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Wieder einmal Wochenende und wieder keine Ahnung, was tun. Da kam der rettende Anruf: Samstag. Inselfest. Beginn vor Einbruch der Dunkelheit. Das einzige, was ich tun müsse sei, in ein Auto zu steigen und mitzukommen. Das hörte sich doch sehr gut an. Solche Unternehmungen lobte ich mir. Dennoch klopfte die Neugier. Auf meine Frage, wohin es denn gehen würde, bekam ich nur die knappe Antwort: „Monrepos.“ Das sagte mir nichts. War ja auch nicht so wichtig. Dagegen war sofort klar, dass die Kalkulation Zwei Fässer Bier gleich dreißig Liter geteilt durch sechs Mann viel zu klein bemessen war. Deshalb mein spontaner Beitrag zur Vorbereitung des Ausfluges, wenn auch nur ein gedanklicher: ein Fünfliterfass müsse noch mit uns mitkommen. Es würde sowieso wieder Ärger geben. Aber dann doch bitte nicht ums Bier.

In der Dämmerung kamen wir an. Still ruhte der See. Die anbrechende Dunkelheit hatte sich über das spiegelglatte Wasser gelegt. Ein Bild des Friedens bot sich mir. In einiger Entfernung konnte ich schemenhaft eine Insel mit einer alten, kleinen Ruine ausmachen. Später erfuhr ich, dass es sich um die so genannte "Gotische Kapelle" des Schlossparks Monrepos hier bei Ludwigsburg handelte. Um 1810 wurde sie wiedererrichtet, im Frühjahr 1945, Ende des Zweiten Weltkrieges, von einer Bombe getroffen und so thront sie seitdem als malerische Ruine auf der Insel. Gerade, als ich mich dem grandiosen Blick über den See gänzlich hingeben wollte, stieß mich einer meiner Freunde an und deutete mit einer auffordernden Kopfbewegung auf ein zusammengelegtes Kunststoffpaket. Zu meiner Überraschung entpuppte sich das knautschige Etwas im Laufe seiner Entfaltung als ein Schlauchboot. Nachdem wir mit unserem jugendlichen Elan die Verwandlung vom Falt- in ein Gummiboot vollzogen hatten, setzten wir über.
Etwas unterhalb der Schlossruine befand sich eine großzügig bemessene Grotte. Feierlich stellten wir darin unser Bierfass auf, zapften an und begannen, die Eroberung der Insel zu feiern. Hier waren wir ungestört, ganz zur Entlastung der Nachbarn unseres eigenen Wohnortes. In dessen Parkanlagen waren wir oftmals genötigt, unsere Feste abzuhalten. Hier, auf der Insel, menschenfern und mit ihrer unberührten Natur, überkam uns ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit.

Nach dem ersten Bier begann unsere Expedition zur Erkundung der Insel. Wir schlugen uns durch die Botanik, hinauf auf den kleinen Berg, auf dessen Spitze die Ruine stand. Ein schöner Ausblick bot sich uns von hier oben. Silbern glänzte das Wasser des Sees im Mondlicht. Wir lauschten andächtig in die Stille. So ähnlich musste es den Leuten gegangen sein, dachte ich, die seinerzeit Amerika entdeckten. Wie Eroberer fühlten wir uns. An diesem Tag, um diese Zeit sind wir ganz allein auf dieser Insel. Sie gehörte uns, als hätte der Rest der Welt dieses Fleckchen Erde übersehen.

Scheinbar schwelgte in diesem Moment jeder von uns in Träumen und Erinnerungen oder sonst wo und wir kamen zu der Überzeugung, dass es doch angebracht wäre, etwas zum Rauchen zu organisieren. Ich blieb mit einem Kumpel als Wachposten auf der Insel, während die anderen mit dem Schlauchboot auf das Festland übersetzten.
Nun hieß es Abwarten und Bier trinken. Es gab Schlimmeres. Zum Beispiel Abwarten und Tee trinken.
Nach einer Stunde gab es immer noch kein Zeichen der Rückkehr. Unmut setzte ein, der nach einer weiteren Weile in einen leichten Hauch von Wut überging. Der Tag war heiß gewesen und die Nacht war schwül. Hatten die eifrigen Deserteure nicht eine Abkühlung verdient? Wir konnten es auf keinen Fall zulassen, dass sie zu ihrer Rückkehr nun auch noch schweißtreibend und kräfteraubend das Boot rudern sollten. Nein, sie durften schwimmen, durch das erfrischende, labende Wasser des Sees. Wir kümmerten uns um das Boot.
Wir zogen also unsere Kleider aus, versteckten sie vorsorglich und schwammen, leise wie Indianer, durch den See. Es war bereits dunkel geworden. Die romantischen Lichter des Seegartens auf der anderen Seite wiesen uns den Weg. Gerade hatten wir splitterfasernackt das Festland erreicht und hielten Ausschau nach dem Schlauchboot, als wir eine Gruppe Leute ausmachen konnten, die sich zu allem Unglück auch noch auf uns zu bewegten. Wohin so schnell? Erst mal zurück ins Wasser. Von dort aus schauten wir uns um. Unter das Boot? Unter den Steg? Da! Die beste Deckung schien uns das angrenzende Weizenfeld zu geben. Also, noch einmal kurz den Kopf aus dem Wasser in Richtung Zivilisation gestreckt. Die Luft war rein. Eins, zwei, drei und - Sprung. Jetzt hieß es schon wieder warten. Wir saßen fest, ohne Klamotten. Was uns außerdem fehlte, war Zeit. Bald würden unsere Freunde wieder auftauchen. Wie ärgerlich, wenn der ganze Spaß uns in die Hose gehen würde, die wir nicht anhatten. Wir konnten nur hoffen, dass die Leute bald die Richtung wechseln oder besser, dass sie überhaupt verschwinden würden. Was suchten sie überhaupt nachts hier? Wohl kamen sie, um, wie ehedem die „gnädigsten Herrschaften, mit plaisir divertiern zu können", wie es im Innern des Schlosses selbst geschrieben steht. Aber um diese Uhrzeit war für solcherlei Publikum doch absolut nichts los. Keine Ausstellung. Keine Führung. Kein Konzert. Während die Gruppe in nachtwandlerischer Ruhe immer näher zu unserem Boot kam, fand innerhalb weniger Minuten mein innerer Abstieg vom Romantiker zum Choleriker statt, bereit, unser Boot, unsere Insel und, wenn es sein musste, auch noch unsere Freizügigkeit, äh Freiheit, zu verteidigen. Doch blieb uns die Peinlichkeit, nackt aus dem Feld springen zu müssen, im letzten Moment erspart. Sie trifteten ab, zurück in Richtung Ausgang. Unsere entblößte Lage schien sich zu entspannen. Wir waren gerade dabei, uns der unsere edlen Körper umhüllenden Ähren zu entledigen, uns quasi von Vogelscheuchen wieder in Menschen zu verwandeln, als schon wieder Stimmen zu hören waren. Ab also wieder in den Vierfüßerstand. Das durfte doch nicht wahr sein! Mann, wir mussten hier raus, ehe unsere Freun… Da waren sie auch schon! Nach einigem Zögern gaben wir uns zu erkennen. Zunächst mal unauffälliges, Freude vortäuschendes Hallo! Verlegenes Grinsen auf unserer Seite, breites Feixen auf der anderen. Eine Erklärung? Warten…, Langeweile…, uns erfrischen..., euch abholen…. Auf der Rückfahrt, zusammengekauert auf den Bootsboden gequetscht, als hätte die Erdanziehung um ein Mehrfaches zugenommen, sagte keiner von uns beiden ein Wort.

Das Boot hatte noch nicht einmal die ersten Sandkörner der Insel erreicht, da waren wir auch schon an Land und suchten unsere Kleider. Ich glaube, nie zuvor und wohl auch nie wieder danach hatte je ein Mensch ein Boot so schnell und geschickt verlassen wie wir in diesem Moment. Es sei denn, er wäre von einem wilden Tier derart verfolgt worden wie wir von dem Johlen und Gackern unserer Freunde.

In der Nacht, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, unternahmen wir noch mehrere, gemeinsame Exkursionen über die Insel und Ausflüge im Boot über den See. Wir blieben wach bis in den neuen Tag.
Es begann, hell zu werden. Ein Dunstschleier hatte sich über den See gelegt. Magisch zog uns diese traumhafte Mystik der frühen Morgenstunden an und wir ruderten abwechselnd hinein in den Nebel. Dabei entdeckten wir eine zweite, kleine Insel, die der Kapelle gegenüber lag. Hätten wir damals schon gewusst, dass man dieses, für uns junge Kerle weniger interessante Festland die Amorinsel nennt und das darauf befindliche Tempelchen als Römisches Bad errichte wurde, so wären wir Jungs mit Sicherheit diese Nacht nicht unter uns geblieben.

Doch so ruderten wir oder ließen uns treiben, bis der Nebel die Sonne langsam frei gab. Zu dieser Stunde zog es auch die ersten Angler auf den See. Die warfen gleich ihre Haken nach unserem Boot und bedeuteten damit uns Störenfrieden, zu verschwinden. Frechheit, sagten wir uns, blieben jedoch friedlich und feierten jedes Mal aufs Neue die glückliche Rückkehr unserer Exkursionen. Wir zogen uns in die Grotte zurück und tranken gemütlich. Es lag schließlich nicht in unserem Sinn, ein volles Fass mit zurückzunehmen. Schon allein des Images wegen ging das überhaupt nicht. Wie ständen wir da vor unseren Freunden, die nicht dabei sein konnten. Weicheier wären wir. Auch in den Augen unserer Mädels, die sich allerdings keine Vorstellung davon machen konnten, was es bedeutete, zu sechst ein Fass Bier zu leeren.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir gemeinsam aus der Grotte heraustraten, um den Tag zu begrüßen. Auf dem See wimmelte es von Ruderbooten. Es war Sonntag. Viele hatten sich aufgemacht, um eine idyllische Kahnpartie auf dem Eglosheimer See zu unternehmen. Man fühlte sich wunderbar, wie in alten Zeiten, auch wenn der Ausflug heute etwas schlichter ausfiel als zu Zeiten von Herzog Carl Eugen, der noch aus Venedig herbeigeschaffte Gondeln von echten Gondolieri führen ließ.

Die Schlichtheit wurde weiter unterboten, als man während der Rundfahrt uns auf der Insel entdeckte. Kaum hatte ein Boot die Nähe unserer Insel erreicht, wandelte sich der Gesichtausdruck der Leute, die darin saßen, in Entsetzen. Sie wurden aus ihrer Harmonie gerissen durch den schauderhaften Anblick von sechs jungen Männern, welchen die lange Nacht im Gesicht stand, deren Kleidung verschmutzt und deren Haare ungekämmt waren und denen auch noch der Zorn im Gesicht stand, weil sie - kaum aufgewacht - feststellen mussten, dass ihr Schlauchboot verschwunden war. Zu allem Übel fuchtelten sie während ihrer lautstarken Debatte darüber, was denn jetzt zu tun sei, auch noch mit ihren vollen Bierkrügen umher.
Was hatte aber auch an einem solch adeligen Sonntag solch einfaches Volk wie wir auf dem herzoglichen See zu tun?

Die ersten verbalen Attacken drangen aus den Ruderbooten zu uns herüber.
„Das sind doch Wilde!“. „Verschwindet hier oder wir rufen die Polizei!“.
Zwei Boote mit Kindern, etwa sieben bis zwölf Jahre alt, ruderten in unsere Nähe und die Rabauken begannen, Steine nach uns zu werfen, verschwanden wieder und kamen mit neuer Ladung zurück. „Haut ab, ihr seid Affen“, riefen sie.
Das war volle Breitseite! Wir hatten große Lust, es den württembergischen Soldaten gleich zu tun.
Im Jahr 1815 nämlich trafen sich der Zar von Russland und der Kaiser von Österreich in Ludwigsburg. Aus diesem Anlass fand eine Aufführung der Oper „Ferdinand Cortez“ im Theater Monrepos statt, das es damals noch gab. Während der Aufführung öffnete sich plötzlich die hintere Bühnenwand und das Schlachten- getümmel der Opernszene wurde von richtigen württembergischen Soldaten nachgespielt.
Es wäre für uns kein Problem gewesen, die Boote der Knirpse zu versenken, auf der Insel gab es Steine jeder Größe und in ausreichender Menge. Und wir mussten auch sehr an uns halten. Doch beschränkten wir uns darauf, das Gebaren der vermeintlichen Urururururenkel des Herzogs zu korrigieren zu versuchen, indem wir die jungen Leute zurechtwiesen, dass es sich nicht zieme, ehrbare Bürger, und seien sie niederer Herkunft, mit Steinen zu traktieren und sie mögen doch diese Missetat dès maintenant unterlassen.

Da kam auch schon eine Abgeordnete der Festlandbewohner mit einem Ruderboot, um uns davon in Kenntnis zu setzen, dass das Betreten der Insel verboten sei. Und wir sollten doch die Kinder nicht belästigen.

„Eure lieben Kinder werfen mit Steinen nach uns. Das sind Versuche schwerer Körperverletzung. Die Leute aus den Ruderbooten nennen uns Wilde und Affen. Das ist Beleidigung. Unser Schlauchboot hat man uns gestohlen. Wir werden Anzeige erstatten gegen Unbekannt.“ Das hatte gesessen. Die Dame, welche sich als Lizenznehmerin der Seerechte vorgestellt hatte, machte sich erst einmal davon.

Wir begossen unseren heroischen, verbalen Sieg erst einmal mit einem Bier. Gleichzeitig sannen wir darüber nach, wohin denn unser Schlauchboot verschwunden sein könnte. Der eine riet, der nächste wusste, der dritte philosophierte, der Rest ging einfach los, um sich auf die Suche zu machen. Nach einer Weile fanden wir unseren in sich zusammengefallenen Gummikahn, der schon halb zum Unterseewrack mutiert war. Unser Verdacht fiel sofort auf die Käptn Hooks, die aus lauter Sorge um ihren kapitalen Hecht in der romantischen Morgenstunde ihre Angelhaken nach unserer Jolle ausgeworfen hatten, was sich später als Tatsache erwies.

Inzwischen war die Chefin zurückgekehrt, setzte Anker auf hoher See und forderte uns auf, die Insel sofort zu verlassen. „Geht nicht“, gaben wir zurück, „unsere Galeone hat Schiffbruch erlitten..“ Mit Nachdruck wiederholte sie ihren Befehl. Zwar standen wir stramm, doch mussten wir ihr zu verstehen geben, zum Schwimmen nicht mehr in der Lage zu sein und dass sie die Verantwortung dafür tragen müsse, wenn einer von uns ertrinken sollte.

Ihre Admiralität lichtete den Anker und ruderte zurück zum hoheitlichen Festland, kam jedoch nach kurzer Zeit wieder. Sie tat uns ihre Bereitschaft kund, die Gestrandeten mit der ihr eigenen Flotte von der Insel zu bringen. Wohlwollend erklärten wir unser Einverständnis und so wurden wir und unsere beiden Fässer in zwei Gruppen zurückgeschifft an Land.

Wir verschwanden, wie wir gekommen waren - schnell und geräuschlos.
Wieder zu Hause, begannen wir, die Heimkehr mit dem Fünfliterfass Bier zu feiern. Dann legten wir uns an diesem herrlichen Sommertag auf die Wiese unserer Parkanlage und schliefen ohne Belästigung der vielen anwesenden Besucher ein. Hier wäre niemand auf die Idee gekommen, uns als Fremde, geschweige denn als Wilde zu bezeichnen und mit Steinen zu bewerfen.


Andre Kiesler 02.11.2004 ©







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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mit vielen unbekannten und variablen zu Rechnen trägt das Risiko, das die Summe im Ergebnis zwar eine bestimmte wünschenswerte Größe ergibt, aber in ihrer Gesamtheit keine Richtigkeit darstellt. Wenn du auf deine Frage die Antwort erhälst: "So ist es halt", dann ist es an der Zeit, weiter zu ziehen auch wenn dies bedeutet, einen Freund zu verlassen.

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