Hast du einen Traum zweimal geträumt? Oder dreimal? Hast du in einer Nacht etwas gesehen, dass du fast vergessen hättest? Träume sind wie Erinnerungen, die dich vom vergessen abhalten, denn ohne Erinnerungen kann der Traum nicht existieren und ohne Träume nicht die Erinnerungen...
Du siehst alles verschwommen. Du bist ein Kind und das Bett, in dem du schläfst, kommt dir riesig vor. Du siehst einen schwarzen Schatten an der Tür, aber der macht dir keine Angst, weil du weißt, dass es nur deine Kleider sind, die dort hängen. Doch diese Nacht ist es anders. Diese Nacht gehört dieser dunkler Schatten einem Fremden. Dir wird das bewusst, als er sich zu bewegen anfängt und sich deinem Bett nähert. "Mama?" fragst du leise. Keine Antwort. "Papa?" Nichts. Er steht direkt neben dir. Streckt seine Hände nach dir und du beginnst zu schreien und zu zappeln als es deine Haut berührt und du realisierst, das er echt ist.
"Mama! Papa!!" Es hält dir den Mund zu. Du weinst. Atmest unregelmäßig. Plötzlich hörst du Schritte. Licht blendet dich. Stimmen sind zu hören.
Als Ritas ihre Augen aufschlug, war es dunkel. Sie blickte zu ihrer Zimmertür, doch da war niemand. Dann legte sie sich zurück auf ihr Kissen und drehte sich zum Fenster. Am dunklem Himmelsfirmament leuchtete der Sichelmond über die Großstadt. Autos, Menschen, selbst die Hochhäuser, waren von Stille erfüllt.
Es war bereits das zweite Mal, dass sie von diesem Erlebnis träumte, das in ihrer Kindheit geschehen war.
Ihre Eltern, die damals in ihr Zimmer stürmten, nachdem sie die Schreie vernommen hatten, hatten Ritas beruhigt und ihr eingeredet, dass sie einen Alptraum gehabt haben musste. Anfangs hatte Ritas es nicht glauben wollen, doch am nächsten Morgen kam es ihr wirklich wie eine Einbildung vor und sie beschloss, sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen.
Heute war sie sich nicht sicher, ob dieser Fremder wirklich in ihrem Zimmer gewesen oder ein Produkt ihrer Fantasie gewesen war. Einerseits wusste sie, dass ein Mensch nicht unbemerkt in ihr gut abgesichertes Haus eindringen und in Sekundenschnelle verschwinden konnte. Andererseits konnte sie sich klar an die Angst erinnern, die sie zur jenen Nacht empfand.
Egal, dachte sie sich, die Vergangenheit sollte man ruhen lassen. Ihre Augenlider wurden schwer und sie fühlte sich müde, konnte aber nicht einschlafen.
Sie brauchte lange, um einzuschlafen- das war immer so. Vor dem zu Bett gehen trank sie warme Milch mit Honig, zählte Schäfchen bis hundert und wieder rückwärts. Sie war bereits verzweifelt genug und versuchte sich selbst Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen, doch nichts half. Stunden drehte sie sich in ihrem Bett hin und her, kniff die Augen zusammen, aber verfiel nicht in Schlaf.
Wenn du ein scharfsinniger Leser bist, dann ahnst du wahrscheinlich, dass Ritas' Traum noch eine Rolle spielen wird. Wenn du aber bisher dachtest, dass er erzählt wurde, um die Seiten etwas auszufüllen, dann entschuldige ich mich, dir das so früh verraten zu haben- ich konnte mir es nicht verkneifen.
Es heißt, dass man vor seiner Vergangenheit nicht weglaufen kann. Das stimmt zum Teil. Es gibt genug Menschen, die nie von ihr eingeholt werden und ein neues Leben anfangen können. Andere wiederrum werden regelmäßig von ihr heimgesucht, was lästig werden kann, wenn sie an einem wie Schmodder klebt und es unmöglich macht, nach vorne zu laufen.
Ritas gehörte zur zweiten Gruppe, auch wenn sie es nicht wusste.
Am nächsten Morgen stand sie wie immer viel zu spät auf und konnte sich im Unterricht nicht konzentrieren. "Du siehst aus wie ein Toter." bemerkte ihre Tischnachbarin Lori.
"Das wäre zu schön um wahr zu sein", entgegnete Ritas mit einem bitteren Lächeln, "ein Toter findet immerhin Ruhe, aber ich finde keine, obwohl ich dringend welchen nötig habe. Vergleich mich mit einem Untoten. Die sind auch auf der Schwelle zwischen Leben und Tod."
"Was ist das für ein Gespräch?" schaltete sich Chimo dazu, der hinter ihnen saß. Dann wechselte er das Thema. "Habt ihr am Wochenende Zeit?"
"Klar", antwortete Lori, "Ritas, jemand, der keine Müdigkeit kennt, ist doch bestens dafür geeignet, um Nächte durchzumachen..."
"Ich bin müde! Todmüde!! Es ist nicht so, als würde ich nicht schlafen wollen! Siehst du nicht meine Augenringe?!"
"Ich dachte die kämen vom rauchen."
"Ha ha."
Es war ein Tag wie jeder andere und während sie sich auf denn Alltag und darauf, nicht im Stehen einzuschlafen, konzentrierte, bemerkte Ritas nicht, wie die Tage wie Sand rieselten und die Vergangenheit ihr immer näher kam.
Denn eines nachts, während sie sich wieder zum Schlaf zwang, merkte sie nicht, wie etwas durch ihre Wohnung schlich und ihr Zimmer ansteuerte. Es machte keinen Laut, bewegte sich elegant wie der Wind und machte sich nicht die Mühe, irgendwelche Türen zu öffnen. Es steckte seinen Kopf durch das Holz, versicherte sich, nicht bemerkt geworden zu sein und betrat schließlich das Zimmer.
Seine Schritte waren nur ein sanftes Streifen über den Boden. Während es näher kam, horchte Ritas in die Nacht, die Augen geöffnet. Sie hatte sich zur Wand gedreht und überlegte, ob die leisen Geräusche von ihren Nachbaren kamen. Die Wände waren nicht dick, wodurch sie in manchen Nächten Stimmen oder Musik hörte- sehr zu ihrem Leidwesen, denn das erschwerte ihr Einschlafen. Doch dieses Geräusch konnte sie nicht einordnen. Es hörte sich an, als würde jemand mit dem Finger über einen Tisch streichen. Fein und leise. Sie drehte sich auf die andere Seite und in dem Moment keuchte sie auf. Jemand stand neben ihrem Bett! Eine dunkle Gestalt! Sofort griff Ritas nach etwas und schleuderte es dem Fremden entgegen. Ein Schrei war zu entnehmen, es schepperte und Glas zerbrach. Sie hörte wie die Gestalt taumelte, etwas umwarf. Dann wie die Tür des Schlafzimmers ihrer Eltern aufgerissen wurde. Wie damals wurde sie von dem Licht, das sie sofort anknipsten, geblendet und blinzelte.
"Ritas! Alles in Ordnung?!" fragte ihre Mutter panisch.
Man müsste meinen, dass man im Licht Dinge besser sähe, aber hier war das nicht der Fall- ganz im Gegenteil. Ritas konnte niemanden außer sich und ihre Eltern im Zimmer sehen. Ihre Nachttischlampe lag in Scherben neben ihrem Bett. Von einer weiteren Person war nichts zu erkennen. Ihr Atem überschlug sich fast und sie durchsuchte ihr Zimmer mit ihren Augen. Nichts ungewöhnliches. Lediglich einige Bücher und Stifte waren auf denn Boden gefallen.
"Sie hat wieder schlecht geschlafen." sagte der Vater in einem erleichterten Ton.
Als wäre Ritas noch fünf, setzte sich ihre Mutter Claiya an ihr Bett und sprach im ruhigen Ton zu ihr.
"Alles ist gut, es war nur ein Alptraum."
Ritas machte den Mund auf und wollte heftig widersprechen, doch dann überlegte sie es sich anders. Nein, was sollte sie sagen? Dass sie jemanden gesehen hatte, der sich nun in Luft aufgelöst hatte? Es war etwas geschehen, dass sie sich nicht erklären konnte und dass ihr Angst machte. Also atmete sie tief durch und nickte nur. Es war besser, wenn sie ihren Eltern keine Schrecken einjagen würde. Ihnen zuliebe und ihr selbst zuliebe.
Nach einem Schluck Wasser, wurden die Lichter ausgeknipst und man begab sich wieder in sein Bett. Der Scherbenhaufen sollte morgen weggekehrt werden.
Der nächste Tag war ein Samstag und Ritas war früh auf denn Beinen. Sie betrachtete denn Scherbenhaufen vor sich. Ein bisschen Schade um ihre Nachttischlampe. Als sie genauer hinblickte, konnte sie Bluttropfen erkennen. Eine Gänsehaut überkam sie und sie betrachtete ihre Arme. Unversehrt. Ihr Blut konnte das nicht sein. Und was waren das für feine Körner? War das nicht feiner Sand, der da lag? Ob der von der Lampe kam?
Sie wusste nicht, was mit ihr los war. Waren es wirklich Dämonen und Geister, die Ritas verfolgten oder bildete sie sich alles ein? Sie erinnerte sich an den Schrei, der sich mit dem Klirren des Glases vermischt hatte. Sie hatte nicht geschrien. Es war ihr Gegenüber gewesen. Der Schrei war klar und hallte noch in ihren Ohren. Und da war noch etwas anderes: Der Schrei kam von einem Menschen. Es war kein Brüllen, kein tiefes Grollen oder ein Zischen. Es war ein Schrei, den wahrscheinlich jeder gemacht hätte, der plötzlich mit einer Nachttischlampe beworfen werden würde.
In dem Moment fasste Ritas den Entschluss, der Sache auf denn Grund zu gehen und herauszufinden, was es mit diesen Schatten auf sich hatte. Würde er wiederkommen? Irgendetwas in ihr antwortete mit "Ja."
Die darauffolgende Nacht lag sie nicht in ihrem Bett, sondern auf der Lauer. Es war eine regnerische Nacht und der Regen trommelte beruhigend gegen die Scheibe. Zum ersten Mal war Ritas dankbar, dass sie Einschlafprobleme hatte. Andererseits langweilte sie sich. Sie schloss kurz die Augen, als sie sich plötzlich an ihre Kindheit erinnerte.
Du hast es bestimmt auch getan. Irgendwann erschafft man sich im Laufe seiner Kindheit seine eigene Welt. Wie hast du dich damals dargestellt? Hast du dich als Fee gezeichnet? Hattest du in deinen Vorstellungen besondere Kräfte? Hast du gehofft ein Auserwählter zu sein und eines Tages ein besonderes Abenteuer zu erleben? Wie war der Name deines Freundes, den niemand sehen konnte?
Erst war es nur eine Vorstellung. Als Kind hatte sich Ritas ihre eigene, kleine Welt erdacht. Sie hatte sich vorgestellt in einer Stadt namens Hyada zu leben. Die Namen, die sie sich für die Bewohner und anderen Städte erdacht hatte, waren aus der Luft gegriffene Silben, die spontan angereiht wurden. Dann beschloss sie diese Vorstellung auf Papier zu bringen. Sie erinnerte sich an die Schule, an die ihr fiktiver Charakter ging. An die Klassenkameraden, an die strenge Lehrerin, der man leicht auf der Nase tanzen konnte, und an all die netten Freunde, die in der Realität nie existiert hatten. Sie hatte Bilder dazu gezeichnet und Geschichten geschrieben und sich vorgestellt, wie es wäre, in ihre eigene Geschichte einzutauchen und den Leuten dort zu begegnen. Doch mit der Zeit wurde sie älter und aus der Welt, in die sie als Kind gerne floh, wurde eine Geschichte, an der man verbissen arbeitete, damit sie perfekt war und Sinn ergab. Dann bekam sie mit der Zeit hohe Ansprüche und ihr gefiel nicht mehr die einfache Handlung. Sie veränderte, dachte sich neues aus und war unzufrieden mit dem Ergebnis. Die Schule nahm ihr das letzte Stück Freizeit und sie hörte mit dem Schreiben auf.
Ritas öffnete wieder ihre Augen. Vielleicht sollte sie demnächst ihre alten Bilder und Hefte wieder raus kramen. Vielleicht lag es daran, dass sie die unbeschwerte Kindheit vermisste.
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2014
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