Schon einige Zeit vor Beginn der Sommerferien verbrachten Jan und Paul oft ihre Freizeit miteinander. Sie kannten sich aus der Schule, gingen in die gleiche Klasse. Beide waren vierzehn.
Paul, zwar kleiner, aber von kräftiger Statur, war nur ein paar Monate älter als der Freund, diesem in seiner Gesamtentwicklung jedoch um etwa ein Jahr voraus. Jan war ein Lausbub, neugierig und immer voller Ideen. Es gab nur wenige in der Klasse, die mit ihm noch nicht über eine kurze oder längere Zeit freundschaftlich verbunden waren.
Bei der Lehrerschaft allerdings hatten beide einen gleichwertig schlechten Stand. Dass sich die erwachsenen Erziehungsberechtigten außerhalb des Elternhauses durch seine Verhaltensart provoziert fühlten, überraschte Paul zunächst. Es lag anfangs wirklich nicht in seiner Absicht, doch gefiel es ihm zunehmend mehr und so machte er alsbald eine eigene Tugend daraus.
Jan hingegen zog recht häufig den Zorn der Lehrer auf sich, weil er mit den Schülern ständig Witze machte. Die Lehrer begriffen einfach nicht, dass es ihm geradezu anatomisch nicht möglich war, sich sein lauthalses Lachen zu verkneifen. Im Gegensatz zu Paul, dessen Gewissen nicht einmal zu Silvester gute Vorsätze kannte, gelobte Jan auch zu Beginn dieses Schuljahres wieder Besserung. Diesmal nahm er sich fest vor, den neu für die Klasse zuständigen Lehrer, den er erstaunlicherweise sogar sympathisch fand, nicht zu enttäuschen. Doch neigte sich das Schuljahr - auch wie jedes Jahr - für die Erfüllung seines Vorhabens viel zu schnell dem Ende und die Ferien waren plötzlich da.
Viele Mitschüler waren mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren. Jan und Paul gehörten zu den Kindern, die ihre Sommerferien im Wohnort verbrachten.
Zu Beginn einer Freundschaft ist es interessant, Altes neu zu entdecken. Man probiert Dinge aus, welche mit den Anderen durch wohlbekannte Bedenken und Einwände nicht möglich waren. Und so nahmen sich Jan und Paul vor, auf der Suche nach dem großen Abenteuer einige Tage die Wildnis zu durchforsten. Die Wildnis, das war ein weites, tiefes Tal unweit des Wohnortes der beiden. Es schien ihnen bestens geeignet, ihre Freundschaft hinsichtlich Wagemut, Ausdauer, Kameradschaft und Ideenreichtum auf die Probe zu stellen
Das Tal war in den vergangenen Jahren an einer Seite aufgefüllt worden und ruhte in diesem Zustand schon lange Zeit. Die Jungs trafen sich an diesem Tag schon am frühen Vormittag. Zu dem Hügel auf der anderen Seite wollten sie, wo sich die Wetterstation befand. Von Neugier und Tatendrang gepackt, gelangten sie ohne Mühe hinauf. Was für ein Ereignis jedesmal, wenn sie dabei zusehen konnten, wie ein Wetterballon in die Höhe geschickt wurde. Noch aufregender war es, dass fünfhundert Mark Belohnung in Aussicht standen. Die nämlich sollte derjenige erhalten, der die beim Start herabfallenden Messinstrumente wiederfinden und den Wetterfröschen der Station zurückgeben würde. Erst später, als die Jungs längst erwachsene Männer waren, fragten sie sich das erste Mal, ob diese Behauptung von damals überhaupt der Wahrheit entsprach. Denn niemals erfuhren sie vom Fund irgendwelcher Wetterballonmessinstrumente, nicht einmal die Suche danach wurde irgendwann irgendwo offiziell erwähnt. Wohl handelte es sich um einen Scherz der Älteren, der damals ausdauernd die Runde machte.
An diesem Sommertag jedoch glaubten die beiden noch fest daran. Lange trieben sie sich nach dem aufregenden Start des Ballons in der Nähe des Hügels herum. Nachdem sie aber trotz fieberhafter Suche wieder mal nicht das kleinste Teil finden konnten, das nach technischem Gerät aussah, stromerten sie noch eine Weile umher. Bald war das gesamte Gebiet gänzlich auf seine Abenteuertauglichkeit abgelaufen. Es gab nichts Neues mehr zu entdecken. Und gerade, als sie darüber nachzudenken begannen, ob sie ihre Suche nach Irgendetwas von vorn beginnen oder ob sie sich langweilen sollten, gedachte Jan der Feuerwerkskörper, die sich in seiner Hosentasche befanden. Es waren kleine Böller, die es unrühmlicherweise in der letzten Silvesternacht nicht zur Explosion gebracht hatten. Beide hielten Rat über deren Verwendung. Am Ende ihrer Überlegungen kamen sie zu der kämpferischen Einsicht, dass es am aufregendsten und männlichsten sei, mit der eplosiven Wirkung der Miniraketen Feldmäuse aus ihren Löchern zu sprengen. Dem zahlenmäßig überlegenen Feind ausgeliefert, steckten sie also wagemutig die meisten ihrer Knaller in die reichlich vorhandenen Eingänge der weitverzweigten Erdbauten, zündeten einen nach dem anderen an und warteten auf den Urknall. Doch zu ihrer Enttäuschung vernahmen sie lediglich ein paar mal ein dumpfes und zurückhaltendes "Buff". Ansonsten tat sich gar nichts. Nicht ein Krümelchen Erde stob auf. Geschweige denn, dass - wie erwartet - massenweise die Mäuse von oben herabregneten. Nein. Nichts! Bis dann plötzlich nach einer kleinen Weile ein einzelnes, altes Mäuslein gemächlich auf die Jungs zuspaziert kam. Sie schien geradezu von den Anderen ihrer Kolonie zu Verhandlungen mit den Angreifern abgeordnet zu sein. Es fehlte nur noch das weiße Fähnchen. Das Tierchen blieb einfach stehen und rührte sich nicht. Und weil Jan und Paul die Schmach des erfolglosen Kampfes nicht auf sich sitzen lassen konnten, kam der eine auf die Idee, der Maus einen der übriggebliebenen Böller auf den Rücken zu binden und sie so zurück auf das Schlachtfeld zu schicken. Während Paul losging, um Klebeband zu organisieren, blieb Jan am Ort des Geschehens, immer auf der Hut und auf dem Sprung, falls der Gegner flüchtig werden sollte. Aber die Maus sah nur verstört in immer die gleiche Richtung. Paul kam zurück und es war gar nicht weiter schwierig, den perfekten Selbstmordattentäter aus der Maus zu machen. Erstens waren sie wütend wegen ihres Misserfolges und zweitens - warum lief Frau Botschafterin nicht einfach davon? Sie wartete also einfach darauf, dass etwas passiert. Sie wollte es so. Sie zündeten den Knaller, der sich mittlerweile auf dem Rücken des Tieres befand, an und Jan setzte das Tier auf den Boden. In der Erwartung, die Maus würde jetzt - sich ihrer Freiheit bewusst - in das nächste Loch davonstieben, starrten Jan und Paul auf ihr Versuchsobjekt. Doch das dumme Tier rührte sich abermals nicht von der Stelle. Wie ein Märtyrer stand sie da, ihrer Bestimmung harrend. "Warum, verdammt noch mal, rennt das blöde Vieh nicht weg!". Die Jungs sahen sich verständnislos an. Bei dem kleinen Knall, der daraufhin folgte, zuckten sie zusammen. Nachdem die Fetzen sich gelegt hatten, suchten sie nach ihrem Probanden. Sie hatten keine Maus davonlaufen sehen. An der Stelle der Detonation gab es außer kleinen, bunten Fetzen gar nichts mehr. Doch zu dem Bunt der Fetzen gehörten nach näherer Untersuchung auch behaartes Graubraun sowie ein Rot, das untrennbar mit dem Grün des Grases verbunden war. Die Blicke der Jungs trafen sich abermals. Für einen kurzen Augenblick stand ihnen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Einmütig und ohne Worte beschlossen sie, flugs das Tal zu verlassen.
Bald schon waren die ersten Häuser ihres Wohngebietes in Sichtweite, als sie von einem Mann angesprochen wurden. Er stand plötzlich neben ihnen. Der Fremde war etwas größer als sie und von hagerer Gestalt, etwa doppelt so alt und hatte ein bleiches Gesicht. Er nuschelte etwas, was Jan, der etwas abseits stand, nicht verstehen konnte. Um so verwunderter war er, als Paul den Unbekannten anschrie: "Hau bloß ab hier!", woraufhin der Mann schnell davon eilte.
"Was wollte der denn?", fragte Jan. Wie abwesend sah Paul dem Fremden nach, bis dieser endgültig im nahen Dschungel alter Bäume und unendlichen Gestrüpps verschwunden war. Energisch wandte Paul sich um und Jan sah in ein Gesicht, das Schrecken und Wut zugleich ausdrückte. "Der hat gefragt, ob er uns seinen Penis zeigen darf." Jan glaubte, sich verhört zu haben und nach einer Weile empörte auch er sich: "Was? Spinnt der!" und "Hast du den schon mal hier gesehen?". "Nein, keine Ahnung, wo der herkommt." Jan und Paul waren völlig irritiert ob dieser sonderbaren Begegnung. Sie setzten ihren Weg schweigend und nachdenklich fort. Plötzlich hielt Jan Paul am Arm zurück: "Den sollten wir eins auf sein Ding prügeln!". Paul war sehr wohl einverstanden. Doch wie sollten sie das anstellen? "Ganz einfach, wir suchen uns einen Knüppel und rufen den Kerl zurück. Dann sagen wir ihm, wir hätten es uns überlegt. Und wenn er seinen Schwengel rausholt, braten wir ihm eins über." Paul überlegte nicht lange. Ihm gefiel die Idee. Sogleich machten sich die Zwei auf die Suche nach einem geeigneten Prügel. Zur Wildnis gehörte eine ehemalige Obstwiese. Verlassen und ihrem Schicksal der Vergänglichkeit ergeben, standen da alte Apfel- und Pflaumenbäume. Erst vor ein paar Wochen hatten sich die Jungs auf Erntezug begeben, um die letzten, dürftigen Zwetschgen zu holen, die die verknorksten Äste noch hergaben, und sie einem sinnvollen, aber für ihre Verhältnisse wohlschmeckenden Ende zuzuführen. Fündig wurden die beiden dann bei einem in die Jahre gekommenen Apfelbaum. Mit einem Ast schien er die Jungs geradezu herbeizuwinken. Und genau dieser Ast war es, der die Geschichte der Sexualerziehung maßgeblich mitbestimmen sollte. So ein Schwein verdient eine Abreibung. Der sollte weder bei ihnen noch bei jemand anderem jemals wieder einen derartigen Versuch wagen.
"Also", bestimmte Paul, "ich traue mir das zu. Ich nehme den Knüppel unauffällig hinter meinen Rücken. Du sprichst den Kerl an und beobachtest. Bleib dicht hinter mir, so dass der den Stock nicht sieht." So zogen sie los, Paul einen Schritt voraus, Jan im Gefolge. Paul erinnerte sich, in welche Richtung der Unbekannte gegangen war. Der Plan war klar und trotzdem stieg ihre Spannung mit jedem Meter. "Hoffentlich bemerkt der nichts!". "Bestimmt nicht. Der rechnet doch nicht mit sowas!", versuchte Jan sich und den Freund zu beruhigen. Wieder tauchte der Mann plötzlich im Gestrüpp auf. Paul straffte sich:"He, komm mal her!". Und tatsächlich bewegte sich der Mann sofort in die Richtung der beiden. Als er nahe genug schien, erklärten sie: "Also, wir haben es uns überlegt. Wenn du willst, kannst du uns deinen Penis zeigen." Jan schritt ein kleines Stück nach rechts, um die Szene genau im Auge behalten zu können. Jetzt stand der Fremde knapp einen Meter vor Paul, öffnete seine Hose und holte seine Latte heraus. Kaum einen Augenblick lang wurde gewahr, was des fremden Mannes Anliegen war, als Paul ihm einen kräftigen Hieb verpasste. Mit einem unterdrückten Schrei krümmte sich der Getroffene zusammen und machte einen halben Schritt zurück, wobei Paul ihm einen zweiten Hieb auf die gleiche Stelle versetzte. Dabei traf er dessen Hand, die er schützend zwischen seine Beine gehalten hatte. Nach diesem Hieb und als Paul den Knüppel ein drittes Mal anhob, stieß der Mann einen lauten Schrei aus, drehte sich um und ergriff die Flucht. Just in diesem Moment sahen alle drei den nachmittäglichen Wetterballon nicht weit über ihnen. So rief Jan dem Mistkerl noch hinterher: "Dein Leben lang sollst du an heute denken, wenn du auch nur einen Luftballon fliegen siehst!".
Die Zwei standen noch eine Weile unbeweglich da, versucht, diese befremdliche Szene zu begreifen. Doch blieb ihnen dafür nur wenig Zeit. Jan ging plötzlich blitzschnell in die Hocke und zog Paul zu sich herunter ins Gras. Jan hatte unten im Tal einen Polizisten entdeckt, der dort Streife zu laufen schien. Sie kannten ihn. Doch kannte er auch sie nur zu gut. "Da unten läuft Herr Walter mit seinem Schäferhund. Wir müssen sofort abhauen!". Nie wären die Jungs auf die Idee gekommen, einen fremden Erwachsenen anzuzeigen, auch wenn er ihnen etwas so Widerliches, Obszönes, Abstruses aufgedrängt hatte. Sie hatten keinen Zweifel, schon wieder etwas Verbotenes getan zu haben, was einer gerechten Strafe bedurfte. Deshalb plagte sie das schlechte Gewissen und deshalb versteckten sie sich. Mit ihrem wohlgekonnten Blick der stets Verfolgten erkundeten sie, ob der Beamte von dem ganzen Vorgang etwas bemerkt haben konnte. Der aber ging für diese Vermutung doch zu gemächlich und schaute auch nicht zu ihnen hinauf. Als sie sich sicher sein konnten, dass die Luft rein war, setzten sie sich in Richtung Heimat ab.
Die innere Spannung der beiden wich der Erleichterung erst, als sie zwischen den vertrauten Häusern ihres Wohngebietes Schutz fanden.
Danach sprachen Jan und Paul nie mehr über diese Geschichte. Ohne Absprache zogen sie es vor, die Wildnis für den Rest der Ferien zu meiden.
Und beide mieden sie es auch, das Erlebte zum Inhalt des penetrant alljährlich wiederkehrenden, den Schulanfangseifer maßgeblich herabsetzenden Schulaufsatzthemas "Ein Ferienerlebnis" zu machen, auch wenn der Reiz dazu sehr groß war.
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2009
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