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Teil 1



„Da, bitte! Das ist das Letzte, was ich von ihnen gehört habe!“ Meine Mutter fuchtelte wie wild mit einem Stück Papier vor meiner Nase herum. Ihr Haarturm wackelte dabei bedenklich.
„Ich kann’s nicht lesen, wenn du so wackelst!“, warf ich vor.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte sie mir den Brief geben, doch gerade als ich danach greifen wollte, riss sie ihn wieder an sich und begann, laut vorzulesen.
„Hallo Mama, hallo Papa, hallo Rest“ – ich schnaubte leise – „uns geht’s fantastisch. Die frische Luft hier tut uns beiden wirklich gut, wir sehen unglaublich gesund aus und haben beide Farbe gekriegt. Es war eine wirklich geniale Idee, während der Flitterwochen in Richtung Sonne zu reisen. Wir haben uns schon überlegt, vielleicht doch für immer hier zu bleiben. Aber darüber müssen wir uns nochmal unterhalten. Ich melde mich bald wieder, Gruß an alle.“
„Und?“, fragte ich und gähnte gespielt.
Die Augen meiner Mutter begannen gefährlich zu blitzen. Wenn es um meine Schwester, ihren Liebling, ging, hatte sie noch nie Spaß verstanden. „Dieser Brief kam vor über drei Wochen!“, schrie sie mit schriller Stimme. „Sie wollten schon lange wieder da sein! Und sie haben sich noch nicht wieder gemeldet, so wie sie es eigentlich versprochen hatte!“
„Beruhige dich mal wieder!“ Das war mein Vater. „Sie ist mittlerweile erwachsen! Sie ist sogar schon verheiratet. Du kannst nicht mehr jeden ihrer Schritte kontrollieren, und das solltest du auch nicht. Lass sie doch ihren Spaß haben, wenn ihr danach ist, dann meldet sie sich schon!“ Nach diesen Worten verschanzte er sich wieder hinter seiner Zeitung – seine einzige Möglichkeit, den bösen Blicken meiner Mutter zu entfliehen.
„Nein. Das werde ich nicht akzeptieren. Stellt euch vor, ihr wäre etwas passiert! Und wir würden es nie erfahren, weil ihr beiden denkt, ich sollte ihr ihren Freiraum lassen!“
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte ich, wenig interessiert.
Sie dachte kurz nach, dann huschte plötzlich ein Lächeln über ihr Gesicht. Ich bemerkte es leider erst zu spät, sonst hätte ich mich in Sicherheit gebracht, bevor sie ihren Blick auf mich richten konnte. Schließlich wusste ich genau, was ihr Lächeln in solchen Situationen bedeutete.
Doch jetzt war es leider zu spät. Ich sah die Idee erst in ihren Augen aufblitzen, als sie mich bereits bis über beide Ohren anstrahlte.
„Rod“, fing sie an.
„Nein, vergiss es!“, ging ich sofort dazwischen, doch sie ignorierte meinen Einwand.
„Du wirst ihr nachreisen!“
Ich schüttelte heftig den Kopf, wollte lautstark protestieren, meine Mutter ließ es jedoch nich dazu kommen, indem sie ungerührt weitersprach und mich nicht zu Wort kommen ließ.
„Du wirst deine Schwester finden und wenn es ihr gut geht, dann – tust du einfach so, als würdest du sie nur zufällig treffen.“
Ja, das war unfassbar glaubwürdig.
„Und wenn es ihr nicht gut gehen sollte, dann kannst du ihr sagen, dass ihre Mutter es gespürt hat, dass ihr etwas fehlt. Und dass sie, wenn sie Probleme hat, wieder nach Hause kommen soll.“ Leise fügte sie noch hinzu: „Ich hab ja immer gesagt, sie sollte diesen Kerl nicht heiraten!“
Mein Vater murmelte etwas unverständliches hinter seiner Zeitung. Ich war mir sicher, er machte sich über meine Mutter lustig. Meine Mutter war sich sicher, er stimmte ihr zu.

Teil 2



„Es tut mir leid, dass wir Sie und Ihre Familie nicht verständigt haben, wir wussten nur nicht, in welcher Richtung wir nach Ihnen suchen sollten, verstehen Sie? Wir hatten keinen Namen der beiden, keinen Wohnort, nichts.“
Der Polizist sah mich an, als erwartete er, dass ich mich in der nächsten Sekunde an seinen Hals werfen würde, um ihm seine Uniform voll zu rotzen.
Doch ich tat nichts dergleichen. Stattdessen stand ich nur regungslos da und starrte irgendwie teilnahmslos auf den vertrockneten Körper meiner Schwester, wie sie dort vor mir lag. Die langen Haare waren ihr abgeschnitten worden. Bis zur Hälfte des Rumpfes war sie in kleine Stückchen zerhackt worden.
„Wer tut denn sowas?“, fragte ich, als mein Blick auf ihren Mann fiel, der neben ihr lag und der auf die gleiche Weise zerstückelt worden war, doch einige seiner Körperteile fehlten.
„Das wissen wir leider nicht“, gab der Beamte zu. „In letzter Zeit geschehen Verbrechen dieser Art immer häufiger in unserer Gegend. Aber da die Opfer nicht auf die gleiche Art zerschnitten werden, müssen wir davon ausgehen, dass es sich um mehrere Täter handelt.“ Er legte mir die Hand auf die Schulter, wohl um sein Mitgefühl auszudrücken. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm das für Sie sein muss...“
Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu, dann sah ich wieder auf meine Schwester. Tatsächlich regte sich in mir nichts als leichter Ekel.
Sie und ich, wir hatten uns nie sonderlich nah gestanden. Es war, als hätten wir nicht dieselben Wurzeln. Doch ihr Tod erschütterte mich tragischer Weise nicht im mindesten.
Vielleicht deshalb, weil bereits einige meiner Freunde auf rätselhafte Weise verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Abends ging man von einem Besuch bei ihnen nach Hause, am nächsten Morgen waren sie einfach nicht mehr da.
Dass der Körper meiner Schwester gefunden worden war, nahm die Ungewissheit. Und irgendwie gab es mir erschreckender Weise ein kleines bisschen Trost.
Wenngleich mir ein Schauer über den Rücken lief, wenn ich daran dachte, dass es auch mich treffen könnte.
„Ich verspreche Ihnen, wir finden die Mistkerle!“, platzte der Polizist plötzlich in meine Gedanken. Er schien mein Schweigen falsch gedeutet zu haben, doch das war mir gleich.
Eines war sicher: Ich konnte nicht nach Hause, ohne den Mörder meiner Schwester gefunden zu haben. Sonst würde meiner Mutter das gleiche mit mir anstellen, was dieser Irre dadraussen mit seinen Opfern anstellte.

Teil 3



Wo sollte ich anfangen, nach dem Mörder meiner Schwester zu suchen? Das Feld hier war groß. So viel größer als das, auf dem ich aufgewachsen war.
Nachdenklich fuhr ich mir mit meinen schmutzigen Fingern durch den Büschel grüner Haare, der aus meinem Kopf spross. Er war noch nicht so lang, wie der meiner Schwester gewesen war, doch sie war ja schließlich auch schon älter als ich gewesen.
Hatte der Polizist nicht gesagt, derartige Morde geschahen in letzter Zeit immer häufiger?
Was wäre, wenn ich mich auf die Lauer legte? Natürlich brachte ich mich damit selbst in Gefahr, aber vielleicht hatte ich ja Glück – in doppelter Hinsicht. Vielleicht würde ich mit dem Leben davon kommen und dennoch den Mörder meiner Schwester – und so vieler anderer – finden...
Nocheinmal dachte ich daran, was geschehen würde, wenn ich ohne meine Schwester nach Hause zurück kommen würde ... Ich musste es einfach riskieren!
„Darf ich fragen, was du da machst?“
Überrascht sah ich auf. Vor mir stand eine äusserst attraktive junge Karotte. Perfekt orange, ihre Haare hatten das satteste Grün, das ich je gesehen hatte.
„Ich – äh - “, stotterte ich.
Reiss dich zusammen! Die Helden lassen sich immer auf irgendwelche Schnallen ein, und zum Schluss müssen sie die dann retten. Dazu hast du keine Zeit! Konzentrier dich lieber darauf, den Mord an deiner Schwester aufzuklären!, schrie ich mich in Gedanken an.
„Nach was sieht’s denn aus?“, meinte ich daher nur kühl.
„Nach ’nem verzweifelten Vollidioten, der seine Hände im Matsch vergräbt und diesen dann in die Luft wirft...“, entgegnete sie, nicht minder unfreundlich.
„Okay, okay. Ich – ähm. Hast du schon was von den Morden hier auf dem Feld gehört?“, fragte ich vorsichtig.
Sie nickte. Irgendwie sah sie geknickt aus.
„Meine Schwester wurde umgebracht. Und ich versuche, ihren Mörder zu finden.“
Ich Idiot. Ich hatte ihr verraten, das ich Detektiv spielen wollte. Wie ein kleines Kind. Jetzt würde sie mich sicher auslachen.
„Okay, ich helf dir!“
„Bitte was?“ Überrascht sah ich auf, doch sie erwiderte meinen Blick nur ernst. Keine Spur eines Lachens war darin zu entdecken.
„Ja, der Kerl hat auch meinen Bruder auf dem Gewissen. Wir standen uns sehr nahe. Ich will, dass ihm das Handwerk gelegt wird!“
Einen kurzen Augenblick lang freute ich mich. Dann fiel mir auf, dass ich tatsächlich ein riesen Idiot war. Jetzt hatte ich doch eine Partnerin. Die zum Schluss hin sicher in Schwierigkeiten geraten würde.
„Wehe, du stellst dich dumm an!“, warnte ich daher die vollkommen verständnislos Dreinblickende, mit erhobenem Zeigefinger.

Teil 4



Nachdem wir einige Stunden ziellos nebeneinander über das Feld spaziert waren, setzten wir uns schließlich in den Schatten eines Steines und ruhten uns ein wenig aus.
Karo – so hieß meine bildhübsche Begleiterin – beäugte mich misstrauisch von der Seite.
„Hast du überhaupt irgendeine Ahnung, was du tun willst, um den Mörder zu finden?“
Augenrollend sah ich sie an. „Tz! Natürlich! Was denkst du denn!“ Ich hatte keinen Plan.
„Seit Stunden rennst du nur blöd in der Gegend rum, wirkst so, als würdest du dich am liebsten wieder in die Erde zurück verkriechen und laberst nur irgendwelchen Müll, der uns sicher nicht weiter helfen wird!“ Mit zornig funkelnden Augen stand sie auf.
„Äh...“
„Das ist reine Zeitverschwendung mit dir!“, warf sie mir vor.
Plötzlich legte sich ein riesiger dunkler Schatten über uns. Er war so groß, dass er sogar den Stein in Schatten warf; doch Karo steigerte sich gerade so in ihre Schimpftirade, dass sie nichts bemerkte.
„Ähm, Karo? Was - “, setzte ich an, doch sie fiel mir ins Wort.
„Was ich dir sagen will? Ganz einfach: Mach deinen Scheiß allein!“ Sie wandte sich zum Gehen, doch plötzlich, wie aus dem Nichts, schoß eine riesige, rosafarbene Hand vom Himmel herab, packte Karo an den Haaren und hob sie empor.
Schnell versteckte ich mich hinter dem Stein.
Karo schrie und zappelte, doch sie hatte keine Chance. Etwas riesiges, das seinen rosafarbenen Körper unter verschiedenen Stoffen versteckte, hielt sie erbarmungslos fest.
Hilflos musste ich dabei zusehen, wie sie in einen monströsen Korb gesteckt wurde, der anschließend auf einem riesigen Auto verstaut wurde.
Noch immer hörte ich leise ihre erstickten Schreie.
Da hatten wir’s. Es war ja von vornherein klar gewesen, dass ich sie irgendwann retten musste...
Todesmutig rannte ich auf das Auto zu, kletterte geschickt auf die Ladefläche und versteckte mich dort unter einer Plane.
Mit laut röhrendem Motor setzte sich das Auto in Gang. Zunächst fuhren wir eine holprige Strecke, das Dröhnen des Motors war zu laut, als dass ich hätte erkennen können, ob Karo noch um Hilfe rief.
Als wir nach einiger Zeit allerdings eine ebnere Fahrbahn erreichten und sich auch der Fahrer des Autos einen angenehmeren Fahrstil angeeignet zu haben schien, meinte ich plötzlich mehrere Stimmen aus dem Korb dringen zu hören, als nur die meiner Partnerin.
Jedoch war mir klar, dass ich jetzt nichts ausrichten konnte, um diesen armen Karotten zu helfen. Ich konnte nur abwarten und hoffen, dass sich irgendwann eine Möglichkeit ergab, ihnen zur Flucht zu verhelfen.
Wenig später hielten wir vor einem riesigen Gebäude. Das monströse Geschöpf, das Karo und die anderen gefangen genommen hatte, kam nach hinten und hob den Korb von der Ladefläche.
Dummerweise war die Plane, unter der ich mich versteckt hatte, während der Fahrt etwas verrutscht, ohne dass ich es bemerkt hätte.
„Wo kommt die denn plötzlich her?“, hörte ich eine tiefe Stimme fragen. Im nächsten Moment wurde ich an meinen Haaren aus meinem Versteck gezogen. Ich beschloss, mich so still wie möglich zu verhalten, um ihn nicht unnötig zu provozieren. Das gelang mir erstaunlich gut, obwohl ich eine Heidenangst hatte und mein Herz wie verrückt schlug.
„Seltsam.“ Der Riese stellte den Korb wieder auf die Ladefläche, hielt mich direkt vor sein hässliches Gesicht und kratzte sich am Kopf. Dann zuckte er nur die Schultern, und warf mich zu den anderen in den Korb.
„Autsch!“, rief ich, als ich unsanft auf ein paar Kameraden landete. Auch diese stöhnten. Gott sei Dank hatte sich aber niemand ernsthaft verletzt.
„Rod? Was machst du denn hier?“ Karo trat aus dem Schatten und sah mich fragend an.
Gerade als ich ihr ganz lässig antworten wollte, dass ich hier war, um sie zu retten, wurde der Korb unsanft auf den Boden gestellt und wir alle flogen wild durcheinander.
Als ich mich wieder gesammelt hatte und gerade erneut zu einer Antwort ansetzen wollte, hörte ich von draussen wieder eine Stimme. Dieses Mal war es die einer Frau. Sie schien zu schimpfen.
„Also?“, wollte Karo wissen.
„Pscht!“, fuhr ich sie an und presste mein Ohr gegen die Korbwand.
„Ich hab dir schon hundert Mal gesagt, du sollst alle

Karotten her bringen!“, dröhnte die Frau dort draussen. „Irgendwann werden sie uns noch erwischen!“
Oh, die gute Frau hatte ja keine Ahnung, wie dicht ich ihnen bereits auf den Fersen war.
„Wenn du die Hälfte ungegessen da draussen rumliegen lässt, wird sie sicher irgendwann jemand finden!“
Wenn – Moment! Hatte sie gerade gesagt: Ungegessen?! Sie aßen

Karotten?!
Um Gottes Willen – ich musste hier raus! Sonst war ich vielleicht der Nächste...!
„Ja, ich weiß, dass sie uns sowieso schon verdächtigen“, donnerte nun die Stimme des Riesens durch die Luft, der mich zuvor in den Korb geworfen hatte. „Aber sie haben so viele Karotten und sie werden’s verkraften!“
„Was reden die da draussen?“, schaltete sich nun plötzlich Karo wieder ein. Ich hatte sie komplett ausgeblendet, sodass ich jetzt wie von der Tarantel gestochen hochfuhr, zu ihr herumwirbelte und sie geschockt anstarrte.
„Alles in Ordnung?“, grinste sie. Die hatte vielleicht Nerven!
„Ja, alles bestens...“ Konnte ich es wagen, ihr die Wahrheit zu sagen? Das niemand von uns das hier überleben würde?
Ich beschloss: Nein. Zumindest noch nicht gleich. Erst wollte ich die dadraussen noch etwas belauschen, ob es nicht doch eine Möglichkeit für uns gab.
„Pscht!“, machte ich daher wieder und hob zur Verdeutlichung sogar den Zeigefinger an die Lippen, doch dieses Mal schien das keinen der anderen so wirklich zu kümmern. Plötzlich begannen sie alle durcheinandern zu reden. Alles was ich von der Unterhaltung der Riesen noch mitbekam war, dass es sich bei dem Feld, auf dem meine Schwester ermordet worden war, wohl um das Feld der Tante des einen Riesen handelte. Und dass diese Tante – also, entweder sie war eine Karottenfreundin, die uns nichts antun würde, oder sie war ein Karottenfresser der übelsten Art, und sie wollte ihrem Neffen auf keinen Fall etwas von ihren Karotten abgeben.
Ich musste hart schlucken. Wie zum Teufel sollte ich hier rauskommen?
Nur zur Probe versuchte ich, an der Korbwand nach oben zu klettern, doch das funktionierte nicht. Es gab einfach nicht genug Flächen, an denen ich mich festhalten konnte.
„Neulich hab ich zwei Karotten gegessen, ich glaub, die wollte schon jemand anderes stehlen!“, meldete sich plötzlich der Riese wieder zu Wort.
„Wieso das?“, fragte die Frau. Sie schien gelangweilt zu sein.
„Naja, die lagen da so in der Sonne rum, als hätte sie schon jemand aus dem Boden gezogen!“
In der Sonne? Hatte nicht meine Schwester gesagt, dass ihr und ihrem Mann die Sonne so gut tat?
„Die waren so richtig dunkelorange!“
Und hatte sie nicht gesagt, dass sie beide schön Farbe bekommen hatten?
„Also hab ich sie beide probiert.“
Er hatte meine Schwester und ihren Mann probiert? Probiert?!


„Die eine hat irgendwie ein bisschen komisch geschmeckt“ – Meine Schwester, ganz eindeutig. – „Die andere war ganz gut, eigentlich. Aber ich hab sie beide nicht aufgegessen. Hab sie wieder dahin zurückgelegt, wo ich sie gefunden hab.“
„Damit deine Tante sie findet. Ganz große Klasse!“, kommentierte die Frauenstimme sarkastisch. „Die da in dem Korb müssen auch demnächst verschwinden, damit sie sie auf keinen Fall bei uns findet!“
Oha, oha. Wir mussten hier weg!
Schnell wandte ich mich zu den anderen.

Teil 5



„Okay, also hat das jetzt jeder verstanden?“, fragte ich in die Runde.
Die gleiche dumme Karotte, die sich schon die letzten vier Male gemeldet hatte, schüttelte auch dieses Mal wieder den Kopf.
Leicht verzweifelt sah ich zu Karo. Die hatte mich die ganze Zeit über nur herausfordernd angegrinst. Jetzt aber schien sie zu spüren, dass ich keine Geduld mehr hatte und ich jeden zurücklassen würde, der zu dumm war. Daher nahm sie die kleine Karotte ein Stück beiseite und begann, leise auf sie einzureden.
„Okay. Also fangen wir an!“
Die anderen nickten.
„Aber, denkt dran! Es muss alles blitzschnell gehen! Diese Riesen dadraussen dürfen nicht merken, dass wir fliehen. Und wen sie erwischen, dem kann ich leider nicht mehr helfen!“
Wieder nickten alle – bis auf Karo, und die Nervensägenkarotte, die mittlerweile kurz vorm Weinen zu sein schien, wenn ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht richtig deutete.
„Also, los!“
Ich stellte mich direkt an die Korbwand, krallte mich mit beiden Händen so gut es ging fest. Dann gab ich der Karotte neben mir das Zeichen, dass sie anfangen konnte. Etwas unsanft kletterte sie mir auf die Schultern, bedeutete mir durch einen leichten Tritt gegen den Kopf, dass sie soweit war und ich gab der nächsten Karotte das Okay.
Immer mehr Karotten kletterten an mir hinauf. Langsam aber sicher wuchs unser Turm. Bis schließlich – endlich – eine Karotte rief: „Fertig!“
Die anderen wollten schon in Jubel ausbrechen, doch rasch erinnerte ich sie daran, dass wir noch immer in Gefahr schwebten.
Schnell kletterten die übrigen Karotten über den Rand, und zogen einen nach dem anderen nach drüben, indem sie die Räuberleiter nun in umkeherter Richtung machten und sich an den Füßen fassten.
Schließlich waren nur noch Karo, die kleine Karotte und ich im Korb.
„Rod, komm!“ Bevor ich mich versehen konnte, hatten sie mich an den Armen gepackt und nach oben gezogen, wo ich mich über den Rand wuchtete und zusah, wie sich nocheinmal nach unten gingen, um die letzten Zwei zu holen.
Da hörte ich plötzlich Schritte.
„Weg!“, rief ich.
„Was?“, verwundert sahen mich die umher Stehenden an.
„Alle, die nichts zu tun haben, springen jetzt von diesem Stuhl, runter auf den Boden und rennen!“, wies ich sie an.
Zum ersten Mal hörten sie alle auf Anhieb auf mich.
Die Schritte kamen näher, sie wurden immer lauter.
Die Minikarotte landete neben mir.
Jetzt war also nur noch Karo dadrin.
„Schnell! Macht schneller!“, rief ich, während ich die kleine Karotte vom Stuhl schubste und ihr per Armfuchteln bedeutete, zu verschwinden.
Die Schritte waren jetzt zu nah.
„Das schaffen wir nicht mehr!“, meinte die Karotte, die mir am nächsten war. Die anderen nickten zustimmend.
„Wenn ihr nur labert, dann natürlich nicht!“, schrie ich. „Jetzt macht! Wir können Karo nicht als einzige zurücklassen!“
„Du hast vorhin selbst gesagt, wer’s nicht schafft, wird zurückgelassen!“, erinnerten sie mich. Und mit diesen Worten verschwanden sie einfach.
Fassungslos sah ich ihnen nach.
„Rod?“, hörte ich Karos Stimme. „Was ist da draussen los?“
„Die sind alle einfach abgehaun! Allein krieg ich dich da nicht raus! Und die Riesen kommen!“, brachte ich sie auf den neusten Stand.
„Dann hau du auch ab! Bring dich in Sicherheit. Ich schaff das schon!“, meinte Karo tapfer. Doch ich war mir sicher, dass sie das nicht ernst meinte. Sie wollte jetzt einen Heldenspruch von mir hören und dass ich sie anschließend rettete. Ganz allein.
Nur leider war ich kein Held.
„Es tut mir leid!“, würgte ich daher nur hervor.
Dann lief ich den anderen hinterher.

Teil 6



Zwar hatten mir die anderen immer wieder versichert, dass es das einzig richtige war, mich selbst zu retten, da ich, wäre ich geblieben, weder für Karo, noch für mich selbst irgendetwas erreicht hätte, doch ich fühlte mich schuldig.
Sie hatten mir immer wieder gesagt, ich sei doch ein Held gewesen, schließlich hatte ich sie alle gerettet. Aber Karo hatte ich nicht gerettet und das würde mich ewig verfolgen.

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Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013

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