den Kugelschreiber irgendwo feststecken konnte, abbrach.

"Toll gemacht!", tadelte mich Derek, doch er grinste dabei. "Also, was machen wir jetzt?" Doch bevor ich irgendetwas sagen konnte, hatte er bereits die Musik, die bisher nur im Hintergrund gelaufen war, auf volle Lautstärke aufgedreht und sang mit. Laut und nicht immer ganz richtig, aber das war egal.

Grinsend sah ich ihm dabei zu, wie er durchs Zimmer sprang, während er immerwieder auf einem nichtvorhandenen Schlagzeug herumhämmerte.

Doch plötzlich hämmerte es unten gegen die Haustür.

"Wer ist das?" Derek hielt in seinem Gezappel inne, um mich fragend anzusehen. "Die anderen sind alle nicht daheim. Hast du noch mehr Freunde, von denen wir nichts wissen?!" Er grinste leicht.

Doch ich zuckte nur die Schultern. "Ich hab keine Ahnung, wer das sein könnte", antwortete ich wahrheitsgemäß.

Nachdenklich verließ ich mein Zimmer, ging den Flur entlang, die Treppe hinunter. Mittlerweile war aus dem Klopfen ein Sturmklingeln geworden und mein Kopf begann, leicht zu schmerzen.

"Was?", fauchte ich daher, als ich die Haustür aufriss.

"Guten Tag", grüßte mich ein Mann. "Mein Name ist Jens. Meine Familie und ich ziehen nebenan ein. Und ich hätte ein Anliegen an Sie."

Sagte er Sie zu mir? Ich konnte es nicht ausstehen, wenn man Sie zu mir sagte. Da kam ich mir immer so alt vor.

"Und zwar?", fragte ich ziemlich unfreundlich.

"Wäre es möglich, diesen Lärm abzustellen?"

"Hä?" Verständnislos sah ich ihn an. Keine Ahnung, wovon er sprach.

"Man sagt nicht ", erklärte Jens. "Und ich spreche von der Musik."

Das konnte man ja auch nicht einfach sagen!

Abschätzend musterte ich den Mann. Er trug einen schwarzen Designeranzug, darunter ein weißes Hemd. Seine braunen Haare waren auf einen Mittelscheitel gekämmt. An seinem Hals waren rote Flecken und auch sein Gesicht hatte eine unnatürliche Farbe. Er wirkte ziemlich gestresst – vermutlich kein Wunder, wenn man mitten in einem Umzug steckte.

Ich mochte ihn nicht.

"Also? Wäre es möglich, diese unerträgliche Musik leiser zu machen?"

Ein Spucketröpfchen landete auf meiner Lippe und ich wischte es so auffällig wie möglich weg.

"Also, erstens Mal ist das keine unerträgliche Musik, sondern das sind die Ärzte und wundervolle Musik! Und zweitens wohnen Sie noch nichtmal dadrüben und schon wollen Sie Ansprüche stellen?! Solange ich Sie nicht wirklich damit belästige, werde ich die Musik auch nicht leiser machen! Willkommen in der Nachbarschaft!" Charmant lächelte ich ihn an und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Einen Moment lang war nichts zu hören, doch dann drang die Stimme des Mannes durch das Holz der Tür.

"Das wird ein Nachspiel haben! Sobald ich deinen Vater oder deine Mutter sehe, werde ich sie über dein Betragen informieren!"

Ich biss mir auf die Lippe. In mir brodelte es. Am liebsten hätte ich die Tür wieder aufgerisssen und ihn angeschrien, dass er endlich abhauen sollte, doch plötzlich lenkte etwas an der Treppe meine Aufmerksamkeit auf sich.

Da stand Derek und sah mich fragend an. Ich verdrehte nur die Augen in Richtung Tür. Mein bester Freund verstand sofort, was ich meinte.

Zumindest glaubte ich das. Doch plötzlich fing er an, sein Hemd aufzuknöpfen und das ließ mich doch sehr daran zweifeln, dass er verstanden hatte, was ich ihm hatte sagen wollen.

"Geh weg", wies er mich schließlich an, als er sein Hemd ausgezogen und es neben die Treppe geworfen hatte.

"Wie sehe ich aus?", fragte er, nachdem ich ihm aus dem Weg gegangen war.

"Wie immer?!", antwortete ich. Was war denn das für eine dämliche Frage? Ich hatte das Gefühl, nicht ganz zu verstehen, worauf er hinauswollte.

"Hm..." Derek verwuschelte sich die Haare noch mehr, dann öffnete er die Tür.

Noch immer stand mein neuer Nachbar auf der Schwelle und schimpfte wie ein Rohrspatz.

Als er jetzt jedoch meinen besten Freund vor sich hatte, halb nackt und mit zerzausten Haaren, verschlug es ihm glatt die Sprache.

"Würden Sie vielleicht die Güte besitzen, uns beide wieder allein zu lassen?", bat Derek betont freundlich und setzte ein strahlendes Lächeln auf.

Ich musste mich arg beherrschen, mir nicht die Hand vor den Mund zu schlagen, als ich begriff, was er hier tat. Es war schwer, sich das Lachen zu verkeifen.

Der Mann mit dem roten Kopf sah von meinem besten Freund zu mir und wieder zurück.

"Ich – äh – okay. Ich – natürlich", stotterte er und drehte sich noch während er redete um, um zu gehen.

Derek schlug die Tür zu und grinste mich an. "So macht man das!", erklärte er, hob sein Hemd vom Boden auf und zog sich wieder an.

"Du bist unmöglich", lachte ich. "So prüde wie der Kerl wahrscheinlich ist, hast du dem gerade den Schock seines Lebens verpasst!"

"Tja, Jo, damit muss er rechnen, wenn ein hübsches junges Mädchen die Tür aufmacht und weit und breit keine Eltern zu sehen sind." Er legte mir einen Arm um die Schultern und wich geschickt dem Stoß in den Magen aus, den ich ihm verpassen wollte.

"Wenn’s doch wahr ist", grinste er und zog mich die Treppe wieder nach oben, der dröhnenden Musik entgegen.

Hätte man die Stereoanlage noch lauter aufdrehen können, dann hätte ich es sofort getan, nur um den Menschen nebenan zu ärgern, doch leider hatte Derek schon auf volle Lautstärke aufgedreht gehabt.

"Wer war das eigentlich?", erkundigte sich Derek schließlich, nachdem er sich wieder aufs Bett hatte fallen lassen.

Grinsend setzte ich mich auf meinen Schreibtisch und stellte meine Füße auf dem Stuhl ab. "Der neue Nachbar. Anscheinend ist er nicht allein gekommen, sondern hat auch noch eine Familie mitgebracht!"

"Nein!", rief Derek gespielt geschockt und sah mich mit schreckgeweiteten Augen an.

"Du bist so scheißdämlich, das gibt’s gar nich!", grinste ich und warf das erstbeste nach ihm, das griffbereit dalag. Mein Matheheft.

Er revanchierte sich, indem er mir ein Kissen ins Gesicht warf.

"Passen Sie doch gefälligst besser auf!", tönte es plötzlich von draussen.

Neugierig standen Derek und ich auf und sahen aus dem Fenster. Da unten stand Jens und schrie einen armen Möbelpacker an. Leider konnten wir nicht mehr verstehen, was er schrie, denn die Pause zwischen den zwei Liedern war vorbei. Und wenn wir leiser gemacht hätten, dann hätten wir nur der Forderung des Mannes entsprochen.

Dieser schrie den Möbelpacker-Mann weiterhin an und ich begann mich zu fragen, was der Mensch wohl verbrochen haben musste, um einen solchen Zorn auf sich zu ziehen.Gespannt beobachteten wir das Szenario. Der Möbelpacker schien nicht zu wissen, was er sagen wollte. Er stand einfach nur da und sah Jens ziemlich verdattert an. Wirklich schlimm konnte es also nicht gewesen sein, was er getan hatte.

"Oh Gott! Schau dir mal die an!", lachte Derek plötzlich los und kippte beinahe rückwärts von der kleinen Bank, auf der wir knieten.Ich folgte seinem ausgestrecktem Arm und fing ebenfalls an zu lachen. Da gesellte sich eine Frau zu den beiden Männern. Die blonden Haare zu einem strengen Knoten gebunden, in einem knielangen rosa Rock, gleichfarbigem Pullover unter dem eine weiße Bluse zu sehen war.

Ich mochte sie nicht.

"Ich mag sie nicht", pflichtete Derek meinen Gedanken bei. "Die sehen furchtbar aus!"

Bestätigend nickte ich. "Hoffen wir nur, dass sie kein Kind haben. Stell dir mal den armen Jungen – oder das arme Mädchen – vor, das mit solchen Eltern aufwachsen musste!"

Mein bester Freund grinste zustimmend, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck jedoch. "Allerdings...vielleicht ist das Kind ja genauso schlimm." Einen Augenblick lang schien er zu überlegen, schließlich meinte er: "Nein, eigentlich widersprechen sich die Aussagen nicht."

"Achtung, es geht weiter!", meinte ich und schlug ihm gegen die Brust, damit er aufhörte zu reden und wieder aus dem Fenster sah.

Gespannt widmeten wir unsere Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf der Straße.

Die Frau legte gerade beruhigend die Hände an die Brust ihres Mannes und wandte sich an den Möbelpacker. Ihr Mund ging zwar nicht ganz so weit auf, wie der ihres Mannes, während sie mit ihm sprach, doch es war offensichtlich, dass auch sie ziemlich laut wurde.

Irgendwie hatte ich das plötzliche Bedürfnis, nach draussen zu gehen und die beiden auch anzuschreien. Auch, wenn der Möbelpacker sich sicherlich auch gut selbst verteidigen konnte.

"Ich würd sie gern schlagen", brummte ich leise vor mich hin.

Derek nickte lachend. "Ich verstehe, was du meinst."

Ja schön. Der Junge war ein Genie! Was gab es denn an meiner Aussage nicht zu verstehen?

"Ich bezweifle, dass du das tust", tat ich meine Gedanken kund. Den verwirrten Blick, den er mir zuwarf, ignorierte ich.

Anscheinend hatten sie den Möbelmenschen jetzt genug niedergemacht, denn er durfte tatsächlich gehen und seine Arbeit verrichten.

"Was denkst du, hat er gemacht?", fragte Derek.

"Vielleicht den drehbaren Schreibtischstuhl falschrum aufgestellt?", schlug ich schulterzuckend vor.

Einen Moment lang grinste Derek, dann fielen ihm die Mundwinkel nach unten.

"Verdammt!", fluchte er. "Ich muss nach Hause!"

"Dann sehen wir uns nicht mehr bis nächste Woche?", fragte ich betrübt.

Er schüttelte den Kopf.

Wieso musste seine dämliche Klasse bitte Klassenfahrt haben, hm?! Und wieso musste dieser Depp mitfahren?! Er konnte doch auch einfach zu Hause bleiben.

Aber andererseits gönnte ich es meinem besten Freund, dass er mitfuhr. Schließlich musste er sich ständig um seine sechs kleinen Geschwister kümmern. Auch jetzt musste er nur nach Hause, um auf sie aufzupassen. Also war es nur gut, wenn er sich eine Woche erholen konnte.

"Grüß deine Geschwister von mir, ja?", lächelte ich, während wir uns auf den Weg nach unten machten.

Keine Ahnung wieso, aber seine Geschwister liebten mich. Vorallem seine kleinste Schwester.

"Besonders Mitja, jaja", winkte er ab. Ich grinste. Dieses Gespräch führten wir jedes Mal, wenn er nach Hause ging, um den Stall Kinder zu hüten. Und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihm nach den ersten zehn Mal zu blöd geworden war und er nur noch behauptete, er würde es seinen Geschwistern ausrichten.

"Und pass auf dich auf; der Weg nach Hause ist lang."

Irgendwie ja nicht, es waren zu Fuß nur zehn Minuten.

"Ja und du pass auf, dass dir der Typ nebenan nicht noch am ersten Tag die Polizei auf den Hals hetzt", grinste Derek.

"Mal schauen – vielleicht lass ichs ja noch draufankommen", grinste ich.

Er zeigte mir nur den Vogel, anschließend verschwand er zur Haustür hinaus.

"Bis nächste Woche", rief er mir noch zu und winkte. Ich winkte zurück, solange, bis er das Gartentor hinter sich geschlossen hatte und hinter der Hecke verschwunden war.

Toll. Und was machte ich jetzt noch den restlichen Tag? Eigentlich hätte ich ihn ja begleiten können. Dann hätte er durchschnittlich nur drei Kinder gehabt, die ihm den letzten Nerv rauben konnten. Aber daran hatte ich wieder nicht gedacht.

Plötzlich bemerkte ich einen Jungen, der von der anderen Straßenseite in meinen Garten hereinsah.

"Gibt’s ein Problem?", brüllte ich, so laut, dass er es ganz sicher hören musste. Er hörte es auch. Ohne ein Wort zu erwidern, zog er den Kopf ein und verschwand aus meinem Blickfeld.

Er hatte eine Lederjacke getragen. Und soweit ich es hatte erkennen können, hatte er kleine braune Locken gehabt, die in alle Richtungen vom Kopf abstanden.

Wieso konnte es nicht er sein, der nebenan einzog? Wieso mussten es solche Spießer sein?!

 

Er hatte sie gesehen. Sie war perfekt. Hätte sie nichts gesagt, hätte er ewig stehen bleiben können – sie nur ansehen. Sie war das, was er gesucht hatte.Und jetz, wo er sie gefunden hatte, würde er sie nicht mehr gehen lassen. Jetzt musste sie ihn nur noch bemerken...

 

"Jo?"

"Derek?" Erstaunt trat ich in den Garten hinaus, ging meinem besten Freund ein paar Schritte entgegen. "Was machst du hier?", wollte ich wissen.

"Meine Mutter ist doch zu Hause", erklärte er grinsend. "Und deswegen bin ich wieder hier!"

"Yay!", machte ich, wenig begeistert – nur um ihn zu ärgern.

Doch ohne sich wirklich für mein begeistertes Gesicht zu interessieren, ging er an mir vorbei und betrat einfach mein Wohnzimmer.

"Habt ihr was zu Essen da? Zu Hause hab ich gar nicht dran gedacht, was zu essen."

Ja, haha. Als ob ich ihm das glauben würde...

"Ja, schon", rief ich ihm hinterher. "Aber nimm nicht die Pizza! Das ist meine!"

"Ähm – zu spät", bekam ich eine geschmatzte Antwort.

Ich betrat das Wohnzimmer und sah Derek schon in der Küche stehen, die nur durch eine viertelte Wand vom

ersten Raum getrennt war.

"Toll, danke", stöhnte ich, als ich meinen besten Freund vor der Anrichte stehen sah, die ebenfalls eine halbe Grenze zwischen Küche und Wohnzimmer darstellte. Mit einem Stück meiner Pizza in der Hand!

"Tut mir leid. Aber wenn’s dich interessiert – sie ist echt gut!" Er grinste, doch es sah weniger schuldbewusst aus, als er eigentlich hätte sein sollen.

"Ja danke, ich weiß, du Arsch!", fauchte ich. "Das war mein Essen für heute Abend! Jetzt muss ich den Mist essen, den eigentlich du hättest essen sollen!"

Das hätte ich nicht sagen sollen. Jetzt fand er das Ganze hier nur noch lustiger.

"Führ dich nicht so auf", verlangte Derek. Während er sprach fuchtelte er mit einem Stück Pizza vor meinem Gesicht herum. "Sei doch lieber dankbar! Stell dir vor, du müsstest das alles essen – dann würdest du nur fett werden. So bleibst du schlank."

Ähm – war das sein Ernst? Wollte er die Sache jetzt wirklich so hindrehen, als würde er mir einen Gefallen tun? Gut, sein Grinsen ließ darauf schließen, dass er es nicht ernst meinte – und das wollte ich auch stark für ihn hoffen –, aber er aß gerade mein Abendessen! Da war mir nicht nach Lachen zu Mute!

Derek kam wieder ins Wohnzimmer, kickte seine Schuhe irgendwo in den Raum und warf sich aufs Sofa.

"Wenn du Flecken machst, bring ich dich um", erklärte ich ihm und mein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass ich es tatsächlich tun würde.

"Sei nicht so stinkig", meinte Derek und grinste mich an. Als ich nicht zurückgrinste, warf er einen nachdenklichen Blick auf das Pizzastück in seinen Händen, dann auf mich. "Da", bot er es mir schließlich großherzig an.

"Nein, danke", lehnte ich ab. "Iss es ruhig, damit ich weiterhin eine Ausrede hab, dich blöd anzureden!"

Der Depp grinste darüber sogar noch! Unfassbar!

"Okay, Derek, wenn du mir nicht doch noch bei meinen Hausaufgaben helfen willst, dann würde ich an deiner Stelle jetzt nach Hause gehen", warnte ich ihn schließlich.

"Hm...mhm", machte er und ich war mir sicher, dass er nichtmal zugehört hatte.

"Ernsthaft!", betonte ich, stand auf und fing an, seine Sachen vom Boden aufzusammeln. Die einzige Möglichkeit, Derek hinauszuwerfen, war, ihm seine Sachen in die Hand zudrücken und ihn zur Tür hinauszuschubsen. Ansonsten blieb er, bis er selbst keine Lust mehr hatte.

"Hier!", brummte ich und warf ihm seine Jacke und seine Schuhe auf den Bauch.

"Okay, okay!" Er verdrehte die Augen. "Ich versteh schon!"

Er stand auf, zog sich Jacke und Schuhe an und setzte sich, mit der Zunge schnalzend, in Bewegung. In der Haustür blieb er noch einmal stehen.

"Soll ich, wenn ich wieder da bin, sofort rüberkommen?", fragte er.

"Keine Ahnung, vielleicht hab ich Hausarrest", antwortete ich und stemmte mich mit meinem gesamten Gewicht gegen ihn, was ihn jedoch nicht wirklich zu kümmern schien.

Er zeigte mir nur den Vogel. "Weil du das im Vorraus weißt, oder wie?", meinte er ungläubig.

"Ich hab gesagt, keine Ahnung! Vielleicht verraten die neuen Nachbarn ja meinem Vater, dass du hier warst – oder besser, wie du aussahst. Und wenn das mein Vater erfährt, dann weiß ich nicht, wie der reagiert."

"Ach!" Mein bester Freund schnaubte und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Die werden schon nichts verraten! Die sind noch zu geblendet von dem Anblick meines tollen Körpers", grinste er.

"Du stehst zu viel vor dem Spiegel", brummte ich und warf mich leicht gegen ihn.

"Ich geh ja schon", verdrehte er die Augen und ging tatsächlich.

Kaum war er aus dem Haus, warf ich die Tür schon zu – nur für den Fall, dass er es sich nocheinmal anders überlegte.

Seufzend ging ich ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an.

Wieso gaben manche Lehrer Hausaufgaben über die Ferien auf? Wieso musste Dereks Klassenfahrt über die Ferien gehen? Wieso hatte mein Vater keine Lust, mit mir in die Ferien zu fahren?

Gelangweilt zappte ich durch die Kanäle. Plötzlich klopfte es an die Terrassentür.

Erschrocken zuckte ich zusammen. In der geöffneten Glastür stand Derek und grinste mich breit an, während er dämlich winkte.

"Darf ich reinkommen?", fragte er.

"Was willst du?"

"Ich hab meinen rechten Schuh vergessen", erklärte er schnell.

Haha. Als ob ich ihm das glauben würde. Er hatte einfach nur keine Lust nach Hause zu gehen, und ausserdem war noch ein Stück Pizza im Kühlschrank.

"Dann hol ihn dir", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

"Okay, danke", grinste er und verschwand in die Küche – in der er seinen Schuh ganz sicher nicht vergessen hatte!

"Ich dachte, du müsstest Hausaufgaben machen?", warf er mir schließlich vor.

Hatte ich ihn gerade schlucken gehört? Ich hatte es doch gewusst!

"Isst du jetzt auch den Rest von meinem Abendessen? Ich dachte, du suchst deinen Schuh?", stellte ich eine Gegenfrage.

"Mhm", machte er unbestimmt und es war nicht ganz klar, welche Frage damit beantwortet werden sollte.

"Was ist das da an deinem Fuß?", erkundigte ich mich ironisch, im Küchentürrahmen lehnend, die Arme vor der Brust verschränkt.

"Oh, da ist er ja. Kein Wunder, dass ich ihn da nicht gefunden hab!" Derek machte ein Gesicht, als wäre ihm jetzt plötzlich alles klar.

"Okay, raus!", wies ich ihn an. "Es ist nur gut, dass du jetzt eine Woche nicht da bist! Zwei Wochen, in denen ich dich den ganzen Tag ertragen müsste, würde ich nicht aushalten!"

"Sei nicht so unfreundlich, du siehst mich jetzt eine Woche nicht mehr", tadelte mich Derek.

"Raus!" Ich zog das Wort so weit in die Länge, wie es ging. "Ist doch der Wahnsinn, du hast ein eigenes Zuhause! Wieso musst du deine gesamte Freizeit bei mir verbringen?!"

Derek grinste nur. Wenn er jetzt auch noch unverschämt werden wollte, dann flog er hier aber hochkantig raus!

"Bis dann", meinte er allerdings nur und trollte sich tatsächlich, ohne, dass ich ihn irgendwie in Richtung Tür schieben musste.

Gut. Dieses Mal würde er nicht wieder kommen. Ich hatte ihn noch nie öfter als drei Mal rausschmeißen müssen.

Und so sehr er mich auch gelegentlich nervte, so gern hatte ich ihn doch als besten Freund. Und so froh war ich auch, dass ich ihn hatte

.Aber manchmal war er einfach wirklich anstrengend.

Müde streckte ich mich und ließ mich auf die Couch fallen. Im Fernseher lief nur Werbung, also schaltete ich ihn aus und wollte in mein Zimmer gehen, als es plötzlich an der Tür hämmerte.

Wer war das denn schon wieder? Derek würde es sicher nicht sein. Aber wer sonst?

Neugierig ging ich durch den Flur, um zu öffnen, als ich schon eine Stimme durch die Tür hörte.

Ob er glauben würde, dass ich nicht zu Hause war? Wohl kaum. Von oben wummerte noch immer die Musik in voller Lautstärke. Aber vielleicht glaubte er mir, dass ich ihn nicht hörte?

"Ich kann Sie sehen!", drang von draussen Jens’ Stimme ins Haus herein.

Hä? Erstaunt wandte ich mich von der Treppe ab, die ich unbewusst hinaufgestarrt hatte und ließ den Blick über die Haustür gleiten. Sah er jetzt durchs Schlüsselloch, oder wie?! Selbst wenn – dann würde er ja wohl kaum etwas sehen!

Doch tatsächlich stand er gegen das schmale Fenster neben der Tür gelehnt und funkelte mich böse an.

"Was wollen Sie?", giftete ich, nachdem ich die Tür nach einigem Überlegen doch geöffnet hatte.

"Wie wäre es, wenn Sie endlich die Musik ausmachen?!" Es sollte wohl wie ein Vorschlag klingen, doch es war alles andere. Es war viel mehr ein Befehl.

"Stellen Sie sich vor, das wollte ich gerade tun!", fauchte ich als Antwort.

"Wieso glaube ich das nur nicht?", entgegnete Jens.

"Das weiß ich auch nicht", erwiderte ich. Meine Stimme war nicht mehr laut, mein Tonfall nicht mehr aggressiv. Es klang nur noch genervt.

Bevor er noch etwas sagen konnte, warf ich ihm die Tür schon wieder direkt vor der Nase zu.

Eigentlich hätte ich die Musik jetzt nicht leiser machen dürfen, um ihn zu ärgern. Doch ich selbst hatte auch keine Lust mehr auf Musik. Eigentlich wollte ich nur noch ins Bett. Ich war wirklich müde.Schnell ging ich noch einmal ins Wohnzimmer, schloss die Terrassentür und schleppte mich anschließend die Treppe nach oben in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett fallen ließ und die Augen schloss.

Plötzlich vibrierte meine ganze Matratze. Mit einem genervten Stöhnen grabschte ich nach meinem Handy, das irgendwo neben meinem Kopfkissen liegen musste.

Wenn das Derek war, dann würde ich ihm nicht antworten! Das hatte er davon!

Doch es war nicht mein bester Freund.

Es war mein Vater, der mir eine SMS geschickt hatte. Und als ich gelesen hatte, was er von mir wollte, wusste ich nicht recht, ob lachen oder schluchzen sollte.

Ich sollte mich bei den neuen Nachbarn vorstellen – und für gute Nachbarschaft sorgen.

Tja, auf die würde mein Vater wohl verzichten müssen...

Seufzend warf ich das Handy irgendwo hin neben meinen Kopf, die Augen bereits wieder geschlossen.

Heute würde ich garantiert niemandem mehr einen Besuch abstatten. Und wenn ich es lange genug hinauszögerte, dann würde sich dieses Problem vielleicht auch irgendwann von selbst beheben.

 

Jens hatte mit ihr geredet. Schon zum zweiten Mal. Der nächste, der mit ihr sprach, wollte er sein. Egal, wie er es anstellte. Er würde es schaffen. Da war er sicher.

2.

 

"Hey, pass doch auf!", giftete ich.

"Tschuldigung", brummte der Kerl, der mich angerempelt hatte, nur.

Doch er drehte sich nicht einmal nach mir um. Daher streckte ich auch nur seinem Rücken die Zunge raus, dann wandte ich mich wieder in die Richtung, in die ich eigentlich unterwegs war.

"Hey, du, warte mal!", rief eine Stimme.

Erstaunt drehte ich mich um. Ich kannte diese Stimme nicht.

Vor mir stand der Junge, den ich gestern auf der anderen Straßenseite hatte stehen sehen.

"Ja? Was willst du?", fragte ich gereizt.

"Ich – ähm..." Plötzlich stockte er. "Ach nichts. Darf ich dich ein Stück begleiten? Ich bin neu hier und ich hab noch keine Ahnung, wie ich wo hinkomme", erklärte er schließlich.
Naserümpfend musterte ich ihn. "Wenn’s unbedingt sein muss! Ich bin aber auf dem Weg zu ’nem Freund. Da kannst du nicht mit hinkommen!"

"Schon klar!" Der Junge grinste. Seine Locken glänzten im Sonnenlicht.

"Also, wohin willst du?", fragte ich.

"Nirgendwo hin. Ich dachte, ich könnte vielleicht einfach - "

"Mit mir mit?", vollendete ich seinen Satz. "Vergiss es! Ich kenne ja nichtmal deinen Namen!"

"Na und? Ich kenne deinen ja auch nicht." Erneut grinste er.

Charmant lächelte ich ihn an. "Ich kann dich auch einfach Arsch nennen, wenn dir das lieber ist."

Der Junge lachte. Wieso lachte er? Wir kannten uns nicht und ich hatte ihn gerade ohne ersichtlichen Grund beleidigt! Wieso lachte er?!

"Nein, danke", meinte er schließlich. "Ich heiße Ferenc", stellte er sich vor.

Abschätzend sah ich ihn an. Wollte ich ihm tatsächlich die Hand geben und ihm auch meinen Namen sagen?

"Joyce", murmelte ich schließlich nach einigem Zögern.

"Irgendwelche Spitznamen? Wie dich deine Freunde nennen?!"

"Wie mich meine Freunde nennen, geht dich gar nichts an. Schließlich gehörst du nicht zu meinen Freunden!", fuhr ich ihn an.

Erstaunt sah er mich an. Doch bevor er noch etwas entgegnen konnte, beschleunigte ich mein Tempo und ließ ihn einfach stehen. Wir waren schließlich noch nicht weit gekommen. Und wenn er von zu Hause bis hierher gefunden hatte, dann würde er ja wohl auch allein wieder nach Hause finden. Wenn nicht, dann war mir das auch egal...

 

Er hatte mit ihr gesprochen! Er war tatsächlich der nächste gewesen, der mit ihr gesprochen hatte! Er konnte es noch immer nicht fassen. Es war so einfach gewesen. Jetzt wusste er ihren Namen. Und das war erst der erste Schritt gewesen...

 

"Hey", murmelte ich.

"Du siehst aber nicht sonderlich glücklich aus", stellte Tom fest, als er mir seine Tür öffnete.

"Irgend so ein Pfosten hat meine Cola verschüttet", brummte ich und hielt ihm einen leeren Becher entgegen.

"Und dann schleppst du den Müll durch die Stadt, nur um es mir anschaulich zu demonstrieren?", fragte Tom grinsend und wischte sich ein paar Tropfen Cola aus dem Gesicht, die noch im Becher gewesen waren und die ich versehentlich schwungvoll um seinen Mund herum, auf seiner Nase, unter seinen Augen und in seinen Haaren verteilt hatte.

"Upps. Tschuldigung", grinste ich.

"Was verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?", erkundigte sich Tom und ließ mich in seine Wohnung.

"Mir ist langweilig", erklärte ich, wobei ich mich sicherlich wie ein Kleinkind anhörte.

Tom lachte. "Na danke, dass ich dann herhalten darf", meinte er.

Ich grunzte leicht und machte eine wegwerfende Handbewegung in seine Richtung. Er wusste genau, dass es nicht so war und ich wusste genau, dass er es nicht ernst gemeint hatte.

Schließlich kam er auf meiner Freundesliste direkt nach Derek.

"Und was machen wir da, wenn dir langweilig ist?", fragte Tom grinsend. Schön, spätestens jetzt kam ich mir wirklich wie ein Kleinkind vor.

"Keine Ahnung!", stöhnte ich und warf mich auf die Couch, die mitten im Wohnzimmer stand. "Schlafen", schlug ich vor.

"Das hättest du auch daheim tun können", entgegnete Tom. "Dazu brauchst du mich nicht."

Schön, da hatte er auch wieder Recht. Aber was sollten wir schon machen. Am liebsten würde ich einfach den ganzen Tag nur in seiner Wohnung sitzen und mich umsehen. Ich liebte seine Wohnung. Er war erst achtzehn, aber sobald er volljährig geworden war, hatte er seine Sachen gepackt und war von daheim weggegangen.Er redete nicht viel darüber, ob seine Eltern ihn rausgeworfen hatten oder ob er freiwillig gegangen war. Aber soweit ich wusste, war er einfach verschwunden. Seine Eltern hatten anscheinend ein paar Mal versucht, ihn zurückzuholen, bis sie es irgendwann aufgegeben hatten.

Und auch, wenn ich jedes Mal den Kopf schüttelte, wenn ich über Toms Vergangenheit nachdachte, so hatte ich mir doch schon vor Jahren vorgenommen, es ganz genauso zu machen.

Mein Vater würde vermutlich auch nicht versuchen, mich zurückzuholen. Schließlich war ich ihm vollkommen egal gewesen, seit meine Mutter gestorben war.

"Jo?"

"Was?" Oh, ich klang ziemlich giftig.

"Denkst du schon wieder über deinen Vater nach und darüber, dass er dich vernachlässigt hat?"

"Woher weißt du das?", wollte ich erstaunt wissen.

"Dann beisst du immer die Zähne zusammen und dein Kiefer verhärtet sich", erklärte Tom. "Weißt du, ich denke, du hast ja Recht – dein Vater hätte sich mehr um dich kümmern sollen, aber andererseits verstehe ich es auch irgendwo..."

Ich verstand es auch irgendwo. Aber irgendwo hörte es bei mir auch auf mit dem Verständnis. Und wenn man sich plötzlich nicht mehr ausreichend um seine fünfjährige Tochter kümmerte, nur, weil sie seiner toten Frau zu ähnlich sah, dann konnte ich dafür irgendwie kein Verständnis mehr aufbringen.

Das musste Tom doch wohl auch einsehen.

"Ich denke auf alle Fälle nicht, dass du auch mit achtzehn von zu Hause weggehen solltest", erklärte er mir streng. "Du solltest noch nicht allein wohnen..."

Ja toll. Das sagte er mir ständig. Ich war schon auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob ich nicht hier einziehen konnte, doch bisher hatte ich noch keine Lust gehabt, ihn zu fragen.

"Mal sehen, ein bisschen Zeit hab ich ja noch", murmelte ich und fuchtelte mit geschlossenen Augen mit der Hand in der Luft herum.

Ich hörte, dass er den Mund nocheinmal öffnete, doch anscheinend überlegte er es sich anders, denn er sagte nichts.

Ich linste durch einen kleinen Spalt zwischen meinen Augenlidern, was er gerade tat. Er flackte nur über einem Sessel und starrte nachdenklich vor sich hin.

"Alles okay?", fragte ich. Erstaunt sah er auf.

"Ja", meinte er und lächelte schnell. Dann stand er plötzlich auf. "Rutsch mal", verlangte er und fuchtelte mit der rechten Hand vor meiner Nase herum, um seine Worte zu unterstreichen.

Ich zog die Beine an und rutschte an den Sofarand, während er umständlich auf die Couch kraxelte und sich so schwungvoll hinter mich plumpsen ließ, dass ich beinahe auf den Boden gefallen wäre.

"Achtung", lachte er und schlang seine Arme schnell um meinen Bauch, um mich festzuhalten.

"Mein Held", meinte ich ironisch, doch auch ich musste lachen.

Dann schwiegen wir wieder. Ich hatte meine Hände auf seine gelegt und spielte gedankenverloren mit seinen Fingern.

"Ich hab neulich jemanden kennengelernt...", fing er schließlich an. Ich spürte, dass er mich nicht ansah.

"Nein!", keuchte ich ensetzt.

Wenn Tom eine Freundin hatte, dann war es immer dasselbe. Irgendwie wollte keine von ihnen einsehen, dass wir einfach nur wirklich gut befreundet waren. Oft sahen wir uns wochenlang nicht. Und wir durften nichteinmal daran denken, so dazuliegen, wie wir es gerade taten. Bisher hatte er tatsächlich erst eine Freundin gehabt, mit der ich zurecht gekommen war.

Tom schwieg. Er zupfte ein bisschen an meinen Fingern herum, dann seufzte er niedergeschlagen.

"Das ist alles scheiße gelaufen, bisher. Aber das heißt doch nicht, dass es auch so weiter geht...", murmelte er.

Schön, das bezweifelte ich.

Es war nicht so, dass ich, wenn er wir uns ein paar Wochen nicht sahen, tagelang allein war. Aber irgendwie – Derek war mein bester Freund, wenn es darum ging, sich zu schlagen. Oder wenn man sich gegenseitig verarschen wollte. Aber über manche Dinge brauchte man gar nicht erst versuchen, mit ihm zu reden.

Und bei eben diesen Angelegenheiten war Tom einfach unbezahlbar.

Missmutig starrte ich vor mich hin, ohne auf seine Äusserung einzugehen.

"Jetzt komm schon! Sag was dazu", bat er schließlich bedrückt.

"Was soll ich dazu sagen? Ich freu mich für dich", schwindelte ich. Mir war klar, dass er es mir nicht abkaufte, aber der Gedanke zählte. "Und ausserdem hab ich nicht das Recht, dir irgendwen auszureden!"

"Aber du könntest Kritik anbringen", schlug er mir vor.

Wollte er wirklich, dass ich ihm das Mädchen ausredete? Das konnte ich mir kaum vorstellen.

Ich gab keine Antwort, sondern starrte auf den Fußboden – fuhr mit den Augen die Linien nach, die sich an den Stellen bildeten, an denen ein Holzbrett an das andere gesetzt war.

Tom seufzte leise. Ich schluckte hart. Ich wollte hier nicht für so betrübte Stimmung sorgen.

"Reden wir über was anderes?", bat ich.

"Ja", nahm Tom dankbar an. Dann schwiegen wir wieder.

"Wie geht’s dir so?", fragte er schließlich.

"Gut", erwiderte ich ernst. Taten wir einfach so, als hätte die bisherige Unterhaltung nicht stattgefunden. Sehr gut!

"Ich hab vorhin so ’nen komischen Kerl kennengelernt, der ist mir ein Stück nachgelaufen. Den hab ich aber gestern schon gesehen! Der stand nämlich auf der Straße und hat in meinen Garten gegafft!", erzählte ich ihm und drehte den Kopf dabei immer wieder ein Stück in seine Richtung, sodass ich die Decke ansah.

"Habt ihr miteinander geredet?", wollte Tom wissen.

"Pf, ja kaum. Er hat sich vorgestellt, ich hab ihm meinen Namen gesagt und dann ist er ein paar Schritte neben mir hergelaufen, bis ich ihn einfach hab stehen lassen", erklärte ich schulterzuckend. "Ich fand ihn ein bisschen seltsam...Er wollte wissen, wie mich meine Freunde nennen!"

Tom lachte. "Und was hast du ihm gesagt?"

"Dass ihn das nichts angeht – er gehört ja schließlich nicht zu meinen Freunden!"Ich spürte, dass der Junge hinter mir nickte. "Und dann?", fragte er und ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören.

"Dann bin ich gegangen", beendete ich meinen Bericht.

"Schade. Du hättest ihn mitbringen können! Wäre vielleicht ganz lustig geworden!"

"Ja, klar!" Ich befreite meine rechte Hand aus seinen Händen und tippte mir an die Stirn. "Das nächste Mal bring ich den erstbesten Irren, der in meinen Garten starrt und mich am nächsten Tag abfängt, einfach mit. Damit ihr ihn auch alle kennenlernt!"

Tom lachte. Dann wechselte er das Thema. "Derek sagt, du hättest neue Nachbarn?!"

Ich zuckte die Schultern. "Die sind scheiße. Anscheinend haben sie auch noch ein Kind. Mein Vater will, dass ich mich bei ihnen vorstelle. Aber ich hab so gar keine Lust dazu, verstehst du? Und ausserdem hab ich mich gestern schon mit dem Vater unterhalten. Ich hasse ihn..."

"Wenn du willst, dann komme ich mit?", bot Tom an.

"Im Ernst?!" Ungläubig drehte ich den Kopf soweit nach ihm um, wie es mein Hals zuließ. "Aber ich muss dich warnen! Die sind echt schlimm!"

Er grinste. "Ich werd’s schon überleben!", erklärte er und stand auf, wobei er mich ebenfalls hochzog. "Also komm", forderte er.

"Jetzt?!" Missmutig sah ich zu ihm hoch.

"Je eher du es machst, desto eher hast du’s hinter dir!", verwendete er die gleiche Logik, mit der ich gestern Derek dazu gebracht hatte, mir bei meinen Hausaufgaben zu helfen.

Ich schnaufte genervt. "Also schön!", verdrehte ich die Augen.

Tom schleifte mich zur Tür hinaus und setzte mich unten in sein Auto. Wieder einmal schüttelte ich nur den Kopf über sein Verhalten seinen Eltern gegenüber.

"Was würdest du nur machen, wenn sie dir nicht alles zahlen würden?! Ich finde eigentlich, wenn du schon von zu Hause ausziehst und nichts mehr mit ihnen zu tun haben willst, dann solltest du nicht für alles ihr Geld hernehmen!"

Also, ich würde das auf keinen Fall tun, wenn ich erst einmal von zu Hause weg war.

"Ach", meinte mein Freund nur und machte eine wegwerfende Handbewegung, nachdem er sich auf den Fahrersitz fallengelassen hatte. "Die haben genug Geld! Und sobald ich mit der Schule fertig bin, werd ich ihr Geld auch nicht mehr hernehmen. Aber bisdahin freuen sie sich eben über jedes Mal, wenn ich Geld brauche, weil das immer ein kleines Lebenszeichen von mir ist."

Kopfschüttelnd sah ich aus dem Fenster, während er auf die Hauptstraße einbog.

Einige Minuten später fuhr er in die Auffahrt vor unserem Haus, stieg aus und sperrte den Wagen ab, sobald auch ich ausgestiegen war.

"Also los", grinste er und wies in Richtung Straße. Seufzend fügte ich mich und folgte ihm, als er die Hecke entlang auf den Bürgersteig zuging. Den Bürgersteig ein paar Meter entlang ging und schließlich an dem großen Gartentor der neuen Nachbarn klingelte.

"Wir könnten jetzt ganz laut Klingelstreich! rufen und ganz schnell wegrennen!", schlug ich vor und machte schon Anstalten, mich wieder in Bewegung zu setzen, doch Tom hielt mich an den Trägern meiner kurzen Latzhose fest.

"Du bist so ein Fischkopf!", beschimpfte ich ihn und versuchte vergeblich, mich irgendwie zu befreien.

Er lachte nur, wartete, dass die Tür aufging, oder die Sprechanlage sich meldete und hielt mich währenddessen geduldig fest. Er ließ sogar meine Beschimpfungen kommentarlos geduldig über sich ergehen.

"Ja?", meldete sich schließlich eine Frauenstimme durch die Freisprechanlage.

"Guten Tag", meinte Tom. Ich hasste es, wenn er so förmlich wurde.

"Wir sind hier, um uns vorzustellen! Wir – oder zumindest ein gewisser Teil von uns – wohnt nebenan. Wir wollen Sie nicht lange aufhalten!"

"Oh – nein. Kein Problem!", meinte die Frau. "Wollen Sie hereinkommen?", stellte sie die Frage, vor der ich die ganze Zeit über Angst gehabt hatte.

"Nein!", rief ich laut, doch Tom ging näher an die Sprechanlage heran, um mit ja zu antworten, sodass sie meinen Zwischenruf nicht hören konnte.

Der Summer ging und ich warf Tom einen Todesblick zu, unter dem er eigentlich sofort hätte krepieren müssen. Doch er grinste mich nur unverschämt an und zog mich wie einen Hund hinter sich her, den Kiesweg zum Haus hinauf.

An der Haustür erwartete uns schon die Frau, die Derek und ich gestern vom Fenster aus gesehen hatten.

Zuerst lächelte sie noch, doch als sie einen Blick auf unsere Klamotten warf, gingen ihre Mundwinkel nach unten.

"Guten Tag", grüßte sie uns schließlich, als wir nahe genug waren, sie zu verstehen ohne dass sie die Stimme dafür heben musste. Sie lächelte gezwungen.

"Schön, Sie kennenzulernen. Kommen Sie doch herein!", bot sie an und machte eine einladende Geste. Doch es war ihr anzusehen, wie sehr es ihr widerstrebte, uns in ihr Haus zu lassen.

Schon allein unsere Lederjacken mussten auf sie abschreckend wirken. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie für gewöhnlich nur im Pelzmantel das Haus verließ – am besten auch noch Echter...

"Setzen Sie sich doch", meinte sie, als wir das Wohnzimmer betraten und wies auf die zwei Sofas.

Tom nahm dankend an, ich verdrehte nur die Augen.

"Mein Name ist Sylvia", stellte sie sich schließlich vor, als wir alle Platz genommen hatten.

"Freut mich", lächelte Tom. "Mein Name ist Tom – und das ist Jo", stellte er uns vor.

Als ob ich nicht für mich selbst sprechen konnte!

"Nun..." Sylvia machte eine kurze Pause. "Mein Mann ist noch arbeiten. Aber mein Sohn ist zu Hause. Ich werde ihn schnell rufen!"

Jaha, klar! Das war doch nur eine Ausrede, um den Raum verlassen zu können!

Und konnte Tom sein dämliches freundliches Lächeln vielleicht mal abstellen? Das ging mir gehörig auf den Senkel!

Die Frau erhob sich und verließ das Zimmer.

Tom drehte sich grinsend nach mir um. "Und, ist das so schlimm?", fragte er.

"Ich hasse dich!", zischte ich nur als Antwort. Er zuckte nur gleichgültig die Schultern.

Doch bevor ich ihn richtig beleidigen konnte, stand Sylvia schon wieder vor uns.

"Er kommt gleich", erklärte sie und setzte sich wieder auf den Sessel, der uns hinter dem Couchtisch gegenüber stand.

Im nächsten Moment hörte man schon Schritte auf der Treppe und einen Augenblick später bog jemand ins Wohnzimmer ein.

Als ich ihn sah, klappte mir erstaunt der Mund auf. Auch der Junge blieb überrascht stehen.

"Tom, Jo – das ist Ferenc", stellte Sylvia uns ihren Sohn vor.

Tom nickte ihm zu, ich starrte ihn nur weiterhin an.

Dieser Junge war...

"Stimmt was nicht?", fragte Sylvia und sah mich besorgt an.

Überrascht wandte ich den Blick in ihre Richtung. Ob sie wusste, dass ihr Sohn tagsüber in Lederjacke durch die Stadt lief, wildfremde Mädchen ansprach und ihnen in den Garten starrte?!

Mein Blick glittt nocheinmal zu Ferenc, der mich eindringlich ansah und den Kopf schüttelte.

"Nein, alles okay, danke", meinte ich schließlich an seine Mutter gewandt.

Die Frau hatte von meinem Blickwechsel mit ihrem Sohn nichts mitbekommen, doch Tom hatte es genau gesehen und sah jetzt leicht irritiert zwischen uns hin und her.

"Wollen Sie vielleicht etwas trinken?", fragte Sylvia plötzlich.

"Würden Sie bitte Du sagen?", bat ich sie. Überrascht sah sie mich an.

"Also gut", sagte sie schließlich, nachdem sie mich einige Augenblicke nur angesehen hatte, verwundert. "Wollt ihr etwas trinken?"

Bevor Tom oder ich etwas sagen konnten, hatte Ferenc schon genickt. Seine Mutter verschwand so schnell aus dem Zimmer, dass ich mir sicher war, dass sie nur vor uns auf der Flucht war.

"Okay, was ist hier los?" Sobald wir allein waren, sah Tom mich eindringlich an.

Ferenc antwortete für mich. "Danke", meinte er zuerst nur, dann wandte er sich an meinen Freund. "Ich habe sie heute morgen in der Stadt angesprochen."

Toms Kopf schnellte so schnell zu mir herum, dass ich mir sicher war, es knacken gehört zu haben. Das ist der?, formte er mit den Lippen. Ich nickte grinsend.

Tom schob die Unterlippe leicht nach vorne und nickte verwundert

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: H. Grillenberger
Bildmaterialien: H. Grillenberger
Cover: H. Grillenberger
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2013
ISBN: 978-3-7396-7769-9

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