Während der Fahrt nickte Ceres Ahorn ein.
Der Zug ruckelte und sein Kopf traf mit der Fensterscheibe zusammen. Er schreckte auf, doch nachdem die Schmerzen verebbten, fiel er zurück in seinen Schlaf.
Die Insassen atmeten erleichtert auf und tippten auf ihren Handys weiter. Für einen Moment war das Signal verschwunden, doch nachdem Ceres weiterschlief, hatten sie vollen Empfang.
Wenn Ceres schlief- strahlte er Wifi aus.
Und das war eine dämliche Fähigkeit, weil sie ihm so gut wie nichts brachte. Seine Mitmenschen dagegen fanden es praktisch. Sie fanden es auch praktisch, dass er schnell einschlafen konnte. Ob am Tag, während einer Fahrt oder bei vollem Lärm, Ceres schaffte es einzunicken.
"Schlaf doch etwas, Ceres."- das war das häufigste, dass er zu hören bekam. Vor einigen Jahren hatte ihn das nachdenklich gestimmt. Obwohl das niemand gemeint hatte, hatte er das Gefühl gehabt, dass sich alle seinen Tod wünschten. Denn Schlaf war wie Tod. Und wenn es nach den anderen ginge, sollte er nie wieder aus seinem Schlaf erwachen.
Nun war er 19 und hatte sich mit seiner Lage abgefunden.
Klar, manche machten dämliche Bemerkungen, aber hey, die kommen auch, wenn man kein Wifi ausstrahlte.
Der Zug hielt an einem Bahnhof. Ceres schreckte auf, als er die Ruhe bemerkte. Schnell schaute er aus dem Fenster, registrierte sein Ziel, Stereoforest, und stieg aus.
Die Insassen schauten ihm enttäuscht nach, eine Schülerin, die etwas Wichtiges auf dem Bildschirm tippte, schnalzte mit der Zunge, als der Empfang abbrach.
Aus seinem Augenwinkel sah er, wie jemand aufstand und ihm folgte.
Eine schlanke Gestalt, die alle überragte. Dunkel und Gesichtslos. Niemand schaute auf, als sie an den Sitzplätzen vorbeikam und mit Ceres ausstieg. Hinter der Gestalt lief ein Mädchen- sie musste 14 sein.
Ceres lief durch die Straßen der Stadt. Die Häuser wurden von der Sonne in ein warmes orange-braun getaucht. Das Bild vor seinen Augen wirkte nostalgisch, die Farben wie auf Pergament gemalt.
"Hey Ceres!", ein Junge kam auf ihm zu. In seiner Hand hielt er einen Besen, "kann ich dich ausknocken?"
"Versuch es doch", lachte Ceres ohne stehen zu bleiben.
Der Junge holte ihn mit drei Schritten ein. Ceres sah den Schlag auf sich zukommen- langsam und vorhersehbar- und wedelte den Besenstil zur Seite. Der Junge lief Ceres nach und versuchte einige Male, ihm am Kopf zu treffen. Stattdessen erwischte er die Schulter.
"Au!", rief Ceres, "der war jetzt etwas heftig..."
"Aber nicht heftig genug." grummelte der Junge- er gab sich sichtlich Mühe Ceres ohnmächtig zu schlagen.
Ceres konnte nur den Kopf schütteln. "Was Kinder nicht alles machen, um alberne Videos im Internet zu sehen..."
"Mama hat uns eine Woche Internetverbot gegeben." grummelte der Junge.
"Besser so."
"Nein!"
Nun blieb Ceres stehen und deutete auf den Besen. "Hab ich dich nicht vorhin damit kehren sehen? Bist du damit schon fertig?"
Der Junge riss erschrocken die Augen auf. "Oh nein! Ich muss zurück!", während er in die Richtung zurück rannte, aus der sie kamen, rief er über seine Schulter, "du bist schon wie Mama!"
Kurz blickte Ceres ihm nach, dann ging er weiter und ließ die Stadt hinter sich. Wiesenfelder erstreckten sich links und rechts von ihm, es begann bergauf zu gehen.
Die Landschaft war idyllisch- man könnte meinen, sich auf dem Land wiedergefunden zu haben. Keine Straßen waren zu sehen- weder Autos noch Baustellen machten Lärm. Steine und Felsen erhoben sich aus dem Gras und luden zum Klettern ein. Der Weg, dem Ceres folgte, war nicht mehr als ein Trampelpfad.
Zwischen zwei einsamen Bäumen war ein Seil gespannt worden. Auf Höhe der Knie. Ein Mädchen versuchte darauf zu balancieren. Kaum setzte sie beide Füße auf das Seil, begann sie mit den Armen zu wedeln und fiel schließlich runter. Beim Näherkommen erkannte Ceres, das es sich um eine Slackline handelte: Ein Schlauchband, dass man für die gleichnamige Sportart verwendete. Da es elastisch war- nicht statisch wie beim Drahtseil-, konnte man nicht nur darauf balancieren, sondern auch Kunststücke kombiniert mit Sprüngen vollführen.
Ceres übte diese Sportart seit sieben Jahren aus. Und er liebte es.
Sobald man fortgeschritten war, konnte die Slackline in atemberaubender Höhe befestigt werden. Sei es über der Stadt zwischen zwei Häusern oder über einer Schlucht im Gebirge. In der Höhe war man allein. Es gab keinen Zweikampf oder ein Team um das man sich Gedanken machen musste. Es gab kein Publikum und kein Jubel. Es gab nur den Himmel über und Erde unter einem. Davor der Weg, den man gehen musste. Die Gefahr und die Freude berauschte Ceres jedes Mal.
Er näherte sich dem Mädchen, die gerade drei Schritte auf dem Seil schaffte, bevor sie das Gleichgewicht verlor und vom Seil absprang. Ein paar Schritte fiel sie nach vorn, stolperte über einen Stein und brauchte einen weiteren Schritt, um nicht hinzufallen.
"Vorsicht", rief Ceres, "alles in Ordnung?"
Die Augen weit vor Schreck nickte sie. "Ja. Langsam werde ich besser."
"Übst' schon den ganzen Tag?"
"Ja."
"Nicht schlecht. Du machst bestimmt Fortschritte."
Ceres wollte weitergehen, als das Mädchen "Warte!" rief. Er wartete und drehte sich überrascht zu ihr um.
"Sollen wir schauen, wer von beiden am schnellsten über die Slackline balanciert? Indem wir jeweils die Zeit stoppen?"
"Aber du bist noch am Üben..."
"Nein! Ich bin mir sicher, dass ich es jetzt raus habe", sagte das Mädchen entschlossen, "und der Gewinner darf etwas vom Verlierer verlangen!"
Ceres betete, dass sie nicht zum Jungen gehörte, der hinter freiem Wifi her war.
"Tut mir leid, aber ich muss passen." antwortete er.
"A-aber.... warum...?"
"Wenn jemand nicht sicher ist, dass er gewinnen kann, würde er niemanden herausfordern", sagte Ceres, "du hast mich kommen sehen und mit Absicht so getan, als wärst du schlecht im slacken."
"Das stimmt nicht!"
"Die Art wie du vom Seil gefallen bist, sah jedenfalls unnatürlich und gewollt aus." schmunzelte er.
Das Mädchen starrte ihn an, dann entspannte sie sich.
"Dabei hab' ich mir Mühe gegeben wie ein Anfänger auszusehen..."
Sie ging zur Slackline, sprang drauf und begann auf ihr zu gehen wie auf einem ebenen Weg. Sie hatte keine Mühe ihr Gleichgewicht zu halten, ihre Augen zeigten keine Anzeichen von Konzentration. Für einen Moment war Ceres sprachlos. Selbst ein Profi sah nicht gleichgültig und gelassen wie sie aus. In wenigen Sekunden hatte sie das Ende erreicht und lief in die andere Richtung zurück.
"Was hättest du von mir verlangt?", fragte Ceres, während er ihr mit seinen Augen folgte, "vielleicht kann ich dir auch so helfen?"
Begeistert schaute sie zu ihm auf. "Wirklich?", sie sprang vom Seil ab und landete vor ihm, "Du sollst mich und meinem Freund begleiten."
Das Mädchen war ganze zwei Köpfe kleiner als er. Ihre Haare hatten die Farbe des Feuers- orange. Ihre Ohren liefen spitz zu, die Ärmel waren lang und verdeckten ihre Hände. Sie trug braune Stiefel und eine kurze Hose. Ceres war sich nicht sicher, ob er sie ihm Zug gesehen hatte.
"Begleiten? Wohin? Und warum?"
"Puh, jetzt kommen diese ganzen Fragen. Diese 'Der-Gewinner-verlangt-etwas-vom-Verlierer-Sache' hätte das Ganze viel einfacher gemacht..."
"Ich tue doch nichts zufälliges, dass ein dahergelaufenes Mädchen von mir verlangt."
Sie hielt ihm ihre Hand. bzw. ihren Ärmel hin. "Mein Name ist Isara."
Er schüttelte ihn. "Ich heiße Ceres Ahorn."
Sie nickte. "Wir müssen leider los- ich hatte nicht so viel Zeit für heute eingeplant. Ich komme wegen meiner... Bitte nochmal zurück."
Isara ging an ihm vorbei.
Als Ceres sich umdrehte sah er den Tod.
Er erschrak und sprang zurück. Eine große, schlanke Gestalt hatte hinter ihm gestanden. Sie war in schwarz gekleidet, die Kapuze lag so tief im Gesicht, dass der Schatten keine näheren Details zu erkennen gab. Isara gesellte sich zur Gestalt, drehte sich lächelnd zu Ceres um. Dann gingen beide den Berg hinab Richtung Stadt.
"W-wartet...!" rief Ceres. Er war unsicher, ob er das wirklich wollte.
"Wir müssen wirklich los!", schallte Isaras Stimme zurück, "aber wir sehen uns!"
Ceres bekam vom Wind eine Gänsehaut, die Sonne war dabei zu sinken. Die warmen Farben wurden langsam grau. Drei Schritte machte er, bevor er zurückwich und seinen Weg nach Hause fortsetzte.
Die Vorstadt, in der er wohnte, glich einem gemütlichen Dorf. Ordentlich aufgereiht standen die Familienhäuer auf der einen Seite des Dorfes. Auf der anderen Seite befanden sich die öffentlichen Gebäude wie Rathaus und Kirche und nicht zu vergessen die simplen Wohnungen.
Drei Leute standen unter dem Fenster seines Zimmers und begrüßten Ceres, als dieser an ihnen vorbeikam und die Haustür aufschloss. An manchen Tagen warteten mehr Menschen auf seine Nachtruhe.
In der Vorstadt von Stereoforest gab es schlechtes, um nicht zu sagen, kriechendes Internet. Videos und Downloads waren so gut wie unmöglich.
Ceres hatte seine Mitschüler beneidet, die ihre freien Nachmittage vor dem Computer verbrachten. Sehr oft hatte er in seinem Zimmer die Hände über den Kopf geschlagen, wenn die Verbindung für mehrere Stunden abbrach. Auch seine Eltern und andere Bewohner waren darüber frustriert. Eines Tages hatte Ceres es aufgegeben und nach etwas gesucht, um seinem angestautem Ärger Luft zu machen. Aus Videos, die die Leute posteten, hatte er die Sportart Slackline kennengelernt. Er war darüber fasziniert gewesen, hatte aber nicht die Gelegenheit gehabt, um es selbst auszuprobieren. Das änderte sich, als er an jenem Tag seinem Computer zur Seite schob, um nach draußen zu gehen.
Wie gesagt, Wifi auszustrahlen bringt nichts, wenn es nur während des Schlafes funktionierte.
Die Bewohner von Stereoforest sahen das anders.
Seit sie Wind von seiner Fähigkeit bekommen hatten, sammelten sich manche von ihnen nachts unter seinem Fenster. Im Sommer nahmen sie Picknickdecken mit, im Winter Decken.
Ceres war es gleich, solange sie keinen Lärm machten. Das einzige, worüber er sich Gedanken machte, waren die Namen, die er nachts hörte.
Meist nahm er sie wahr, wenn er sich auf der Schwelle zwischen wach sein und Schlaf befand. Dann hörte er wie jemand murmelte: Maggie Rue, Kin Fiona... Namen über Namen.
Wenn er erwachte, konnte er sich an keine erinnern. Dann gab es Nächte, an denen er sie nicht hörte. Fünf oder sechs Tage lang vielleicht. Ceres konnte sich keinen Reim darauf machen. Es wirkte wie ein Traum, der alle paar Monate zurückkehrte.
Nachdem er mit seinen Eltern zu Abend gegessen hatte, ließ sich Ceres erschöpft auf sein Bett fallen, stieß sich mit dem Hinterkopf an der Wand an und lag eine Weile zusammen gekrümmt auf der Matratze.
Von draußen fiel weder das Licht der Sterne, noch der, der Laternen ein. Es waren die Lichter der Displays.
*
In einem Forschungszentrum war die Unruhe groß.
C.R.- ihr Forschungsobjekt, auf dass das Militär seine größte Hoffnung gesetzt hatte- war verschwunden und noch nicht gefunden worden. Nachdem ein halbes Jahr vergangen war, hatten sie endlich einen Anhaltspunkt auf den Verbleib von C.R. gefunden und trafen entsprechende Maßnahmen.
Eine blondhaarige Frau ging eine Akte durch- sie hörte zum ersten Mal von dem Projekt des Militärs und wusste nicht was sie von C.R. halten sollte. Am besten nichts, dachte sie kopfschüttelnd und legte die Akte zur Seite. Sollten sich die Öffentlichkeit und die Philosophen über den moralischen Aspekt aufregen. Vorausgesetzt es kam an die Öffentlichkeit. Sie würde nur C.R. aufspüren, ins Forschungszentrum zurückbringen und somit ihren Auftrag erfüllen.
Hinter ihr klickte es und sie wirbelte herum. In ihrer Hand bildeten sich blaue Blitze, bereit, den Kreislauf ihres Gegenübers lahm zu legen. Der Wissenschaftler starrte sie erschrocken an. Was sie für das Entsichern einer Pistole gehalten hatte, stellte sich als das Klicken eines Kugelschreibers heraus.
Mia Liz entspannte sich und nickte ihm entschuldigend zu.
"Eine schöne Fähigkeit haben Sie da", sagte der Wissenschaftler. In seiner Stimme lag weder Spott, noch Angst. Er kommentierte es wie man schönes Wetter kommentierte, "was für Leute das Militär nicht alles hat."
"Ich gehöre nicht zum Militär." sagte Mia und senkte drohend ihren Kopf.
"Aber Aufträge nehmen Sie von ihm an?"
"Aus Gründen."
"Wir machen vieles aus Gründen."
"Besonderen Gründen."
"Die Gründe, die uns keine Wahl lassen?"
"Ja."
"Oh."
Ceres registrierte, dass er wach war. Es war noch dunkel.
Seine Woche hatte sich als ereignislos herausgestellt, doch morgen sollte sich das ändern. Morgen stand ein besonderes Slackline-Event an und er freute sich darauf. Diesmal würde die Strecke, die er bewältigen musste, länger sein. Und die Line würde höher als sonst befestigt werden. Es fühlte sich wie eine kleine Reise an.
Während Ceres im Dunkeln an seine Decke starrte, fragte er sich, warum die Menschen nicht für einen Tag von ihrem Bildschirm aufschauen konnten, um die Wolken über sich wandern zu sehen.
Sein Verstand erklärte ihm, dass Wolken weder lustig noch informativ waren. Er nannte Ceres im Übrigen dutzend Argumente, warum im Internet surfen sinnvoller als Wolken anstarren war.
Doch so logisch die Antwort war, sie überzeugte nicht sein Herz. Denn das Herz hatte Fernweh.
Seit es vom Adrenalin schneller schlug und sich beim Anblick der Berge zusammenzogen hatte, wollte es mehr. Zwischen Wolkenkratzern und Beton wollte es das Leben seines Besitzers aufs Spiel setzen, um ihn kontinuierlich daran zu erinnern, dass ein falscher Schritt ihm das Leben kostete.
Nicht nur auf der Slackline, sondern auch im Alltag.
Langsam fielen Ceres Augen zu. Im Schlaf hörte er wieder die Namen, die einem monotonen Gesang glichen.
Am nächsten Tag fuhr er mit seinen Freunden und seinem Trainer in die Berge. Nach einem Marsch aus drei Stunden erreichten sie den nächst höheren Gipfel und blickten auf die Dörfer unter sich. Während die Slackline aufgebaut wurde, bildete sich eine kleine Menschenmenge bestehend aus Wanderern, Wirten und Bewohnern. Als die Sonne fast ihren Höhepunkt erreichte, war alles fertig und bereit. Ceres' Trainer gab ihm grobe Anweisungen, doch Ceres war in Gedanken bereits auf der Slackline.
Nachdem er sich abgesichert hatte- es war nicht mehr als ein Seil, dass ihn mit der Slackline verband und mitlief- setzte er vorsichtig den ersten Schritt auf das elastische Band. Einige Sekunden brauchte er bis er mit beiden Füßen darauf stand. Die Menschen weit unter oder hinter ihm beobachteten gespannt wie Ceres einen Schritt nach dem anderen setzte. Er befand sich in schwindelerregender Höhe und würde von dem einem Gipfel zum anderen balancieren. Weit in der Ferne sah er das schneebedeckte Gebirge. Ein paar Paragleiter waren am Himmel zu sehen.
Er biss sich auf die Unterlippe- nicht aus Angst, sondern mehr um zu verhindern, dass er irre grinste. Sein Herz begann schneller zu schlagen und er fühlte die Euphorie in sich aufsteigen. Am liebsten wäre Ceres über das Band gerannt. Am liebsten hätte er einen Trick auf der Slackline aufgeführt, wäre gesprungen und hätte sich in der Luft gedreht- einen Salto machen, einfach gesagt. Doch diese Disziplin war nicht Trickline, sondern Longline. Eine Disziplin, in der es darum ging, eine möglichst lange Strecke zurück zu legen.
Ein leichter Wind blies ihm durch die Haare. Ceres lächelte, doch das Lächeln verschwand, als der Wind nicht nach lassen wollte. Er wurde langsam kräftiger und er schmunzelte. Sein Trainer hatte sichergestellt, dass es ein windstiller Tag werden würde.
Der Junge hatte ein Viertel der Strecke zurück gelegt. Je mehr man sich der Mitte des Schlauchbands näherte, desto schwieriger wurde es, das Gleichgewicht zu halten. Der aufkommende Wind machte es Ceres nicht einfach. Als schließlich die Tannen und Baumwipfel sich zu neigen begannen, wurde Ceres unbehaglich zumute.
Er wollte sich umdrehen und zu seinem Trainer schauen, doch sein Herz war trunken vom Adrenalin und erlaubte ihm nicht, stehen zu bleiben. Ceres ging weiter und bekam mit jedem Schritt mehr Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Weit hinter sich hörte er Rufe. Vielleicht von seinem Trainer. Der Wind rauschte in seinen Ohren. Von der Euphorie war nicht mehr als eine Pfütze übrig geblieben.
Wie sollte er sich bei Wind verhalten? Umkehren? Stehen bleiben? Oder weiter gehen?
Die Fragen stellte er sich, während er drittes machte- weiter gehen. Immer weiter auf die Mitte zu. Sobald er einen Fuß auf das Band setzte, begann es protestierend zu wackeln.
Dann geschah es: Ein heftiger Windzug stieß Ceres vom Band, er ruderte mit den Armen, die Absicherung, die ihm vor dem Fall hätte schützen sollen, riss und der Junge fiel. Die Menschen unter ihm schrien auf, doch dass bekam er nicht mit. Ceres sah die Wiese und Felsen auf sich zukommen, er schrie, dann spürte er furchtbare Schmerzen.
*
"Er fällt."
Es war nicht mehr als ein Wispern, aber Fährmann hatte es klar vernommen.
Er und Isara hatten am Fuße des Berges gestanden, die Kunde von einem Jungen, der in der Luft ging, hatte sie angelockt. Sie hatten sich nicht unter die Menschenmengen gemischt, sondern standen abseits- mit der Intention, das Schauspiel kurz zu beobachten und dann weiter zu ziehen. Doch nun fiel der Schauspieler. Und sie konnten nicht länger als Beobachter dastehen.
Als Ceres fiel, lief Isara los und Fährmann folgte ihr. Niemand bemerkte sie- manche waren selbst beschäftigt, zum Gestürzten zu eilen oder sich die Hände vor dem Mund zu schlagen.
Den Berg rannten sie hoch. Jeder geübter Wanderer wäre die Luft dabei ausgegangen. Fährmann merkte, wie Isara an Schnelligkeit verlor, sich aber zwang, weiter zu rennen. Der Junge war wichtig für ihre Aufgabe. Er war der Einzige.
Er, die große, dunkle Gestalt, hielt seine Augen offen und suchte den Boden und die Bäume nach Ceres ab. Wo mag er hingefallen sein? Hatte er es überlebt?
Eine Gruppe Menschen erregte seine Aufmerksamkeit. Sie hatten ihn gefunden.
"Isara." sagte er und sie nickte. Beide verlangsamten ihr Tempo bis sie beim ersten Wanderer ankamen. Man hörte tuscheln, die meisten hatten ihr Handy raus geholt, um einen Helikopter zu rufen.
Ceres selbst konnten sie nicht sehen.
"Wie steht es um den Jungen?" fragte Isara einen Wanderer. Er war dabei eine Nachricht zu verschicken und schaute nicht auf, als er ihr antwortete. "Gut, ist bist jetzt nur ohnmächtig."
"Ist unter ihnen jemand dabei, der sich mit Medizin auskennt?"
"So eine Frau hatte vorhin seinen Puls überprüft. Etwas schwach. Er hat furchtbare Verletzungen. Ich würde von ihm wegbleiben."
Sie warteten auf den Helikopter.
Isara wurde ungeduldig und drängelte sich an den Menschen vorbei. Man machte ihr grummelnd Platz. Der Anblick von Ceres erschreckte sie. Er lag nicht richtig. Er brauchte sofort eine stabile Lage.
Als sie seinen Arm berührte, zischte eine Frau: "Noch nicht!" Sie war dabei, etwas auf ihrem Handy zu tippen und Isara verstand: Sie kannten Ceres Fähigkeit. Sie wollten ihn ohnmächtig lassen.
Dem Mädchen wurde übel. Ihre Wut hätte sie blind gemacht, wenn Fährmann nicht hinter ihr getreten wäre. Sie konzentrierte sich auf ihn und sein Gesicht, das unkenntlich im Schatten seiner Kapuze lag.
"Wir müssen weg." sagte sie entschlossen zu ihm.
Fährmann verstand. Er hob Ceres mit Leichtigkeit auf. Die Menschen starrten ihn an. Noch ehe sie realisierten konnten was geschah, verschwanden Fährmann und Isara mit Ceres.
Also, nicht verschwinden im Sinne von sich in Luft auflösen. Sie rannten durch die Menge in den Wald.
Mia betrachtete ihre Hand, die vor kurzem den Puls des Jungen gemessen hatte.
Das Erste, dass ihr aufgefallen war, war dass er eine außergewöhnliche Fähigkeit wie sie besaß. Mia konnte nur nicht sagen was für eine.
Sie hatte Mitleid mit dem Jungen, der womöglich nicht überleben würde, doch das Mitleid war nicht groß genug, um sie von ihrer Aufgabe abzuhalten. Sie war zufällig vorbeigekommen, als das Malheur geschah, doch nun überließ sie alles weitere den Bewohnern und Einsatzkräften.
Mia ließ in ihrer Handfläche einen kleinen, blauen Funken entstehen, der sich langsam ausdehnte. Je größer er wurde, desto mehr begann er unkontrollierbar zu zucken. Kleine Funken und blaue Blitze knisterten bis sie zu einem Ball aus Energie wurden, der in ihrer Hand lag. Sie streckte ihren Arm aus, ihre Handfläche zeigte zum Boden. Die Blitze fielen auf die Erde wie Wasser. Sie vermehrten und formten sich, kamen unermüdlich aus Mias Handfläche bis die Gestalt eines Hundes zu erkennen war.
Ein Blitzhund? Oder ein Energie Terrier? Oder vielleicht ein Blaufunken Mischling?
Mia wusste nicht, wie sie die Rasse nennen wollte. Für den Hund selbst hatte sie bereits einen Namen.
"Tryst, halte Augen und Ohren nach Verfolgern offen", sagte sie, "nicht nur das Militär ist auf der Suche nach C.R. Und markier' dein Revier nicht im Wald- wir wollen nicht, dass alles brennt."
Die Hinweise hatten sie in dieses Kaff geführt- Stereoforest. Eine ländliche Stadt. Verschlafen.
C.R. wurde angeblich hier gesichtet. Jetzt hieß es, ganz traditionell, alles absuchen bis man etwas findet. Zwischen dem Boden und Trysts Pfoten bildeten sich kleine Blitze, die gleich einer elektrischen Verbindung abrissen, sobald er die Pfoten hob und ging. Mia hätte das auch gerne gekonnt.
*
Schmerzen.
Ceres ballte seine Hände und kniff die Augen zusammen, als er zu Bewusstsein kam. Seine Finger krallten sich in Erde. Er hatte sich noch nie so schrecklich gefühlt. Beine. Arme. Schmerzen. Kopf. Kiefer. Schmerzen. Er wollte zurück in seine Bewusstlosigkeit.
"Er ist wach." sagte Jemand.
"Es scheint ihm besser zu gehen." sagte ein anderer.
"So weit würde ich nicht gehen..." erwiderte Jemand.
Kannte Ceres die Stimme?
Neugierig und blinzelnd öffnete er seine Augen. Vor sich sah er-
den Tod. Er hielt eine Sense.
Ceres japste vor Schreck, seine Rippen schrien anstelle seiner Stimmbänder. Dann wurde seine Sicht klarer und er erkannte, dass es ein Kescher und keine Sense war. Und er erkannte die Gestalt, die er vor wenigen Tagen gesehen hatte. Neben ihm stand das kleine Mädchen- Isara. Die drei befanden sich in einer herunterkommenden Hütte- leer, um genau zu sein. Ceres lag auf dem Boden.
"Wir waren zufällig vorbei gekommen," sagte Isara, die wusste, dass Ceres nicht in der Verfassung war zu sprechen, "du hast eine Woche lang geschlafen."
Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. Er erinnerte sich an seinen Sturz. Wie kam es dazu, dass er die beiden vor sich sah und kein vertrautes Gesicht? Wie das seiner Eltern oder Freunde?
"Du befindest dich in einer Hütte im Wald", fuhr Isara fort, "Stereoforest liegt drei Tage hinter uns. So gesehen hast du dann zehn Tage geschlafen. Hast du Hunger?"
Warum? Warum wurde er nicht in ein Krankenhaus geliefert? Warum waren die beiden bei ihm?
Seine Aufregung führte dazu, dass Ceres schwindelig wurde und er seine Augen zusammenkniff.
"Wir verlieren ihn!" sagte die dunkle Gestalt. Er sagte es etwas zu dramatisch, weshalb Isara sich ein Lachen verkneifen musste.
Als Ceres das zweite Mal seine Augen öffnete, waren weitere drei Tage vergangen. Er lag wieder auf dem Boden, konnte aber erkennen, dass es sich nicht mehr um dieselbe Hütte handelte. Seine Schmerzen waren nicht mehr als ein unbequemes Ziehen. Konnte das sein? Er hatte beim Erwachen mehr Kraft und schaffte es, den Kopf zu heben. Er war vollkommen bandagiert, die Beine befanden sich in einem Gips. Um seinem Hals hatte er etwas ähnliches.
Isara betrat den Raum und war sichtlich erfreut, dass es ihm besser ging.
"Was habt ihr mit mir vor?" fragte Ceres, bevor Isara zu Wort kommen konnte. Sie hielt in ihren unausgesprochenen Worten inne.
"Wie meinst du das?"
"Ist das nicht offensichtlich? Dauernd sehe ich nur euch beide. Das fühlt sich nach einer Entführung an."
Die dunkle Gestalt erschien und stellte sich hinter Isara.
"Wir beschützen dich", sagte sie und der Kopf ihres Begleiters zuckte in ihre Richtung, "Menschen haben es auf dich abgesehen, du... wärst in Stereoforest nicht mehr sicher gewesen. Ja, jemand hat es auf dich abgesehen."
Ceres fühlte Skepsis in sich aufsteigen. "Deine Bitte. Damals. Hat das was mit der jetzigen Situation zu tun?"
Sie nickte. "Du solltest mich und Fährmann begleiten. Um Distanz zu Stereoforest zu bekommen. Natürlich sagte ich 'Bitte'. Das hört sich netter an. Aber egal wie du geantwortet hättest, höchstwahrscheinlich mit nein, wir hätten dich dazu gezwungen mit uns zu kommen. Damit du von der Gefahr wegkommst."
"Welche Gefahr?"
"Die Gefahr."
"Die Gefahr?"
"Ja."
Ceres starrte sie an. "Das muss du mir genauer erklären."
Isara schüttelte den Kopf. "Erst muss du wieder Gehen können. Wir waren bei Ärzten und haben dich grob behandeln lassen... aber das war es auch schon. Für mehr hat es nicht gereicht."
"Eine ordentliche Behandlung wäre mir lieber gewesen."
"Sie war ordentlich. Beziehungsweise das Behandlungszimmer war ordentlich."
"Ich meinte, das ich lieber im Krankenhaus aufgewacht wäre. Oder zu Hause. Ein Ort übrigens, an den ich sofort zurückkehren werde, sobald ich wieder Gehen kann. Du hast schon geschwindelt, als wir uns das erste Mal begegneten und jetzt redest du von einer Gefahr, die du nicht näher beschreiben kannst- das ist doch..." Der Junge rang mit Worten. Schließlich gab er es auf und legte seinen Kopf zurück auf den Boden. Er atmete mehrmals tief durch.
Isara und Fährmann tauschten Blicke aus, dann verließen sie den farblosen Raum.
"Ist das dein Ernst?" ergriff Fährmann das Wort, als sie sich außer Ceres' Hörweite befanden.
"Ja", sie funkelte ihn an, "bei den Menschen wäre er schlecht aufgehoben. Hast du sie gesehen? Erinnerst du dich, was sie gemacht hatten, als er gestürzt war?! Nichts! Sie sind nur hinter diesem Wifi her! Seiner Fähigkeit!"
Fährmann lachte humorlos. "Und wir sind anders? Wir haben ihn wegen seiner Persönlichkeit vor dem Sterben bewahrt? Haben wir ihn mitgenommen, weil wir ihn mögen...?"
"Du weißt, dass es in unserem Fall etwas anderes ist...!"
"Das sagen auch die Kinder, die ihre Konsole anmachen, weil sie 'unbedingt' ihre digitalen Haustiere füttern müssen."
Isara starrte ihren Gegenüber an. "Fährmann, das war ein furchtbarer Vergleich."
Er ließ den Kopf hängen. "Ja, das war es vielleicht", nach einer Pause fügte er hinzu, "aber wir können den Jungen nicht belügen. Wir haben ihn aus einem anderen Grund von seinem Zuhause getrennt."
"Weil wir ihn doch mögen und bei uns haben wollen."
"Ja, wir wollen ihn bei uns haben. Aber leider nicht, weil wir ihn mögen."
*
Wütend starrte Ceres an die Decke. Das Mädchen Isara war furchtbar schlecht im Schwindeln. Irgendetwas hatten sie vor. Sie konnte von Glück reden, dass er noch in schlechten Verfassung war. Auf wundersamer weise befand er sich in keinem kritischen Zustand, war aber noch zu schwach, um laut zu werden. Jeder Aufregung würde ihm Kopfschmerzen bringen, weshalb er vorübergehend seine Lage still erduldete.
Gleichzeitig, und dafür hasste er sich, fand er Gefallen an der Situation. Nicht weil er es mochte, bandagiert auf dem Boden zu liegen, sondern weil diese Situation ihm Angst machte. Und ob Freude, Wut oder Angst- beides bedeuteten die Ausschüttung von Adrenalin, dass das Herz schneller schlagen ließ. Ceres konnte nichts dagegen tun, er liebte es, wenn sein Herz schneller schlug. Denn das waren die Momente, an denen er voller Energie war. An denen er sich lebendig fühlte. Dasselbe Gefühl, dass er bekam, wenn er auf der Slackline ging. Er wollte dorthin zurück, als hätte der Wind und die Konsequenzen an jenem Tag ihm nicht abgeschreckt....
"Unglaublich, der Typ pennt schon wieder!" rief Fährmann.
"Hm." Isara setzte sich neben Ceres, unter ihrem Arm trug sie ein dickes, in schwarzem Leder gebundenes Buch. Sie schlug es auf. Die leeren Seiten begannen, sich langsam mit Namen zu füllen. Sie erschienen nacheinander, ordentlich in einer Reihe bis sie das Ende der Seite erreichten und eine neue Reihe anfingen. Isara las sie fasziniert laut vor.
"Tote wird es jeden Tag geben, was?" sagte Fährmann und setzte sich im Schneidersitz neben das Mädchen. Seinen Kescher legte er neben sich.
"Ja. Und viele gehen ohne dass jemand Notiz von ihnen nimmt", sie blickte der Gestalt ins Gesicht, "immerhin erfahren wir beide ihre Namen und sehen ihre Gesichter bevor sie verschwinden."
Schweigend schauten sie auf die Namen, die aus dem Nichts auf den Pergamentseiten erschienen. Diese Menschen durften Isara und Fährmann aufsuchen. Diese Namen erschienen nur während Ceres schlief.
"Schon komisch, dass dieser Ceres Ahorn und der Tod dieselbe Fähigkeit besitzen", murmelte Fährmann, "denkst du wirklich ich kann den Tod ersetzen?"
"Du ersetzt ihn nicht alleine. Wir machen das zusammen. Wir drei werden ihn vertreten. Und ja, ich finde, du bist ein überzeugender Tod. Dem Blick des Jungen nach zu urteilen, hat er dich für den Schnitter persönlich gehalten."
Die Gestalt berührte den Kescher neben sich. "Wahrscheinlich. Wie sehr Aussehen doch täuschen kann. Aber der Kescher ist nun wirklich albern. Das sieht nie im Leben wie eine Sense aus."
"Ich finde die Konturen haben eine überraschend große Ähnlichkeit."
"Siehst das 'Sensenblatt' nicht etwas zu filigran aus?"
"Du meinst schlapp?"
"So wollte ich es nicht ausdrücken."
Isara lachte. Dann widmete sie sich wieder dem Buch zu, bevor Ceres aufwachte und der Strom der Namen abbrach. Nach einer Weile senkte sie ihren Blick. Sie waren in der Tat, nicht besser als die anderen Menschen.
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2016
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