Hangover Love
Beste Freunde küsst man (nicht)
Ewa Aukett
Für Astrid.
Auch wenn du es nicht mehr lesen kannst, weiß ich, du bist da.
Kapitel 1
Fran
Mir noch im Laufen die Jacke von den Schultern streifend, erreiche ich unser Büro und stelle fest, dass das zweite Team-Meeting des Tages bereits durch und die Belegschaft schon wieder mit ihren üblichen Aufgaben beschäftigt ist. Nur meine Kollegin Melody und Prakash Kumar, der Hotelmanager, befinden sich noch in dem Raum hinter der Rezeption. Irritiert bleibe ich in der Tür stehen und sehe, wie die beiden Schere-Stein-Papier spielen und sich gegenseitig die Faust hinhalten. Die Stimme meines indischstämmigen Chefs ertönt: »Unentschieden – nomal!«
»Was treibt ihr zwei denn hier?«
Stirnrunzelnd schaue ich von einem zum anderen, und als sie sich zu mir umdrehen, bringt ein breites Lächeln Melody zum Strahlen. »Ach schau! Unser Problem hat sich gelöst.«
Mein Boss wirft die Hände in die Luft und wirkt erleichtert. »Gott sei Dank!«
»Äh … Was für ein Problem?«, will ich wissen.
Melody grinst mich an. »Du gehst zu Mr Grey.«
»Zu wem?«
Sie gibt mir ein Zeichen, ihr zu folgen, betritt den angrenzenden Sicherheitsbereich mit den Überwachungsmonitoren des Hotels und deutet auf den Bildschirm, der den Poolbereich zeigt. »Zu Mr Grey!«
Ich starre zwei geschlagene Sekunden auf den Monitor, ehe mein Gehirn die Informationen verarbeitet hat, die meine Augen ihm senden. Widerwillig mache ich einen Schritt zurück und schaue zwischen Melody und Prakash hin und her. »Nein. Vergesst es!«
Mein Boss, der mich in seiner Aussprache immer ein bisschen an Raj aus The Big Bang Theory erinnert, nickt aufgeregt und zeigt auf den Monitor: »Doch! Du mach das!«
Angewidert schüttle ich den Kopf. »Ich will aber nicht!«
»Aber du mus!«
»Warum immer ich?« Gefrustet werfe ich meine Jacke über einen der Bürostühle. Als ob dieser Tag nicht schon schlimm genug begonnen hätte, kommt jetzt auch noch sowas dazu. Ich deute auf die Aufnahmen des Poolbereichs. »Ständig muss ich so blöde Sachen machen. Nie meckert einer von euch mit den Gästen rum!«
Mein Boss verschränkt die Arme vor der Brust und setzt dieses typische Buddha-Lächeln auf, das er so gern zur Schau trägt. »Du habe große Mund.«
Mit hochgezogener Augenbraue mustere ich ihn. »Bitte was?«
»Er meint, dass du eine große Klappe hast.« Melody legt mir eine Hand auf den Arm und grinst milde. »Komm schon, tu uns den Gefallen.«
»Na toll, künftig sag ich nix mehr.« Resigniert gebe ich schließlich nach, weil beide mich anschauen wie ausgesetzte Hundewelpen, und belege sie mit einem finsteren Blick aus schmalen Augen. Mit dem Finger deute ich auf meinen Chef. »Dafür hab ich was gut.« Prakash nickt eifrig, und ich gehe hinüber in den Umkleidebereich, um meine Alltagsklamotten gegen die Hoteluniform auszutauschen.
Zehn Minuten später erreiche ich die Türen, die vom Wellnessbereich abzweigen, und atme tief durch, ehe ich sie aufstoße. Der unaufdringliche, aber doch typische Geruch von Chlor und Schwimmbad hüllt mich zusammen mit der feuchten Wärme des Poolbereiches ein. Ein einzelner Herr, untersetzt und etwas rundlich, mit grauem Haar und Halbglatze, zieht unermüdlich mit langsamen Bewegungen seine Bahnen und übt sich im Brustschwimmen. Ich straffe die Schultern und mahne mich zur Ruhe.
»Guten Tag, Sir«, begrüße ich ihn. »Mein Name ist Frances, und ich bin heute für diesen Bereich zuständig.«
Der Gast sieht zu mir herüber, lächelt mir flüchtig zu und schwimmt weiter. »Guten Tag Miss Frances, ich freue mich Sie kennenzulernen.« Sein Akzent ist eindeutig britisch, und ich schätze ihn auf mindestens sechzig, wenn nicht sogar siebzig. »Ihr Hotel hat wirklich einen sehr schönen Pool.«
Mich innerlich windend, bleibe ich am Rand des Beckens stehen, verknote meine Finger vor dem Bauch und nicke dem Herrn zu. »Vielen Dank, Sir. Mein Boss wird sich freuen, dass er Ihnen so gut gefällt.«
Wenigstens klingt meine Stimme professionell, auch wenn ich meinen eigenen Pulsschlag in den Ohren pochen hören kann.
Er plätschert weiter vor sich hin. »Ich bitte darum. Sagen Sie, wie warm ist das Wasser?«
Da er ganz offensichtlich Europäer ist, mache ich die Angaben in der für ihn gewohnten Art. »Es sind sechsundzwanzig Grad Celsius.« Er presst zufrieden die Lippen aufeinander und erreicht den Beckenrand, direkt vor mir. Ich hole tief Luft. »Allerdings muss ich Sie bitten eine Badehose zu tragen, Sir. Nacktbaden ist aus hygienischen Gründen nicht bei uns gestattet.«
Er stößt sich vom Beckenrand ab und schwimmt auf dem Rücken wieder in die entgegengesetzte Richtung. JESUS! Ich versuche irgendwo anders hinzusehen.
»Das gefällt mir aber gar nicht«, ruft er. »Ich bin Nudist und darf sonst überall den Pool auf meine Weise nutzen. Mein Big Ben muss schließlich atmen.«
»Ihr was?«
Ich höre sein breites, selbstgefälliges Grinsen mit jeder Silbe seiner knappen Antwort. »Na, mein bestes Stück!«
Es ist wie bei einem Unfall. Ich will nicht, aber ich kann nicht anders, als hinzusehen … Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, schüttle ich den Kopf. »Na, wenn ich das richtig sehe, ertrinkt ihr Big Ben gerade ziemlich jämmerlich. Da ist nicht mehr viel mit atmen. Also ziehen Sie sich bitte eine Badehose an, Sir, oder Sie müssen den Pool verlassen.«
Aufseufzend unterbricht er sein Rückenschwimmen, und ich nehme erleichtert zur Kenntnis, dass sein Unterkörper wieder im Wasser verschwindet, als er Richtung Poolleiter paddelt. »Na gut, ich werde Ihnen den Gefallen tun. Nicht gern, aber ich mache es.«
»Danke sehr, Sir.«
Ihm zunickend, konzentriere ich mich für ein paar Minuten auf meine anderen Aufgaben. Ich überprüfe die Wasserqualität und ob genug Handtücher bereitliegen, während ich aus dem Augenwinkel mit Erleichterung registriere, dass Mr Grey tatsächlich seine Badehose anzieht, um gleich darauf wieder ins Wasser zu steigen. Hastig wünsche ich ihm einen schönen Tag und eile zurück ins Büro, wo Melody und Prakash vor den Überwachungsmonitoren sitzen und vor lauter Gelächter bereits dem Erstickungstod nahe sind. Für den Rest meiner Schicht beschließe ich kein Wort mehr mit ihnen zu wechseln und sie einfach zu ignorieren.
Ich übernehme den Rundgang durchs Haus. Gelangweilt drehe ich die Hauptschlüsselkarte in meinen Fingern hin und her, während ich den Korridor zu den Personalräumen entlanglaufe und dem einen oder anderen Kollegen grüßend zunicke, der mir entgegenkommt. Ich lasse das übliche Routineprogramm abspielen, kontrolliere Ordnung, Hygiene und Sauberkeit, weise auf Unstimmigkeiten hin und stehe mit Ratschlägen zur Verfügung, wo ich gebraucht werde. Immerhin funktionieren die Gästetoiletten im Erdgeschoss wieder einwandfrei.
Als ich den ersten Stock inspiziere, begegnen mir nur wenige Gäste und ein einsames Zimmermädchen bei der Arbeit. Die Kollegin ist mit der Reinigung des letzten Raumes auf der Etage beschäftigt, aus dem viel zu spät ausgecheckt wurde. Wir grüßen einander nur kurz, ehe sie mit frischer Bettwäsche wieder im Hotelzimmer verschwindet. Ich lasse den Korridor hinter mir, trete ins Treppenhaus und nehme die Stufen zum nächsten Stock. Auf der Hälfte der Strecke beginnt mein Handy anhaltend zu vibrieren. Ich ziehe es aus der Jackentasche, lese den Namen im Display und nehme den Anruf entgegen.
»Hey Olivia«, begrüße ich meine Ziehmutter erfreut.
»Hallo Schätzchen. Stör ich dich gerade?«
»Natürlich nicht.« Ich mache es mir auf der Treppenstufe gemütlich. »Ist alles okay bei euch?«
»Ja, mehr oder weniger.« Sie seufzt tief. »Joe ist schon wieder auf Geschäftsreise, und mir fällt die Decke auf den Kopf. Dieses unnütze Zuhause-Rumsitzen tut mir nicht gut.«
Ich nicke verständnisvoll. Die Mutter meines besten Freundes hat sich vor acht Jahren einen lang gehegten Traum erfüllt, als sie sich mit einem kleinen Floristikgeschäft selbstständig gemacht hat. Im vergangenen Monat sind die Räumlichkeiten ihres Ladenlokals dann an eine große Supermarktkette verkauft worden, und Olivia musste gehen. Sie hat alles, was sie besitzt, in der heimischen Garage zwischengelagert, aber eine neue Unterkunft für ihr Geschäft ist entweder unbezahlbar oder viel zu weit entfernt.
»Es wird sich ganz bestimmt noch was Passendes finden, wo du mit dem PurpleHeart weitermachen kannst«, versuche ich sie zu trösten. Ich weiß, wie sehr es sie nervt, untätig daheim herumzusitzen. Sie hat trotz drei eigener Kinder und meines Einzugs vor über neun Jahren immer voll gearbeitet. Ich bewundere sie so sehr für ihre Willenskraft und ihr unfassbares Organisationstalent, vor allem, weil ich selbst seit meinem Auszug von daheim immer noch die gleiche Chaotin bin. Ein Umstand, der meinen WG-Mitbewohner mit schöner Regelmäßigkeit in den Wahnsinn treibt. Er ist nämlich genauso ordentlich und durchorganisiert wie seine Mom.
»Ja, irgendwann ganz sicher. Wie geht’s dir und Raven?« Ihre Frage lenkt nicht grundlos von dem unliebsamen Thema ab, und ich nehme es ihr nicht übel. Die Frustration ist groß, und im Augenblick scheint sich für Olivia kein klarer Weg darüber abzuzeichnen, wie es weitergehen soll. Dass sie daran nicht ständig erinnert werden will, ist nachvollziehbar.
»Uns geht’s gut. Ravens Start-up hat sich prima etabliert bisher, und ich glaube, sie holen die ersten großen Aufträge rein.«
»Was ist mit dir?«
»Ich liebe meinen Job, obwohl ich meinen Boss manchmal verfluche.« Als ich ihr von Mr Grey berichte und Olivia in Gelächter ausbricht, kann auch ich endlich darüber schmunzeln.
»Auf was für Ideen manche Leute kommen!«
Ich rolle mit den Augen. »Im Grunde bin ich froh, dass er das nur im Poolbereich gemacht hat und nicht nackt durch die Lobby gewandert ist. Trotzdem würde ich es lieber sehen, wenn er künftig in einem anderen Hotel eincheckt.«
»Verständlich. Und was macht die Liebe?«
Ich verziehe das Gesicht, weil das eine dieser Fragen ist, von denen ich glaube, dass sie niemand von seiner Familie hören will. »Ich genieße mein Single-Dasein.«
»Das ist eine gute Idee. Raven ist vermutlich immer noch mit diesem Blondchen zusammen, oder?« Irgendwie war klar, dass sie das wissen will. Ich verziehe das Gesicht. Olivia hat beim letzten Barbecue keinen Hehl daraus gemacht, dass Ravens Freundin Pearl nicht gerade das ist, was sie sich für ihren jüngsten Sohn wünscht. Es war sogar ziemlich unangenehm, als sie halblaut meinte, sie hätte gedacht, dass ich mit Raven zusammen wäre, seit wir vor drei Jahren in das blaue, zweistöckige Haus in der Moore Street gezogen sind. Ich glaube, ich habe ein bisschen zu sehr gelacht. Raven und ich sind seit einer gefühlten Ewigkeit beste Freunde, manchmal mehr wie Geschwister oder ein uraltes Ehepaar, aber ich hatte niemals ernsthaftes Interesse an ihm als Mann. Ehrlich gesagt habe ich bis zur Eröffnung unserer WG sogar noch angenommen, er würde auf Jungs stehen … Und dann brachte er seinen ersten One-Night-Stand mit heim. Ich habe mit offenem Mund in der Tür zu meinem Schlafzimmer gestanden und ungläubig gelauscht, was da plötzlich für Geräusche aus Ravens Bude kamen. Das hat eine neue Ära eingeleitet, die mit Pearl vorläufig ihren Endpunkt fand. Im Gegensatz zu Olivia mag ich Ravens Freundin durchaus, sie ist süß, hübsch und wirklich nett – und sie tut Raven gut.
»Fran?«
»Äh, ja, sorry … Sie sind ziemlich glücklich miteinander, schätze ich.« Erneut dringt ein Seufzer an mein Ohr, noch herzzerreißender als der davor. Ich kichere.
»Ich versteh nicht, was er an ihr findet.« Das klingt ein bisschen, als wollte sie sich darüber beschweren, welche Wahl er getroffen hat. Ich verkneife mir eine Antwort, weil die nicht jugendfrei wäre und es Dinge gibt, über die ich nicht mal mit Olivia reden will. Seit dem Tod meiner Eltern vor fast zehn Jahren ist sie wie eine zweite Mutter für mich, und ich liebe sie wirklich innig, aber ich will auf keinen Fall mit ihr Ravens Sexleben diskutieren.
»Die beiden haben bald einjähriges Jubiläum«, werfe ich ein. »Sie sind einfach verliebt.«
»Ich wünschte, er hätte sich in dich verliebt«, gibt sie unumwunden zurück. Ich schüttle den Kopf.
»Olivia, hör auf. Das wäre total seltsam, Raven ist wie ein Bruder für mich. Wir sind nur beste Freunde.«
»Ihr steht einander viel näher als beste Freunde, ihr wart von Anfang an unzertrennlich, schon als Kinder. Ständig habt ihr wie Kleister aneinandergeklebt. Deine Mom und ich haben euch kaum auseinanderbekommen. Wir haben jedes Mal Streichhölzer gezogen, wer von uns euch abfüttern durfte, nur um euch nicht für ein schnödes Mittag- oder Abendessen zu trennen. Diese bemerkenswerte Bindung zwischen euch ist bis heute nicht gewichen. Ehrlich gesagt finde ich es erstaunlich, dass Pearl das so hinnimmt. Ich kenne genug junge Frauen, die damit nicht klarkämen.«
Ich sage nichts dazu, denn obwohl ich Pearl sehr schätze, weiß ich durchaus, dass mein inniges Verhältnis zu Raven für sie auch schwer zu akzeptieren ist und schon manches Mal für Streit zwischen den beiden gesorgt hat. Allerdings will ich Olivias Vorbehalte gegenüber der Freundin meines besten Kumpels nicht noch weiter befeuern.
Olivia seufzt. »Ich bin sicher, Louise würde das genau wie ich sehen: Ihr seid wie zwei Puzzleteile, die perfekt zusammenpassen, und trotzdem sucht ihr euch ständig das falsche Gegenstück aus.« Ich presse kurz die Lippen aufeinander, als sie meine Mom zum zweiten Mal erwähnt, bleibe aber stumm, während sie enthusiastisch weiterlamentiert: »Überleg mal, was ihr für hübsche Kinder produzieren würdet, und das entgeht mir jetzt alles, weil er sich von diesem Besen hat einfangen lassen.«
Ich lache laut auf. »Du bist unmöglich.«
»Das ist nur die Wahrheit, Schätzchen. Ich würde ja versuchen, dir Jayden aufzuschwatzen, aber der ist genauso stur und uneinsichtig wie sein Bruder und zieht es vor, Single zu bleiben, um sich auf seine Karriere zu konzentrieren. Neulich hat er doch gemeint, er wolle sich erst fest binden, wenn er sich eine finanzielle Grundlage geschaffen hätte … Als ich meinte, das könne dauern, bis er vierzig ist, hat er mir gesagt, dann müsse ich mich wohl früher an die grauen Haare gewöhnen als an Enkel.«
»Du hast es wirklich nicht leicht mit deinen Kindern«, bemerke ich spöttisch.
Olivia lacht. »Ja, los, bemitleide mich gefälligst – auf dich ist auch kein Verlass. Wofür setzt man Kinder in die Welt, wenn die einen nicht zur Oma machen?«
»Du bist viel zu jung, um schon Oma zu werden.«
»Wer sagt, dass ich das erst mit über sechzig werden will? Wenn ich mich kaum noch bewegen kann, weil mir alles wehtut, will ich keinem Kleinkind mehr hinterherhetzen müssen.«
Ich lege den Kopf schief. »Gut, das ist nachvollziehbar … und sehr pragmatisch.«
»Finde ich auch«, erwidert sie. Wir kichern beide. »Ach, Schätzchen, ihr fehlt mir alle. Dieses Haus ist viel zu groß für Joseph und mich, nachdem nun auch noch Nevaeh ausgezogen ist.«
Ich nicke verständnisvoll. Ravens kleine Schwester hat das elterliche Nest vor gerade mal einer Woche verlassen. Kein Wunder, dass Olivia die Decke auf den Kopf fällt.
»Willst du uns nicht mal übers Wochenende besuchen?« Der Vorschlag ist mir spontan über die Lippen gekommen, und normalerweise würde ich das vorher mit Raven abklären, ehe seine Mom uns heimsuchen darf, wie er es immer so schön nennt, aber sie tut mir einfach leid.
»Sobald du mir ein Pearl-freies Wochenende nennen kannst, komme ich sehr gern vorbei«, gibt sie erheitert zurück. Ich schmunzle.
»Ich arbeite dran und gebe dir dann Bescheid«, verspreche ich. Mein Blick geht zu der Uhr an meinem Arm. »Ich muss leider weitermachen hier.«
»Natürlich, Süße. Ich ruf dich demnächst nochmal an, wenn du daheim bist.«
»Montags ist immer mein freier Tag.«
»Ich versuch dran zu denken. Pass auf dich auf, Schatz. Bye.«
»Du auch, bis bald, Olivia.«
Als ich den Anruf beende, zeigt das Display ungelesene WhatsApp-Nachrichten an. Ich öffne den Messenger und tippe auf den Chat mit meiner besten Freundin Summer.
Summer: HOL MICH HIER RAUS!
Ich: Was ist los? Hast du jemanden gekillt?
Summer: Noch nicht. Aber viel fehlt nicht mehr.
Ich: Okay. Das klingt ernst. Was ist passiert?
Summer: Smitherson! Der Typ macht mich wahnsinnig. Er kontrolliert einfach alles. Selbst wenn ich nur zur Toilette will, muss ich mich abmelden.
Ich: Bist du sicher, dass er nicht bloß auf dich steht? ;-)
Summer: Du weißt nicht, wie er aussieht, sonst würdest du so etwas nicht fragen. Irgendwas stimmt mit dem nicht. Er verbarrikadiert sich ständig in seinem Büro. Niemand darf es ohne sein Beisein betreten oder ohne ihn drinbleiben. Weißt du, wie nervig das ist, wenn man einfach nur seinen Job erledigen will?
Ich: Ok. Das ist echt merkwürdig. Hast du darüber schon mit Prakash gesprochen?
Summer: Nope.
Ich: Dann hol das nach. Ruf ihn an oder schick ihm eine Nachricht. Er sollte das echt wissen!
Summer: Wird er nicht denken, ich spinne?
Ich: Das würde ich riskieren … Der Gf benimmt sich wirklich komisch.
Summer: Ich werde Prakash gleich eine Nachricht schicken.
Ich: Super :-)
Summer: Sag mal … Ich habe in etwa vier Wochen ein freies WE und könnte einen Tapetenwechsel gebrauchen. Ich würde euch gerne mal wieder besuchen kommen.
Ich: Das wäre schön! Ich quatsch mit Rave, vielleicht können wir ein BBQ machen :-P
Summer: Du denkst wieder nur ans Essen ;-)
Ich: Zum Glück bin ich da in passender Gesellschaft ;-P
Summer: Stimmt. Wenn es ums Essen geht, bin ich definitiv dabei ;-) Ich bring uns die passenden Getränke mit. Sag Bescheid, wenn es für euch passt. Ansonsten muss ich meine Schwester kontaktieren, ob sie Zeit hat … und ob ich in ihren perfekt strukturierten Tagesablauf mit drei Kindern passe.
Ich: Ich geb dir Bescheid :-* Halt solange die Ohren steif und pass auf dich auf. Wenn was ist, meld dich bitte! Luv u!
Summer: Mach ich! Luv u 2!
Wir verabschieden uns, und ich schiebe das Handy in meine Jackentasche zurück, um mich wieder an die Arbeit zu machen. Der Tag rennt an mir vorbei, während ich in unserem Büro neben der Buchung von ein- und auscheckenden Gästen noch mit Bestellungen für Verbrauchsmaterial und Sanitärartikel beschäftigt bin. Es ist nicht mehr lang bis zu meinem Feierabend, als mein Handy erneut summt. Weil ich gerade allein an der Rezeption stehe und kein Gast meine Aufmerksamkeit verlangt, erlaube ich es mir, einen kurzen Blick zu riskieren.
Zu meiner Überraschung ist es eine Nachricht von Jaxon, meinem Ex-Schwarm auf der Highschool, den ich erst am letzten Montag zufällig im hiesigen Supermarkt wiedergetroffen habe. Zu meiner Schande habe ich ihn fast nicht erkannt. Gekleidet in einen teuren Anzug und das Gesicht zur Hälfte von einem wilden Hipster-Vollbart bedeckt, sah er nicht mehr wirklich aus wie der Quarterback des Footballteams von vor neun Jahren. Über Tiefkühlpizza und Walnusseis hinweg hat er mir amüsiert zugezwinkert und ›Hallo Fran‹ gesagt, während ich ihn nur verständnislos angeglotzt und versucht habe, eine Information in meinem Hirn abzurufen, wieso zum Teufel er mir so bekannt vorkam. Ich war ziemlich erleichtert, dass er kein One-Night-Stand war, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte. Nach ein paar Minuten Smalltalk haben wir unsere Nummern ausgetauscht, und danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass er sich nun doch noch meldet. Ich vergewissere mich, dass mich niemand beobachtet, und tippe auf das Display, um den Chat zu öffnen.
Ich bin überrascht, dass er mich auf eine Spazierfahrt einlädt. Da ich in einer halben Stunde ohnehin hier fertig bin, stimme ich spontan zu. Ich freue mich, ihn wiederzusehen, auch wenn ich ein wenig mein schlechtes Gewissen niederkämpfen muss, weil ich meinem besten Freund bisher nichts von diesem Wiedersehen berichtet habe. Jaxon und er haben sich nicht gerade nahegestanden auf der Highschool – im Gegenteil. Als ich das Handy zurück in meine Tasche gleiten lasse, fällt es mir schwer, das breite Grinsen zu unterdrücken, das an meinen Mundwinkeln zieht. Im gleichen Augenblick kommt mein Boss um die Ecke, durchquert die Lobby und tritt auf die Rezeption zu. Er fuchtelt mit den Händen vor mir herum, ehe er sich halb über die Theke beugt.
»Gib mir Hauptschlüssel«, fordert er. »Wir habe schon wieder Problem mit Zimmer einsnullacht.«
»Melody ist gerade damit unterwegs und macht den Wellnessbereich dicht«, erwidere ich. »Soll ich nicht endlich einen Satz neuer Rohlinge bestellen?«
Er wendet sich schon halb ab, bleibt dann aber nochmal stehen und schüttelt vehement den Kopf. »Nein, nein, nein. Alt ist noch gut.«
Ich verziehe das Gesicht. So gut kann die Kundenkarte nicht mehr sein, wenn wir alle Nase lang mit dem Hauptschlüssel das Schließsystem an Zimmer einhundertacht zurücksetzen müssen. Prakash steuert allerdings schon den Korridor zum Wellness- und Sportbereich an, vermutlich um Melody mit dem Hauptschlüssel abzufangen. Ich wende mich achselzuckend meinem Kollegen Bijan zu, der gerade zum Beginn seiner Schicht eintrifft.
Ich bin noch dabei, ihn auf den neuesten Stand zu bringen und die Übergabe zu erledigen, als ich plötzlich Melodys laute Stimme höre, die sich uns rasch nähert. Überrascht schauen wir zum Wellnessbereich hinüber, wo sie in diesem Moment mit weit aufgerissenen Augen durch die Tür geschossen kommt, während Prakash ihr breit grinsend hinterherläuft und dabei irgendwas in seinen Händen hält.
»Geh weg!« Ihr Tonfall ist deutlich schrill, und ihre Stimme überschlägt sich fast, als sie sich zu ihm umdreht und mit dem Finger auf ihn zeigt. »Ich warne dich, Prakash. Wir sind die längste Zeit befreundet gewesen, wenn du das machst!«
Mein Boss lacht so sehr, dass er fast vornüberkippt. »Dein Kopf ganz rot! Du mach so Gesicht.«
Er schneidet eine Grimasse und lacht noch mehr. Kopfschüttelnd lasse ich Bijan an der Rezeption allein und bewege mich zu den beiden hinüber.
»Könnt ihr mir mal erklären, was ihr zwei schon wieder treibt?«, will ich wissen.
»Fran!« Melody wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu. Ihr ist anzusehen, dass sie zwischen hysterischem Gelächter und abgrundtiefem Ekel schwankt. »Er hat eine Kröte gefangen.«
Ich blinzle irritiert. »Wie kommt eine Kröte in den Poolbereich?«
»Was weiß ich? Vermutlich ist sie über die Außenterrasse gekrochen«, erklärt meine Kollegin aufgebracht und wirft Prakash einen bösen Blick zu. »Ich werde sie trotzdem nicht küssen.«
»Du mus. Du brauch gute Mann – vielleicht ist Prinz oder du bekomm Hollywoodstar.« Er macht einen Schritt auf Melody zu, und sie weicht Richtung Rezeption zurück.
»Ich komm prima ohne klar«, faucht sie ihn an. »Lass es bleiben!«
Prakash tut natürlich nicht, was sie sagt, sondern öffnet seine gewölbten Hände eine Winzigkeit. Im gleichen Moment springt die Kröte, die eher ein Frosch ist, in hohem Bogen dazwischen hervor und landet unmittelbar vor Melody auf dem teuren Läufer. Sie kreischt, macht auf dem Absatz kehrt und hechtet in der gleichen Sekunde mit solchem Elan über die Empfangstheke, dass James Bond blass vor Neid würde. Sie reißt den völlig überraschten Bijan mit sich, und die beiden verschwinden wie in einem Slapstick-Movie polternd hinter der Rezeption.
Mein Boss sackt mitten in der Lobby auf die Knie und kann sich nicht mehr halten vor Lachen. Tränen laufen ihm über das Gesicht, und es wird nicht besser, als Bijan mit zerzausten Haaren und breitem Grinsen im Gesicht wieder hinter dem Anmeldetresen auftaucht. Ich kann nicht anders, als in das Gelächter einzustimmen. Dennoch bin ich geistesgegenwärtig genug, den armen kleinen Frosch einzufangen und ihn durch den Hauptausgang in den Garten zu bringen. Als ich zurückkehre, hat sich die Situation einigermaßen entschärft. Melody ist mit gerötetem Gesicht und wirren Locken aus der Versenkung zurück und Prakashs kurz bevorstehender Atemstillstand gerade noch abgewendet worden.
»Kann ich jetzt nach Hause gehen oder wird das noch schlimmer?«, will ich wissen.
Mein Boss winkt wortlos mit der Hauptschlüsselkarte und wünscht mir einen schönen Feierabend, ehe er mit zuckenden Schultern Richtung Aufzug verschwindet. Bijan streicht sich belustigt die Haare glatt, und Melody gibt mir ein Zeichen, auf sie zu warten. Gemeinsam verabschieden wir uns von dem Kollegen, verlassen das Le Grand Malheur und gehen zum Parkplatz hinüber. Ein dunkelgraues Mercedes Cabrio steuert in die Einfahrt des Hotels. Immer noch kichernd deutet Melody auf ihren eigenen Wagen.
»Spring rein, ich nehme dich bis zur Bushaltestelle mit.«
»Lieb von dir«, erwidere ich mit einem Lächeln und bleibe stehen. »Aber heute habe ich meinen eigenen Chauffeur.«
Mich trifft ein überraschter Blick. Melodys Augen werden noch größer, als der graue Mercedes neben mir anhält und Jaxon aussteigt. »Oh.« Meine Kollegin verzieht die Lippen zu einem vielsagenden Lächeln. »Okayyy, dann wünsch ich dir mal einen besonders schönen Feierabend.«
Ich schüttle schmunzelnd den Kopf und winke ihr zu. »Den wünsch ich dir auch. Gute Nacht und schöne Grüße an den Frosch.«
Ich wende mich zu Jaxon um, der zu mir tritt, und begrüße ihn leise.
Das warme Timbre seiner Stimme schenkt mir ein wohliges Gefühl. »Hallo, du Hübsche.« Wir umarmen einander flüchtig, und ich bemerke sein Stirnrunzeln, als er fragt: »Deine Kollegin hat einen Frosch?«
Ich grinse amüsiert. »Noch nicht, aber sie ist auf der Suche.«
Er mustert mich verständnislos. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
»Das erkläre ich dir unterwegs.«
Kapitel 2
Raven
Ich schlinge mir die Krawatte um die Faust wie eine Bandage beim Boxen, greife nach der Aktentasche und klemme sie mir unter den Arm. Dann gehe ich zum Haus hinüber. Über den Gartenzaun winkt mir unsere Nachbarin Mrs Rhymes freundlich zu. Ich erwidere die Geste mit dünnem Lächeln und hoffe inständig, dass sie bleibt, wo sie ist. Leider werden meine stummen Gebete nicht erhört.
»Mr Mackenzie, Raven, auf ein Wort, bitte.« Innerlich stöhnend, bereite ich mich darauf vor, dass sie sich gleich wieder über den ungemähten Rasen vor oder den halb verwilderten Garten hinter unserem Haus beschwert. Ich habe mir schon unzählige Male vorgenommen, mich darum zu kümmern, doch seit mein Kumpel Bruce und ich vor acht Monaten mit unserem kleinen Software-Unternehmen gestartet sind, geht der größte Teil meiner früheren Freizeit für den Job drauf. Ich liebe die neue Freiheit, die unsere Selbstständigkeit mit sich bringt, aber ich bin mir auch darüber bewusst, dass wir einen hohen Preis dafür zahlen müssen, bis wir uns am Markt etabliert haben. In der Theorie war es deutlich weniger anstrengend, sein eigener Boss zu sein.
»Mrs Rhymes. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich muss Sie um einen großen Gefallen bitten, Raven. Sie wissen sicher, dass ich nächsten Monat meine Schwester in Charlotte besuchen will!?«
Ich erinnere mich schwach daran, dass Fran mir irgendwas davon erzählt hat, dass unsere Nachbarin demnächst verreist. Allerdings habe ich nur mit halbem Ohr zugehört und keine Ahnung von den Details. Trotzdem zwinge ich ein höfliches Lächeln auf meine Lippen und antworte, ohne zu zögern mit »Sicher!«.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie sich um meine Katzen nicht kümmern müssen. Meine Lieblinge werden während meiner Abwesenheit in einer Pension betreut. Sie müssen also nur die Pflanzen gießen und meine Post ins Haus holen – und natürlich ein Auge darauf haben, dass sich keine merkwürdigen Gestalten bei mir herumtreiben.«
»Natürlich, das werden wir.« Ich nicke ihr zu. Als sie keine Anstalten macht wieder zu gehen, frage ich sie fast schon ein bisschen zu unwirsch: »Ist sonst noch was?«
»Wer war denn der nette junge Mann gestern, der Ihre Mitbewohnerin nach Hause gebracht hat?«
Ich blinzle irritiert und ziehe im gleichen Moment die Schultern nach oben. »Keine Ahnung, ich habe um die Zeit vermutlich noch gearbeitet.«
Mrs Rhymes schüttelt fast schon ein bisschen enttäuscht den Kopf, ehe sie sich abwendet. »Ihr jungen Leute arbeitet zu viel. Als ich in eurem Alter war, hatte ich mehr Spaß. Schönen Abend noch.«
Ich verabschiede mich und gehe die Stufen zu der kleinen Veranda hinauf. Mir fällt auf, dass die weiße Farbe vom Geländer abblättert, und auch unser Häuschen bräuchte dringend einen frischen Anstrich. Mit einem Seufzer ignoriere ich die offensichtlichen Baustellen und ziehe meinen Schlüssel aus der Tasche. Keine fünf Sekunden später fällt hinter mir die Tür ins Schloss.
»Ich bin zuhause!«, rufe ich in den Flur hinein.
»Ich auch!«, schallt es aus der Küche zurück. Der vertraute Duft von italienischen Kräutern und köstlicher Lasagne vermischt sich mit der Essenz von Orangenblüten und Meister Proper. Als ich mein Jackett an die Garderobe hänge, fällt mir auf, dass der Spiegel über der kleinen Kommode frisch poliert ist. Ein zweiter Blick zeigt mir, dass die Garderobe nicht mehr voller Winterjacken hängt und die Schuhablage von einem guten Dutzend Stiefeln und Sneaker erleichtert wurde. Offenbar hat Fran an ihrem freien Montag die Putzwut gepackt. So aufgeräumt war es hier schon lange nicht mehr. Da sie sonst immer die Chaotin in unserer Wohngemeinschaft ist, bin ich unmittelbar alarmiert. Normalerweise räumt Fran immer dann so sorgfältig auf, wenn sie irgendwas ausgefressen hat. Mein Verdacht bestätigt sich, als ich die Küche betrete und sie dabei überrasche, wie sie die schmutzigen Töpfe, die sie für das Essen gebraucht hat, von Hand abwäscht, statt sie in die Spülmaschine zu räumen.
***
Ich deute mit dem Zeigefinger auf sie, als ich mich neben ihr gegen die Küchenschränke lehne. »Wer bist du, und was hast du mit meiner Freundin gemacht?«
Irritiert mustert sie mich. »Was soll das denn heißen?«
»Du wohnst seit drei Jahren hier, aber das ist das erste Mal, dass ich nach Hause komme und die Bude nicht ausschaut, als wäre ein SWAT-Team hindurchgetobt.«
Fran lacht. »Also ehrlich, wenn ich nicht aufräume, meckerst du, und wenn ich mich dazu erbarme, bist du auch nicht zufrieden.«
Ich kann nicht verhindern, dass meine Zweifel sich in meinem Gesicht widerspiegeln. »Es ist Montag – und du hattest frei. Normalerweise gehst du shoppen, kümmerst dich um die Wäsche und liegst anschließend völlig erschöpft auf dem Sofa.« Ich deute auf die Tür zum Korridor. »Du hast die Bude geputzt und sogar schon Essen gemacht. Was ist hier los?«
Fran schürzt die Lippen. »Nichts ist los … Mir war danach.«
»Warum?«
»Was heißt warum?«
»Es muss dafür irgendeinen Grund geben. Du weichst normalerweise nie von deinen Gewohnheiten ab.«
Sie rollt mit den Augen. Diese Geste nervt mich jedes Mal, und ich würde sie dafür am liebsten übers Knie legen. »Was du dir wieder einbildest.«
»Ich kenne dich lang genug, um zu wissen, wenn was im Busch ist.«
»Vielleicht versuche ich meine alten Gewohnheiten gerade ein bisschen abzulegen«, erwidert sie. Mir entgeht nicht, dass sie angespannt wirkt. »Lass mich doch einfach mal was Neues ausprobieren.«
»Wieso beruhigt mich diese Aussage nicht?«
»Weil du paranoid bist«, stellt sie spöttisch fest.
Ich mustere sie ein letztes Mal zweifelnd, ehe ich mich abwende und zurück Richtung Korridor laufe. »Ich geh mich umziehen. Wie lang braucht das Essen noch?«
»Mindestens eine Stunde. Ich habe es eben erst in den Ofen geschoben.«
»Okay.«
Irgendwas ist im Busch, das sagt mir mein Instinkt. Der schreit auch gleich noch lauter auf, nachdem ich die Treppe hinaufgeeilt bin und die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist. Ich bemerke sofort, dass sie hier drin ebenfalls den Staubsauger geschwungen hat. Für mich heißt das: Alarmstufe Rot! Fran betritt niemals mein Schlafzimmer, um hier zu sauber zu machen. Stirnrunzelnd tausche ich Hemd und Hose gegen mein Sportzeug. Hängt das mit dem Typen zusammen, der sie nach Hause gebracht hat? Wenn es Frans Boss oder einer ihrer Kollegen gewesen wäre, hätte Mrs Rhymes das doch gar nicht weiter erwähnt, oder? Ich ärgere mich ein bisschen, dass ich nichts davon mitbekommen habe, weil ich gestern Abend im Wohnzimmer an meinem Laptop saß. Vielleicht sollte ich mir abgewöhnen daheim so viel zu arbeiten. Als ich wieder nach unten gehe, hockt Fran auf dem Sofa, und der Fernseher läuft. Das wäre das übliche Bild gewesen, wie ich es kenne, wenn ich an ihrem freien Tag nach Hause komme. Ich steige über die Rückenlehne aufs Sofa und lasse mich neben sie fallen. Fast stößt sie das Lackfläschchen um, aus dem sie den Pinsel zieht, um ihre Fingernägel zu bemalen. Ich mustere sie aufmerksam.
»Also, was hast du ausgefressen?«
»Muss ich immer gleich irgendwas angestellt haben, nur weil ich mal versuche, ein bisschen ordentlicher zu sein?«, will sie wissen.
»Ja«, erwidere ich trocken. Fran verzieht das Gesicht, schraubt den Nagellack zu und lehnt sich in die Polster zurück. Dann streckt sie ihre Beine aus und legt sie auf meinem Schoß ab. Automatisch spanne ich die Beinmuskeln an.
»Bist du so lieb?« Fran lässt ihre Zehen wackeln, grinst mich frech an und klimpert mit ihren Wimpern. Ich kann nicht verhindern, dass es in meinem Mundwinkel zuckt. Sie reicht mir das Fläschchen.
»Du schindest Zeit«, bemerke ich. »Nun sag schon, was hast du verbockt?«
»Ich hab gar nichts verbockt. Ich hatte nur Zeit und dachte, die könnte ich mal effektiv nutzen.«
»Ich glaube dir kein Wort!« Ich beginne ihre ersten Zehennägel anzumalen, und sie entspannt sich neben mir.
»Wie war dein Tag?«, will sie unerwartet wissen. Ich hole schon Luft, um zu antworten, als es aus ihr herausplatzt: »Du wirst nie erraten, wen ich wiedergetroffen habe!«
»Du wirst es mir sicher gleich erzählen«, stelle ich ungerührt fest und lackiere vorsichtig weiter.
»Jaxon Hill.« Der Pinsel streicht einmal quer über ihre Zehen und hinterlässt einen türkis glitzernden Streifen auf Frans Haut. Als ich den Blick hebe, klappt ihr der Mund auf. »Heyyy …«
»DER Jaxon Hill?«
»Ja.« Sie deutet auf ihren Fuß. »Deshalb musst du aber nicht gleich versuchen, mich im Nagellack zu ertränken.«
Ich stelle das Fläschchen weg und schubse ihre Beine von meinem Schoß herunter.
»Wo bist du dem Idioten denn begegnet?«, will ich wissen. Ich bemühe mich gar nicht erst, meinen Unmut darüber zu verstecken, dass mir dieses Wiedersehen zwischen ihnen nicht gefällt.
»Letzte Woche im Supermarkt. Wir sind uns zufällig an der Tiefkühltheke begegnet.«
»Zufällig«, wiederhole ich gedehnt. »Klar, das Leben ist voll von solchen Zufällen …«
»Ach, komm schon, Rave.«
Ich zucke mit den Schultern. »Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«
Fran versucht mit Nagellackentferner den Glitzerstreifen auf ihren Zehen wegzuwischen, aber der Lack ist hartnäckig. »Na ja, ich weiß ja, dass ihr euch zu Highschoolzeiten nicht so sehr gemocht habt. Du warst in den vergangenen Tagen ziemlich gestresst von der Arbeit und so … Da wollte ich nicht noch Öl ins Feuer gießen.«
Ich nicke und murmle gedankenverloren: »Tja, es war wohl nur eine Frage der Zeit, wann das passiert.«
Diesmal runzelt sie die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Er arbeitet seit mehr als einem Monat für Genco Entertainment.«
»Euren Mitbewerber?«
»Seit heute unser direkter Konkurrent«, erwidere ich unbehaglich.
Fran wirkt ehrlich überrascht. »Inwiefern?«
»Sie haben sich auch für die Ausschreibung von TCI angemeldet. Wir haben nächste Woche ein erstes großes Meeting.«
»Oh.«
Ich mustere sie mit hochgezogener Braue. »Hat der liebe Jaxon dir nichts davon erzählt?«
»Nein.« Ihre Augen werden schmal, und sie spielt mir den Ball der Provokation locker zurück. »Ebenso wenig wie mein bester Freund, um genau zu sein.«
Ich verziehe die Lippen. »Du hörst mir die halbe Zeit nicht zu, wenn ich mit dir über meinen Job reden will.«
»Weil du jedes Mal verdrängst, dass ich nicht Sheldon Cooper heiße«, erwidert sie kopfschüttelnd. »Du fängst an über Bits und Bytes und irgendwelche Algorithmen zu reden, und ich verstehe gar nichts mehr. Wieso hast du mir nicht erzählt, dass Jaxon bei Genco arbeitet?«
»Ich wusste nicht, dass dich das nach all der Zeit noch interessiert. Immerhin hat er dich damals beim Abschlussball wortlos abserviert.«
Sie zieht eine Schulter hoch. »Das ist schon eine Ewigkeit her.«
»Du hast ihm auch eine Ewigkeit hinterhergetrauert.«
»Die Zeiten ändern sich.«
»Triffst du dich deshalb heimlich mit ihm?« Meine Frage ist nur ein Schuss ins Blaue, aber ihr Gesichtsausdruck zeigt mir ganz klar, dass mein Gefühl mich nicht trügt.
»Ich treffe mich nicht heimlich«, hält sie mit roten Wangen dagegen.
»Nicht?«
»Okay, wir haben einen Kaffee zusammen getrunken, nachdem wir uns im Supermarkt getroffen haben, und er hat mich gestern nach Hause gebracht. Mehr ist da nicht gewesen, ich schwöre.«
»Du weißt schon, dass er dich nur abschleppen will?« Sie schweigt, was mich fast noch mehr ärgert als ihr ständiges Augenrollen. »Du erwartest keine ernsthaften Absichten bei ihm, oder?«
»Er kann sich geändert haben.«
»Er war immer so und wird immer so sein«, erwidere ich. »Das Leben ist nicht wie in einem deiner kitschigen Liebesromane, wo die weibliche Protagonistin den Bad Boy aus seinem lieblosen Dasein rettet und er fortan zu ihrem kopulierungswilligen Schmusekater avanciert.«
Fran verzieht die Lippen zu einem breiten Lachen. »Ihrem was?«
»Du hast mich schon verstanden – und du weißt auch, was ich meine. Bleib einfach realistisch. Alles, was Jaxon von dir will, ist dich zu einer Kerbe in seinem Bettpfosten zu machen.«
»Du hältst ja große Stücke auf mich«, beschwert sie sich halbherzig.
Ich schüttle den Kopf. »Versteh mich nicht absichtlich falsch, Fran. Du bist mehr wert als tausend seiner Art. Lass dich nicht von ihm blenden, nur weil du als Teenager mal in ihn verliebt warst. Typen wie er ändern sich nicht – egal wie sehr ihr Frauen euch das einzureden versucht. Er ist ein Arschloch, und das bleibt er, selbst wenn du ihm ein Dutzend weiterer Chancen gibst.« Rasch erhebe ich mich und mache einen Schritt vom Sofa weg. »Ich weiß, dass dir nicht gefällt, was ich sage, aber du bist meine beste Freundin, und wir sind immer ehrlich zueinander. Ich will nicht, dass du verletzt wirst, weil du dir mehr erhoffst, als er zu geben bereit ist.«
»Das werde ich nicht.«
»Das hoffe ich … Für dich.«
Der Blick, mit dem sie mich bedenkt, gefällt mir gar nicht. »Ich frage mich ernsthaft, warum du ihn so sehr hasst?«
»Ich hasse ihn nicht«, entgegne ich ruhig. »Allerdings gebe ich zu, dass ich seine Anwesenheit nur schlecht ertrage.«
»Kommst du trotzdem damit klar, wenn ich ihn date?«
»Das tust du doch schon.«
Sie schneidet eine Grimasse. »Ich meine, wenn ich offiziell am Samstag mit ihm ausgehe.«
»Du brauchst mein Einverständnis nicht«, erwidere ich. Fran mustert mich mit hochgezogenen Brauen.
»Vielleicht möchte ich es trotzdem haben. Ich will nicht, dass das zu einem Problem
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Ewa Aukett
Bildmaterialien: © Shutterstock
Cover: Anne Gebhardt, www.annegebhardt.design
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 25.06.2021
ISBN: 978-3-96714-147-4
Alle Rechte vorbehalten