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Erste Strafe

Die Festung der Richter.

Der größte Gerichtshof im ganzen Land. Gebaut aus kaltem Stein für die Urteile, der kalten Menschen, die ihr Leben nach Gesetzen und Regeln richten. Die über das Handeln anderer Menschen urteilen und ihr ihrer gerechten Strafe zukommen lassen.

In den Räumen und Fluren der Festung sind keine Teppiche ausgelegt. Die Wände sind aus glattem Stein, sodass nicht nur du, sondern jeder anderer, dein Spiegelbild sehen kann. Ohne direkt angesehen zu werden, wirst du gesehen.

Eine gespiegelte Welt reflektiert jede deiner Bewegungen, deine Handlungen und Mimiken. Die Stille gibt dir Raum für deine Wörter und die Leere der Gänge trägt sie durch die Festung- also achte auf deine Ausdrucksweise.

Die Richter brauchen keine Wachen, denn sie und das Gebäude sind die Überwachung selbst. Glauben sie. Glauben alle.

 

Hel Runner und Sain Torming waren nicht anders. Der Junge und sein Mentor gehörten der Einheit der Henker an. Diese Einheit teilte sich die Festung mit den Richtern und vollstreckte deren Urteile. Sie hatten keinen Einfluss und nichts in Frage zu stellen, nur zu gehorchen und Folge zu leisten. Denkst du das machte den Henkern etwas aus? Wohl eher kaum. Keiner der Henker hinterfragte etwas. Keiner bis auf den Jungen Hel, der jedoch immer Fragen stellte, dass es schon nicht mehr zählte.

 

Eines Tages kehrten Hel und Sain zurück in die Festung. Sie hatten eine lange Vollstreckung hinter sich, irgendwo außerhalb der Stadt. Wenn du glaubst, dass es bei Todesstrafen darum geht, jemanden zu hängen, dann wäre das zu einfach. Verbrecher werden hin und her eskortiert, in Gefängnisse verschiedenster Art gebracht oder an bestimmte Orte verbannt. Sagen wir, dass die Strafen der einzige Teil sind, bei denen die Richter ihrer "Kreativität" freien Lauf lassen können. Das heißt wiederrum nicht, dass sie ihre Frustration an den Gefangenen auslassen. Sie versuchen lediglich für jedes Delikt die passende Strafe zu finden. Mehr nicht.

 Die beiden Henker folgten einer Treppe, die sie zu den Untergeschossen der Festung führte.

Der untere Bereich wirkte wie ein Kerker, Boden und Wände bestanden aus unebenen, großen Steinen. Die Türen waren aus massivem Holz und jede Öffnung war vergittert worden. Es drang kein Tageslicht ein, sodass es trüb und dunkel war. Schreiben und Lesen waren unmöglich und gleichzeitig nicht nötig. Es wurden keine Akten durchgelesen oder Gesetze unterschrieben, wie es die Richter taten. Der untere Bereich war ein Aufenthaltsraum der Henker und nichts im Vergleich zur intellektuellen Ausstrahlung der oberen Etagen.

Die Henker versammelten sich, redeten oder tranken, wenn sie nichts zu tun hatten. Stellten nach der Schicht ihre Rüstungen auf oder polierten ihre Waffen.

Die Räume waren armselig ausgestattet: In der Mitte stand ein großer, rechteckiger Tisch, um ihn herum Stühle, die bei jeder Bewegung knarrten. In der Ecke konnte man einen kleinen Schrank finden, der mehr zur Dekoration diente, als das man Dinge darin aufbewahrte. Wozu auch? Die meiste Zeit waren die Henker unterwegs, sie waren ständig in Bewegung. Es ist hoffentlich selbst verständlich, dass höherrangige Henker sich nicht unter der Erde aufhielten, sondern besser eingerichtete Räume erhielten.

"Was ist hier los?" fragte Sain Torming, als er und Hel den Aufenthaltsraum betraten. Zwei Henker versuchten eine wütende Frau zu beruhigen, ein dritter saß abseits und schaute zu.

"Der hat meinen Mann umgebracht!!" zetterte die Frau sofort los. Da man ihre Arme festhielt, deutete sie mit ihrem Kopf zum dritten. Es war kein geringerer als Esra Zeros. Seine kurzen Haare waren grau, obwohl er um die zwanzig war. Die Strähnen in der Mitte waren schwarz gefärbt worden und er saß locker auf seinem Platz, die Füße auf dem Tisch gelegt. Sein Blick zeigte Desinteresse. Sain überraschte es nicht, dass Esra- wiedermal- Ärger machte.

"Mein Mann sollte nur für eine Woche im Ödland hungern!" fuhr die Frau fort, "das ist die Strafe, für die sich die Richter entschieden haben! Dieses Ekel sollte meinen Mann Allin ins Ödland begleiten, aber ich habe mitbekommen, das er ihn stattdessen getötet hatte!!"

"Beruhigen Sie sich doch!!" schaltete sich einer der Männer dazu, der sie festhielt, "Esra, entschuldige dich einfach!!"

"Entschuldigen?! Eine Entschuldigung ist das Letzte, dass ich von ihm hören möchte!!" schrie die Frau.

Man sah ihr an, dass der Ursprung ihrer Wut Hilflosigkeit war. Sie wusste, dass das, was geschehen war, nicht mehr geändert werden konnte. Sie wusste, dass sie nicht mehr außer Weinen und Trauern konnte. Doch bevor sie das tat, ließ sie sich lieber von ihrem Zorn erblenden und von ihrer Rache treiben. Anstatt das ihre Gefühle in Form von Tropfen leise dahin floßen, wollte sie sie als Sturm entfesseln und wüten lassen. Ja, es war fast dramatisch, aber Esra hatte dafür nicht mehr als ein Lächeln übrig. Lächeln und lachen über diese lächerliche Frau. In der Tat, diese Situation war lachhaft, nahezu amüsant- bis Sain den Raum betreten hatte.

Denn jetzt bedeutete es Ärger und Predigten.

"Schafft sie endlich raus!" befahl Sain den zwei Henkern genervt.

Er wollte allein mit Esra reden, weshalb er Hel anordnete, den beiden zu folgen. Die vier verließen den Raum und obwohl die Frau sich entfernte, wurden ihre Schreie lauter.

 "Verdammt, Esra, kaum bin ich zurück, gibt es wieder Ärger! Du hast wiedermal jemanden unerlaubt getötet?!" fing er an, als niemand anderes zu vernehmen war, "wie lang soll das weiter gehen? Irgendwann werden die Richter das mitbekommen. Du wirst bestraft, wenn herauskommt, dass du dich über ihre Anordnungen hinwegsetzt!"

"Kenn ich schon alles.... " sagte Esra gedehnt. Sein Gegenüber verrollte die Augen und Esra konnte erahnen was er sich dachte: Warum musste ein Erwachsener sich wie ein rebellisches Kind verhalten? Er hatte selbst keine Antwort dazu.

"Die Zeiten haben sich geändert", versuchte es Sain weiter, "akzeptier es endlich. In einer früheren Zeit waren Henker für Köpfungen, Todesstrafen und Folterei zuständig, aber mittlerweile ist es nicht mehr als ein Klischee. Verbrecher sollen eine Chance bekommen, über ihr Verhalten nachzudenken und auch Strafen bekommen, aus denen sie etwas lernen können. Unsere Aufgabe ist es nicht mehr länger, unsere Hände mit Blut zu beflecken." Nach einer Pause fügte Sain zögerlich hinzu:"Nicht nur."

"Ich weiß und trotzdem töte ich jeden Kriminellen der in meine Nähe kommt, weil ich meine Mordlust nicht bändigen kann. Ernsthaft, du hörst dich wie ein NPC an, der immer nur dasselbe sagt."

"NPC?"

"Nicht wichtig."

Esra nahm die Beine vom Tisch und funkelte seinen Gegenüber an. Wie oft durfte er die Predigen dieses Möchtegern Anführers hören? Was ging ihm das an? Es war immer dasselbe und Esra war es leid. Er war es leid ihm zu widersprechen, er war zu erschöpft, um wütend zu werden und er war zu stur, um etwas an seinem Verhalten zu ändern. Der eine konnte den anderen nicht von seiner Sicht überzeugen, also wäre es besser, seine Kraft zu schonen, was sein Gegenüber offensichtlich nicht verstand.

 

Esra war der Einheit der Henker beigetreten, um sich am Leid anderer Menschen zu befriedigen. Er war begeistert über den legalen Mord. Er fühlte sich wie geschaffen für den Beruf, aber das hatte sich geändert. Irgendwelche Menschenfreunde waren der Meinung, dass die Strafen "anders" werden mussten. Nicht mehr sie sollten die Verbrecher töten, sondern Hunger. Müdigkeit. Das er nicht lachte! Am häufigsten werden Kriminelle in das Ödland verbannt, entweder für ein paar Tage oder für die Ewigkeit. Sühne nennen sie das! Wo man langsam sterben und gleichzeitig über seine Tat nachdenken sollte.

Esra Zeros schwang sich von seinem Stuhl auf. Er hatte keine Lust das Gespräch fortzuführen und steuerte die Tür an. Blendete das aus, dass aus Sains Mund kam und ersetzte es durch ein Rauschen.

"Ich vermisse die Folterinstrumente." murmelte er nur.

Sain verstummte, weil er glaubte, echte Trauer vernommen zu haben.

 

***

 

Am Horizont war die Sonne das einzige, was man sehen konnte- abgesehen vom blauen Himmel. Die Erde war von der Hitze versengt worden. Sand und Felsen warfen ihre Schatten auf den vertrockneten Boden.

Joka spürte den Wind, der seinen Freiraum nutzte.

„Hier würde niemand sterben wollen.“ Sprach sie zu sich. Selbst der Tod mied die Einöde.

Sie hörte ein Räuspern. „Da kann ich nur zustimmen. Niemand sollte hier jemals qualvoll verenden.“ sagte der Gefangene hinter ihr. Seine Hände und Füße waren in Ketten gelegt worden und hatten ihn den Weg durch das Ödland zur Hölle gemacht. Dazu kam noch die unerträgliche Hitze, die über dem Land lag. Das Ende der Kette lag in Jokas Hand und sie hatte ihn wie einen Hund hinter sich her gezogen.

Sie grinste schief. „Ich sagte, dass hier niemand sterben will. Müssen ist eine andere Sache.“

Der junge Mann wirkte verkrampft. Klein. Wie jemand, der nichts verlieren wollte, obwohl er nichts mehr hatte. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, als wäre er gerade erst aufgestanden. Die Augen waren durch die vielen Strähnen nicht mehr zu sehen und Joka Cagane wunderte sich, warum er sie nicht zur Seite strich. Konnte er überhaupt etwas sehen?

„Niemand würde es merken, wenn du mich jetzt laufen lassen würdest…“ setzte der Gefangene an. Offensichtlich alles andere als männlich genug, um sich seiner Strafe anzunehmen. Anfangs hatte er versucht sich mit Gewalt zu befreien und zu flüchten. Mittlerweile versuchte er es mit Gejammer und füllte die Einöde lediglich mit mehr heißer Luft.

Gelangweilt wandte sich Joka dem Abgrund zu, der sich unter ihr befand. Ein Riss in der sandigen Haut der Erde. Nicht besonders tief, aber tief genug, um nicht mehr raus zu kommen. Hier würden sich ihre Wege trennen.

„Dein Betteln durfte ich mir den ganzen Weg anhören. Wirst du nicht müde…?“ seufzte sie und wollte sich wieder zu ihm umdrehen. Noch ehe sie sehen konnte, was hinter ihr geschah, hörte sie schnelle Bewegungen, spürte, wie der Gefangene sich gegen sie warf und sah den Himmel und dann die Erde vor sich. Sie verlor das Gleichgewicht, fand nirgends Halt und fiel in den Abgrund, prallte gegen etwas, rollte den Hang hinab und sah abwechselnd Himmel, Erde, Himmel, Erde. Sie hustete Staub und kam schließlich unten auf. Die Schmerzen ignorierend, rappelte sie sich sofort auf und suchte die Gegend nach dem Gefangenen ab, doch keine Spur von ihm. Wütend stand sie auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Er hätte an ihrer Stelle fallen sollen! War das gerade wirklich passiert? Wie konnte sie unvorsichtig werden?!

Ihr Ärger wich schnell.

Um den Gefangenen musste sie sich keine Sorgen machen. Mit verbundenen Händen und Füßen würde er nicht weit kommen. Der Schlüssel hing um ihren Hals- das wusste sie. Wenn er nicht im Abgrund starb, würde er stattdessen an der Hitze sein Ende finden.

Sie sollte sich um ihr eigenes Leben sorgen und betrachtete die Wand aus Erde und Fels vor sich. Hochklettern stand außer Frage- nirgendwo waren stabile Stellen, um Halt zu finden. Die einzige Möglichkeit bestand darin, einen anderen Weg nach oben auf zu suchen.

 

Gefangene und Schwerverbrecher wurden in das Ödland gebracht, um sie in den "Abgrund der Sühne" zu verbannen oder zu werfen. Den Rest erledigten Hunger und Müdigkeit- wenn nicht die Folgen des Sturzes ihnen zuvor gekommen waren.

Diejenigen, die heil unten ankamen, versuchten raus zu klettern- aber sie alle scheiterten. Wenn sie sich dessen bewusst wurden oder sich genug Schrammen und blaue Flecken geholt hatten, machten sich die Kriminellen auf dem Weg, um eine andere Stelle zu finden, die sie zurück an die Oberfläche führte.

Joka hatte noch nie davon gehört, wie jemand vom Abgrund der Sühne zurück gekehrt war. Und selbst wenn es jemand geschafft haben sollte, wurde er wieder runter geworfen oder eingesperrt.

Sie wusste nicht, was sie vom Strafsystem halten sollte. Hatte manchmal das Gefühl, dass es entwickelt wurde, weil sich niemand die Hände mit Blut schmutzig machen wollte. Weil niemand Lust darauf hatte, Leichen zu entsorgen und man deswegen die Zubestrafenden irgendwo hinwarf, um die Schwächen des menschlichen Körpers auszunutzen. Menschen brauchten Nahrung. Sie brauchten Wärme und sie waren zerbrechlich. Menschen in den Abgrund der Sühne  zu verbannen war das einfachste und häufigste, für das sich die Richter entschieden. Nur für besondere Fälle und Ausnahmesituationen überlegten sie sich Ausnahmestrafen.

Wütend lief Joka im Kreis. Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte.

Schon seit Jahren begleitete die Einheit zu der sie gehörte die Gefangenen zum Abgrund der Sühne und bisher war noch nie jemand ihres Gleichen dusselig genug gewesen, um rein zu fallen. Selbst einem Anfänger unterlief dieser Fehler nicht.

Das hatte sie davon, sich mit Gefangenen zu unterhalten und ihnen den Rücken zuzuwenden, statt sie gleich wortlos runter zu schubsen. Das hatte sie davon, alles alleine machen zu wollen. Die Einheit hatte genug andere Bestrafungen auszuführen und die Hitze machte einen längeren Aufenthalt im Ödland unerträglich.

Sie war selbst schuld!

"Frau Henkerin!" Eine Stimme ließ Joka aufhorchen und sie schaute auf. Der Gefangene blickte vorsichtig zu ihr runter. Er war noch da!

Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte und grinste ihn belustigend an.

"Anscheinend bist du nicht weit gekommen."

"Ja, die Fesseln machen das Gehen sehr schwer", antwortete er im Plauderton, "aber wie ich sehe, sind auch Sie nicht besonders weit gekommen."

"Was willst du?" fuhr Joka das Gespräch ernster fort.

"Das wissen Sie ganz genau. Ich möchte einen Deal vorschlagen."

 

***

 

Die Frau wurde in ein Zimmer gebracht, wo sie sich bei einem Glas Wasser beruhigen konnte. Nachdem sie sich nicht mehr wehrte und still auf ihrem Stuhl saß, zogen sich die zwei Männer zurück. Hel sollte bei ihr bleiben und gönnte sich eine kleine Mahlzeit.

Er hatte keine große Lust, zu Sain zurück zu kehren. Wahrscheinlich war er damit beschäftigt, sich über Esras Verhalten aufzuregen.

Er war ein pflichtbewusster Typ und kein schlechter Mentor. Seine Haare waren schwarz und berührten seine Schultern und er hatte einen Bartansatz. Zudem war er etwas massiger als Esra und Hel hatte sich oft gefragt, wer von beiden stärker war.

Sie waren verschieden wie Tag und Nacht, aber wenn jemand sie auffodern würde, gegeneinander anzutreten, würden beide ablehnen. Esra prügelte sich oft und gern, aber nur wenn er einen Sinn darin sah(den meistens die anderen nicht sahen). Sain würde mit Verantwortung und Vernunft kommen und lieber seinen Pflichten nachgehen. Vielleicht glaubten beide, dass jeweils der andere stärker sein könnte.

Hel dagegen reichte beiden nicht zum Kinn und konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt eine Schlägerei gewonnen hatte, was aber nicht heißen soll, dass er das Bild des schmächtig- schwachen Jungen erfüllt, der es mehr im Kopf als in den Muskeln hat.

Während er sein Brötchen kaute, betrachtete die Frau ihn ruhig. Vielleicht wegen seinen roten Haaren, die in der Sonne wie Bronze schimmerten?

"Du bist sehr jung", bemerkte sie, "warum bist du dieser Einheit beigetreten?" Hel schluckte, bevor er antwortete. "Weil mein Vater dazugehörte. Seit ein paar Monaten bin ich in seine Fußstampfen getreten." "War der junge Mann, der dich begleitet hatte, dein Vater?" "Nein. Das ist mein Mentor. Meine Eltern sind im Gefängnis." Er sagte das, als wäre das keine große Sache. Sein Blick ruhte auf der Wand gegenüber, sodass er die Reaktion der Frau nicht sehen konnte. Sie schwieg und nippte an ihrem Becher.

Die beiden wechselten kein weiteres Wort und eine erdrückende Stille legte sich über den Raum. Die Frau war damit beschäftigt, den Verlust ihres Mannes zu verdauen, während Hel seinen Gedanken nach hing.

Nachdem beide die Stille nicht mehr ertragen konnten, suchte Hel den nächstbesten Henker auf und drückte diesem die Frau auf, damit er sich um ihre Angelegenheiten kümmern konnte.

Die meisten Henker wussten über Esras Verhalten Bescheid und waren damit beschäftigt, die Morde zu vertuschen, damit die Richter keinen Wind davon bekamen.

Warum machen sie sich die Mühe für diesen Deppen, fragte sich Hel oft. Was war schon dabei, wenn Esra Zeros entlassen werden würde? Als er Sain seine Gedanken mitgeteilt hatte, hatte dieser nur gelächelt und geantwortet:"Erwachsenenkram." Heißt, Hel war zu jung, um das zu verstehen und das fuchste ihn.

Er schlenderte durch die riesigen Gänge der Richter und erklomm die nächste Etage. Durch die Fenster beobachtete er die Stadt und machte Erwachsene aus, die Handel betrieben und ihre Sicherheit genossen. Die Festung aus dunklem Stein schreckte die Menschen ab. Sie wirkte wie eine Kreatur, die alle Taten der Bewohner überwachte. Wie die Endstation im Leben.

Darum gab es in dieser Stadt weniger Delikte, die jedoch zunahmen, je weiter man sich von der Festung entfernte. Jungen in seinem Alter waren um diese Uhrzeit in der Schule. Manche von ihnen bewunderten ihn dafür, dass er zur Einheit der Henker angehörte, andere schauten ihn schief an. "Vorsicht oder er exekutiert uns." hatte einer seiner Mitschüler gescherzt, doch nur eine kleine Gruppe konnte darüber lachen.

Jemand schlug Hel hart gegen den Rücken, worauf er höher schrie als er eigentlich wollte. Als er sich umdrehte, stand sein Mentor Sain Torming grinsend hinter ihm. "Na, alles klar?" begrüßte er ihn, "es gibt von oben wieder einen Auftrag!" Er war gut gelaunt- wie immer, wenn Esra nicht in der Nähe war.

"Schon wieder? Wir sind doch gerade erst zurück gekommen..." seufzte der Junge lustlos. "Sag das den Alten, die hier über alles bestimmen." "Tu ich doch gerade." Daraufhin lachte Sain auf. "Hey, keines der beiden Aussagen trifft auf mich zu!" "Du identifizierst dich nur nicht mit ihnen." "Jetzt reicht's aber!" Hel grinste in sich hinein. Man sah Sain an, dass es ihm nicht gefiel, als alt bezeichnet zu werden.

 

***

 

"Einen Deal?" Joka glaubte sich verhört zu haben. "Ja", antwortete er optimistisch, "werfen Sie den Schlüssel zu mir hoch. Dann werde ich mich von meinen Fesseln befreien und Hilfe holen..." "Bring mich nicht zum Lachen!" fuhr die Henkerin ihn barsch an, weniger weil er sie für dumm verkaufen wollte, sondern mehr, weil er naiv war. Nie im Leben könnte sie derart hoch werfen!

"Verzieh dich und lass mich in Ruhe! Auf deine Hilfe kann ich verzichten!" fauchte sie.

Der Mann wollte etwas sagen, doch dann wandte er seinen Blick von ihr ab. Für einen kurzen Moment glaubte Joka, dass er wirklich gehen würde. Aber er rührte sich nicht. Er blickte nur konzentriert in eine Richtung als versuchte er etwas zu erkennen. Etwas schien sich ihm zu nähern, denn er entfernte sich vom Abgrund und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

"Was ist los?" fragte Joka genervt. Aus ihrer Position aus konnte sie nichts erkennen. Sie hielt inne als die klappernden Schritte zu ihr vordrangen. Es näherte sich tatsächlich jemand und nicht nur das. Den Schritten zu urteilen, waren es mehrere Personen die sich anhörten als würden sie Rüstungen tragen. Ganz offensichtlich handelte es sich um andere Henker, die, genau wie Joka, ihre Gefangenen zum Abgrund begleiteten. Sie würde schneller raus kommen als sie dachte!

Jemand sagte etwas und Joka meinte, auch die Stimme des jungen Mannes zu hören, doch die hörte sich flehend und verkrampft an. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen wie er um seine Freiheit flehte wie er es zuvor bei ihr getan hatte.

Plötzlich erschien er wieder in ihrem Blickfeld, rückwärts taumelnd und mit den Armen wedelnd. Jemand hatte ihm einen Stoß versetzt und er flog mit Schwung über den Rand. Für eine Sekunde schwebte er über den Abgrund, dann setzte die Schwerkraft ein und er fiel. Fiel schnell, sodass keine Zeit für ein wenden oder Einziehen der Arme blieb. Er schrie, landete hart auf dem Rücken, verstummte, drehte sich. Einmal, zweimal und blieb schließlich liegen. Joka starrte ihn an, dann wanderte ihr blick nach oben.

Jemand trat an den Rand des Abgrunds und betrachtete zufrieden sein Werk. Joka erkannte sofort den Henker: Claynard!

Auch er entdeckte sie. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und nur wenige hätten den Wahnsinn dahinter gesehen. Er war erfreut darüber einen Gefangenen von seiner Flucht abgehalten zu haben und Joka im Abgrund der Sühne zu sehen.

"Wer hätte das gedacht", rief er nachdem er den Moment ausgekostet hatte, "Frau Cagane, Einzelgänger und beste Henkerin in dieser Gegend. Wie kommt es, dass Sie und, ich nehme an, ihr Gefangene, Plätze getauscht hatten?" "Halt die Schnauze Claynard!" erwiderte sie- wütend darüber, dass ausgerechnet er aufkreuzen musste. "Aber, aber. In Ihrer Situation würde ich einen anderen Ton wählen." Sie verstummte und mahnte sich zur Ruhe. Würde er ihr wirklich raus helfen? Was für Bedingungen würde er stellen?

Daraufhin warf Claynard seinen Kopf zurück und brach in ein schallerndes Lachen aus, dass Jokas Blut sofort zum kochen brachte. "Halt die Schnauze!" schrie sie wieder.

"Dachtest du gerade wirklich, dass ich dich da rausholen würde? Um ehrlich zu sein, gefällst du mir so viel besser..." Er wendete den Blick von Joka ab und drehte sich zu seiner Gruppe um. Kurz tauschte er einige Wörter mit ihnen aus. Ungeduldig stemmte Joka ihre Hände in die Hüfte. Biss sich wütend auf ihre Unterlippe und mahnte sich immer wieder zur Ruhe. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Der ganze Tag war ein schlechter Scherz!

Ihr Blick glitt kurz zu dem Gefangenen. Noch immer rührte er sich nicht, ächzte nicht unter Schmerzen. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Claynard, der inzwischen sein Gespräch beendet hatte. "Was willst du?" fragte sie sofort, "sag schon!" Ihr Gegenüber grinste, als hätte er auf die Frage gewartet.

"Nichts." sagte er und Joka befürchtete das Schlimmste. Er konnte das nicht Ernst meinen!

Es bewahrheitete sich, als Claynard sich umdrehte und über seine Schulter rief:"Noch viel Spaß da unten, Frau Cagane!" "Du Mistkerl!!" schrie sie. "Claynard!!" Keine Antwort. Das war nicht sein Ernst!!

Plötzlich sah sie, wie etwas in den Abgrund geworfen wurde. Es sah wie ein Sack aus, doch es schrie. Der Mann beschrieb einen hohen Bogen und landete hinter Joka, knallte gegen die Felswand und blieb anschließend reglos liegen.

"Fast vergessen." hörte sie von irgendwo entfernt Claynards Stimme. Jokas Wut erreichte damit ihren Höhepunkt. Sie schrie lauter als sie sich je hatte schreien hören, zog ihr Schwert und schlug damit kräftig in die Erde. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.

Zweite Strafe

Nie hätte sie gedacht, dass ihr Rivale so weit gehen würde. Er war ein feiger Mistkerl, das hatte Joka schon immer gewusst. Verwöhnt und arrogant. Und er konnte sie nicht leiden, das war ihr lange klar.

Bereits am Tag, andem man ihnen die Ergebnisse ihrer Aufnahmeprüfung zum Henker ausgeteilt hatte, gab es zwei Schüler, deren Leistungen besonders herausragend waren: Joka Cagane und Claynard Maurice.

Er hatte bei ihrer ersten Begegnung auf sie herab geschaut, weil er alles und sie nichts besaß.

"Gut durch geschummelt." hatte Claynard herablassend gegrinst, ein Taschentuch raus geholt und es sich vor den Mund gehalten. Dann war er schnell weiter gegangen. Das tat er bis heute. Schnell gehen.

Schnell gehen, damit alle anderen hinter ihm standen- albern, in Jokas Sicht. Als ob man die Qualität eines Menschen daran misst, ob er im Gang vorne oder hinten läuft.

 

Würde jemand ihr Verschwinden bemerken? Wohl kaum. Immerhin benahmen sich einige Henker in Claynards Nähe wie Kriecher und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seine Gruppe zu Stillschweigen verpflichtet hatte. Wahrscheinlich würde er auf die Fragen der anderen und der Richter antworten, dass sie verschollen oder weggelaufen war. Und die Kollegen, die ihn begleitet hatten, würden dicht halten.

Joka war viel zu stolz und weigerte sich um Hilfe zu schreien oder zu betteln. Außerdem war sie wegen ihrer Wut außer Atem und ihre Hände bebten noch. Sie hatte keine Lust darauf, dass noch mehr ihrer Kollegen sie im Abgrund der Sühne sahen. Es würde das Thema in jedem Gespräch werden und ihren Ruf womöglich schaden.

Als sie zu Ruhe kam, steckte sie ihr Schwert ein und drehte sich um, um den Abgrund zu erkunden, als sich plötzlich etwas hinter ihr bewegte.

Langsam rappelte sich der junge Gefangene auf und hielt sich schmerzend seinen Arm. Ein wenig überraschte es Joka, dass er noch lebte. Für einen kurzen Moment war sie hin und her gerissen: Sollte sie ihm zur Hilfe kommen oder weiter gehen?

Sie entschied sich für zweites und setzte ihren Weg fort. Als sie an Claynards Gefangenen vorbeikam, suchten ihre Augen ihm nach Lebenszeichen ab, aber seine Brust hob und senkte sich nicht. Der Aufprall musste heftig gewesen sein.

„Hätten Sie mich auch so runter geworfen?“ vernahm sie eine Stimme hinter sich. Mittlerweile hatte der Kriminelle es geschafft aufzustehen. Sie antwortete nicht. „Würden Sie bitte jetzt meine Ketten abnehmen? Ich spüre meine Hände kaum mehr…“ „Du bist dort wo du stehst genau richtig.“ sagte sie streng. Er schmunzelte, dann verzog er das Gesicht, was sie jedoch nur am Mund erkennen konnte. „Wer seid ihr, die über das Leben andere entscheiden?“

Joka fühlte nicht das Bedürfnis, sich mit ihm zu unterhalten und wendete den Blick von ihm ab. Sie musste hier raus! Und zwar besser von selbst!

Ihrem Gegenüber ignorierend ging sie weiter. Sie ging mit großen, schnellen Schritten, damit der Gefangene nicht die Möglichkeit bekam, ihr zu folgen. Er gehörte hier hin, sie nicht, wiederholte sie den Gedanken in einer Endlosschleife. Er hat etwas verbrochen. Es ist seine gerechte Strafe, die er erhielt.

Doch egal wie oft Joka ihr Handeln rechtfertigte, es fühlte sich nicht richtig an. Sie blieb stehen und überprüfte, ob er ihr gefolgt war. Weit war sie nicht gekommen. Sie konnte ihn noch sehen und er schaute ihr nach. Als er bemerkte, dass sie stehen geblieben war, winkte er freudig.

Was hatte er eigentlich verbrochen, dass er in den Abgrund der Sühne landen sollte? Er wirkte nicht wie ein Mörder, nicht wie ein Dieb. Sie wusste nichts über ihn. So gesehen wirkte er wie ein einfacher, naiver Mensch. Warum war ihr nie aufgefallen, dass man als Henker den Richtern blind gehorchen musste? Blinder Gehorsam. Sie waren nicht mehr als Werkzeuge.

„Hey, was für ein Delikt hast du begangen?“ rief sie ihm zu. „Sag ich nicht!“ antwortete er im kindlichen Ton und Joka verrollte die Augen. Das war nicht sein ernst!

Er kam auf sie zu, mehr stolpernd als gehend, während er sprach:“Aber wenn Sie mir meine Fesseln abnehmen, könnte ich es Ihnen verraten.“ „So neugierig bin ich auch nicht. Außerdem kannst du froh sein, dass der vorherige Henker meine Wut auf sich gezogen hatte. Sonst hätte ich sie jetzt an dir ausgelassen. Immerhin ist das dein Verdienst, dass ich nun hier stehe!“ Daraufhin lachte der Gefangene. „Das stimmt wohl.“ sagte er ehrlich und verlegen. Sie seufzte. Stand ein Kind oder ein Erwachsener vor ihr?

„Wie ist dein Name?“ fragte sie. „Nerrun.“ „Der Ganze?“ Daraufhin schüttelte er den Kopf und es blieb offen, ob er seinen ganzen Namen nicht wusste oder keinen vollständigen hatte.

Sie seufzte und kramte ohne darüber nachzudenken den Schlüssel raus und befreite ihn von seinen Fußschellen. „Mach doch was du willst.“ murmelte sie schlecht gelaunt und ging los ohne auf ihn zu warten. "He! Und meine Handschellen!?" "Ich schulde dir gar nichts!!"

 

***

 

Nachdem Sain und Hel sich gewaschen hatten, zogen sie sich saubere Klamotten an. Hel schlüpfte in seine durch gelaufenen Stiefel, die ihm bis knapp unter die Knie reichten.

Bisher war oft von einer Rüstung die Rede gewesen, aber in Wahrheit trugen sie Rüstungsteile- etwas anderes wäre zu schwer und würde sie in ihrer Beweglichkeit einschränken. Manche trugen einen Brustharnisch, andere nur Ellenbogen- oder Schulterpolster. Das Kettenhemd war das gängiste Kleidungsstück unter den Henkern. Darüber trugen sie eine Art Uniform, die je nach Rang variierte.

 

Hel hatte sich eine kleine Auszeit erhofft, denn ihr letzter Auftrag hatte sie vier Tage gekostet.

An manchen Tagen waren sie nur unterwegs, an anderen hatten sie nichts zu tun und langweilten sich. Meistens fing sein Mentor dann an, kleine Äste nach den Richtern zu werfen, wenn sie an ihnen vorbei gingen, aber so, dass er sie nicht traf und sie nichts mitbekamen.

 

"Hör zu", sagte Sain als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, "das wird jetzt etwas kompliziert."

Die beiden setzen sich auf die Treppenstufen vor die Festung. Auch hier war der Stein von Wind und Wetter glatt geschliffen worden, einzelne Grashalme wuchsen durch Risse und Spalten.

"Um was geht es in unserem neuem Auftrag?" fragte Hel. "Das sage ich dir gleich", erwiderte sein Mentor geduldig, "aber bevor ich das tue, brauchst du ein bisschen Vorwissen, um das ganze zu begreifen."

Sain kramte aus seiner Tasche einen alten Zeitungsartikel raus und hielt ihn seinem Schüler unter die Nase. "Fangen wir hiermit an. Lies dir den Titel durch. Sagt er dir etwas?"

Hel überflog die Seite. Sie war ein paar Monate alt. Er nickte. "Ja, es gab eine Zeit, da hatten die Menschen von nichts anderen gesprochen. In einer Stadt sollten angeblich zwei oder drei Menschen von den Toten auferstanden sein. Zuerst verbreitete sich das per Mundpropaganda, dann berichteten die Nachrichten von nichts anderem. Als man versuchte, näheres zu diesem Fall herauszufinden, entpuppte sich das Ganze nur als Gerücht, dass jemand in die Welt gesetzt hatte."

"Sehr gut zusammengefasst. Was ist, wenn ich dir sagen würde, dass das kein Gerücht ist?", grinste Sain, "Was ist, wenn es die Wahrheit ist und die Toten wirklich zu den Lebenden zurückkehrt sind?" "Wie soll das gehen?" fragte der Junge skeptisch. "Genau das ist der komplizierte Teil, der sich nicht ganz erklären lässt und von dem nur die Wenigen wissen."

Sain Torming gestikulierte mit seinen Händen während er sprach. "Nehmen wir nun ein Beispiel, um es leichter zu machen. Nehmen wir an, ich würde Esra töten..." Warum wunderte es Hel nicht, dass das Opfer Esra sein musste? "Ich bringe Esra um und er ist tot. Wenn du nun mich, seinen Mörder, umbringen würdest, würde Esra wieder unter die Lebenden zurückkehren. Genau nach diesem Prinzip ist das geschehen. So sind die Toten wieder auferstanden."

"Das ist nicht dein Ernst! Wir Menschen sind nicht in der Lage, Leben gegen ein anderes einzutauschen! Wo kämen wir da hin? Und wie ist das überhaupt möglich?" "Das kann niemand sagen. Doch genau dieses Phänomen wurde in einem bestimmten Gebiet beobachtet und das wiederrum hat mit dem alten Zeitungsartikel zu tun. Es war kein Gerücht, wie die Zeitung schließlich schrieb. Es war etwas Wahres dran, dass um jeden Preis geheim gehalten werden musste."

Der Junge konnte das schwer glauben, selbst wenn es von Sain kam.

"Warte, das heißt, wenn man den Mörder umbringt, kehrt das Opfer zurück?" hakte er ungläubig nach.

Sain nickte ernst. "Ja. Zuerst vermutete man, dass das eine besondere Fähigkeit war, die jemand entwickelt hätte oder die vererbt werden konnte- vielleicht sogar ein Zauberspruch, aber dem war nicht so. Es ist keine Fähigkeit mit der ein Mensch geboren wird. Es liegt mehr am Ort..."

Der Mentor brach ab, um ein weiteres Blatt Papier aus seiner Taschen zu holen. Er legte die Karte über den Zeitungsartikel, dann zeigte er auf eine bestimmte Stelle- ein Dorf. In der Nähe waren Wälder und ein großes Gebäude gekennzeichnet. Einige Tagesmärsche von der Festung der Richter entfernt, stellte Hel fest.

"Das funktioniert nur in diesem Gebiet? Also hat es etwas mit dem Ort zu tun..." grübelte er. "Genau. Wenn du dort einen Mörder tötest, erwacht jedes seiner Opfer wieder. Bringst du ihm aber woanders um, passiert nichts. Seit man es als Gerücht und Lüge verkaufte, legte sich zum Glück die Neugier der Menschen, aber es gibt immer noch einige Bewohner, die Probleme machen. Ich vermute die Richter und Politiker wissen nicht recht, wie sie damit umgehen sollen und die Wissenschaftler beißen sich die Zähne aus. Ein Anführer einer Banditenbande hat mindestens zehn Menschen auf dem Gewissen, bevor man es schaffte, ihn einzufangen und ins Gefängnis zu stecken. Dummerweise steht das Gefängnis auf diesen verfluchten Gebiet, weshalb zahlreiche Familien der Opfer hinter seinem Kopf her sind. Das Gefängnis ist somit seine Strafe und Schutz zugleich."

"Dorthin wird es uns bei diesen Auftrag verschlagen, oder? Zum Gefängnis?" "Du begreifst schnell." wurde er gelobt.

Hel biss sich auf die Unterlippe. Dieses Gefängnis, dass auf der Karte in der Nähe des Dorfes lag, kannte er. Es war das Gefängnis, in dem seine Eltern waren. Doch er hatte nie etwas von dem Banditen geschweige von einem verfluchten Ort gehört. Anscheinend wurde ganze Arbeit geleistet, damit nichts zu den einfachen Bürgern durch sickerte.

Es ist besser so, dachte er sich. Für alle.

„Denkst du, dass sich dieses Gebiet ausbreitet“, fragte der Junge ohne groß nachzudenken, „dass dieses Phänomen bald überall auftreten könnte wie eine Krankheit?“ „Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt“, lachte Sain, „sonst ginge es uns Henkern ziemlich an den Kragen. Und hoffen wir, dass unsere Menschheit nicht allzu sehr auf Rache aus ist.“

Der ernste Ausdruck wollte nicht aus Hels Gesicht weichen.

"Was ist mit denen, die an einen natürlichen Tod sterben?" bohrte er weiter nach. "Ich meine, wen tötest du dann, damit das Opfer wieder aufersteht?"

Der ältere Henker zuckte mit den Achseln und überspielte seine Überraschung mit Gelassenheit. „Wer weiß das schon.“

 

Der Mittag neigte sich dem Ende zu und die Gruppe, die aus fünf Henkern bestand, machte sich daran, aufzubrechen.

Ihr Weg würde sie am Ödland vorbei führen, wo die Sonne bereits um die Zeit erbarmungslos war, während in der Stadt angenehmes Wetter herrschte.

Ien Fellington war ein höherrangiger Henker und damit der Gruppenführer. Er war unter den fünf der Älteste und dafür, dass er keine Haar auf dem Kopf mehr hatte, hatte er einen prächtigen, braunen Schnauzbart, der seine Oberlippe komplett verdeckte. Seine Haut war rau, die Gesichtszüge eckig und kantig. Fellington überragte Sain um ein paar Fingerbreiten und seine Körperhaltung war aufrecht und angespannt. Zudem bemerkte Hel, dass er die Angewohnheit hatte, die Hände in die Hüfte zu stemmen, wenn er gut gelaunt war oder lachte, was jedoch selten geschah. Die meiste Zeit wirkte er ernst, doch gleichzeitig strahlte Fellington Ruhe und Freundlichkeit gegenüber seinen Mitmenschen aus.

Zu Sains Grauen schloss sich Esra Zeros der Gruppe an. Wenn kein Vorgesetzter in der Nähe war, machte der Henker was er wollte.

Andererseits glich Esras Stärke die der ganzen Truppe. Er fing Streit an, aber genau so oft schlichtete er welchen. Dadurch konnte man auf ihn nicht verzichten, wenn Gefangene Probleme machten oder sich wehrten.

Hel hatte bisher wenig mit ihm gesprochen, weil Esra sich nicht für ihn interessierte.

Den letzten der Gruppe kannte er nicht, da er ihn noch nie gesehen hatte, aber von den anderen wusste er, dass der Name des Mannes Mendel Hedvin war.

Der Henker hatte ein Durchschnittsgesicht- nichts, was besonders auffiel oder raus stach. Er war weder dick noch dünn und viel zu sprechen schien er auch nicht, darum schenkte Hel ihm keine weitere Beachtung.

 

Ihre erste Etappe legten sie auf Pferden zurück- Fellington vorne, gefolgt von Sain, Hel, Hedvin und Esra zuletzt. Ihr Weg führte sie durch grüne Wälder, doch mit der Zeit lies die Vegetation nach und sie durchquerten seltener Städte oder Dörfer. Die Erde wurde trockener und die Luft schwerer.

Schon bald mussten sie ihre Pferde im nächsten Dorf zurück lassen und traten ihre zweite Etappe zu Fuß an.

Die Gruppe musste nicht das Ödland durchqueren, aber ihr Weg führte nahe an dessen Grenze vorbei. Irgendwo im Herzen der Einsamkeit befand sich der Abgrund der Sühne und teilte die Leere in zwei Hälften.

Bisher hatte Hel nicht die Gelegenheit bekommen, in die Nähe des Abgrunds zu kommen, darum hoffte er, wenigstens einen Blick erhaschen zu können. Wie würde es aussehen?

Würde er die Hölle in der Wüste sehen? Würde er dutzende Gefangene hören, die ihre Hände gen Himmel ausstrecken und verzweifelt flehen und rufen? Würde es nach Verwesung stinken?

Ein wenig schauderte ihn der Gedanke, darum beließ er das Thema und versuchte sich auf andere Dinge zu konzentrieren.

Der Boden wurde immer rissiger und das Gras gelber. Die Gruppe kam an einem riesigen Baum vorbei, der angenehmen Schatten spendete. Seine Wurzeln ragten hin und wieder aus der Erde. Der Stamm war nicht besonders gerade. Er wand sich wie eine Kreatur, die zu leiden schien und um jeden Preis überleben wollte.

Hel warf Fellington einen Blick zu, der geradeaus schaute und keine Anzeichen machte, die auf eine Pause deuteten.

Die meiste Zeit schwiegen sie. Hin und wieder tauschten der Gruppenführer und Sain ein paar Wörter aus, doch weil beide dann etwas schneller gingen und die Gruppe zurück ließen, konnte Hel nicht viel vernehmen.

"Was für ein Schleimer." bemerkte Esra verächtlich und weder Hel noch Hedvin erwiderten etwas.

"Weiß einer von euch, was wir im Gefängnis tun sollen?" fragte der Junge stattdessen und erntete darauf einen verächtlichen Blick von Esra. "Warum willst du das wissen?" Hel zuckte mit den Schultern, verwirrt über Esras Gegenfrage. "Warum nicht?" "Weil wir das nicht zu wissen brauchen. Man wird uns früh genug sagen, was wir zu tun haben." Diese Einstellung konnte Hel nicht nachvollziehen.

Störte es Esra nicht, dass man sie im Dunkeln ließ? Warum war es für jeden selbstverständlich, Befehlen zu folgen ohne ihren Sinn zu hinterfragen? Lag das daran, weil sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht hatten?

Esras Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. "He, du scheinst gerne deinen Apparat oben zu benutzen." "Was meinst du damit?" "Ich meine damit, dass du nicht über jede Kleinigkeit nachdenken und auf jede Frage eine Antwort suchen musst. Vor allem als Henker nehmen die Richter uns die Denkarbeit ab, verstanden? Merk dir, manches klärt sich von selbst, manches willst du nicht wissen und manches führt ins Leere." "Und woher weiß ich wann ich was vor mir habe?" "Du bist anstrengend, weißt du das?"

 

Es war das erste Mal, dass er mit Esra Zeros ins Gespräch kam, also beschloss er, die Konversation am Laufen zu halten. Das war seine Chance, Fragen zu stellen, die ihn lange beschäftigten. Sein Gegenüber schien bei guter Laune zu sein.

"Ich will wissen, warum du den Henkern beigetreten bist", platzte es aus dem Jungen heraus, "dir scheint es weniger am Herzen zu liegen, die Gesellschaft zu beschützen, sondern mehr sie durch deine Taten, wie soll ich sagen, abzuschrecken."

Er dachte an den Vorfall mit der Frau und ihrem Mann, der sich am Morgen ereignet hatte und an all die anderen Vorfälle, die man vor den Richtern vertuschte.

"Es geht mir nicht darum, potenzielle Kriminelle abzuschrecken- das müsstest du wissen", er war noch bei guter Laune, aber es hatte etwas von einem Raubtier angenommen, dass mit seiner Beute spielte, "es geht mir nur ums töten." Hel konnte nicht glauben, was er hörte. Er hatte es offen zugegeben!

"Das ist doch krank!" rutschte es aus ihm heraus. "Nicht wahr?" grinste sein Gegenüber. "Wenn du töten und morden willst, dann kannst du es auch so machen", sagte Hel verärgert, "da musst du nicht extra den Henkern beitreten und uns solche Probleme bereiten!" Nun verschwand das Grinsen und Esra verzog den Mund. "Aber dann wäre es illegal." sagte er und hörte sich an, als würde er es wie etwas ekeliges vermeiden.

Damit war für Hel das Gespräch beendet. Es führte eindeutig ins Leere.

 

Während Hel sich mit Esra unterhalten hatte, hatte Sain ihnen manchmal einen kurzen Blick zugeworfen. Er wollte nicht, dass Esra einen schlechten Einfluss auf den Jungen ausübte.

Dann widmete er sich zurück an die Planung ihrer kleinen Reise.

Sie würden ein wenig wandern müssen bis sie die nächste Zivilisation erreichten. Die Nacht unter den Sternen zu verbringen war unausweichlich. Zelte hatten sie dabei und Waffen mussten sie sowieso immer bei sich tragen. Wilde Tiere gab es bestimmt, aber das Feuer würde sie fernhalten und generell wären sie viel zu scheu, um sich den Menschen zu nähern.

Sain machte sich weniger Sorgen um die Tiere, sondern mehr um Banditen und Gesetzesbrecher, die Reisenden auf ihrem Weg auflauerten. Manche von ihnen waren einfache Taschendiebe, andere sollte man nicht unterschätzen. Besonders stellten sie eine Gefahr dar, wenn sie sich in Gruppen zusammen taten und das geschah in letzter Zeit oft. Langsam aber sicher hatten sich Banden entwickelt, die sich durch ihre Taten einen Namen gemacht hatten und den Richtern ein Dorn im Auge waren. Deshalb wird meistens nach dem Bandenanführern gefahndet.

Der Bandit, von dem er Hel vorhin erzählt hatte und der nun im Gefängnis saß, war der Anführer der "Outlaws". Die berüchtigtste und meist gesuchteste Bande.

Wie er ins Gefängnis kam, wusste niemand- eines Tages hatte sich die Kunde verbreitet und die meisten konnten es anfangs nicht glauben. Nach und nach konnten immer mehr bestätigen, das dem gefährlichsten Mann im Land die Hände gebunden worden waren und alle waren erleichtert, sodass man genaueres nicht zu wissen brauchte. So einfach war das.

 

***

 

Ohne etwas zu sagen liefen sie in die Richtung, die sich vor ihnen erstreckte. Felsen lagen ziellos herum. Ansonsten war nichts zu sehen. Keine Pflanzen. Kein Fluss. Auch unten war alles verödet und ausgetrocknet.

Joka bemerkte bald, wie angespannt sie war und wie ihre Hand sich nach dem Griff ihrer Waffe sehnte. Ihr missfiel es, dass Nerrun hinter ihr lief, weshalb sie ihre Geschwindigkeit verlangsamte und sich nach hinten fallen ließ. Nerrun wandte sich fragend um. Als er Jokas Blick sah, der an ihm heftete, drehte er sich schnell  um.

Die Henkerin konnte nichts gegen ihr Misstrauen tun. Die Zeit, die sie mit Kriminellen, Gauklern und Menschen, die versuchten sie zu besiegen, verbracht hatte, lehrte sie, dass jeder Mensch fähig dazu war, etwas skrupelloses zu tun- selbst wenn er sich dessen nicht bewusst war.

Nur Dank ihrem Misstrauen, hatte niemand die Oberhand über sie gewinnen können und nur deswegen, wurde sie übermutig. Erneut schalte sich Joka für ihre Unaufmerksamkeit und schwor sich, diesen Fehler nicht ein zweites Mal zu begehen.

Dritte Strafe

Noch Stunden zuvor, auf dem Weg durch das Ödland zum Abgrund der Sühne, hatte Nerrun geglaubt, dass dies sein letzter Tag werden würde. Die Angst und Sorgen, die er empfunden hatte, waren überwältigend, sodass keine Zeit für Reue oder klare Gedanken blieben. Alles was er hatte tun können, war seine Nervosität mit Galgenhumor zu überspielen und die Fesseln, die an seinem Hand- und Fußgelenk scheuerten, zu ignorieren. Sie kamen an ihrem Ziel an und die Henkerin hatte keine Anzeichen gemacht, im letzten Moment Gnade walten zu lassen.

Wie lange musste es gedauert haben bis sie ohne zu zögern Menschen in den Abgrund stoßen konnte? Verlor man mit der Zeit jegliches Mitgefühl? Das muss man, hatte sich Nerrun gedacht, sonst würde das einem psychisch mitnehmen.

Die Henkerin hatte Nerrun für einen Moment den Rücken zugekehrt. Hatte etwas gesagt, dass er nicht mehr hörte, weil er in dem Moment, seine Gelegenheit sah. Er hatte sich ohne nachzudenken gegen sie geworfen und sie war gefallen, ohne sich rechtzeitig umdrehen zu können. Ohne Zeit für einen Schrei der Überraschung.

Nerrun hatte sich darauf konzentriert, das Gleichgewicht nicht zu verlieren und hatte sich schnell vom gefährlichem Rand entfernt.

Für einen Moment hatte er geglaubt, seiner Strafe auf dieser Weise entkommen zu sein, doch dann fielen ihm seine Fesseln ein und minutenspäter waren die nächsten Henker aufgekreuzt. Sie hatten sich ihm genähert, bevor er sie bemerken konnte und alles, was er tun konnte, war fassungslos auf sie zu starren wie ein erschrockenes Tier ins Licht. Jede Sekunde, in der er sich nicht gerührt hatte, verringerten die Chance auf eine Flucht. Schließlich hatte er sich zusammen gerissen und versucht mit ihnen zu verhandeln- so hoffnungslos es schien.

Um den Henkern zu zeigen, dass er keine Anstalten machte zu fliehen, war er ihnen langsam entgegen gekommen und hatte harmlos gelächelt als würde man alte Freunde wieder sehen.

Doch der Henker, der Nerrun gegenübergestanden war, hatte sich als schlimm erwiesen. Schlimmer als schlimm. Er hatte das Lächeln erwidert und in einem freundlichen Ton gesprochen. Sein freundlicher Ausdruck hatte nicht zum Inhalt seiner Sätze gepasst, denn sie waren herablassend und spöttisch.

Nerrun hatte sich ermahnt, ebenfalls weiter zu lächeln, auch wenn es sich verkrampft angefühlt hatte und er ihm lieber ins Gesicht geschlagen hätte.

Er hatte diesem Typen nicht ausstehen können- nicht als Henker, sondern als Mensch.

Als er schließlich in den Abgrund gefallen war, wurde ihm schwarz vor Augen. Er war hart gelandet und befürchtete, sein Bewusstsein zu verlieren, doch dem war nicht so. Eine Weile hatte er dagelegen und gewartet bis die Schmerzen nachließen. Hatte gehört wie die weibliche Henkerin außer sich vor Wut schrie und das der männliche Henker auf den Namen Claynard hörte.

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Tag der Veröffentlichung: 03.02.2015

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