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1. Kapitel

 

 

 

Seufzend riss ich den Stecker des Telefons aus der Steckdose.

Endlich war ich allein. Endlich herrschte Ruhe.

Die nächsten sechs Wochen würde mich niemand stören.

Die nächsten sechs Wochen würden mir allein gehören.

Es war nicht schwer gewesen, meine Eltern zu überreden mich allein zu lassen. Vermutlich waren sie ganz froh, Urlaub von mir zu bekommen.

Und ich war froh, sie endlich einmal nicht den ganzen Tag um mich haben zu müssen.

Und nur für den Fall, dass meine Mutter sich doch Sorgen machen sollte, hatte ich das Telefon ausgesteckt und mein Handy ausgeschaltet. Aber damit rechnete sie wahrscheinlich sowieso und sie würde daher bestimmt gar nicht erst versuchen, anzurufen.

Wenn ich Glück hatte...

Ich trabte in mein Zimmer nach oben, wobei ich versuchte, möglichst leise, aber dennoch schnell, zu sein.

Dann warf ich meine Zimmertür hinter mir zu, obwohl es eigentlich niemanden gab, den ich hätte aussperren müssen.

Ich ließ mich auf mein Bett fallen; mit dem Gesicht voraus, in die Kissen.

Die Stille, die in diesem Haus im Moment herrschte, war unglaublich schön. Sie war unbezahlbar und ich würde jeden Augenblick der nächsten Wochen in mich aufsaugen.

Niemand würde mich stören.

Freunde hatte und wollte ich keine.

Sie würden mich nur behindern. Mit Menschen, mit denen man sich abgab, konnte man nie man selbst sein. Immer musste man sich ein bisschen verbiegen. Manche mehr, manche weniger. Aber jeder musste sich verbiegen; sich den Bedürfnissen der anderen anpassen.

Und das wollte ich nicht.

Ich wollte ich selbst sein.

Ich wollte nicht weinen müssen, wenn ich eigentlich lachen wollte, nur, weil meine Freundin weinte.

Ich wollte nicht lachen müssen, wenn ich eigentlich weinen wollte, nur weil meine Freundin sich freute. Weil sie irgendetwas tolles geschafft hatte, das mir eigentlich herzlich egal war.

Was interessierten mich andere Menschen?

Ich hatte mich selbst und sonst brauchte ich niemanden!

Und zum Glück hatten das mittlerweile auch alle Menschen in meinem Umfeld begriffen und ließen mich in Ruhe.

Sogar meine Familie ließ mir meinen Frieden. Meine Geschwister hatten vermutlich sogar Angst vor mir. Was aber nur gut war, so kamen sie wenigstens nicht auf die Idee, in mein Zimmer zu gehen...

Keine Ahnung, wann ich wurde, wie ich jetzt war.

Aber ich war so, um nicht verletzt werden zu können. Im Laufe meines sechzehnjährigen Lebens hatte ich mir langsam einen Schutzpanzer zugelegt. Ich hatte mühsam eine Mauer um mich herum aufgebaut. Ganz langsam, Stein für Stein.

Damit niemand mehr an mich herankommen konnte. Damit mir niemand mehr wehtun konnte.

Nach aussen hin zeigte ich keine Emotionen. Auch nicht, wenn ich vor Wut platzen könnte. Oder, wenn ich einfach nur weinen wollte.

Geweint hatte ich auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Tatsächlich konnte ich mich an das letzte Mal gar nicht mehr erinnern.

Müde schloss ich die Augen.

Vielleicht würde ich es ja schaffen, die nächsten sechs Wochen durchzuschlafen?

Oh, wie ich das genießen würde!

Ich gähnte einmal lang, geräuschvoll und heftig, streckte mich dabei so sehr, dass ich mit dem Kopf gegen die Wand am Bettende stieß und fluchte vor mich hin, während ich mir die schmerzende Stelle hielt.

Als mir keine Wörter mehr einfielen, mit denen ich die Mauer beleidigen könnte, schloss ich die Augen wieder und unternahm einen erneuten Versuch zu schlafen.

Erst heute Abend wollte ich wieder aufwachen, sodass ich mir den Sonnenuntergang ansehen konnte.

Ich liebte die Sonnenuntergänge. Jeden Abend saß ich draussen vor dem Haus am Strand, sah aufs Meer hinaus und beobachtete die Sonne, wie sie langsam im Meer versank. Sonnenuntergänge waren einige der schönsten Momente, die die Natur dem Menschen schenkte...

Ich verschränkte die Hände auf dem Bauch und entspannte mich, um endlich schlafen zu können.

Schließlich spürte ich eine seltsame Wärme, die von meinen Wangen ausging und sich rasch in meinem ganzen Körper ausbreitete.

Dann war ich eingeschlafen...

2. Kapitel

 

 

 

Der Wind pfiff mir um die Ohren. Das Wellenrauschen war so laut, dass ich keine Möwe schreien hören konnte, wenn der Wind den Schrei nicht zu mir trug.

Müde sah ich der Sonne zu, wie sie langsam im Meer versank.

Ich hatte Sonnenuntergänge schon immer faszinierend gefunden. Früher hatte ich Bilder gemalt, auf denen die Sonne unter Wasser weiterschien. Ich hatte mich gefragt, wieso sie wohl nicht erlosch, wenn sie ins Wasser tauchte.

Und auch, wenn es seltsam und naiv war, wünschte ich mir oft die Weltanschauung von damals zurück. Es war alles so viel einfacher gewesen. So viel klarer.

Die Sonne war schon halb verschwunden. Der Himmel war in blutrotes Licht getaucht und hinter mir stand bereits der Mond am Himmel. Es war einer der schönsten Sonnenuntergänge, die ich je gesehen hatte.

Der Wind ging noch stärker und ich kuschelte mich fest in meine Jacke.

Ein Stock kam den Strand entlang geflogen und verfehlte mich nur knapp. Ein Hund wetzte hinterher und brachte den Stock seinem Besitzer zurück, den ich nicht sehen konnte, weil er irgendwo schräg hinter der Düne stehen musste.

Erneut kam der Stock durch die Luft geflogen.

Mit schreckgeweiteten Augen erkannte ich, dass er dieses Mal direkt auf mich zu fiel.

„Fang das Stöckchen!“, trug der Wind eine Stimme zu mir.

Ich runzelte die Stirn. Woher kannte ich diese Stimme? Sie kam mir so vertraut vor.

In dem Moment traf mich der Stock am Kopf und ich wäre beinahe umgekippt.

Laut fluchte ich vor mich hin.

Plötzlich stand ein Junge neben mir. „Alles okay?“, wollte er wissen und griff nach meinem Arm.

„Mhm“, murmelte ich und drehte mich weg, sodass er mich nicht berühren konnte.

Kannst du nicht besser aufpassen?!, wollte ich ihn anfahren, doch als ich den Blick hob, um ihm ins Gesicht zu sehen, hielt ich erstaunt inne.

Ich kannte sein Gesicht. Ich wusste nur nicht woher. Zwar war ich mir sicher, dass ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen hatte, doch von ihm ging eine merkwürdige Vertrautheit aus, und ich war mir sicher, ihn doch zu kennen.

„Ist wirklich alles okay?“, brüllte der Junge.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer mit zum Sprechen geöffnetem Mund vor ihm stand.

„Ja!“, schrie ich zurück und hoffte, dass er mir das auch glaubte. Ich hatte keine Lust darauf, mich mit ihm zu unterhalten. Auch, wenn ich es irgendwie interessant gefunden hätte.

„Ich bin Keith!“, rief der Junge und reichte mir meine Hand.

Abschätzig musterte ich ihn. Sollte ich einschlagen? Wenn ich das tat, würde er sich am Ende noch zu mir setzen und mit mir reden wollen. Und ich wollte nicht reden. Ich wollte meine Ruhe haben. Ich ging ja schließlich auch niemandem auf die Nerven.

„Zsara“, erwiderte ich nach einigem Zögern so laut ich konnte und ergriff seine Hand. Doch dann wurde ich stutzig. „Wo ist dein Hund?“, wollte ich wissen.

„Mein wer?“ Keith sah sich erstaunt um. „Keine Ahung, das war nicht mein Hund. Der ist mir nachgelaufen...“ Er lächelte mich freundlich an.

Ich versuchte, zurück zu lächeln, doch lieber hätte ich mich übergeben.

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Keith.

„Nein“, erwiderte ich leise, doch auf Grund des Windes konnte er mich nicht hören und deutete mein Schweigen offensichtlich als ein Ja, denn er ließ sich neben mir nieder.

„Ich liebe Sonnenuntergänge“, meinte er nach einiger Zeit.

„Mhm.“ Ich schnalzte mit der Zunge. „Aber noch mehr liebe ich die Ruhe!“ Ob er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte?

Die Sonne war jetzt ganz verschwunden, doch der Himmel war noch immer in ein zartes Rosa getaucht.

„Tja“, ich stand auf und streckte mich, wobei ich auch das Wort dehnte, „es ist schon spät.“ Mein Blick fiel auf meine nichtvorhandene Armbanduhr. „Ich werd dann mal nach Hause gehen.“

So schnell wie möglich versuchte ich mich aus dem Staub zu machen, ohne das Ganze wie den Fluchtversuch aussehen zu lassen, der er ja auch war.

Doch Keith stand auf, reichte mir die Hand und sagte genau das, was ich am wenigsten hatte hören wollen:

„Wenn du nichts dagegen hast, kann ich ja mitkommen.“

Ich zog eine Grimasse und grinste ihn an. „Mhm...“

„Gut, dann also los.“ Er machte ein paar Schritte in die Richtung meines Hauses, doch dann hielt er plötzlich inne, sah mich irritiert an und fragte: „Wo wohnst du überhaupt?“

Nicht minder verwundert sah ich zurück. Er war mit einer solchen Selbstverständlichkeit losmarschiert, dass ich keinen Moment daran gedacht hatte, dass er mein Haus ja gar nicht kennen konnte.

„Da vorne!“, rief ich und deutete in die Richtung.

Keith ging weiter. Der Wind schien keinerlei Kraft gegen ihn auszuwirken. Er stand fest wie ein Fels, während ich mich immer wieder etwas von ihm behindert fühlte.

Erst jetzt fiel mir auf, dass Keith noch immer meine Hand hielt. Ich überlegte, sie ihm zu entziehen, doch vielleicht hätte mich eine heftige Windböe dann weggeblasen?

„Hast du einen Schlüssel?“, rief Keith.

„Die Verandatür ist offen!“, schrie ich zurück.

Er zog mich die Verandatreppe hinauf und als ich an der Tür stehen blieb und zögerte, schob er mich kurzerhand ins Wohnzimmer hinein.

Als wäre es sein Haus und nicht meines, schloss er die Tür hinter uns ab, durchquerte den Raum und schaltete das Licht an. Er fand den Lichtschalter mit einer solchen Sicherheit, dass ich mir tatsächlich nicht mehr ganz sicher war, ob wir nicht doch zu ihm nach Hause gegangen waren.

„Erzähl mir etwas von dir“, bat er mich.

Ich zögerte. Wie gut kannte ich ihn, dass ich ihm von mir erzählen wollte?

„Ich werd es schon niemandem verraten“, lähelte er und fasste mir beruhigend an die Schulter.

Zwar konnte ich nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, aber ich wand mich dennoch unter seiner Berührung. „Natürlich nicht.“

War das wirklich ich, die da redete? Ich hatte keine Übung im Umgang mit anderen Menschen. Normalerweise fühlte ich mich unwohl, wenn ich mit jemandem zusammen war. Doch mit Keith war es anders. Ich hatte das Gefühl, ihn besser zu kennen als mich selbst. Und das, obwohl ich ihn gerade mal seit höchstens fünfzehn Minuten kannte.

„Ähm, ich weiß nicht, was. Das interessiert dich alles nicht“, versuchte ich abzuwehren, doch er schüttelte sofort den Kopf.

„Bitte. Ich will etwas über dich wissen. Und das kann ich nur, wenn du mir was von dir erzählst.“

Er setzte sich an den Tisch, der im Zimmer stand und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen.

Unsicher kaute ich auf meiner Unterlippe herum, während ich seiner Bitte nachkam.

„Es muss ja kein riesen Geheimnis sein“, lenkte Keith ein. „Es reicht mir ja schon, wenn du mir sagst, was dein Lieblingsessen ist.“

Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab kein Lieblingsessen.“

Keith sagte nichts. Er sah mich einfach nur an und wartete, dass ich weiter redete. Doch ich wollte nicht reden.

Ich hatte noch nie mit meinem Menschen über mich geredet und ich hatte keine Ahnug, was ich jetzt sagen sollte...

„Ähm“, ich räusperte mich. „Was ist denn dein Lieblingsessen?“ Eine Gegenfrage zu stellen, würde mich zwar sicher nicht davor retten, ihm eine Antwort geben zu müssen, doch wenigstens würde sie mir etwas mehr Zeit verschaffen.

Keith lächelte. „Ich mag Chilli. Und ich liebe Reis...Du weißt schon, dass ich jetzt normalerweise gesagt hätte, dass ich zuerst gefragt hab?“ Er grinste und ich verdrehte die Augen.

„Kindergarten“, murmelte ich leise vor mich hin.

„Und, was hast du so allein am Strand gemacht?“, fragte ich ihn. Alles, nur keine Antwort geben müssen.

„Was hast du denn allein dort gemacht?“, wollte er von mir wissen.

Ich schüttelte streng den Kopf. „Ich hab zuerst gefragt!“

Keith grinste mich an, als hätte er gerade im Lotto gewonnen.

„Scheiße!“, fluchte ich, als mir auffiel, was ich getan hatte.

Doch ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen wollte. Es ging ihn nichts an, dass mich Sonnenuntergänge faszinierten. Er sollte eigentlich nichteinmal hier sein!

Der Junge lächelte mich aufmunternd an.

„Tja. Reis ist ganz okay“, nuschelte ich und hoffte, dass das Gespräch damit erledigt war, doch mein Gegenüber schien gerade erst so richtig in Fahrt zu kommen.

„Komm schon, Zsara, ich will mich doch nur mit dir unterhalten! Ich will nicht, dass du mir dein Tagebuch vorliest, oder dass du mir einen Schwank aus deiner Jugend anvertraust. Ich will einfach nur ein bisschen reden.“ Erwartungsvoll sah er mich an.

Worauf bitte wartete er? Ich hatte ihm nicht mehr zugehört, nachdem er meinen Namen ausgesprochen hatte.

Viel zu fasziniert hatte ich seinen Mund betrachtet. Es war merkwürdig, doch wenn Keith meinen Namen sagte, dann hörte er sich anders an, als wenn ihn ein Lehrer oder meine Eltern in den Mund nahmen. Bei Keith klang er, als müsste er einem fröhlichen Mädchen gehören. Ich konnte in seiner Stimme den Frühling hören. Wie die Sonne Flecken auf grüne Wiesen malte, wie der Wind durch das Gras pfiff. Er hörte sich nicht mehr wie mein Name an, er hörte sich wie eine Komposition an.

„Zsara?“

Schon wieder. Er hatte schon wieder meinen Namen gesagt! Und er meinte tatsächlich mich.

Vorsichtshalber warf ich einen Blick über die Schulter.

„Ja?“, fragte ich, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er wirklich mich ansah.

„Willst du mir wirklich nichts von dir erzählen?“ Er lächelte mich so unverschämt charmant an, dass ich ihn hätte schlagen können.

„Nein“, entgegnete ich und musste zu Boden sehen, damit ich meiner Stimme die Schärfe geben konnte, die sie haben sollte.

Keith schürzte die Lippen. „Schade“, meinte er allerdings nur.

Erstaunt sah ich ihn an. Er drängte mich nicht? Er versuchte nicht, mich zu überreden, ihm etwas von mir zu erzählen?

Je länger er schwieg, desto sympatischer wurde er mir.

„Tja, ähm, also“, räusperte ich mich nach einer Weile.

Keith sah auf.

Sollte ich tatsächlich mit ihm reden? Wieder kaute ich auf meiner Lippe herum.

Der Junge stand auf, ging zum Lichtschalter und machte das Licht aus.

„Okay, was wird das?“, fragte ich verwundert, als ich versuchte, ihn in der plötzlichen Dunkelheit auszumachen.

„Im Dunkeln kann man leichter reden“, meinte er und ich konnte sein Lächeln spüren.

„Wirklich? Geht dir das auch so?“ Upps. Jetzt hatte ich, ohne es zu wollen, über mich geredet.

Ich hörte Keith leise lachen. „Ja, Zsara, das geht mir ganz genauso.“

Seufzend hörte ich auf seine Stimme. Ich konnte nicht fassen, dass es mein Name war, den er so wundervoll aussprach. Nie hatte jemand meinen Namen so ausgesprochen wie er. Die meisten sagten meinen Namen gelangweilt, genervt oder als hörten sie zum ersten Mal etwas von mir.

Still lächelte ich vor mich hin.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch er genug von mir hatte. Ich würde es schon schaffen, auch ihm klar zu machen, dass ich keine Freunde wollte. Dass ich keine Freunde brauchte!

Aber andererseits...wollte ich das wirklich?

Jetzt, in diesem Moment, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, zu Hause zu sein. Ich fühlte mich wohl, und das lag bestimmt nicht daran, dass ich in meinem Wohnzimmer saß.

Es lag an Keiths purer Anwesenheit.

Missbilligend schnalzte ich mit der Zunge. Irgendwie gefiel mir die Vorstellung gar nicht, dass dieser Junge innerhalb kürzester Zeit solche Gefühle in mir zum Vorschein brachte.

„Was ist los?“, fragte Keith.

„Nichts“, grummelte ich. Taktisch war er nicht sonderlich geschickt. Jedesmal, wenn er mich beinahe soweit hatte, dass ich mit ihm redete, stellte er eine Frage und erreichte damit nur, dass ich wieder auf Rückzug ging.

Oder machte er das absichtlich?

Er schien mir nicht der Typ für viele Fragen zu sein. Auch, wenn ich ihn als solchen kennengelernt hatte, hatte ich das Gefühl, dass das nur eine Rolle war, in die er an diesem Abend geschlüpft war. Vielleicht wollte er damit irgendetwas bewirken...

In Gedanken schrie ich mich selbst an. Ich musste damit aufhören, über ihn nachzudenken! War ich tatsächlich gerade dabei gewesen, ihn zu analysieren?

„Tja. Also, wenn du mir nichts von dir erzählen willst, dann muss ich dir wohl was von mir erzählen...“ Er hielt inne und schien zu überlegen, was er mir anvertrauen konnte. „Ich weiß, dass du denkst, keiner würde dich mögen.“

Ich saß kerzengerade. Woher wusste er das?

„Das war nichts über dich, das war etwas über mich!“, warf ich ihm vor. „Und das geht dich gar nichts an.“

„Und du versuchst, dich von deiner Umwelt abzuschirmen, indem du niemanden an dich ranlässt.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Sobald es wieder hell sein würde und ich sein Gesicht sehen konnte, würde ich ihm eine scheuern.

„Aber weißt du, was ich denke? Ich denke, dass du im Moment nicht so recht weißt, was du mit deinen Gefühlen anfangen sollst. Weil du jemanden wie mich nämlich noch nicht kennegelernt hast.“

Was bildete der sich eigentlich ein? Hatte ich vorhin gesagt, dass er mir sympatisch war? Ich hatte eigentlich gemeint, dass ich ihn hasste.

„Falsch. Bis jetzt hat’s doch ganz gut funktioniert, mit deiner Raterei. Wieso gerade jetzt nicht?“

„Ich bin eben auch nicht allwissend“, erwiderte Keith und es klang wie ein Zischen. Ich hatte das Gefühl, er wusste ganz genau, dass ich nicht die Wahrheit sagte, doch er sagte nichts. Und das machte ihn mir gleich wieder ein Stückchen sympatisch.

Ich verdrehte die Augen und stieß verächtlich Luft aus.

„Zsara! Hör auf, mich so verächtlich zu behandeln!“, rief er. Er klang irgendwie wirklich wütend. Ich musste dem Drang widerstehen, in der Dunkelheit sein Gesicht zu suchen und mit dem Finger über seinen Mund zu fahren.

„Dann rede du gefälligst auch anders mit mir!“, verlangte ich. „Was du da eben gesagt hast, das hat vielleicht wehgetan?! Ich hab meine Gründe, wieso ich mit niemandem etwas zu tun haben will. Und du brauchst nicht zu glauben, dass ich auf dich gewartet hab. Keith, du bist kein Ritter, der irgendwen rettet. Du würdest mir nur gewaltig auf die Nerven gehen, wenn du mich nicht in Frieden lässt!“

Keith hielt inne und ich spürte, dass er mich erstaunt ansah. Einen Moment lang spürte ich seinen Blick auf meinem Mund ruhen, dann riss er sich zusammen und sah wieder in die Richtung meiner Augen. Als er wieder redete, konnte ich das spöttische Lächeln auf seinem Gesicht direkt hören.

„Weißt du was, Zsara, wir werden die nächste Zeit mit einander klar kommen müssen. Und ich denke, es wäre besser, wenn wir uns wenigstens halbwegs gut verstünden.“

Selbst, wenn er meinen Namen in einem solchen Ton aussprach, klang es noch herrlich.

„Wie meinst du das, die nächste Zeit?“ Ich machte Gänsefüßchen mit den Fingern, doch dann fiel mir ein, dass er sie ja gar nicht sehen konnte.

„Tja“, meinte der Junge nur und ich wusste, dass er die Schultern zuckte. „Ich hab nicht vor, dich demnächst in Ruhe zu lassen. Ich finde dich nett und ich denke, dass du viele Freunde haben könntest, wenn du nur wolltest.

Aber ich akzeptiere, dass du das nicht willst. Trotzdem bitte ich dich, dann auch hinzunehmen, dass ich mich um deine Freundschaft bemühen werde.“

Ich verstand nur Bahnhof. Würde er mich jetzt in Ruhe lassen oder nicht?

Ich sah Keiths Umrisse, wie er aufstand und sich Richtung Tür bewegte. Dann ging das Licht wieder an und ich musste blinzeln.

„Ich denke, ich werde jetzt besser nach Hause gehen“, lächelte er.

Wie ferngesteuert nickte ich.

„Aber ich versichere dir, dass wir uns morgen wieder sehen.“

Toll. Dieses Versprechen hätte er sich sparen können. Denn in meinen Ohren klang es im Moment mehr nach einer Drohung.

„Bis morgen“, grinste Keith und ging.

Wenige Augenblicke später hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel, doch ich blieb weiterhin reglos sitzen.

Was war gerade passiert? Hatte ich mich tastächlich mit Keith unterhalten? Ich unterhielt mich nie mit jemandem, wenn es nicht unbedingt notwendig war! Denn dabei kamen immer wieder Emotionen und Gefühle durch.

Und meine Gefühle gingen niemanden etwas an.

Doch eine Frage, die mir noch viel wichtiger war: Wie viel hatte ich heute Abend tastächlich über mich preisgegeben? Dass ich kaum etwas gesagt hatte, schien für ihn aufschlussreicher gewesen zu sein, als hätte ich auf ihn eingeredet.

Eines stand jedenfalls fest: Keith wusste viel zu viel über mich! Und morgen wollte er auch noch wieder kommen...

Ob ich mich verstecken sollte? Aber wo? Ich ging nicht davon aus, dass er einfach wieder gehen würde, wenn ich ihm die Tür nicht öffnete. Viel eher würde er ein Zelt vor meinem Haus aufschlagen, um die Tür im Blick zu haben.

Nachdenklich kaute ich auf meiner Lippe.

Vielleicht musste ich morgen einfach nur so ätzend sein wie es ging. Vielleicht würde er dann einsehen, dass auch er nichts mit mir zu tun haben wollte. Dass er sich nicht um meine Freundschaft bemühen musste, sondern dass er sie sich schenken konnte...

Müde rieb ich mir die Augen. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr richtig denken zu können. Keith hatte mich dafür zu sehr durcheinander gebracht.

Ich stand auf und trampelte die Treppe nach oben in mein Zimmer.

Dort warf ich mich aufs Bett und schloss die Augen. War tatsächlich gerade ich so laut durchs Haus gepoltert? Normalerweise achtete ich immer darauf, nicht zu laut zu sein. Ich mochte keinen unnötigen Lärm.

Oh Gott! Ich hätte Keith erwürgen können. Er brachte mich dazu, meine einfachsten Prinzipen über den Haufen zu schmeißen.

Ich spürte wieder die Wärme auf meinem Gesicht, wie schon am vergangenen Abend, die mich einzuschläfern drohte. Doch ich widerstand der Müdigkeit, die mich so plötzlich überkam.

Ich wollte nicht schlafen. Wenn ich jetzt einschlief, dann würde ich von Keith träumen und das war das Letzte, was ich wollte. Bevor ich beruhigt die Augen schließen konnte, musste ich zuerst auf andere Gedanken kommen.

Doch worüber sollte ich mir Gedanken machen?

Schließlich war Keith der erste Mensch gewesen, der sich für mich zu interessieren schien.

Meine Lippe tat mittlerweile weh von dem ständigen darauf Rumgekaue. Deshalb fing ich an, auf meinem Daumennagel zu kauen.

Bestimmt interpretierte ich einfach zu viel in die Geschehnisse des Abends. Ich war vielleicht einfach nur zu müde, als dass ich alles klar sehen konnte. Wenn ich morgen aufwachte, dann würde alles gleich ganz anders aussehen.
Haha.

Verzweifelt rieb ich mir die Stirn. Wieso hatte er sich auch zu mir setzen müssen? Hätte er mich nicht einfach ignorieren können? Hätte er sich nicht einfach entschuldigen und dann weitergehen können?

Den Köter beschäftigen, der ihm gar nicht gehörte?

Ich stieß Luft aus. Wenn ich ihm morgen etwas klar machen musste, dann das, dass ich nichts mit ihm zu tun haben wollte. Ich wollte ihn nicht einmal kennen. Und vor allem wollte ich nicht mehr ständig an ihn denken müssen!

Unwillkürlich lächelte ich, als sein Gesicht sich in meine Gedanken schlich. Er hatte ein wunderschönes Gesicht. Ebenmäßige Züge, Grübchen, wenn er lachte und die wundervollsten blauen Augen, die man sich vorstellen konnte.

Ein Seufzen kam über meine Lippen.

Und dann erkannte ich, was ich gerade tat und hätte mich selbst umbringen können.

Ich wollte nicht an ihn denken. Oder mir vorstellen, wie ich ihm durchs Haar wuschelte. Das das schönste Hellbraun hatte, das ich je gesehen hatte.

Nein, nicht schon wieder! Ich biss mir auf die Lippe und zuckte vor Schmerz zusammen.

Für einen Moment dachte ich nicht an Keith.

Moment...Ich runzelte die Stirn. Ich musste nich an Keith denken, wenn mir etwas wehtat?

Einen kurzen Augenblick zögerte ich noch, dann biss ich mir so fest es ging auf die Lippe.

Tatsächlich. Es funktionierte! Ich dachte wirklich nicht mehr an Keith, oder seine tollen Augen, oder seine braunen Haare oder seinen muskulösen Körper...

Verdammt. Es funktionierte kein Stück!

Frustriert hörte ich auf, mir selbst weh zu tun und strich mit der Zunge vorsichtig über meine Lippen. Sie bluteten und ich verzog angewidert das Gesicht.

Ein plötzliches Klopfen gegen meine Fensterscheibe ließ mich erschrocken zusammen fahren.

Ruckartig setzte ich mich auf und sah hinaus in die Dunkelheit. Bis ich plötzlich Keiths Kopf von meinem Fenster auftauchen sah.

Überrascht sprang ich von Bett und lief zum Fenster.

Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, es so ungeschickt aufzumachen, dass ich es ihm gegen den Kopf knallte und er vom Fensterbrett fiel, damit er wie jeder andere normale Mensch an der Haustür klopfen musste.

Doch ich war nett genug, es nicht zu tun.

„Was willst du hier?“, zischte ich durch das geschlossene Fenster.

„Ich hab was vergessen!“, gab er mir Antwort.

Genervt verdrehte ich die Augen. „Was denn?“, wollte ich wissen. „Ich hol’s dir.“ Doch dann fiel mir eine viel bessere Frage ein, nämlich: „Wieso klopfst du dann überhaupt an mein Zimmerfenster. Du warst gar nicht hier oben!“

„Bitte, Zsara, ich hab nicht sowas vergessen, sondern ich muss dir noch was sagen!“

„Mach...“

„Es ist scheiß kalt hier draussen, lass mich bitte rein!“

Augenrollend öffnete ich das Fenster und rammte es ihm nur ein ganz kleines bisschen gegen die Schulter, doch er schien es nichteinmal zu bemerken.

„Wie bist du überhaupt an mein Fenster gekommen?“, fragte ich mehr neugierig als sauer.

„Aufs Garagendach geklettert, dann aufs Fensterbrett vom Nachbarzimmer und dann rübergeklettert“, zählte er an den Fingern auf.

Wollte er damit angeben? Wollte er mich tatsächlich beeindrucken? Wenn ja, dann war ihm das gelungen, doch das würde ich nie im Leben zugeben.

„Also, was wolltest du mir sagen?“, fragte ich, ohne weiter auf seine sportlichen Leistungen einzugehen.

„Ähm...vergessen.“ Er grinste so unverschämt, dass ich ganz genau wusste, dass er mir nichts zu sagen gehabt hatte.

„Dann geh wieder. Oder soll ich dich aus dem Fenster schubsen?“

„Nicht nötig.“ Er grinste noch immer, machte allerdings keine Anstalten zu verschwinden. Im Gegenteil! Er setzte sich auf mein Bett und sah sich in meinem Zimmer um.

Nervös beobachtete ich ihn, während er den Raum unter die Lupe nahm.

Was in meinem Zimmer war, ging ihn überhaupt nichts an. Er dürfte gar nicht hier sein.

Nichteinmal meine Geschwister waren bisher in meinem Zimmer gewesen. Und die lebten mit mir zusammen.

„Tja.“ Keith schnalzte mit der Zunge. „Dann hab ich dieses Zimmer auch mal gesehen, hm?“

Genervt schloss ich die Augen und atmete einmal tief durch.

„Hau ab!“, schnauzte ich ihn dann an.

„Wieso?“ Irritiert sah er mich an. Wieso war er bitte irritiert?! Fand er es etwa normal, bei fremden Mädchen mitten in der Nacht ins Zimmer einzusteigen?

„Du verwirrst mich!“, rief ich und wollte mir im nächsten Moment die Zunge abbeissen.

Keith hatte genau gehört, was ich gesagt hatte. Frech blitzte er mich an und meinte: „Siehst du, es geht doch...“

„Hau ab!“ Meine Stimme war ruhig und beherrscht, doch in mir brodelte es.

Der Junge schien das zu merken und rutschte vorsichtshalber aus meiner Reichweite. „Tja, dann wird ich jetzt mal gehen...Hat mich gefreut...Bis morgen dann!“

„Hau ab!“, rief ich und wies in Richtung Fenster.

Er grinste mich noch einmal an und kletterte dann nach draussen.

So ein Idiot. Was bildete der sich eigentlich ein?

Verbissen legte ich mich auf mein Bett zurück. Ich wusste die Stelle, an der er gesessen hatte, ganz genau und ich musste mich arg zusammenreissen, nicht mit den Fingern darüberzufahren. Doch irgendwann wurde der Drang zu stark und ich beschloss, mich lieber auf meine Hände zu legen.

Schön. Ich war beinahe so weit gewesen, ihn aus meinen Gedanken zu bekommen.

Haha.

Aber er musste ja genau in dem Moment klopfen, in dem ich ihn am wenigsten brauchen konnte.

Und jetzt konnte ich nur versuchen, nicht an sein Grübchenlächeln zu denken. Und nicht an seine strahlenden Augen. Und nicht an seine verwuschelten braunen Haare. Und nicht an die Art, wie er meinen Namen sagte. Und auch nicht daran, dass er gerade eben noch auf meinem Bett gesessen hatte. Und – verdammt. Ich tat es schon wieder.

Ich würde noch durchdrehen!

Ich schloss die Augen und atmete tief durch.

Wenn ich jetzt ganz ruhig war und einfach an etwas schönes dachte – das nicht Keith hieß –, dann würde ich vielleicht endlich einschlafen können.

Was war an diesem Tag schön gewesen? Der Sonnenuntergang?!

Nocheinmal atmete ich tief durch und dachte an das Rauschen des Meers. An die Farben des Himmels. An das Ziehen, wenn der Wind durch meine Haare fuhr. An das Kreischen der Möwen.

Eine seltsame Ruhe überkam mich. Etwas, das ich an diesem Tag nicht mehr für möglich gehalten hätte.

Und dann spürte ich wieder die einschläfernde Wärme.

3. Kapitel



Müde schlug ich die Augen auf. Die Sonne war schon längst aufgegangen. Sie stand bereits hoch am Himmel.

Ich setzte mich im Bett auf, streckte mich und gähnte ausgiebig.

Was hatte ich nur für Schwachsinn geträumt. Irgendwas von einem Keith...

Ich schnaubte. Wie konnte ein solcher Traum überhaupt zu Stande kommen? Kopfschüttelnd stieg ich aus dem Bett und durchquerte mein Zimmer, um das Fenster zu öffnen.

Es war ein wuderschöner Tag. Leichter Wind fuhr durchs Gras und zu viele Leute streckten sich am Strand.

Ich verdrehte die Augen. Das bedeutete, dass ich den ganzen Tag im Haus verbringen würde, bis der Strand wieder so leer war, dass ich ihn auch betreten wollte.

Wieso mussten diese ganzen Menschen immer an den Strand gehen? Konnten sie sich nicht einfach ein anderes Ziel suchen?

Als wir in dieses Haus gezogen waren, hatte ich meinem Vater gesagt, er solle das Stück Strand vor unserem Haus auch kaufen, damit wir nicht ständig wildfremde Menschen vor der Tür hätten, aber er hatte nur den Kopf geschüttelt. Ich konnte das nicht verstehen. Ich hätte es sofort gemacht, einen fetten Zaun darum gezogen und jedem Menschen, der den Zaun blöd ansah, die Zunge rausgestreckt.

Ich schlurfte zum Bett zurück und wollte mich eigentlich darauf fallen lassen, doch plötzlich machte sich mein Magen bemerkbar und ich beschloss, etwas zu essen.

Also zog ich mir schnell ein anderes Oberteil an, trottete anschließend aus dem Zimmer, trampelte die Treppe hinab und ging in die Küche. Und dann stand ich vor einem leeren Kühlschrank.

Am liebsten hätte ich laut geschrien, stattdessen stöhnte ich nur genervt, warf den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke.

Ich würde einkaufen gehen müssen. Und dazu musste ich aus dem Haus gehen. Und mich zu anderen Menschen gesellen, die alle laut waren und sich fröhlich unterhielten. Ich würde meine Wut auf all diese Menschen an den Kassieren auslassen müssen, die mir eigentlich gar nichts getan hatten. Und das nur, weil keiner der anderen Einkäufer kapierte, dass er nicht jeden mit seinen uninteressanten Problemen belästigen musste, die er und seine Nachbarin sich gegenseitig durch die Flure zuriefen.

Einkaufen trieb mich immer wieder an den Rand des Wahnsinns.

Ich warf die Kühlschranktür zu, verließ die Küche und ging aus dem Haus.

Draussen fiel mir auf, dass ich noch immer meine Schlafanzughose trug, und ich musste die Tür nocheinmal aufschließen und mich umziehen.

Als ich wieder vor draussen stand, diesmal fertig angezogen, tastete ich meine Taschen nach meinen Schlüssel ab und erkannte, dass ich meinen Geldbeutel vergessen hatte.

Und als ich zum dritten Mal wieder vor der Haustür stand, fiel mir plötzlich ein, dass ich keine Tasche dabei hatte und musste erneut die Tür aufsperren.

Extremst genervt ging ich das Treppchen vor der Haustür hinuter und stampfte den Weg zum Bus.

Scheiß Tag. Scheiß Leben. Scheiß Welt.

Mir fiel mein Traum wieder ein und meine Laune sank noch mehr.

Scheiß Träume.

Dieser Traum war auf eine Weise wunderbar gewesen, wie ich es mir nie hätte erträumen lassen. Keith war perfekt in jeder Hinsicht und es war unmöglich, dass es einen Jungen wie ihn in Wirklichkeit auch gab. Das war doch zum Kotzen!

Mein Bus kam, mürrisch stieg ich ein.

Ich wollte nicht über diesen Traum nachdenken, das machte mich nur noch ungemütlicher für alle anderen.

Ohne darauf zu achten wohin ich ging, stieg ich aus. Ich ging einfach gegen den Strom der Menschen, rempelte jeden an, der dachte, ich müsse ihm ausweichen, und ließ mich von ihnen beschimpfen.

Und dann betrat ich den erstbesten Supermarkt, den ich fand.

Ich kaufte nicht viel. Nur einen Laib Brot und etwas Obst und Gemüse. Dann ging ich an die Kasse und zahlte, bevor ich, vor Erleichterung aufstöhnend, wieder die Straße betrat.

Ich ging die Straße entlang, auf der Suche nach einer Bushaltestelle und sah mir die Häuser an. Es waren Wohnhäuser, doch obwohl es ein wunderschöner warmer Tag war, war kein einziges Fenster geöffnet.

„Hey! Zsara!“, rief jemand. Verwundert sah ich mich um. Ich konnte niemanden in der Menschenmasse ausmachen, den ich kannte.

„Achtung!“, schrie jemand und ich wurde von hinten geschubst. Ich stürzte nach vorne zu Boden und hörte, wie hinter mir scheppernd etwas zu Boden fiel. Ein paar Leute schrien.

„Pass doch auf!“, fuhr mich eine etwas rundliche Frau an, die ich meinem Sturz angerempelt hatte.

„Ich hab nichts gemacht!“, schnauzte ich zurück. „Ich wurde geschubst!“

Sie schnaubte ungläubig. „Von wem?“

Ich drehte mich um, um dem Schuldigen ins Gesicht zu sehen, doch da war niemand.

Plötzlich stand ein junger Mann neben mir und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen.

Ich ignorierte sie und stand allein auf.

„Da haben Sie wirklich Glück gehabt!“, meinte der Mann und sah mich ernst an.

„Wieso?“, fragte ich. Ich klang unfreundlicher, als ich klingen wollte.

Der Mann verzog leicht das Gesicht, wies dann aber auf etwas, das hinter mir am Boden lag.

„Wenn Sie das getroffen hätte, dann wären sie bestenfalls im Krankenhaus wieder aufgewacht!“

Verwundert sah ich zu Boden. Hinter mir lag ein Blumenkasten, der von einem der Fenster gefallen sein musste.

Geschockt sah ich das Teil an. Gehörten die Dinger nicht eigentlich festgeschraubt? Wie hatte sich dann eines lösen können?!

Der junge Mann lächelte mir noch einmal zu und ging dann wieder.

Ich aber starrte wie versteinert auf den Blumenkasten. Ich war doch geschubst worden! Wenn jemand gesehen hatte, dass ich direkt darunter lief, wieso war er dann nicht geblieben, um sich ein Dankeschön von mir zu holen?

Alle Menschen waren immer auf ein Danke aus!

Oder war es ein Gestörter gewesen, der einen auf geheimen Superhelden machte und nur dann zuschlug, wenn ihn niemand erkannte?

Solche Typen waren genauso schlimm, wie die, die auf einen Dank auswaren. Allerings konnte ich geheime Superhelden doch einen Tick besser leiden, weil sie einen in Ruhe ließen. Und, weil man sie nicht sehen musste.

Sie spielten sich dann auch nicht groß auf, wenn sie etwas wirklich mutiges getan hatten und das Fernsehen sie interviewen wollte oder so.

„Kannst du vielleicht mal entscheiden, in welche Richtung du gehen willst? Aber geh mir endlich aus dem Weg!“, fuhr mich jemand an.

Natürlich. Geh mir aus dem Weg. Kein, geh uns aus dem Weg. Jeder dachte nur noch an sich.

„Bei so ’nem Ego braucht man schon ’ne Menge Platz, hm?“, schnauzte ich zurück und ging.

Der Kerl sah mir mit offenem Mund nach. „So was kenn ich aus Filmen!“, rief er schließlich noch. „Aber die waren alle schlecht!“

„Ich kann nichts dafür, wenn Sie keine guten Filme aussuchen können!“, antwortete ich und ging weiter.

Jetzt blieb auch er in dem Menschenstrom stehen, kehrte um und ging zu mir an die Bank, auf die ich mich gesetzt hatte.

„Suchst du irgendwie Ärger, oder so?“

„Klar. Ich streite mich gerne mit solchen Idioten wie Sie einer sind. Ich mach den ganzen Tag nichts anderes. Und, oh – Sie haben den Platz wohl nicht für Ihr Ego gebraucht, hm?“ Ich warf einen kritischen Blick auf den Bauch des Mannes.

Sein Gesicht nahm einen unnatürlichen Rotton an und ich grinste mir insgeheim ins Fäustchen.

Was ich hier von mir gab, waren nicht die frechsten und schlagfertigstens Kommentare, die es gab, aber es tat mir gut, meiner Wut auf all diese Menschen etwas Luft zu machen.

„Ich mache bereits eine Diät, okay?“

Ich grinste ihn breit an. „Gummibärchen und Schokolade? Die mach ich auch...Wir haben ja so viel gemeinsam. Darf ich Du sagen?“

Der Mann sah aus, als würde er gleich vor Wut platzen.

„Was fällt dir eigentlich ein, sowas zu mir zu sagen? Ich bin eine Repektsperson!“

„Oh! Das erklärt so einiges! Sie sind Lehrer!“

„Nein. Ich bin nicht Lehrer!“, presste der Mann mühsam zwischen den Zähnen hervor. „Und ich weiß auch nicht, was das erklären sollte, aber wenn du nicht augeblicklich - “

„Tja, war schön Sie kennenzulernen. Aber ich muss weiter.“ Ich tätschelte ihm den Arm, sprang auf die Beine schlenderte davon.

Perplex und mit offenem Mund sah er mir nach.

Ich wusste nicht, wieso ich gegangen war. Ich hatte einfach das Gefühl gehabt, dass es jetzt Zeit war, bevor der Mann nicht doch noch die Beherrschung verlor und er ausholte und mir eine schmierte.

Jetzt, wenn ich so darüber nachdachte, dann bildete ich mir sogar ein, dass eine Stimme zu mir gesagt hatte, das würde reichen.

Ich schüttelte den Kopf. So viel wie gerade eben, hatte ich nur selten mit einem fremden Menschen geredet.

Natürlich bildete ich mir nur ein, dass jemand mir Ratschläge gab, das Gespräch zu beenden. Das war nur mein Unterbewusstsein gewesen, das das Gespräch schon die ganze Zeit über hatte abbrechen wollen.

Ich rieb mir den Kopf. Der ganze Lärm der Stadt bereitete mir Kopfschmerzen.

„Hey, bleib stehen!“, schrie plötzlich jemand.

Verwundert nahm ich die Hand vom Gesicht. Meinte der mich? So oft war ich noch nie an einem Tag angesprochen worden.

Hinter mir war niemand. Nur etwas weiter von mir entfernt standen ein paar Menschen an einer – Ampel. Verdammt! Ich hatte nicht gesehen, wohin ich ging und jetzt war es zu spät.

Mein Blick schnellte nach links. Da kam ein Auto – direkt auf mich zugefahren. Der Fahrer schien mich nicht zu sehen.

Wie erstarrt stand ich da. Ich nahm nichts mehr um mich herum war. Ich konnte nur noch das Auto sehen.

Ich hatte mich immer tierisch darüber aufgeregt, dass in den Filmen kein Mensch geistesgegenwärtig genug war, sich aus der Schusslinie zu werfen, damit er nicht überfahren wurde. Doch jetzt verstand ich erst, dass das kein bescheuerter Hollywood-Tick war, sondern dass es einem tatsächlich so ging. Man konnte sich nicht mehr bewegen. Das rationale Denken setzte aus. Aber leider setzte auch kein anderes Denken ein. Kein Instikt, der einem sagte, man müsse nur zu Seite springen, um aus der Gefahrenzone zu sein. Stattdessen setzten einfach alle motorischen Fähigkeiten aus.

Das Auto kam immer näher. Es war zu schnell dran, doch auf mich wirkte es, als kröche es quälend langsam über die Straße auf mich zu. Nur, um mich zu überfahren.

„Du spinnst doch!“

Ich nahm es nicht wirklich wahr, ich hörte es nur dicht neben meinem Ohr. Dann wurde ich umgerissen und aus der Bahn des Autos gestoßen. Ich stürzte zum zweiten Mal an diesem Tag zu Boden.

Das Auto preschte an mir vorbei.

Zitternd richtete ich mich auf. Doch niemand stand hinter mir.

Einige Passanten scharten sich um mich. Manche schrien. Andere sahen aus, als wollten sie weinen und mich in den Arm nehmen – das waren ausschließlich Frauen. Doch niemand sah so aus, als hätte er mir gerade das Leben gerettet.

„Alles okay?“, schrie jetzt jemand direkt in mein Ohr, sodass ich das Gefühl hatte, mein Trommelfell schwinge wie ein extrem weiches Trampolin, auf dem fünf Kinder hüpften.

„Ja, Mann! Du brauchst nicht so zu schreien!“, schrie ich zurück.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: H. Grillenberger
Bildmaterialien: H. Grillenberger
Cover: H. Grillenberger
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2013
ISBN: 978-3-7396-6322-7

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