Pferde bewegen Menschen
Als Jörg Krogull mir vom Exlibris-Projekt erzählte, unter Einbindung einer Internet-Plattform einen Literaturwettbewerb zum Thema Pferd & Reiter auszuschreiben, war ich zunächst eher skeptisch, was dabei wohl herauskommen würde. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Jetzt bin ich’s nicht mehr, sondern überrascht und beeindruckt. Denn wie man lesen kann, sind noch lange nicht alle Geschichten zum Thema „Faszination Pferd“ geschrieben.
Alle Achtung vor der kreativen Leistung der Wettbewerbsteilnehmer, die viel Engagement und Arbeit in ihre Werke investierten.
Der Jury anzugehören und literarische Arbeiten für eine Publikation auszuwerten, die Preisträger zu benennen und eine Auswahl fürs Buch zu treffen, lässt sich mit zwei Worten beschreiben: Schön schwierig!
Beglückwünschen möchte ich nicht nur alle, die es mit ihrem Beitrag in dieses Buch geschafft haben, sondern alle, die sich mit Pferden beschäftigen. Sei es als Hobby, Beruf, Sport oder eben als Schriftsteller.
Nicole Uphoff-Selke
Multioptionsgesellschaft
Das Leben ist rasant geworden. Überall warten Optionen auf uns. Immer mehr Menschen glauben, Glück liege darin, das halsbrecherische Tempo der Multioptionsgesellschaft mitzumachen. Die Möglichkeiten auszuschöpfen. Rundum. Alles muss schnell gehen. Reisen, Wohnen, Beziehungen, Arbeitsplatz - lieber flexibel bleiben, bloß nichts verpassen, lautet die Devise.
Warum? Weil es möglich ist! Heute ersetzen Smartphones das persönliche Gespräch, der Videochat via Tablet PC und internetfähigem TV den gemeinsamen Spaziergang. So bleiben wir en vogue, up to date, modern, multimedial etabliert, mobil. Wenn Glück sich doch sowieso nicht festhalten lässt, warum dann irgendwo verharren. Wenn alles geht, warum dann bleiben?
Vielleicht weil immer mehr Menschen mit diesem Fortschritt überfordert sind. Weil immer mehr Leute sich nach Einkehr und Ruhe sehnen. Ihnen dröhnt der Schädel vom Großstadtlärm, vom Handyton, vom Chat, vom Business- und Reisestress. Sie spüren nichts mehr, können den Augenblick nicht mehr genießen, haben keine Zeit.
Vielleicht sollten diese Menschen endlich wieder einmal lesen oder noch besser: schreiben. Trotz oder gerade wegen der Möglichkeit, dies unter Verwendung der sich bietenden Digitalliteratur zu tun. Vielleicht bekommen sie dann doch noch einmal eine Gänsehaut. Wenn nicht, verstehen sie vielleicht dann, was Denkende von Gedankenlosen unterscheidet. Vielleicht.
Jörg Krogull
Pia Recht
Big Dipper
Sorley O’Cearnaigh kam nach Bunowen, das versengte Haar unter einer Wollmütze verborgen. Er war die ganze Nacht durchgefahren. Und er war total übermüdet, als er die Frau im morgendlichen Licht und irischen Landregen fast über den Haufen fuhr. Es wäre doch besser gewesen, in Galway eine Zwischenstation einzulegen und sich eine Nacht auszuschlafen.
Er stieg aus dem alten Rover, um sich zu entschuldigen, stand mit seinen Schuhen im überfluteten Straßenrand und fluchte innerlich. Die Frau in der dicken Sweatshirtjacke mit dem „Dublin University“ Aufdruck starrte ihn an und legte den Kopf schief. Sie erkannten sich zeitgleich und zuckten zusammen. „Oife“, sagte Sorley. Trotz des Regens sah sie fabelhaft aus. Ihr rötlich-braunes lockiges Haar fiel bis auf ihre Schultern, sie war bis auf eine Spur Lippenstift ungeschminkt und ihre Augen unglaublich grün. In diese Augen hatte er sich damals verliebt.
„Was machst du denn hier?“, erwiderte sie. Not amused, dachte Sorley. "Durchreisen“, sagte er, „bist du auf dem Weg nach Hause? Steig ein, ich fahr dich.“ Sie stieg ein, warf ihre Tasche auf den Rücksitz und angelte eine Tüte Cashewkerne aus ihrer Jackentasche.
Als Sorley den Motor wieder anwarf und losfuhr, ohne sich anzuschnallen, knabberte sie bereits ihre Kerne und sagte: „Zum Keogh Gemäuer.“ Sorley hatte vermutet, dass sie dort lebte und den Weg dorthin kannte er im Schlaf. Während der Fahrt über die Landstraße, die an den vereinzelten Höfen und Häusern von Bunowen vorbei führte, sagte Oife keinen Ton und Sorley war zu müde, um sich zu erklären.
Als sie an der Hofeinfahrt standen, steckte sie sich den letzten Cashewkern in den Mund, musterte Sorley abschätzend und meinte: „Komm vorbei, wenn du dich ausgeschlafen hast. Du siehst zum Kotzen aus.“
Er fuhr zu seinem alten Haus am anderen Ende der Straße. Es war sehr gut möglich, dass das einstöckige winzige Haus in sich zusammenfiel, sobald er die Haustür aufsperrte, oder dass ihm ein Schwall Regenwasser knietief entgegenkam, weil das Dach undicht war; aber er hatte Glück. Als er aufschloss und das Haus betrat, roch es muffig, aber es war trocken, und er wanderte zufrieden einmal durch die Räume. Er hatte es nicht so klein in Erinnerung gehabt.
In Küche und Bad lief das Wasser rostig braun, und weil der Strom abgestellt war, musste er sich auf Kerzenlicht und kaltes Duschen beschränken. In seinem Schlafzimmer, in dem nur noch das Metallbettgestell an der Wand stand, rollte er die Isomatte und seinen Schlafsack auf dem Fußboden aus, schluckte seine Schmerzpillen und schlief sofort ein. Welcome home, dachte er.
Nach einem späten Frühstück mit Kaffee und Zigaretten machte Sorley sich auf den Weg und besuchte Oife. Sie hatte den Hof ihres Vaters übernommen und offensichtlich viel Geld hineingesteckt. Die Gebäude waren instandgesetzt und an der Scheune waren Pferdeboxen angebaut worden. Als er vor Jahren verschwunden war, hatte das alles noch anders ausgesehen.
Oife kam aus einer der Boxen, entdeckte ihn, wie er durch das Fenster ins Wohnhaus linste und rief: „Hey!“ Sorley drehte sich um, grinste vorsichtig und kam näher. „Was hast du hier aufgezogen?“, fragte er, „lässt sich davon leben?“ „Ich vermiete die Boxen“, sagte Oife, „und ich verleihe auch ein paar der Ponys an Touristen, die sich im Sommer hier her verirren. Bringt ein wenig Geld in die Haushaltskasse. Außerdem fahre ich noch Taxi. Hast du deinen Dad schon besucht?“ Frag mich das nicht, dachte Sorley, belassen wir es dabei, dass ich einfach wieder hier bin. Für eine Weile.
„Das habe ich noch vor mir“, sagte er, hätte sich noch weiter in schwachen Ausreden geübt, wäre in dem Moment nicht der Kopf eines fleckigen Schimmels über der Halbtür einer der Boxen aufgetaucht. Er hatte das gesprenkelte Maul voll Heu, hörte einen Moment auf zu kauen und starrte zu ihm hinüber. Dann bollerte er mit dem Fuß gegen die Tür.
„Ach du Scheiße“, sagte Sorley, „ist das der Dicke? Der lebt noch?“ An der Box hing ein Stallschild und es bestätigte, dass es der alte Dicke war. Sein Name war „Big Dipper“, und sein Geburtsdatum unter dem Namen bewies, dass er über zwanzig Jahre alt war.
Dipper sah Sorley entgegen und brummelte leise eine Begrüßung, spuckte dabei die Reste des Heus aus. Der Anblick des alten Schimmels mit den dunklen Punkten und Flecken katapultierte Sorley direkt in die Vergangenheit zurück. Es war, als wäre er niemals weg gewesen.
Sein Pferd Dipper! Dad hatte ihn von einem Händler als perfektes Jagdpferd gekauft, aber für einen Hunter oder Irish Draught war Dipper zu faul und stur - er arbeitete niemals freiwillig mit und rannte schon mal im Schweinsgalopp quer über Felder, wenn ihm etwas nicht passte. Im Springen war er absolut talentfrei. Und obwohl er bereits kastriert gewesen war, als Sorley ihn bekommen hatte, stellten sie schnell fest, dass er noch immer meinte, er sei Hengst. Sie konnten ihn nicht mit Stuten zusammenstellen, weil er dann unkontrollierbar wurde.
Der dicke Dipper war einfach ein Pferd mit Charakter, der es liebte, die Wassereimer umzuschmeißen, der gleichzeitig verfressen und wählerisch war, der furchtbar streitlustig werden konnte, aber in kritischen Situationen immer der Erste war, der die Flucht ergriff, der gerne langsam durch das Gelände schlenderte und jede Aufforderung, sich schneller zu bewegen, ignorierte. Sorley erinnerte sich daran, dass man im Gelände niemals absteigen durfte, weil er einen dann nicht mehr auf seinen Rücken ließ.
Den Namen Big Dipper hatte er vom Händler bekommen, denn auf seiner rechten Hüfte prangten Punkte, deren Anordnung wie das Sternbild des großen Wagens aussah, und obwohl er in den Jahren fast komplett weiß geworden war, waren diese Punkte noch immer da.
Sorley ging in seine Box und sie begutachteten sich gegenseitig. Der Dicke schnupperte an seiner Jacke, untersuchte seine Hände und seine Hosenbeine; ließ es sich gefallen, dass Sorley um ihn herumging, die Hände über sein Fell gleiten ließ, die Beine mit den dicken Gelenken betrachtete. Seine Hufe waren breit ausgetreten und flach wie Tellerminen, seine Mähne und sein Schweif kaum vorhanden, weil er sich offensichtlich sehr gerne schubberte.
„Er hält sich tapfer“, sagte Oife von der Boxentür her, wo sie stehen geblieben war, „er hat Arthrose und Spat, seine Gelenke sind hinüber, aber mit seinen Medikamenten kommt er noch gut über die Runden.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass er noch da ist." „Was hätten wir denn mit ihm machen sollen, nachdem du abgehauen bist, Sorley?“ Oife klang anklagend und er wagte nicht, sie anzusehen.
„Ich weiß“, sagte er. Er ging nach vorn, tätschelte den Hals des Pferdes und der senkte den Kopf und steckte sich die Nase zwischen die Vorderbeine, begann mit dem linken Vorderbein zu scharren. Er wusste, wer Sorley war. Er hatte ihm vor langer Zeit viele dieser Tricks beigebracht.
„Alter Clown“, sagte Sorley, schnippte mit den Fingern und deutete zur rückwärtigen Tür. Big Dipper musterte ihn mit einem skeptischen Blick, dann gehorchte er und wanderte mit steifen Bewegungen nach draußen auf das Paddock. Dort drehte er sich herum und steckte den Kopf zurück durch die Tür, als wartete er darauf, wieder hineingebeten zu werden. „Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen, Love?“, fragte Sorley. Oife knotete sich das wirre Haar im Nacken zusammen und erwiderte: „Meinst du mich oder den Dicken?“
Sorley kaufte Wein, Fleisch und frisches Gemüse, war dankbar, dass in dem kleinen Supermarkt neben der Tankstelle eine Frau an der Kasse saß, die er nicht kannte und er unbemerkt von den anderen Einwohnern von Bunowen wieder in seinen Rover steigen und nach Hause fahren konnte.
Da seine Küche nicht funktionstüchtig war, überließ Oife ihm die Küche in ihrem Haus und sie saß bei ihm auf der Arbeitsfläche am Fenster, trank ein Glas Rotwein und sah in dem sonnengelben Pullover, der schwarzen Hose und dem locker hochgesteckten Haar umwerfend aus.
Sorley sorgte für das Abendessen, sie sorgte für den Nachtisch, und obwohl Sorley sich vorgenommen hatte, keine der unbequemen Fragen zu beantworten, kam er um eine bestimmte Frage nicht herum.
Einmal im Haus, musste er sich nicht nur die Wachsjacke ausziehen, sondern auch die Wollmütze abnehmen und er sah, dass Oife gar nicht erst versuchte, ihr Entsetzen zu überspielen. Sie griff nach seinen Schultern und hielt ihn fest, drehte ihn wie eine Gelenkpuppe erst nach rechts, dann nach links und zog die Luft ein.
„Tut das nicht weh?“, fragte sie, „das sieht ja entsetzlich aus.“ Während seines letzten Einsatzes hatte er sich den Großteil seines Haares und leider auch Teile der Kopfhaut abgesengt. Das war das, was Oife von ihm sehen konnte. Er verriet ihr nicht, dass seine rechte Schulter noch ein wenig schlimmer aussah. „Halb so wild“, erwiderte er, „ich merk das schon gar nicht mehr.“ Während des Essens erzählte Oife, was sich im Ort alles geändert und was sich nicht geändert hatte und wollte schließlich wissen, ob Sorley seinen Vater über den Besuch informiert hatte.
„Noch nicht“, sagte er. Vor Jahren war Sorley aus Bunowen abgehauen, nicht im Streit, aber ohne seinen Vater über seine Pläne zu informieren. Er hatte einfach seine Tasche gepackt und war verschwunden. Und er hatte nicht nur seinen Vater sitzen gelassen. „Jetzt wäre es an der Zeit, mal damit rauszurücken, was du getrieben hast“, sagte Oife. Sie waren mit dem restlichen Rotwein nach draußen und in Big Dippers Box gegangen, hatten sich dort in das Stroh gesetzt und angestoßen.
Der Dicke hatte sich zu ihnen gesellt, knabberte jetzt am Stroh herum. „Ich war hier und da“, sagte Sorley, „es ist einfacher, Arbeit zu finden, wenn man flexibel bleibt." „Dein Dad hat die Farm aufgegeben und mich gefragt, ob ich mich um Dipper kümmern könnte. Wir haben fest damit gerechnet, dass du nach einem halben Jahr zurückkommst. Oder zumindest mal anrufst und sagst, wo du steckst.“
„Ich vermute, ich hatte zu viel zu tun“, sagte Sorley. Der Dicke spuckte die Reste des Heus aus, es fiel Sorley in einer weichen durchgekauten Rolle vor die Füße, und er schien wieder einzuschlafen. Im Halbdunkeln des Stalls beobachteten sie grinsend, wie seine Augen langsam zufielen und seine Unterlippe immer mehr herunterhing. Als sein Kopf langsam immer weiter herunter sackte, dass er fast Sorleys Knie berührte, löste sich ein dicker Spuckefaden von seiner Unterlippe und wenn Sorley die Knie nicht schnell angezogen hätte, hätte er den dicken Blubber abbekommen.
„Iiiiiiih“, machte Sorley, und erreichte damit genau das, was er haben wollte. Oife hatte es schon immer gehasst, wenn er sich komisch benahm und sie reagierte noch immer, wie sie damals reagiert hatte. Mit der einen Hand packte sie seinen Arm und mit der anderen schlug sie zu. Nicht mit der flachen Hand wie ein Mädchen; mit der geballten Faust, und es tat weh.
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„Seine Zähne sind nicht mehr die Besten“, sagte Oife, „er hat sie sich runtergewetzt, ich glaube, deshalb sabbert er auch so, wenn er einschläft.“ Sie sahen sich grinsend an, und weil Oife noch immer seinen Arm festhielt, legte er seine Hand auf ihre und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Wir sollten uns scheiden lassen“, sagte sie. Sorley hatte geahnt, dass sie es erwähnen könnte, aber er hatte nicht vermutet, dass sie sofort damit rausrücken würde. „Dass wir so schnell geheiratet haben, war ein Fehler“, sagte er, „und erst recht, dass ich abgehauen bin. Eine schnelle unkomplizierte Scheidung könnte uns beide wieder auf null runterschalten und wir könnten …“
„Sorley, um Himmels willen. Ich will nicht, dass wir uns endlich scheiden lassen, damit wir von vorn anfangen können, sondern damit wir endlich unsere eigenen Wege gehen. Ohne ständig daran zu denken, dass da noch was ist, was einen festhält.“
Nachdem es im Stall zu ungemütlich wurde und Dipper eindeutig seine Ruhe haben wollte, zogen sie sich ins Haus zurück, wuschen gemeinsam das Geschirr ab und Sorley sagte, er würde nach Hause gehen, weil es schon viel zu spät sei. „Du kannst gerne hier schlafen“, sagte Oife, „das Gästebett steht immer bereit.“ Der Wein war ihm nicht wirklich zu Kopf gestiegen, und er hatte höchstens zwei Gläser gehabt, aber wenn Oife ihn im Haus halten wollte, würde er sich nicht dagegen wehren. Das besagte Gästebett stand im zweiten Schlafzimmer, das er von der Lage als ihr altes Mädchenzimmer erkannte.
Ich halte sie fest, dachte Sorley, als er sich unter die Decken wühlte und versuchte, sich nicht auf die wunden Stellen zu legen, und sie hat keine Ahnung, dass sie mich die letzten Jahre auch festgehalten hat. Aber nur im Guten, nur im Guten.
Während der Nacht hatte Sorley sich aus den Decken gedreht und schlief noch tief, als Oife am Morgen hereingeschlichen kam, um ihn zu fragen, ob er noch immer seine alte Frühstücksvariante bevorzugte. Aber sie erstarrte beim Anblick seiner nackten Haut und zog sich wieder zurück. Was immer er getan hatte - er sah aus wie ein Feuerwehrmann, der nackt zur Arbeit gegangen war.
„So ein Frühstück hatte ich schon sehr lange nicht mehr“, sagte Sorley, und fügte mit einem Grinsen hinzu: „Klar, ich hatte ja auch die Köchin schon lange nicht mehr.“
Das Wetter spielte mit, und weil Sorley sich die Umgebung ansehen wollte, schlug Oife einen Ausritt vor. „Wer mit dem Putzen und Satteln zuerst fertig ist, darf das bessere Pferd reiten“, sagte sie. Weil Sorley unbedingt den Dicken nehmen wollte, der aber schon seit langer Zeit nicht mehr reitbar war, entschieden sie sich dazu, dass Oife einen der Tinker ritt und Sorley mit dem alten Big Dipper nebenher lief. In der Box zog er ihm ein Halfter über und wollte sich einen der herumliegenden Stricke nehmen, aber Oife warf ihm eine Hengstkette entgegen. Er fing sie auf, ohne sich die Kettenglieder ins Gesicht zu schlagen und schnallte sie an das Halfter, dass die Kette über dem Halfter auf dem Nasenrücken lag. Wenn er nicht daran zog, würde Big Dipper den Unterschied zwischen einem Strick und der Hengstkette nicht merken.
„Er geht noch immer sehr gerne seine eigenen Wege“, sagte Oife, „und damit hast du wenigstens eine kleine Chance, ihn aufzuhalten.“ Dipper genoss den Ausflug sichtlich. Am Anfang trottete er einfach dem Kollegen hinterher, dann entdeckte er, dass er beim Entlangschlendern nach Grashalmen langen konnte und Sorley hinderte ihn nicht daran.
„Es ist Zeit, dass du mir erklärst, weshalb du wieder hier bist. Und erzähl mir nicht, du hast Sehnsucht nach uns bekomme“, sagte Oife. Sorley ließ sich von Big Dipper halb in die Wiese ziehen, zog ihn zurück und begann sehr zögerlich und umständlich zu erzählen, wo es ihn hinverschlagen, mit welchen Jobs er sich über Wasser gehalten hatte, aber weil der alte Keogh kein dummes Mädchen großgezogen hatte, warf Oife ihm nur einen schrägen Blick zu und sagte: „Du hast ständig davon gesprochen, in den Norden zu gehen, Sorley. Und genau das hast du doch getan, oder?“
Er wollte ihr nicht einmal annähernd die Wahrheit sagen, aber er tat es trotzdem, weil er sich plötzlich an das letzte Gespräch mit seinem Commander erinnerte. Der hatte ihm wegen des verpatzten Einsatzes in die Mangel genommen. „Ich bin hier, weil ich ein paar Verstecke im Moor angelegt habe“, sagte er, „ich war oft in der Gegend, aber ich habe mich nicht blicken lassen. Morgen übergebe ich eine Ladung und ich weiß noch nicht, was ich danach tun werde. Beim letzten Einsatz ist einiges schief gelaufen und ich kann noch nicht zurück.“
Oife hatte den Tinker angehalten. Sie starrte Sorley ungläubig an und er machte eine übellaunige Geste in ihre Richtung. „Hätte ich dich doch besser anlügen sollen?" „Hättest du besser“, sagte sie, drehte den Tinker und boxte ihm die Absätze in die Seiten. Er trabte schaukelnd Richtung Stall zurück und Sorley konnte zusehen, wie er mit Big Dipper schnell hinterher kam.
Oife weigerte sich, mit ihm zu sprechen, sie versorgte die beiden Pferde, verschwand im Haus und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Sorley rief durch den Türspalt, dass seine Tasche noch bei ihr im Haus sei, woraufhin das Fenster geöffnet wurde und die Tasche herausflog. Er wühlte nach seinen Autoschlüsseln, setzte sich in den Rover und fuhr nach Hause. Ich hab kein schlechtes Gewissen, dachte er, ich hätte es nur anders rüberbringen müssen.
Den restlichen Tag verbrachte er weit außerhalb von Bunowen im Moor, in der Gegend, in der seit Jahrzehnten kein Torf mehr abgebaut wurde, hob zwei der Verstecke aus und schleppte die Kisten zum abgestellten Rover. Er war bis zu den Knien und Ellenbogen mit Schlamm überzogen, hungrig und erschöpft, als er am späten Abend damit fertig war.
Deshalb fuhr er ein wenig zu schnell Richtung Bunowen und wurde nach einigen Kilometern von einem Wagen der Garda überholt und ausgebremst. Sorley schlug auf das Lenkrad, bremste und schaltete den Motor aus. Die Kisten auf der Rückbank waren mit einer schwarzen Plastikplane abgedeckt, aber sie waren so deutlich Kisten auf einer Rückbank, dass jeder Garda sich sofort fragen würde, was da wohl drin sein könnte.
Der Garda nahm seine Dienstmütze ab, betrachtete den Rover und inspizierte das Nummernschild, das er mit einer Taschenlampe ableuchtete. Als er sich zum Fenster herunterbeugte und eine kleine Geste machte, dass Sorley das Seitenfenster herunterkurbeln sollte, gehorchte Sorley und seufzte. Er blinzelte nach oben, ganz konzentriert darauf, ein freundliches Gesicht zu machen. „Hallo, Sorley“, sagte der Garda, „ich habe schon gehört, dass du wieder hier bist.“ „Hallo, Dad“, sagte Sorley.
Sorley saß bei seinem Vater im Polizeiwagen, sie teilten sich eine Tasse Tee, den er immer in einer Thermoskanne dabei hatte und sie saßen zusammen, als wäre Sorley nur nach einem verlängerten Wochenende wieder nach Hause gekommen. Sein Dad war alt und grau geworden, aber er war noch immer ein großer und kräftiger Kerl, mit dem man sich nicht anlegen sollte. So, wie Sorley ihn in Erinnerung gehabt hatte. Noch etwas, was sich nicht geändert hatte. „Ich werde nicht nachsehen, was du da in dem Wagen geladen hast“, sagte O’Cearnaigh, „ich will es gar nicht wissen. Es sei denn, du möchtest davon erzählen?“
Sorley schüttelte stumm den Kopf. „Ich kann es mir fast denken. Schließ' diese Geschichte ab und dann entscheide dich, was du willst. Du kannst hier bleiben oder zurück in den Norden gehen. Du bist alt genug.“
Sorley versuchte sich vorzustellen, wie er das alte Haus wieder herrichtete, sich irgendeinen Job in der Gegend suchte, wobei er noch keine Idee hatte, wie er sich über Wasser halten sollte. Die Chance, wieder mit seinem alten Leben in Verbindung zu treten war zum Greifen nahe. Es war das, was er sich erhofft hatte mit seiner Rückkehr.
„Ich werde wohl hierbleiben“, sagte Sorley, „zumindest für eine Weile. Ich muss das mit Oife wieder ins Lot bringen und ich sollte mich ein wenig um Big Dipper kümmern.“ Sein Dad hob die Plastiktasse Tee und sie stießen an. „Sohn, ich kann nicht sagen, wer von uns Dreien dich mehr vermisst hat. Vermutlich der alte Gaul.“
Prima, dachte Sorley, Dad ist Dipper sehr ähnlich geworden. Der hat auch immer erst freundlich geglotzt und dann nachgetreten. Willkommen zu Hause, Sorley.
Anne Reinéry
Ein ungewöhnlich schönes Mädchen
Zwei Jahre und einen Monat danach - Ina Bauers Zeit war um. So sehr sie auch nach einem Ausweg gesucht hatte, sie fand keinen. Es war schade um Ina. Ihre Unauffälligkeit war viel wert gewesen. Sie hatte Ina gemocht - nicht nur, weil sie ihr sehr nützlich gewesen war. Aber nach dem Brand würde Ina Bauer auffliegen.
Zwei Jahre und 28 Tage danach, die lange Nacht 1 - In der Nacht war sie mit einem Schrei aufgewacht. Sie hatte von Uwes rauer Männerhand geträumt, die es nicht interessierte, ob andere ihre Berührung mochten oder nicht. Die begrapschte, Widerstand mit Schlägen zerbrach und sich nahm, was sie wollte. Sie drängte den Alptraum weg und versuchte einzuschlafen. Es ging nicht. Gefangen zwischen den alten Geschichten und den neuen Sorgen wälzte sie sich im Bett.
Wenn es Belle traf? Wie sollte sie das ertragen? Belle war alles, was ihr blieb. Entschlossen schlug sie die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. Selbst ihre Angst vor der Dunkelheit hielt sie nicht zurück. Sie schlüpfte in die unordentlich vor dem Bett liegenden Kleider vom Vortag, zerrte den Schlafsack aus dem Schrank, riss die Daunenjacke von der Garderobe, stopfte eine Packung Kekse in die Tasche und schloss die Tür mit zitternden Fingern ab.
Draußen war es kälter, als sie erwartet hatte. Der Vollmond tauchte die Straße in ein unwirkliches Dunkelgrau, alle Farben waren wie ausgeblichen. Der japanische Zierkirschbaum wirkte wie ein Schwarzweiß-Foto. Wie immer im Dunkeln vermied sie, nah am Gartenzaun vorbeizugehen. Ina stieg in ihren Wagen und fuhr mit zu viel Gas an. Sie legte den Weg bis zum Stall in der Rekordzeit von zehn Minuten zurück.
Der Stall lag im Dunkeln. Ihr Herz klopfte. Rainer hatte versprochen, das Licht anzulassen. „Als ob das hilft, wenn...“, schalt sie sich im Kopf, während sie zu Belles Box ging. Ihre Reitstiefel knirschten auf dem Kies. Ina schrie gellend auf, als eine schwielige Hand sie an den Schultern packte und ein muskulöser Fuß ihr ein Bein stellte und sie zu Fall brachte.
Der Tag X - Das Schlimmste war, dass Helena hinterher nicht mehr wusste, worüber sie im Auto gesprochen hatten. Über das Abendessen? Sie hatte ihren Gedanken nachgehangen. Leo hatte sie angelächelt. Er ritt auch. Gespräche mit ihm waren so einfach. Sie hatte mechanisch auf die Fragen ihrer Mutter geantwortet. Warmer Sommerwind hatte Heuduft ins offene Autofenster geweht. Ihre Zwillingsschwester Carla hatte „Leo, Leo, Leo!“ wie eine Litanei vor sich hingesummt. Dafür hatte Helena sie in den Oberarm geboxt. Ihr Vater fuhr wie immer ein wenig zu schnell auf den Parkplatz des Reiterhofs. Als er bremste, wurde das Auto in eine Staubwolke gehüllt. „Tschüss, bis nachher!“, sie hatte die Autotür zugeworfen und war - ohne sich noch einmal umzudrehen - zum Stall gerannt. Die Gedanken bei Leo und der neuen Friesenstute, die niemanden an sich heran ließ.
Zwei Jahre und 28 Tage danach, die lange Nacht 2 - Ihr Kopf schlug auf den Kiesweg. Sie spürte einen brennenden Schmerz an der Stirn. Jemand drehte sie mit mitleidlosen Händen auf den Rücken und leuchtete ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Ina hob instinktiv die Hände vors Gesicht. „Uwe, Uwe hat mich gefunden,“ war ihr erster Gedanke, bevor ihr klar wurde, wie unsinnig er war. „Mensch Ina, bist du bekloppt, hier unangekündigt in der Nacht aufzukreuzen?“, schnauzte Rainer, der Inhaber des Stalls, sie an. Er und Kurt, der Stallbursche, schauten mit mürrischer Miene zu, als Rita, die Reitlehrerin, Ina wie eine Polizistin abtastete.
„Sie ist sauber!“ Die beiden Männer verzogen sich auf ihre Posten und Rita eskortierte Ina mit einer Taschenlampe zu Belles Box. Ina protestierte: „Jetzt reicht es, Rita, ich lasse mich nicht einschließen!“ „Dann mach, dass du hier wegkommst! Entscheid dich schnell und mach nicht so viel Lärm!“ „Ich will nur meine Stute beschützen! Ihr tut, als wäre ich der Feuerteufel!“ „Dass Du hier mitten in der Nacht aufkreuzt, ist auch merkwürdig! Sei leise! Rein in die Box oder weg!“
Ina hatte ihren Schlafsack an sich gepresst und genickt. Sie biss die Zähne zusammen. Die Tür schwang leise hinter ihr zu. Mit einem metallischen Klicken sicherte Rita hinter ihr den Riegel mit dem Vorhängeschloss.
Ina legte ihren Kopf in der vollkommenen Finsternis an Belles Hals und streichelte sie. Die Stute schnaubte. Lange hielt Ina Belle umschlungen, bis sie das Gefühl hatte, vor Müdigkeit zu Boden zu fallen. Sie rollte den Schlafsack aus und streckte sich an der hinteren Wand aus. Hoffentlich nicht in Pferdeäpfeln, eine Taschenlampe hatte sie vergessen. Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie nicht wieder einschlafen. Nachts war ihre Einsamkeit besonders real. Vor zwei Jahren war sie ein ganz normaler Teenager gewesen. Hatte die Augen verdreht, wenn ihre Mutter wissen wollte, mit wem sie ständig SMS schrieb. Hatte mit Carla geprustet, wenn sie sich ausmalten, wie es wäre, als Model zu arbeiten. Ein paar Jahre nur, um genügend Geld zu verdienen. Dann wollten sie sich einen Bauernhof kaufen. Mit Pferden. Das war ihr Traum. Zusammen auf einem abgelegenen Gut. Jede wollte mindestens drei Pferde. Sie würden sie züchten. Sonst brauchten sie niemanden. Als sie sich in Leo verliebt hatte, war sie sich nicht mehr so sicher gewesen. Aber das hatte sie für sich behalten.
Aber all das würde niemals wahr werden. Wenn sie sich sehr anstrengte, konnte sie sich noch an den Geruch ihrer Mutter erinnern. Oder wie ihr Vater immer auf seiner Backe herumgekaut hatte, wenn er nachdachte. Wie sie und Carla aneinander gekuschelt auf dem Sofa gelesen hatten. Sie begann ihre Litanei der „wenn‘s“: Wenn Carla keinen Bänderriss gehabt hätte. Wenn ihr Vater nicht an diesem Tag frei genommen hätte. Wenn der Lastwagenfahrer nicht versucht hätte, in der Kurve seine Zigarette anzuzünden. Wenn ihre Mutter zu Hause geblieben wäre.
Damals war sie es gewohnt, dass alle sie und Carla angestarrt hatten. So hübsch und dann auch noch Zwillinge. Damals war es einfach, die Wünsche und Sehnsüchte der anderen zu ignorieren. Damals hatten ihre Eltern sie geschützt. Damals kannte sie die Uwes dieser Welt nur aus der Zeitung und den Warnungen ihrer Mutter. Unvorstellbar, dass sie damals in einen Jungen verliebt gewesen war. Heute ließ sie nur noch Belle an sich heran.
Zwei Jahre und 28 Tage danach, die lange Nacht 3 - Irgendwann musste Ina eingeschlafen sein. Sie wurde von lauten Rufen geweckt. Belle schnaubte ängstlich. Andere Pferde wieherten. Sie hörte, wie Hufe gegen die Boxentüren hämmerten. Einen kurzen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Während sie lauschte, drang ein beißender Geruch in ihre Nase. Feuer! Sie schlug mit beiden Fäusten gegen die Stalltür. Belle wieherte voller Panik
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„Rita! Kurt! Rainer! Hilfe! Lasst uns raus! Hilfe!“ Nichts. Ängstlich lauschte sie mit ans Holz gelegtem Ohr, sie hörte die wachsende Panik der Pferde um Belles Box herum. Die Luft war voller Rauch. Hustend und würgend sank sie auf die Knie. Am Boden war das Atmen deutlich einfacher. Mit beruhigenden Worten brachte sie Belle dazu, sich neben sie hinzulegen. Einer Eingebung folgend, legte sie sich auf den Rücken und trampelte mit beiden Füßen gegen die Tür. Außer dem ängstlichen Wiehern der Pferde glaubte sie Prasselgeräusche zu hören. Wurde es nicht heiß? Belle rappelte sich auf die Beine. Ina konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen, als die Stute begann, mit beiden Hinterhufen machtvoll gegen die Tür auszuschlagen. Diese flog mit einem Mal auf, Licht flutete in die Box. Sie hörte Rita: „Schnell, schnapp dir Belle und bring sie in Sicherheit!“
Zwei Jahre und 29 Tage danach, der Morgen nach der langen Nacht - Eine Stunde später, es dämmerte gerade ein strahlend schöner Aprilmorgen, wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung offenbar: Die Reithalle war abgebrannt, mehrere der an sie angrenzenden Boxen ebenfalls. Ein paar rußgeschwärzte Mauern waren wie Trauermale stehen geblieben. Das Dach war komplett eingestürzt. Das furchtbarste war der Kadaver der Stute Gaia, den sie in einer der vom Feuer verwüsteten Boxen gefunden hatten.
Die Feuerwehr setzte die Brandwache fort, während die Brandermittler der Polizei ihre Arbeit aufgenommen hatten. Kommissar Eike Hagen suchte nach dem Besitzer, Rainer Eichwald, um ihn nach dem genauen Ablauf des Geschehens zu befragen. Er fand ihn, als dieser einer ungewöhnlich hübschen jungen Frau mit einer fuchsfarbenen Mähne mit zusammengepressten Zähnen zuzischte: „Das ist alles deine Schuld!“
Die Schönheit der jungen Frau wurde nicht wesentlich dadurch gemindert, dass ihre Stirn durch eine blutverkrustete und bläulich gefärbte Beule verunstaltet war. Sie drehte sich wortlos um, und stapfte weg. Hagen stellte sich mit einem Satz beim Stallbesitzer vor und fragte ihn, weshalb er der jungen Frau- wie war ihr Name?- die Schuld am Tod der Pferde und am Brand gebe. „Ina Bauer“, Eichwald spuckte den Namen aus, als habe er einen schlechten Geschmack. Er erzählte von Inas Auftauchen in der vergangenen Nacht. Als Hagen Ina Bauer suchte, war sie weggefahren.
Am Abend erfuhr Hagen von einem erbosten Rainer Eichwald, dass ein Pferdeanhänger gestohlen worden war. Belle war von der Weide verschwunden. Er fuhr zu Ina Bauers Wohnung. Die Vermieterin der möblierten Wohnung öffnete ihm. Ina Bauers Habseligkeiten waren weg. Sie hatte seit einem Jahr hier gewohnt. Die Vermieterin wusste nicht, woher sie kam. Im Stall wusste es auch niemand. Freunde hatte sie keine gehabt. Avancen hatte sie im Keim erstickt. Sie hatte alle auf Distanz gehalten. Ihre Stute liebte sie abgöttisch. Die junge Frau hinterließ unbezahlte Stallrechnungen. Als Hagen „Ina Bauer“, und das Geburtsdatum, dass sie auf dem Mietvertrag eingetragen hatte, überprüfte, stieß er auf die Meldung eines gestohlenen Ausweises ein Jahr zuvor in Heidelberg. Bisher hatte es keine Hinweise auf einen Identitätsdiebstahl gegeben.
Zwei Jahre und 30 Tage danach - Der gestohlene Anhänger und der Wagen der falschen Ina Bauer wurden zur Fahndung ausgeschrieben. Zwei Tage später geriet Eichwald mit seinem Pferdeanhänger in eine Kontrolle. Er hatte nicht bemerkt, dass man die Kennzeichen seines gegen die des gestohlenen Anhängers vertauscht hatte. Hagen musste lachen. Die Kleine war schlau - und rachsüchtig. Wofür hatte sie sich gerächt?
Zwei Jahre, einen Monat und zwei Wochen danach - Auf einer Waldlichtung tanzten eine junge Frau - fast noch ein Kind - und eine glänzende schwarze Stute miteinander. Das Mädchen bog und wiegte sich zu einer Musik, die nur es selbst und auch das Pferd zu hören schienen. Ihr rostrotes lockiges Haar wehte im Wind. Wenn das Mädchen sich um sich selbst drehte, galoppierte das Pferd in einem engen Kreis um es herum. Sprang das Mädchen, als wolle es Anlauf nehmen, um weit zu springen, überwand auch das Pferd unsichtbare Hindernisse mit Eleganz. Am Ende einer Choreographie, die so harmonisch wirkte, als hätten die beiden sie in jahrelanger Arbeit einstudiert, neigten das Pferd und das Mädchen die Köpfe und lehnten sie aneinander. Das Mädchen, das sich bis vor kurzem Ina genannt hatte, verbeugte sich auf ironische Weise vor seiner Stute Belle. „Gestatten: Hannah Weidner, neunzehn Jahre! Oh, Belle. Noch ein Jahr, dann bin ich endlich 18 und sie müssen uns in Ruhe lassen!“
Ein Jahr danach - Uwe wartete im Auto auf Helena - und auf die „Gefälligkeiten“, mit denen sie sich die Erlaubnis für Reitstunden verdienen musste. Sie spürte, wie ihr übel wurde, als sie auf den Wagen zu schritt.
Zwei Jahre und zwei Monate danach - Hagen legte dem Mann die Handschellen mit besonderer Genugtuung an. Eichwald hatte nach Ina Bauers Verschwinden darauf beharrt, dass sie die Brandstifterin sein musste. Ein Motiv konnte er nicht vorweisen. Hagen war sich sicher, dass verletzter Stolz der Grund für diese Behauptung war. Schließlich räumte Eichwald ein, dass die falsche Ina seinen Annäherungsversuchen mit einem sehr schmerzhaften Tritt ein Ende bereitet hatte.
Er hatte seine Ermittlungen nicht nur auf zwei im Streit entlassene Stallburschen und Pferdebesitzer, die mit Eichwald im Clinch gelegen hatten, beschränkt. Er war auch bei der Gemeindeverwaltung vorstellig geworden. Es gab nur drei Eigentümer rund um den Pferdestall. Künftiges Bauland. Und der eine hatte gerade eingewilligt, an denjenigen, dem schon das ganze Restland gehörte, zu verkaufen. Nur Eichwald sträubte sich noch. Der Grundstücksspekulant hatte sich nicht selbst die Hände schmutzig gemacht. Seine Handlanger hatten nicht gefackelt. Eichwald hatte vor lauter fuchsroten Versuchungen den Blick auf seine echten Probleme aus den Augen verloren. Er war tatsächlich erstaunt, als er von Hagen erfuhr, wer Feuer gelegt hatte.
Niemand interessierte sich mehr für die verschwundene Schönheit. Bis auf Hagen. Zurück im Kommissariat studierte er die Liste minderjähriger vermisster Mädchen. Sie war nicht dabei. Nachdenklich klopfte er sich mit einem Bleistift an die Schneidezähne. Vermisste Kinder waren nicht sein Ressort. Aber er war nun einmal ein neugieriger Mensch.
Ein Jahr und drei Monate danach - Helena stand an der Weide und krallte sich die Nägel so fest in den Arm, dass sie zu bluten begann. Der Stallbesitzer Gero von Rothe und die beiden Pferdeknechte Kevin und Maik hatten der Friesenstute Lassos um den Hals geworfen und versuchten sie zu Fall zu bringen. Die ängstlich aufgerissenen Augen leuchteten weiß gegen Belles schwarzes Fell.
„Zieht!“ Die drei Männer rissen mit aller Kraft am Seil. Zunächst sah es so aus, als sei das Pferd stärker, doch schließlich ging die Stute mit einem übelkeitserregenden dumpfen Knall zu Boden. Helena weinte auf. Ein auf dem Weidezaun sitzender Halbwüchsiger klatschte Beifall. Als sich Gero von Rothe näherte, um der Stute ein Halfter überzustreifen, biss diese ihn in die Hand. Seine Helfer ließen vor Schreck die Seile los, die Stute kam mühsam wieder auf die Beine. Sie wendete ihnen ihr Hinterteil zu und keilte mit den Hinterbeinen aus. Einer der Stallburschen war nicht schnell genug und wurde in den Rücken getroffen. Mit einem Schmerzensschrei fiel er hin. Von Rothe rieb sich die schmerzende Hand und fluchte. „Jetzt reicht es mir mit diesem Teufelsbraten! Reto, hol mein Jagdgewehr, aber ein bisschen dalli!“
Der Halbwüchsige öffnete schon den Mund um zu maulen, da fiel sein Blick auf die mittlerweile schluchzende Helena. Eifrig rutschte er vom Zaun und rannte zu den Stallungen. Helena bettelte: „Bitte, ich kaufe sie Ihnen ab. Ich habe das Geld. Wie viel wollen Sie für Belle?“ Von Rothe musterte das Mädchen, das seinen Sohn noch schlechtgelaunter sein ließ, als er es ohnehin schon war. Kein Wunder, dass sie seine pubertär überschießenden Hormone zum Kochen brachte. Ihr herzförmiges Gesicht und die weitstehenden unnatürlich großen Augen hatten einen atemberaubenden Effekt. Er betrachtete sie nachdenklich.
„Wenn du ihr ein Halfter umlegen kannst, und sie in ihre Box bringst, gehört sie dir.“ Als das Gesicht des Mädchens aufleuchtete: “Du hast dafür eine Stunde Zeit . Danach peng-peng!“
Die Hoffnung in den wiesengrünen Augen flackerte und erstarb. Aber sie hob ihren Kopf trotzig und streckte ihre Hand aus. Er warf ihr das Halfter hin. „Alle runter von der Weide!“, kommandierte Helena mit ruhiger Stimme. Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg und kletterte unter einem Holzbalken durch. Ostentativ nicht in die Richtung der Stute blickend, blieb sie in zwei Metern Entfernung vom Pferd stehen. Belle stand da, schüttelte aufgeregt den Kopf, legte die Ohren an und schnupperte misstrauisch in Richtung des Neuankömmlings auf der Weide. Reto hielt keuchend seinem Vater das Jagdgewehr hin: „Was geht ab?“ Sein Vater ignorierte ihn. Einer der Knechte flüsterte Reto ins Ohr. „Och, nee, nicht dein Ernst!“
„Ruhe!“ Die drei Männer und der Junge musterten das Mädchen gebannt, wie es in immer engeren Kreisen um die Stute herum ging, ohne sie dabei ein einziges Mal anzusehen. Sie beobachteten, dass sie unablässig mit dem Pferd zu reden schien, aber sie waren zu weit entfernt, um ihre Worte hören zu können. Die Stute wurde ruhiger. Nach einer halben Stunde ließ sie sich berühren. Nach weiteren Minuten streichelte Helena dem Pferd den Hals.
Der Tag X - Helena hatte Luna, eine Haflingerstute gesattelt. Mechanisch, alle zwei Minuten aufgeblickt. Wo blieb Leo nur? Er hatte gesagt, dass er heute zum Reiten kommen würde. Die Reitstunde war fast vorbei, als Leo mit einem Polizisten an die Springbahn trat. Mit weißem Gesicht machte er ihr Zeichen, heran zu reiten.
Ein Jahr und zwei Monate danach - Sie hätte sich ohrfeigen können. Ausgerechnet bei Uwes Skatbruder Alfons hatte sie Anzeige erstattet. Uwe hatte sie wutschnaubend von der Polizeistation abgeholt. Zuhause musste sie im Keller schlafen. Im Dunkeln, auf dem eiskalten Steinboden. Zwei Wochen hatte sie so hohes Fieber gehabt, dass die Träume von Carla und ihre Eltern realistischer gewesen waren, als die Schatten von Uwe und Irene. Irgendwann war sie nach Schweiß stinkend in ihrem Bett aufgewacht. Judith und Sabine, die leiblichen Töchter von Uwe und Irene, standen tuschelnd an ihrem Bett. Judith stützte sie, damit sie Wasser aus einem Glas trinken konnte. „Ich habe einen Plan“, krächzte sie.
Ein Jahr, zwei Monate und zwei Wochen danach - Im Getümmel in der Fußgängerzone hatte Helena Ina Bauers Geldbeutel gestohlen. Sie behielt nur den Perso. Sorgfältig wischte sie ihn ab und warf ihn in einen Briefkasten. So ein Glücksfall, dass sie Ina von weitem gesehen hatte, die sie vom Reitstall kannte. Sie war volljährig und sie sah Helena ähnlich. Sabine hatte den Brief ans Jugendamt am Morgen eingeworfen. Gestern hatte Helena Uwes und Irenes Kreditkarten „geliehen“ und 1000 ¤ als Reisetaschengeld einkassiert. Der alte Mercedes ihrer Mutter hatte zwar keinen gültigen TÜV mehr, aber ansonsten war er noch fahrtüchtig, wie sie auf Waldwegen ausprobiert hatte. Sie hatte ziemlichen Bammel vor ihrer ersten Fahrt mit Anhänger, aber sie konnte Belle nicht hier lassen. Judith und Sabine wussten, was sie der Polizei erzählen sollten.
Ein Jahr und zwei Monate danach - Am Anfang hatte sie befürchtet, die Leute würden sie auf den Bildern erkennen. Die Zeitungen waren voll mit ihren Fotos, die aber glücklicherweise nicht ganz neu waren. Ihr Gesicht hatte sich seit dem Tod ihrer Eltern verändert. Uwe hatte viele Fotos von ihr gemacht, aber das waren keine Porträts gewesen. Belle wurde in den Artikeln nicht erwähnt. Gero von Rothe hatte wohl geglaubt, Belle sei drei Tage vor Helenas Verschwinden von der Weide weggelaufen. Niemand hatte nach der Stute gesucht. Sie jobbte als Putzfrau. Versuchte mit ihrer gestohlenen Identität so unsichtbar wie möglich zu bleiben.
Zwei Jahre zwei Monate und drei Wochen danach - Rachsüchtig und schlau. Klingelte da nicht etwas? Er tippte „Kindesmissbrauch+ Heidelberg“ in die Suchleiste im Internet. Nach einigen Fehltreffern fand er, was er suchte.
Der Prozess hatte vor einem Jahr großes Aufsehen erregt. Eine damals Sechzehnjährige war von ihrem Pflegevater missbraucht worden. Das Mädchen hatte sich in Briefen an das zuständige Jugendamt gewandt. Als die Behörde tätig wurde, war die Jugendliche verschwunden gewesen. Die Pflegeeltern behaupteten, das Mädchen sei ausgerissen. Aber bei einer Untersuchung der Wohnung wurde eine erhebliche Menge Blut im Badezimmer gefunden, die jemand vergeblich versucht hatte, spurlos zu beseitigen. Die Blutgruppe B entsprach derjenigen des verschwundenen Mädchens. Dessen Leiche wurde niemals gefunden. Der Pflegevater, Uwe Hartmann, wurde zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt. Seine Frau Irene wegen unterlassener Hilfeleistung. Die Töchter, die ihren Vater ebenfalls des Missbrauchs beschuldigten, in einem Heim untergebracht.
Rachsüchtig und schlau. Er fand ein Bild des verschwundenen Mädchens. Sie hieß Helena. Ihre echte Haarfarbe war ein goldenes Honigblond. Der Pflegevater war drei Monate nach Antritt seiner Haftstrafe von Mithäftlingen so heftig zusammengeschlagen worden, dass er an den Verletzungen starb.
Seine Töchter waren im Heim aufgeblüht. Sie und die Mutter wollten keinen Kontakt zueinander. Hagen wünschte Helena alles Gute und klappte die Akte zu.
Lisanne Surborg
Eine Sommernachtswanderung
Von fern klingt das Zirpen einer Grille, während weiche Brisen durch trockenes Gestrüpp huschen. Das erste Sonnenlicht kriecht vorsichtig über Erde und Sand. Trotz der frühen Stunde flimmert am Horizont bereits die Hitze des kommenden Tages. Sie lässt das Bild verschwimmen und zaubert Flammen auf den staubigen Boden, bis er lebt und atmet in einem goldenen Licht. Ein paar Höfe weiter bellt ein Hund, dann senkt sich wieder sengende Stille über die Welt.
Ich atme ganz bewusst ein und aus, strampele dann die schwere Decke ab und drehe mich vom Fenster weg. Was mich aus dem Schlaf geholt hat, weiß ich nicht, wohl aber, dass ich hellwach bin. Als ich den Kopf wieder drehe, so dass ich nach draußen sehen kann, höre ich das Schaben. Metall auf Metall, beides stumpf, verrostet. Dann ein Schnaufen, erneutes Schaben und Scharren. Die dröge Hitze umhüllt meinen Kopf, sodass es sehr lange zu dauern scheint, bis ich die Geräusche zuordnen kann. Dann schwinge ich die Beine rasch aus dem Bett, ziehe eine Hose über und greife nach meinem Hemd, das über dem Schaukelstuhl hängt.
Draußen schlägt die schwüle Luft über mir zusammen. Es riecht nach Gewitter, obwohl weder Regen noch Donner oder Blitz diesen Flecken Land in den letzten Wochen heimgesucht haben. Ich hebe den Kopf und starre in ein wolkenloses Himmelszelt. Sterne starren zurück. Meine Schritte führen mich um das Haus herum zum alten Stall. Hier und da muss ich über einen Stein steigen. Nach und nach sind sie aus dem Mauerwerk gebrochen, Löcher in den Wänden waren die Folge. Menschen sollten sich nicht mehr darin aufhalten, sagt mein Vater, als Viehstall aber sei der Verschlag noch einsetzbar. Meine Finger gleiten im Gehen an dem rauen Sandstein entlang und als ich sie an mein Gesicht hebe, sehe ich die Spitzen mit feinem Staub bedeckt.
Das Schaben hält inne, stattdessen wird das feuchte Schnaufen lauter, dringlicher. Als ich den Verschlag erreiche, blickt mich ein treues, braunes Auge an. Ich strecke die Hand aus und streiche mit meinen grauen Fingern über das wenige, harte Haar, bis zu den weichen Nüstern, aus denen klares Wasser tropft.
Als ich meine Hände zurückziehe, sind sie schmutziger als zuvor. Als hätte der Sand sich schon an das Pferd gesetzt, weil die Erde weiß, dass es Zeit wird. Ich öffne das Metallgatter und schiebe mich hindurch. Das Tier weicht nicht zurück, das tat es nie.
Meine Hand wandert vorsichtig über das spärliche Fell, so staubfarben wie meine Fingerspitzen, und zählt jede Rippe. Ein Schnauben, ein Stoß gegen meine Schulter, dann starrt mich sein anderes, blindes Auge an. Es ist Zeit. Wir müssen aufbrechen, die Sonne geht schon auf.
Er ist alt, sagt mein Vater, er ist zu langsam. Deshalb haben wir ein neues Pferd. Es ist jung, hat dunkles Fell und starke Beine, es trägt viel und läuft schnell..Mein Blick geht an dem Alten vorbei und findet das Neue dösend beim Unterstand. Es würde vor mir zurückweichen.
„Paco“, flüstere ich und beobachte, wie das blinde Auge blinzelt und löchrige Ohren sich neugierig aufstellen. "Paco, es ist Zeit.“, wispere ich und meine nicht, was die Erde meint. Es ist Zeit, aufzubrechen, Vaters Waren zum Markt zu bringen. „Wenn du kannst, wenn du willst.“ Ich fasse in das raue Halfter und führe das alte Tier aus seinem Gehege. Hier lasse ich ihn stehen, denn ich weiß, er bleibt. Rasch laufe ich die wenigen Schritte zur Werkstatt, wo Vaters Lederwaren lagern. Ich greife nach den Kübeln und Eimern, in denen sie verstaut sind, und lade Paco alles auf. So wie früher, auch wenn seine Beine schwach sind und sein Rücken krumm.
Kaum habe ich den letzten Riemen geschlossen, ins letzte Loch geschoben, weil das Tier so dünn ist, da läuft es los, energisch wie ein junges Fohlen. Wie immer hake ich den Strick in sein Halfter ein und dann gehen wir nebeneinander. Verlassen den Hof, biegen ein auf den Weg, den nur wir benutzen.
Immer höher steigt die Sonne und immer heller, heißer strahlt sie auf uns einsame Gestalten hinunter. Und lange bevor Pacos schmale Hufe langsamer im Dreck schaben, weiß ich, was dies hier ist. Es scheint als ließe die Sonne uns beide baden, und strahlen in ihrem wärmenden Licht. Sie wird gemächlich untergehen, wenn ich schon zuhause bin, doch zuvor wird sie Paco verbrennen. Die Grillen zirpen davon, es hängt schwirrend in der heißen Luft und die Erde singt ihren betörenden Lockruf.
Es ist Pacos letzte Wanderung, das letzte Kapitel seiner Geschichte und ich teile es mit ihm. Ich denke, er weiß es. Er spürt den sanften Atem der Erde, die ihn zu sich ruft. Hört das Zirpen und atmet die sirrende Luft in tiefen Stößen. Aber bevor er ihnen antwortet, erfüllen wir unsere Aufgabe. So wie jeden Tag, so wie immer.
Auf der Mitte der Strecke befürchte ich, dass wir es nicht schaffen könnten. Dass mein Vater mich schelten wird dafür, dass ich das alte, schwache Pferd genommen habe. Nicht das gute, das starke. Mein Vater versteht nicht, er spricht nicht mit ihnen, hört sie nicht.
"Paco“, flüstere ich wieder, „Nicht mehr weit. Bald ist es geschafft.“ Und das Pferd schleppt weiter alle vier Beine durch den roten Sand, der sich trocken auf mein Gesicht legt und meinen Lippen die Feuchtigkeit entzieht. Wir sind sehr langsam, aber stehen nie.
„Paco, sieht du die Stadt? Ich sehe sie.“ Einen Kübel könnte ich ihm vielleicht abnehmen, ihn selbst tragen. Aber nein, nein, er trägt dasselbe wie jeden Morgen.
Er stolpert jetzt öfter. Jeden Stein, den die Erde ihm in den Weg legt, nimmt er mit und fängt sich träge wieder auf. Jedes Mal scheppern die Metallschnallen am Leder gegen die Eimerwände. Ich tue so als hörte ich es nicht.
Die Stadt ist laut und geschäftig an diesem Morgen. In einem ungleichmäßigen Rhythmus klackern Pacos Hufe über den Stein, bis wir am Marktplatz zum ersten Mal halten. Ich hantiere sehr schnell mit den Schnallen und Gurten, sodass ich die Eimer rasch von seiner Wirbelsäule heben kann.
Ich leere die Eimer auf dem Tisch aus, warte geduldig, bis die Kundin zufrieden nickt und stecke mir die Bezahlung in die Hosentasche wie auch den Zettel, mit einer neuen Bestellung. Die leeren Eimer hänge ich mir jetzt selbst um die Schultern. Dann verlassen wir die Stadt, wo nur Stein am Boden ist.
Auf dem Rückweg tragen Pacos Beine ihn zittrig vom Weg hinunter. Zwischen trockenen Gräsern nehme ich ihm das kratzige Halfter ab und erwidere den Blick aus seinem ruhigen, braunen Auge. Ohne Wimpern blinzelt er einmal und schnauft ein paar Mal so leise, dass die Grillen es sicher nicht gehört haben.
Er hat der Erde geantwortet, denn sie greift sofort zu. Sand umspült das tapfere Tier und färbt das staubfarbene Fell. Sein braunes Auge wird trüb, trüber als das blinde. Ich höre noch wie die kraftlosen Beine am Ende nachgeben. Dann höre ich eine ganze Weile lang nichts mehr als das dumpfe, freudlose Aneinanderprallen leerer Eimer. Die Sonne steht noch im Zenit als ich an diesem Tag allein nachhause zurückkehre.
Paola Kosch
Samhain
(Platz 2 bei Sattelfest Literaturwettbewerb)
Samhain, das heutige Halloween, ist für Heiden das wichtigste Fest im Jahr. Es bezeichnet das Ende des alten und den Anfang des neuen Jahres. Heiden behaupten, dass der Schleier zwischen Diesseits und Jenseits am dünnsten sei, somit die Kommunikation mit Verstorbenen einfacher.
Logan saß auf der Veranda und blickte zum herrlichen Sonnenuntergang, den es seiner Meinung nach in dieser Pracht nur hier gab. Er beobachtete den Himmel solange bis die blutrote Farbe vollends wich, ein dunkleres Himmelblau stattdessen Platz einnahm und die Nacht verkündete.
Logan wünschte sich, öfter im Jahr seine Eltern auf der Silver Creek Ranch besuchen zu können, doch sein Job ließ es einfach nicht zu. Umso wichtiger war es für ihn mit seinen zwei Mädchen zu Halloween, zum Samhain-Fest, seine Eltern zu besuchen. Während er in den Abend hinaus schaute, bereiteten seine Eltern und seine Schwester Jade alles für die Feierlichkeit vor. Kürbisse waren bereits geschnitzt worden, Kerzen vorbereitet, einige Granatäpfel wurden noch im Essbereich platziert und Jade weihte die Kinder in das Geheimnis des Samhain-Festes ein, während seine Mutter ihr köstliches Fleischragout zubereitete.
Logan hätte sich nie dazu hinreißen lassen, an all diesen Spuk zu glauben. Nie glaubte er, dass es eine Art alte Magie gab, oder gar Hexerei. Und zwar aus Prinzip. Ein Erlebnis jedoch konnte er sich seit 30 Jahren nicht erklären. Ein Erlebnis, das ihn bei allen Zweifeln die er hatte, verunsicherte.
Es wurde immer dunkler, das Treiben im Haus immer hektischer und lauter. Die Kinder quietschten vor Vergnügen und Vorfreude. Logan saß weiterhin still auf der Veranda,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Exlibris Publish
Bildmaterialien: Exlibris Publish
Lektorat: Exlibris Publish
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2012
ISBN: 978-3-95500-165-0
Alle Rechte vorbehalten
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Auch als Paperback erhältlich.
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