Die neue Fantasy-Romance von Bestseller-Autorin Ewa Aukett, bekannt durch ihre Topseller-Liebesromane wie „Atem auf deiner Haut“, „Déviance - Gefährliche Lust“, „Nur dieses eine Mal“ u.v.m.
Lee hat mit dem Sprung von der Brücke dem sicheren Tod entgegengeblickt und findet sich stattdessen scheinbar im mittelalterlichen Schottland wieder. Halb erfroren, wird die verwirrte Frau zur Burg des Clanherrn gebracht. Als sie Royce McCallahan gegenübertritt, spürt sie, dass hier Mächte am Werk sind, die mit Logik und Vernunft nicht erklärt werden können. Für Lee beginnt ein unglaubliches Abenteuer, bei dem sie lernt, dass Zeitreisen, Schwertkämpfe und Clanfehden ihre Bedeutung verlieren, wenn es um die eine große Liebe geht.
Doch was hat es mit den Legenden um den Drachen auf sich, der das Wappen des McCallahan-Clans ziert? Und wieso ist sie in dieser Welt gelandet, in der immer mehr rätselhafte Prophezeiungen über ihr Schicksal ans Licht kommen? Warum nur fühlt sich dann alles so seltsam vertraut an?
Als ihr Retter sie zur Burg seines Herrn bringt und sie Royce McCallahan gegenübertritt, spürt sie eines in aller Deutlichkeit: Ihr Leben wird vom heutigen Tag an nie wieder so sein, wie es war.
... meinen wunderbaren TestleserInnen:
Agnes, Andrea, Any,
Carmen, Christin, Christina,
Farina, Gabi, Gabi, Gaby,
Gila, Isabel, Janine,
Kirsten, Liesel, Lydia,
Margit, Marion, Monika,
Rudolf, Saskia, Selma,
Silke, Simona, Ste,
Svatia, Tamara
und
meiner Ma :)
... und dem tollen Team von BookRix:
Alex, Andreas, Gunnar, Heike, Julia, Lisa, Marc, Nils, Sandra
Ihr seid Inspiration und Motivation.
Ihr seid der Grund niemals aufzugeben.
Danke.
Lee
Royce McCallahan
Wulf
Graeman
Malissa
Braga
Edda
Calaen
Eadan
Vates
Gallowain
Tòmas Fitard
Deutschland im Januar
Gegenwart
Eisig war der Wind, der ihr ins Gesicht schlug. Er zerrte an ihren Kleidern wie ein Kind, das versuchte, um jeden Preis die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erhaschen.
Auf ihren Armen richteten sich die Härchen auf. Ein Nebeneffekt der Gänsehaut, die sie erschaudern ließ.
Sie fühlte sich seltsam, fast ein wenig euphorisch.
Fröstelnd zog sie die Schultern hoch, als die nächste Böe sie erfasste. Ein unangenehmes und zugleich wohliges Prickeln wie von tausend winzigen Nadelstichen malträtierte ihre zarte Haut.
Es war kalt, richtig kalt.
Tief unter ihr dröhnte das Rauschen der tosenden Wassermassen, die sich durch das Flussbett wälzten, jeden Gedanken und jedes Gefühl betäubend. Bedrohlich und mitleidlos versprachen sie den sicheren Tod.
Als sie hinabblickte in die Dunkelheit, verspürte sie die vertraute Sehnsucht. Sie hatte sich sorgfältig auf diesen Tag vorbereitet, doch in die Gewissheit, die sie über so lange Zeit empfunden hatte, mischte sich plötzlich der Hauch eines Zweifels.
War das wirklich ihr Weg?
Vielleicht gab es doch noch eine andere Möglichkeit.
Lächelnd schloss sie die Augen und die kalte Nachtluft strömte fast schon schmerzhaft in ihre Lungen. Die Lethargie und Furcht, die sie all die Monate geradezu erstickt hatten, all der Zorn, der sie in den letzten Tagen erfüllt hatte ... für einen Moment schien es sie von innen heraus zerreißen zu wollen.
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, ihre Entscheidung stand fest und es gab kein Zurück.
Die Unsicherheit verschwand ... einfach so.
Erleichtert hob sie das Kinn und blickte zum dunklen Firmament hinauf.
Nie war der Himmel so klar gewesen.
Nie hatten die Sterne so hell geleuchtet und der Mond so bleich und beeindruckend auf sie herabgesehen.
Ihr Lächeln vertiefte sich.
Ein warmes Gefühl stieg in ihr auf und tröstete sie. Sie wusste nicht, wie sie es benennen sollte. Es war wie die Erwartung dessen, was danach kam ... ähnlich einer Umarmung. Fast wie früher, wenn sie eine lange Reise beendet und sich auf daheim gefreut hatte.
Sie hatte bereits viel zu lang gezögert.
Worauf hatte sie gewartet?
Es war Zeit ... schon so lange Zeit.
Ihre Hände glitten über das kalte Metall des Brückengeländers. Sie fühlte die Risse in dem alten, brüchigen Lack und die abblätternde Farbe unter ihren Fingern.
Der Lärm der Stadt, der Menschen und der Autos rückte in weite Ferne.
Hinter ihr lag eine Welt, die sie verstoßen hatte. Eine Welt, der sie selbst nun den Rücken kehrte.
Dies war der richtige Weg.
Es war ihr Weg ... und es war Zeit, sich von diesem Leben zu lösen, das schon so lange keines mehr war.
So viele Enttäuschungen, so viel Schmerz, den Worte und Taten ihr bereitet hatten. So viele Menschen, von denen sie einst dachte, sie wären Freunde, und die sie schmählich im Stich gelassen hatten, als sie sie am dringendsten gebraucht hätte.
Nein.
Es gab keinen Weg zurück.
Doch es gab einen nach vorn.
Den Kopf hoch erhoben, schloss sie erneut die Augen und atmete tief ein. Die eisige Luft füllte ihre Lungen und der Geschmack von Schnee benetzte ihre Zunge.
Zeit zu gehen.
Ein Finger nach dem anderen löste sich vom Brückengeländer.
Sie spürte den Wind, der an ihren Kleidern zerrte.
Sie lächelte.
Es fühlte sich an wie ... nach Hause zu gehen.
Langsam lehnte sie sich vor. Der Beton unter ihren Füßen wich zurück und die Nacht umfing ihre Gestalt in einer zärtlichen Umarmung.
Kälte wich lauer Wärme, seidenweich und tröstend. Schwerelos schien sie dahinzugleiten, schwebend in der Sphäre des Augenblicks.
Ihre Lider hoben sich und sie blickte dem silbrig glänzenden Wasser entgegen, in dessen Wirbeln sich das Mondlicht brach.
Schneller, immer schneller.
Sie würde frei sein ... endlich frei sein!
Ihr Fall war stumm und ihr Körper versank im Tumult der nahen Stadt lautlos in der wogenden Finsternis. Schatten huschten vor ihren Augen und nebelige Schleier verwirrten ihre Sinne.
Unnachgiebig flocht der Fluss sie in seinen eisigen Griff ein, und als ihr Herz in dieser Welt den letzten Schlag tat, lag ein friedliches Lächeln auf ihren Lippen.
Die Kreuzung am alten Handelsweg, Sijrevan
Im Nebelung (November), Anno 1585
Mühsam öffnete sie die Augen einen Spaltbreit. Das helle Licht brannte sich erbarmungslos in ihren verschwommenen Blick und sie kniff gequält die Lider aufeinander.
Wo war sie?
Etwas klopfte beharrlich gegen ihre schmerzende Schulter.
War die Nacht schon wieder vorbei?
Sie wollte nicht ... nicht jetzt.
Eben noch war da dieser Traum gewesen, wunderschön und voller Glück. Weitläufige, grüne Wiesen, ein endlos blauer Himmel und die Sonne, die ihre Haut wärmte ... und hinter ihr eine breite Brust, gegen die sie gesunken war.
Arme, die sie umfingen.
Sie war daheim gewesen.
Wer weckte sie nun?
Ihre Eltern?
Ihre Geschwister?
Bilder in ihrem Kopf ... ein lächelndes Gesicht, umrahmt von braunem Haar ... eingebettet in eine Wolke aus wattigem Weich. Dunkle Schatten unter den sanften, liebevollen Augen ... bleiche Haut und ein letzter Gruß. Etwas bohrte sich in ihre Brust und hinterließ einen brennenden Schmerz tief in ihrem Herzen.
Wer war das?
Blinzelnd und eine Hand vor das Gesicht gehoben, kämpfte sie sich in die Gegenwart und sah nichts außer einem eintönigen, hellen Grau, das sie umgab. Nur langsam klärte sich ihr Blick und ein riesiger, schemenhafter Umriss manifestierte sich vor ihr zu einer Art behaartem Ungetüm.
Entsetzt riss sie die Augen auf und versuchte, vor dem Monstrum zurückzuweichen. Unsanft stieß sie mit dem Rücken gegen etwas Hartes, Unnachgiebiges und zuckte zusammen.
Ihr Kopf ruckte herum.
Kälte!
Eisige, nasse Kälte, die sie einhüllte wie eine weiche Decke. Eine ziemlich frostige Decke. Plötzlich holte sie die Wirklichkeit ein und die Realität stürmte mit Gewalt über sie hinweg.
Sie fror.
Ihre Finger fühlten sich an, als säße sie in einem Trog voller Eis. Zitternd holte sie Luft. Ihr Blick zuckte fort von dem Scheusal vor ihr und strich über das, was sie umgab. Eine weiße, hügelige Landschaft und dazu ein grauer Himmel, soweit das Auge reichte ... faszinierend und wunderschön.
So viel Weite, so viel Licht.
Die Umgebung fühlte sich vage vertraut an, auf merkwürdige Art und Weise ... als wäre sie lange nicht hier gewesen. Dennoch war sie sich sicher, das alles hier zum ersten Mal zu sehen.
Wo war sie?
Verwundert blickte sie sich um.
Warum saß sie mitten in einer Schneewehe und lehnte sich gegen einen alten, knorrigen Baum?
„Bist du also endlich erwacht, Junge?“
Irritiert über die Worte und den seltsamen Dialekt, den er sprach, runzelte sie die Stirn und erkannte schließlich das mürrische Gesicht eines bärtigen Mannes unter einer gigantischen Fellmütze, die ihn fast völlig verbarg.
Ihr Ungetüm war also ein Mensch!
Seine Kleidung war - gelinde gesagt - merkwürdig.
Ein dunkelbrauner, zotteliger Mantel, der aus Tierfellen zusammengenäht worden war, lag über seinen Schultern. Hässliche Stiefel aus undefinierbaren, ledrigen Häuten bedeckten seine Füße bis zu den Waden und ein wollener Rock endete kurz über den Knien nackter, stark behaarter Beine.
Wer war das?
Und was war er?
Ihr schwindelte.
Blinzelnd lenkte sie ihren Blick auf sich selbst.
Schmuddelige, graue Hosen bedeckten ihre Beine und ein dicker Pullover aus kratziger, brauner Wolle hüllte ihren restlichen Körper ein. Alles war schmutzig ... von einer dünnen, trockenen Schicht Dreck bedeckt.
Sie fühlte sich merkwürdig in dieser unförmigen Kleidung, die sie verunstaltete, ihr jedoch keinen Schutz gegen die Kälte bot. Zu verwirrt, um einen Ton von sich zu geben, blieb sie sitzen.
Wo zum Teufel war sie?
Dies war nicht ... war nicht ... ja, was eigentlich?
Sie presste eine Hand gegen ihre Schläfe.
Ihr Schädel dröhnte.
Seltsame Bilder wechselten sich mit unverständlichen Erinnerungsfetzen in ihrem Kopf ab.
Was war passiert?
Warum saß sie hier barfuß im Schnee?
Und wer war dieser Fremde, der aussah, als hätte er mit seinen eigenen Händen einem Bären das Fell abgezogen und es sich als Mantel um die Schultern gelegt?
Ein Schaudern überlief sie und das lag nicht nur daran, dass sie so entsetzlich fror. Irgendetwas lief hier ganz fürchterlich falsch.
Gleichgültig, was für ein Ort dies war oder wer dieser Mann war ... sie gehörte hier nicht hin.
Warum nur konnte sie sich dann nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war?
Träumte sie immer noch?
War das alles gar nicht real?
Sie streckte einen Arm aus und berührte den Schnee. Er war real. Kalt und nass. Er raubte ihr die Wärme und das Leben. Das Zittern, das sie gefangen hielt, wurde schlimmer.
Sie blinzelte.
Unmöglich!
Ihre nackten Füße fühlten sich an wie Eisklötze und vermutlich würde sie sich eine Blasenentzündung holen, wenn sie hier noch länger sitzen blieb.
Dennoch war sie unfähig, sich zu bewegen.
Alles hier fühlte sich fremd und falsch an.
WO war sie?
„Kannst du mich verstehen, Junge?“
Verstört betrachtete sie den Hünen, der sich in diesem Augenblick über sie beugte und ihr ungefragt eine Felldecke um die Schultern legte.
Verstehen?
Ja, sie konnte verstehen, was er sagte.
Allerdings war sie nicht sicher, ob er auch sie verstehen würde. Der Fremde griff nach ihren Armen und zog sie vom Boden hoch. Ihre Beine protestierten einen Moment, ehe sie ihr Gleichgewicht fand und mit wackligen Knien stehen blieb.
Vielleicht gehörte sie doch hierher und sie hatte es nur vergessen, so, wie sie offenbar auch alles Andere vergessen hatte - woher sie kam, wer sie war, ihren Namen, ihr ganzes Leben ...
Neben all der Andersartigkeit ihres Gegenübers und einer Landschaft, die unnahbar und ablehnend wirkte, stieg eine eigenwillige Erkenntnis in ihr auf.
Obwohl sie mit beiden Füßen im kalten Schnee stand und ihre Kleidung fast gänzlich durchtränkt war von der Nässe des Winters, spürte sie plötzlich Hitze in sich aufsteigen. Eine Hitze, die unter ihren Fußsohlen begann und sich durch ihre Adern zu wühlen schien ... und mit der Wärme kam ein ganz neues Gefühl.
Fast schon unpassend und gleichzeitig so intensiv, dass es sie erneut schwindelte.
Zuhause.
So fremd diese Welt ihr auf den ersten Blick sein mochte, irgendetwas daran war ihr dennoch vertraut. Es war ihr auf eine Weise vertraut, die sie nicht zu beschreiben vermochte. Wie ein tiefes, vibrierendes Grollen, das sich seinen Weg durch ihr Blut bahnte und mit dem Schlagen ihres Herzens verschmolz.
Ihr Gegenüber gab einen unartikulierten Laut von sich.
Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Trotz des finsteren Stirnrunzelns und der zusammengepressten Lippen lag ein nachsichtiger Zug um seine braunen Augen.
Augen, die sie mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn betrachteten - und die auf die gleiche Weise vertraut wirkten wie alles um sie herum.
Was war hier los?
„Wo bin ich?“, hörte sie sich plötzlich fragen.
Eine seiner buschigen Brauen rutschte unter das verfilzte Haupthaar. Er wirkte belustigt und fast ein wenig verwundert.
Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander.
Wieso fror sie immer noch, obwohl ihr warm war?
„Also hast du doch eine Stimme. Ich fürchtete schon, in der Kälte wärest du stumm geworden.“
Er schlang die Decke mit geübten Griffen fest um ihren klammen Leib.
„Es grenzt an ein Wunder, dass du noch lebst. Hätte ich dich nicht zufällig gefunden, wärest du schon bald Gevatter Tod begegnet.“
Seine Art zu sprechen war seltsam ... irgendwie altmodisch. Sie starrte ihn einen Augenblick nachdenklich an und ließ den Blick an ihm und seinem gewaltigen Pferd vorbei über die Landschaft schweifen.
„Wo bin ich?“, wiederholte sie ihre Frage, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört. Die Stirn des Riesen legte sich in tiefe Falten. Ein Anflug von Skepsis zeigte sich in seinen Augen.
„Du befindest dich auf den Ländereien von Master Royce“, gab er bedächtig zurück und beobachtete mit unverkennbarer Anspannung ihre Reaktion.
Sie zuckte mit den Schultern.
Sollte ihr der Name irgendetwas sagen?
Worauf auch immer er zu warten schien, sie hatte keine Ahnung, was es war. Stattdessen erwiderte sie fragend seinen Blick. Seine dunklen Brauen zogen sich fast schon drohend zusammen.
„Du befindest dich im sijrevanischen Hochland, Bursche. Dies ist kein Ort für jemanden wie dich. Wenn Fitard dich gefunden hätte, säße dein Kopf vielleicht schon nicht mehr auf deinem Hals. Obschon der Tod noch der angenehmste Weg wäre, eine Begegnung mit ihm zu beenden.“
Sie starrte ihn nur stumm an.
Sijrevanisches Hochland?
Fitard?
Was zum Henker erzählte er ihr da?
„Wie ist dein Name?“, wollte der Riese wissen.
Ihr geistesabwesender Gesichtsausdruck vertiefte sich.
„Mein Name?“, wiederholte sie fragend.
Er musterte sie von Kopf bis Fuß, als begänne er ernsthaft, an ihrem Verstand zu zweifeln.
„Ja, wie ruft man dich?“ Er deutete auf sich selbst. „Mein Name ist Wulf.“
„Oh.“ Sie verstand durchaus, was er meinte, das Problem war nur, sie kannte die Antwort nicht. „Ich ... weiß es nicht.“
„Du kennst deinen eigenen Namen nicht?“
Den Kopf schief gelegt, zuckte sie mit den Schultern.
„Ich weiß nicht einmal, wie ich hergekommen bin.“
Das Misstrauen in seinem Blick wuchs von einem Moment auf den anderen. Er betrachtete sie für ein paar endlos scheinende Sekunden stumm, ehe er sich nachdenklich über den Bart strich.
„Das wird meinem Herrn nicht gefallen.“ Wulf schüttelte den Kopf. Als sie sich die Decke enger um die Schultern zog, weil die Kälte sie mit heftigem Zittern überrannte und auch die restliche Wärme in ihrem Inneren vertrieb, trat er einen Schritt zurück und deutete auf den riesigen Gaul. „Nun gut, darüber müssen wir uns später sorgen. Reiten wir zur Feste, du bist halb erfroren und brauchst eine warme Mahlzeit. Lord Royce wird eine Lösung für dieses Rätsel finden.“
***
Der Bursche, der seit einer Weile vor ihm auf dem Pferd saß, schien eingeschlafen zu sein.
Wulf schüttelte zerstreut den Kopf.
Er konnte dem Schicksal danken, dass er an diesem Abend den alten Handelsweg entlanggeritten war und nicht seine übliche Route genommen hatte.
Neben der knorrigen Eiche, die dort schon in jenen Tagen, als Wulf noch selbst ein junger Knirps gewesen war, gestanden hatte, lag der schmächtige Bursche zusammengerollt im Schnee, als wollte er dem Baum ein wenig Wärme abgewinnen.
Seine Lippen waren bereits blass, fast schon blau gewesen. Die ersten Zeichen, die der eisige Tod bei seinen Opfern hinterließ, ehe er ihnen im Schlaf die Seele raubte.
Als Wulf vom Pferd gestiegen und zu ihm gegangen war, hatte er nicht wirklich damit gerechnet, dass der Bursche noch atmen würde.
Umso erstaunter war er gewesen, als doch noch Leben in ihm gewesen war.
Es hatte Wulf einige Mühe gekostet, den Jungen wach zu bekommen. Der Fremde hatte einen wahrlich seltsamen Anblick geboten.
Eine dünne Schicht getrockneten Schlammes bedeckte ihn von Kopf bis Fuß, was schon merkwürdig genug anmutete. Weder war zu erkennen, welche Farbe das kurze, verfilzte Haar hatte, noch konnte er in der Miene des Burschen lesen.
Dass er offensichtlich nicht mehr wusste, wer er war und woher er kam, würde Royce nicht gefallen. Das Clanoberhaupt der McCallahans war seit den Vorkommnissen des vergangenen Sommers ausgesprochen kleinmütig gegenüber Fremden.
Eine Handvoll feindlicher Krieger hatte ein Gehöft, das sich an der Grenze zu Fitards Reich befand, dem Erdboden gleichgemacht. Nur die junge Calaen, Tochter des dort so gewaltsam verstorbenen Landbestellers, hatte das Gemetzel überlebt, weil sie sich in einer Erdhöhle verborgen gehalten hatte.
Damals war auch ein Fremder ohne Erinnerungen aufgetaucht und hatte sich auf diese Weise das Vertrauen der Bauernfamilie erschlichen. Ein fataler Fehler, der zwölf Menschen das Leben gekostet hatte.
Wulf bezweifelte, dass Fitard zweimal die gleiche Finte gebrauchen würde, um ihnen eine Falle zu stellen. Das Erschrecken und die Verwirrung im Blick des Findlings im Sattel vor ihm waren für Wulf durchaus überzeugend gewesen, ebenso wie die blauen Lippen und die halb erfrorenen Gliedmaßen.
Gleichwohl würde er den Burschen unter Beobachtung behalten.
Aus dem schmalen Oval seines verdreckten Gesichts leuchteten große, blaue Augen und das gute Gebiss des Burschen ließ darauf schließen, dass er keinen Hunger gelitten hatte. Mit diesem Aussehen entsprach er exakt Fitards Vorliebe für hübsche, junge Männer.
Ob er jedoch tatsächlich einer seiner Gespielen war, würde vorerst ungeklärt bleiben ... zumindest, solange der Junge sich an nichts zu erinnern schien.
Es würde sich zeigen, ob er die Wahrheit sprach und sein Gedächtnis wirklich so lückenhaft war.
Auch wenn Wulf sich für sein übereiltes Handeln den Unmut seines Herrn zuziehen würde, war der Bursche im Schoß des Clans besser aufgehoben als in der eisigen Kälte des sijrevanischen Winters.
Die bleierne Müdigkeit war eine trügerische Gefahr, die manchen Wanderer schon das Leben gekostet hatte. Das dieses halbe Kind, das offensichtlich bereits geraume Zeit schlafend im Schnee verbracht hatte, noch lebte, grenzte schon fast an ein Wunder und es widersprach der Taktik, die Fitard beim letzten Mal angewandt hatte.
Alles Andere ... musste Royce klären.
Eine gefühlte Ewigkeit später war endlich die Feste der McCallahans in der Ferne zu erkennen. Vor Wulfs Gesicht bildete sich eine helle Atemwolke, als er erleichtert die Luft ausstieß.
Dunkel und eigensinnig erhob sich Callahan-Castle auf den Klippen von Glenchalls über die weiße, hügelige Landschaft und das Nordmeer.
Ein beeindruckender Anblick und einer, der in Wulf eine angenehme Wärme auslöste. Hier war er daheim.
Niemand wusste mit Bestimmtheit, wie lange diese Trutzburg bereits am Rand der Steilküste gethront und sowohl den Stürmen des Meeres als auch dem Unbill der Welt die Stirn geboten hatte.
Die dicken Mauern hatten mehr gesehen als jeder Alb, und hätten sie zu reden vermocht, hätten sie vermutlich schauerliche Geschichten zu erzählen gewusst.
Die Feste seines Clans war ebenso kraftvoll und störrisch wie die Menschen, die in ihr lebten.
Wulf trieb seinen Hengst weiter der Heimat entgegen.
Ein kalter Wind strich vom Meer herüber und er konnte das Donnern der Brandung hören, die gegen die felsigen Klippen schlug. Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit erfüllte ihn beim Anblick der hohen Mauern.
In den vergangenen Jahren hatte er viele Verluste zu beklagen gehabt, doch Callahan-Castle war stets sein Heim gewesen. Auch Wulf war einst als Findling hier aufgenommen worden. Ohne Wissen, wer seine Eltern waren oder woher er kam - nicht mal der Hauch einer Erinnerung war ihm geblieben.
Wie der Bursche vor ihm hatte auch er nicht wirklich hierhergepasst. Dennoch hatte der Clan der McCallahans ihn wie einen Sohn in seiner Mitte willkommengeheißen und Wulf war bereit, alles für dieses Land und diese Menschen zu riskieren.
Tief sog er die Luft in seine Brust.
Sie waren fast zu Hause und er konnte den Duft des Holzes, das im Kamin in der Halle brannte, beinahe schon riechen. Noch vor Anbruch der Dunkelheit würden sie das Tor passieren und sich in Sicherheit wiegen können.
Wenn Royce sich von seinem ersten Wutanfall erholt hatte, würde ihm vielleicht eine annehmbare Lösung dafür einfallen, was sie mit dem Findling machen sollten. So unmenschlich war selbst der Clanherr nicht, dass er den jungen Burschen einfach in die kalte Nacht hinausjagen würde.
Allerdings würde Royce Antworten verlangen ... und er war nicht zimperlich, wenn es darum ging, sie zu bekommen.
***
Ein unsanftes Schütteln riss sie aus ihren wirren Träumen. Erschrocken zuckte sie zusammen, schlug die Augen auf und wankte.
Die Welt um sie herum drehte sich.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien sie schwerelos in der Luft zu schweben.
Dann schlug sie heftig auf dem kalten, hartgefrorenen Boden auf und ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe. Sie schmeckte Blut, aber das war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ihre ganze linke Körperhälfte einen Augenblick lang zu lähmen schienen.
Stöhnend setzte sie sich auf, rieb sich über Hüfte und Oberschenkel und hob langsam den Blick.
Eine dünne Schicht Schnee bedeckte den Boden um sie herum. Sie bemerkte den Geruch von Heu und warmem Tierhaar. Ein maroder Holzzaun, dahinter Stroh und eine Überdachung ... ein Stall.
Das Schnauben von Pferden. Eine Ziege, die ihr charakteristisches Meckern von sich gab ... von irgendwo erklang das Geräusch eines Reisigbesens, der über Stein fegte.
Leder knarzte und sie vernahm das leise Klimpern von Metall. Neben ihr im Schnee landeten zwei Stiefel mit haarigen Beinen darüber. Als sie hochsah, warf ihr Wulf einen vergnügten Blick zu, schmiss die Decke, die mit ihr zu Boden gegangen war, über den Sattel und führte sein Pferd zum Stall.
„Das Absteigen solltest du noch üben“, bemerkte er mit schadenfrohem Grinsen.
Sie runzelte die Stirn.
Hatte er sie runtergeworfen oder war sie einfach nur gefallen?
Wortlos presste sie die Lippen aufeinander, verkniff sich die freche Antwort, die ihr auf der Zunge lag, und erhob sich. Ihr Blick huschte von dem Stall, vor dem sie angekommen waren, weiter über eine große, von Mauern eingeschlossene Fläche.
Da war ein riesiges Tor, dessen Flügel in diesem Moment von zwei kräftigen Männern zugeschoben wurden, die ähnlich wild aussahen wie Wulf.
Schräg gegenüber, neben einem verwitterten, kahlen Baum, stand eine Art Podest, auf dem zwei mannshohe Holzpflöcke emporragten. Ketten hingen daran und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. Einen Moment lang fragte sie sich, ob dieses Ding den Zweck erfüllte, den sie befürchtete.
Abgelenkt von all den Eindrücken, vergaß sie den Pranger im nächsten Moment wieder. Ein zweiter, versteinerter Baum stand daneben. Ihm folgten einige kleine Hütten, die sich wie ängstliche Tiere an die Mauer schmiegten. Bedeckt von Strohdächern, kroch heller Rauch aus den Schornsteinen.
Was war das hier?
Dass sie offenbar ihren Zielort erreicht hatten, zeigte die Tatsache, dass Wulf sein Pferd zum Stall geführt hatte.
Aber wo waren sie genau?
Diese Mauern waren wirklich hoch ... sehr hoch.
Ein paar wenige, einfach gekleidete Menschen, die mit Bündeln und Eimern den Hof durchquerten, starrten sie aus düsteren Gesichtern an.
Neugier und Furcht loderte in ihren Blicken, gepaart mit demselben Misstrauen, das sie bereits bei Wulf bemerkt hatte. Aber da war noch mehr - eine kaum verhohlene Feindseligkeit, die sie sich nicht erklären konnte.
Unbehaglich schlug sie sich den restlichen Schnee von ihren Hosen und wandte sich zu Wulf um. Sie sah nur noch sein Pferd, das von einem jungen Burschen in den Stall geführt wurde. Als sie ihren unfreiwilligen Reisegefährten entdeckte, hielt er auf der obersten Stufe einer gewaltigen, steinernen Treppe inne und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen.
Sie erstarrte.
Ihr Blick glitt hinter ihm über Steine aus grauen Felsquadern. Sie bemerkte eine riesige Eichentür und endlos scheinende Mauern, die in den Himmel emporragten. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen legte sie den Kopf in den Nacken.
Ihr Atem stockte, während sie die riesige Burg anstarrte, die sich vor ihr erhob.
Das konnte unmöglich wahr sein!
Verwirrung und Fassungslosigkeit vermischten sich mit einer bizarren Begeisterung, die so gar nicht zu dem Chaos in ihrem Kopf passte. Nur entfernt nahm sie die argwöhnischen Blicke ihres Begleiters wahr.
Eine Hand auf den Mund gepresst, um ihr Erschrecken nicht laut hinauszuschreien, fühlte sie sich, als würde sie in einen Abgrund stürzen.
Erinnerungen prasselten auf sie nieder, wie ein in sich zusammenfallendes Kartenhaus.
Das war nicht richtig.
Es war unmöglich... absolut unmöglich!
War sie verrückt geworden?
Träumte sie das alles?
Sie sah mit eigenen Augen, was hier vor sich ging, und wollte es dennoch nicht glauben. Gleichgültig, wie sehr ein Teil von ihr auch darauf hoffen mochte ... das hier war keine Halluzination.
Das war real ... sie konnte es fühlen und schmecken. Die Kälte, die immer wieder mit eisigen Klauen nach ihr griff, das schmerzhafte Pochen der Prellungen, die sie sich bei dem Sturz vom Pferd zugezogen hatte.
Sie nahm die Anwesenheit all dieser Menschen wahr.
Sie spürte die Wärme, die von der Burg ausging.
Sie roch den Winter, die Tiere, die Stallungen.
Der metallene Geschmack von Blut benetzte immer noch ihre Zunge.
Für den Moment mochte sie ihre Erinnerungen eingebüßt und sogar ihren Namen vergessen haben, aber sie wusste eines mit absoluter Gewissheit: sie gehörte in das einundzwanzigste Jahrhundert ... und da war sie nicht mehr!
Sekundenlang war sie versucht, das mit einem hysterischen Lachen als schlechten Scherz abzutun. Gleich würde jemand kommen und ihr sagen, sie sei bei der versteckten Kamera.
Es gab Mittelaltermärkte, Schausteller, riesige Events ... Menschen, die diese mittelalterliche Welt nachspielten und darin völlig aufgingen. Sie hatte davon gelesen, sie war fasziniert gewesen von der Leidenschaft dieser Menschen, aber sie hätte sich niemals selbst in dieser Welt verlieren wollen.
Vielleicht war es das ... eine wilde Show, ein gewaltiger Spaß.
Vielleicht war alles nur ein Scherz.
Sie atmete tief ein.
Nein!
Das hier war kein Spiel, keine Gaukelei ... das hier war echt!
Es gab keine Kameras.
Niemanden, der gleich um die Ecke schauen und ihr sagen würde, dass alles nur ein Witz sei. Diese Menschen hier kannten das, was ihr durch den Kopf ging, nicht einmal vom Namen her.
Sie waren alle echt.
Ihr schwindelte und sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
Was war mit ihr passiert?
Das ergab keinen Sinn!
Sie presste eine Hand gegen die pochende Schläfe.
Ihr Verstand weigerte sich hartnäckig, diese völlig verschobene Realität zu akzeptieren.
Dennoch gab es nur eine einzige Erklärung, so unlogisch und wirr diese auch sein mochte.
Aber ... war das wirklich möglich?
Sie hatte in Romanen davon gelesen. Wilde, abenteuerliche Geschichten ... Science-Fiction ... ein netter Zeitvertreib und doch reine Fantasie.
Es war eine angenehme Zerstreuung, sich spaßeshalber Gedanken über das „Was wäre, wenn ...?“ zu machen. Jeder wusste, dass so etwas wie Zeitreisen undenkbar war.
Die meisten seriösen Wissenschaftler reagierten auf dieses Thema wohl eher mit einem müden Lächeln, als ernsthaft eine Diskussion darüber führen zu wollen.
Sie selbst hätte niemals geglaubt, dass es möglich sein könnte ... bis jetzt.
Das hier war nicht mehr ihre Welt.
Sijrevanisches Hochland ... was war das?
WO war das?
Unter anderen Umständen hätte sie auf Schottland getippt.
Die weite, hügelige Landschaft, die karge Vegetation. Die Art, wie Wulf und die anderen Menschen hier sich kleideten.
Doch der Name Sijrevan war ihr völlig fremd. Es müsste irgendetwas in ihr anklingen lassen, so schlecht konnte nicht einmal sie in der Schule gewesen sein.
Selbst Schottland wäre schon mehr als seltsam.
Sie stammte nicht von hier, dessen war sie sich absolut sicher.
Wie war sie hierhergekommen und warum ... warum fühlte es sich so unglaublich vertraut an?
Lieber Himmel!
Sie presste die Augenlider aufeinander und schüttelte den Kopf. In ihr war ein heilloses Durcheinander. Unzählige Bildfetzen und Erinnerungen, die auf sie einstürmten, und nichts, was sie wirklich zuordnen konnte.
Wulf, diese Menschen, dieser „Master Royce“ ... die seltsame Art und Weise, wie Wulf sprach. All das deutete darauf hin, dass sie sich nicht einmal mehr im einundzwanzigsten Jahrhundert befand.
Woher kam dieses unwirkliche Gefühl, nicht mehr dort zu sein, wo sie hingehörte?
Hatte sie sich vielleicht den Kopf angestoßen?
Träumte sie das alles nur?
Warum fühlte es sich dann so real an?
So kalt und hart?
Wieso wurde sie den Eindruck nicht los, dass sie sich um mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit bewegt hatte?
Noch dazu an einen Ort, der ihr völlig fremd war?
Was zur Hölle tat sie hier und wie war sie hierhergekommen?
Schwer atmend drängte sie den Aufschrei zurück, der in ihrer Kehle emporstieg. Sie wollte heulen und schreien, sie wollte aufwachen und sich daheim, in ihrem Bett liegend, wiederfinden ... durchgeschwitzt und verwirrt von einem grauenhaften Albtraum.
Doch das hier war kein Traum.
Also musste sie den Kopf klar bekommen, irgendwie Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken bringen. Zitternd drückte sie beide Handballen gegen die Schläfen.
Logisch denken!
Fast hätte sie laut aufgelacht.
Logisch?! Wie sollte hier noch Logik greifen?
Sosehr sie sich wünschte, das alles wäre nur eine Halluzination, so bewusst war sie sich der Wahrheit.
„Was ist mit dir, Junge?“
Wulfs Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, doch als sie die Augen öffnete, stand er direkt vor ihr und maß sie mit nachdenklichem Blick. Sie öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch, unfähig zu einer Antwort. Mit einem gequälten Laut krümmte sie sich, als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen, und ging in die Hocke.
Sie fühlte sich, als risse ihr Inneres in zwei Teile, und die Welt um sie herum wurde merklich heller.
„Was für ein Tag ist heute?“, fragte sie heiser.
Wulfs Antwort ließ einen Moment auf sich warten. Mit verblüfft hochgezogenen Brauen sah er auf sie hinab.
„Wir schreiben den achtzehnten Tag im Nebelung“, gab er zurück. Er hätte genauso gut chinesisch reden können, sie hatte keine Ahnung, was er da sagte. Mutlos starrte sie auf den Boden vor sich.
Was war Nebelung?
Warum gebrauchte er so viele seltsame Wörter? Und wieso zum Teufel verstand sie ihn überhaupt, wenn sie doch eigentlich nicht in dieses Land gehörte?
„Welches Jahr?“
Die Frage war heraus, ehe sie es verhindern konnte. Auch wenn sie ihn nicht ansah, so wusste sie doch, dass er sie beäugte, als käme sie von einem anderen Planeten.
„Welches Jahr?“, wiederholte er befremdet.
Sie hob den Kopf und er sah mindestens so durcheinander aus, wie sie sich fühlte. Vielleicht verstand er ihre Worte ebenso wenig wie sie die seinen. Kopfschüttelnd senkte sie den Blick und starrte vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen.
Wie sollte sie sich in einer Welt verständigen, die ihr so fremd war?
Warum war sie hierhergekommen?
Sie gehörte nicht an diesen Ort, nicht in diese Zeit, und auch wenn sie nicht genau wusste, in welchem Jahr sie gelandet war, erkannte sie doch, dass es eine Zeit war, die ihr nicht wirklich gefiel. Fünf- oder sechshundert Jahre vor ihrer eigenen, vielleicht mehr, vielleicht weniger.
Hier gab es weder Autos noch Flugzeuge, keinen Kühlschrank und kein Telefon.
Wie konnte es sein, dass sie sich in einer anderen Zeit wiederfand, in der man so etwas wie Fernseher, wasserspülende Toiletten und elektrische Zahnbürsten nicht kannte?
Wie sollte sie hier klarkommen?
Warum geschah das alles mit ihr?
Die Arme um den Oberkörper geschlungen, wiegte sie sich auf den Fersen vor und zurück, während ihr Verstand hektisch arbeitete und versuchte, sich an Bruchstücke zu erinnern.
Da war etwas.
Bilder, Laute, eine andere Sprache. Gerüche, die etwas in ihr anklingen ließen. Ein Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung ... tiefe Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen.
Sie war so allein gewesen. Allein in einer fremden Welt, die nie ihre eigene gewesen war. Sie war gestürzt.
Wasser überall.
Verblüfft schnappte sie nach Luft und starrte mit offenem Mund in den Schnee, als eine Einsicht sie überkam.
War es wirklich möglich, dass sie ihre Welt deshalb verlassen hatte?
Geschah das mit jemandem, der aufgab?
So wie sie?
Sie erinnerte sich.
Sie hatte sich das Leben genommen, weil sie in ihrer eigenen Welt nicht mehr zurechtgekommen war. Sie war gegangen, weil der Schmerz sie schier zerrissen hatte.
Sie erinnerte sich!
Daran, wie die Einsamkeit sie erstickt hatte, dass ihr Leben keinen Sinn mehr besaß und es niemanden gab, dem sie fehlen würde. Wie sie den Entschluss gefasst hatte, sich von der Brücke in den Fluss zu stürzen und ihr Dasein zu beenden.
Aber sie war nicht gestorben.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie durch die Zeit gereist und hier gelandet, in einem Jahrhundert, das ihr unbekannt war, und in einem Land, das sie nicht einmal aus dem Erdkundebuch kannte ... einem Land, das ihr dennoch seltsam vertraut schien.
„Scheiße!“
Kopfschüttelnd schlug sie die Hände vors Gesicht.
***
Wulf beugte sich über das zitternde, blasse Bündel, das auf dem Boden kauerte und dessen Gesicht hinter den kalten, weißen Händen verborgen war.
Er hatte den entsetzten Blick des Burschen wohl bemerkt.
Für einen Moment hatte er schon geglaubt, der Junge hätte begriffen, dass er in Feindeshand gelandet war. Doch in seinen Augen war etwas Anderes gewesen. Etwas, das Wulf sich nicht erklären konnte.
Das Quietschen der mächtigen Eichenpforte ließ ihn den Kopf heben und er sah Royce mit hochgezogenen Brauen im Portal der Burg stehen. Mit einem unwilligen Laut wandte er sich zu seinem Herrn um und ging zu ihm hinauf.
Der Clanführer war ein groß gewachsener Mann.
Als er jünger gewesen war, hatten die Frauen ihn umschwärmt. Er hatte als gute Partie gegolten, sein fröhliches Lachen und seine unbeschwerte Art hatten jeden in seiner Umgebung angesteckt und es gab kaum jemanden, der nicht seine Nähe suchte.
Doch die letzten Jahre voller Kämpfe und Verluste hatten auch vor ihm nicht haltgemacht. Sorgenfalten gruben sich in seine Miene und eine unerklärliche Düsternis hielt ihn umfangen. Nachdem sein Vater und seine Brüder in den Schlachten mit Fitard gefallen waren, war das Verderben über die Burg hereingebrochen. Es war mit ihnen allen bergab gegangen, doch erst der Freitod seiner Mutter hatte Royce endgültig seines Lachens beraubt.
Vor fünfzehn Jahren hatte er aus Gründen der Vernunft und der Hoffnung geheiratet. Lady Araenna aus dem Clan der MacBalbraith.
Eine Frau, die ihn nie gewollt hatte.
Sie hatten sich arrangiert. Es war ein Bündnis gewesen, das den Clan der McCallahans wieder ans Licht hatte führen sollen. Ein Bündnis mit den Alben.
Es war ein Trugschluss gewesen.
Royces Erzfeind Fitard war es gelungen, auch Araenna und ihren Sohn töten zu lassen. Das war der Tag gewesen, an dem die letzte Wärme das Clanoberhaupt verlassen und einer tiefe Verbitterung Platz gemacht hatte.
Seither hatte Wulf ihn nie wieder wirklich fröhlich erlebt. Nach dem Überfall im Sommer war es ruhig geworden. Fitards Männer schienen sich zurückgezogen zu haben. Doch jeder Krieger des Clans wusste, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war.
Irgendwann würden die Kämpfe erneut ausbrechen, mit ungleich stärkerer Wucht, und niemand wusste, was danach sein würde. Sie waren zu Wenige ... der Clan schenkte nur noch gut hundert Highlandern ein Heim.
Die meisten Krieger waren schon über den Zenit ihres Lebens hinaus, andere waren zu jung. Viele waren in den letzten Monaten mit ihren Familien in die Lowlands abgewandert.
Fort von Tod und Verderben.
Fort von Armut und Entbehrung.
Royce hatte nie jemandem einen Vorwurf gemacht. Doch jeder Mann, der ging, war ein schmerzlicher Verlust für alle, die blieben ... jeder hinterließ eine Lücke, die sie nicht zu schließen wussten. Ihre Reihen lichteten sich und Fitard würde sie irgendwann überrennen.
„Wen bringst du uns da mit in dieser Kälte, Wulf?“
Royce musterte voller Argwohn das Häufchen Elend, das mitten im Hof hockte.
„Einen Findling“, erwiderte Wulf. Er ignorierte das Aufblitzen im Blick seines Herrn. „Ich fand ihn am alten Handelsweg. Er schlief im Schnee unter der verwitterten Eiche. Er wäre erfroren, hätte ich ihn nicht seiner Ruhe beraubt.“
„Einen Findling?!“ Royces Nasenflügel blähten sich und Wulf sah ihm an, dass er gegen das Verlangen kämpfte, seinen Hauptmann und Waffenbruder anzubrüllen. Seine Stimme klang schroff. „Wer ist er?“
Wulf schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
Reglos sah er dabei zu, wie sich das Gesicht seines Herrn weiter verfinsterte. Dennoch hielt er dem bohrenden Blick stand.
Er war schon ein Krieger dieses Clans gewesen, als Royce noch in Felle gewickelt in den Armen seiner Amme gelegen hatte. Für ihn war Royce nicht nur Clanherr - er war wie ein Sohn. Er hatte ihn ausgebildet und ihm sein ganzes Leben lang zur Seite gestanden. Royce wusste, dass er nichts tun würde, das dem Clan schaden konnte.
„Er behauptet, sich an nichts erinnern zu können“, erklärte Wulf. „Nicht einmal seinen Namen scheint er noch zu kennen.“
***
Royces Brauen schoben sich zusammen und seine Augen verdunkelten sich, während er den Burschen im Hof missmutig betrachtete.
„Du wirst im Alter weich, Wulf. Du hättest ihn liegen lassen sollen. Seine Anwesenheit bedeutet nur ein Maul mehr, das wir nicht zu stopfen wissen.“ Ärgerlich musterte er seinen väterlichen Freund und Waffenbruder, ehe er wieder zu dem Fremden hinabsah. Sosehr er Wulf schätzte, so sehr missbilligte er dessen Handeln. „Es ist bereits ein harter Winter. Unsere Vorratskammern sind nur spärlich befüllt und du schleppst einen Findling an.“
Wulfs Miene blieb unbewegt.
„Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Royce“, entgegnete er nachsichtig. „Doch ist an ihm irgendetwas anders. Ich kann es dir nicht erklären, aber ich wusste, ich darf ihn nicht der Kälte des Winters überlassen. Wir müssen uns unsere Menschlichkeit bewahren.“
Ihre Blicke begegneten sich und Royce schüttelte den Kopf.
„Er hätte nichts gespürt. Er wäre im Schlaf gestorben“, gab er ungerührt zurück.
Im Grunde seines Herzens stimmte er mit Wulf überein.
Ihn dort im Schnee sterben zu lassen, wäre unmenschlich gewesen. Eine Tat, die zu ihren Feinden gepasst hätte, aber nicht zu den Menschen ihres Clans. Ihr Volk war stets gastfreundlich gewesen, doch die Zeiten waren schlecht und das Essen wurde knapp.
Sie konnten es sich nicht leisten, ritterlich zu sein.
Die Händler hatten sich im Herbst nicht sehen lassen und die immer wieder aufflackernden Kämpfe des vergangenen Sommers hatten seinen Landbestellern nicht genug Zeit gegeben, um sich ausreichend um die Felder zu bemühen.
Die Ernte war wenig ertragreich gewesen und das Wild schien sich aus den Highlands zurückzuziehen. Es war schwer genug, seinem eigenen Volk genug Nahrung zu bieten, geschweige denn irgendwelchen Fremden.
„Wo kommt er her?“, fragte Royce, ohne Wulfs starre Miene weiter zu beachten. Die unnachgiebige Dickköpfigkeit seines Waffenbruders war wie eine Mauer, gegen die niemand anzurennen wusste.
Der riesige Krieger zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht“, gab er zurück. „Der Bursche selbst konnte es mir nicht sagen. Jedoch ... als wir hier eintrafen, fragte er mich, welchen Tag wir hätten und welches Jahr ... er spricht eine seltsame Mundart. Ich glaube nicht, dass er aus dieser Gegend stammt.“
Über die Schulter hinweg sah er zu dem Burschen hinüber, der sich mit wackeligen Beinen vom Boden erhob und verstört umsah.
„Er könnte einer von Fitards Spähern sein ... oder einer seiner Gespielen“, warf Royce ein.
Gereizt betrachtete er die schmale, zitternde Gestalt.
Unter all dem Dreck, der ihn bedeckte, erkannte Royce ein ovales Gesicht, große Augen, eine schmale Nase und volle Lippen. Das kurze Haar stand in wirren Büscheln von seinem Kopf ab und war völlig verklebt.
Er war schmal gebaut, mit breiten Hüften und relativ groß, wenn er auch das Maß eines Highlanders nicht erreichte. Ja, er würde genau in Fitards Beuteschema passen.
„Ich teile deine Bedenken“, entgegnete Wulf und sah seinem Herrn ins Gesicht. „Allerdings ist mir unerklärlich, warum er sich an nichts erinnert.“
„Vielleicht ist es Teil seines Plans und er ist ein Meister der Täuschung, dessen Künsten du erlegen bist.“
„Es war keine Lüge in seinem Blick“, widersprach Wulf.
Royce schüttelte geringschätzig den Kopf. Seine Augen musterten weiterhin prüfend den Fremden, der sich nun stolpernd in ihre Richtung bewegte.
Wulf hatte recht.
Irgendetwas war anders an diesem Burschen.
Er war anders.
Schon die Art, wie er sich bewegte, sprach etwas in Royce an, das er nicht einzuordnen wusste. Auch wenn der Junge gerade über seine eigenen Füße zu stolpern schien, haftete ihm etwas Katzenhaftes an.
Ihn anzusehen, rief ein Gefühl in Royce hervor, das völlig widersinnig war und sich tief in sein Inneres grub. Etwas zog ihn hin zu diesem Burschen und übermannte ihn mit einer seltsamen Art von Schwäche, die er nicht verstand und die ihm nicht im Mindesten behagte.
Als ihre Blicke sich begegneten, schien die Welt um ihn herum für einen winzigen Moment heller zu werden. Ein warmes Pulsieren erfüllte ihn und schien sich einen Weg durch sein Blut zu bahnen.
Bei allen Göttern ... was war das?
Wütend riss er sich von dem Anblick des Burschen los.
„Kein Name und keine Erinnerungen“, bemerkte Royce mit dunklem Grollen in der Stimme, „welch passender Zufall!“
Ein letzter Blick zu dem Fremden ließ ihn unmerklich schaudern und er wandte sich gereizt ab. Wulf wartete immer noch auf seine Entscheidung. Schlecht gelaunt nickte Royce in Richtung Halle.
„Bring ihn rein. Ich will mit ihm reden.“
Ohne eine Antwort seines Waffenbruders abzuwarten, wandte Royce sich ab und verschwand im Inneren des Haupthauses.
***
Resigniert drehte sich Wulf dem Burschen zu, ging ihm zwei Stufen entgegen und ergriff seinen Arm. Als er den Kopf hob und Wulf ansah, waren seine blauen Augen groß vor Furcht.
„Wir sind hier sicher.“
In einem Anflug von Besorgnis versuchte Wulf, den Burschen zu beruhigen.
Allerdings fragte er sich im gleichen Moment, ob das für den Jungen tatsächlich ebenso galt wie für ihn.
Er hatte Royces Blick gesehen und da war etwas gewesen, das ihm nicht behagte.
***
Tief durchatmend nickte sie und ließ sich stumm die monströse Treppe heraufziehen. Sie war noch zu entsetzt über die Erkenntnis, die sie wie ein Hammerschlag getroffen hatte.
Es gab einfach keine logische Erklärung, warum sie auf diese Weise eine zweite Chance erhielt. Für den Moment blieb ihr jedoch keine andere Wahl, als sich mit der Situation zu arrangieren.
Sie brauchte eine Denkpause.
Je mehr sie darüber grübelte und nach einer Antwort suchte, desto näher schien sie dem Wahnsinn zu kommen. Doch ungeachtet ihrer unheimlichen Situation fühlte sie, dass es wichtig war, einen klaren Kopf zu bewahren. Sie konnte unmöglich kundtun, dass sie durch die Zeit gereist war.
Vermutlich würde man sie sofort auf den nächsten Scheiterhaufen führen, um sie zu verbrennen ... und das war vermutlich noch eine der angenehmeren Todesvarianten, die sie in dieser Welt erwarten konnte.
Bedrückt folgte sie Wulf die Stufen hinauf zu der großen Eichenpforte. Er hatte gesagt, es sei Zeit, seinem „Lord Royce“ gegenüberzutreten. Wenn das der Mann auf der Treppe gewesen war, dann konnte das alles oder nichts bedeuten.
Als sie das Innere der Burg betraten, benötigte sie einen Moment, ehe ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Tatsächlich spürte sie die Weite der Halle mehr, als dass sie sie sah. Im nächsten Moment protestierten all ihre anderen Sinne gleichzeitig.
Wohlige Wärme ging von dem Feuer in dem gigantischen Steinkamin aus, der die Halle zu ihrer Rechten beherrschte. Eine Wärme, die sie zu umarmen schien und in eine Wolke aus Gerüchen hüllte, die ihr den Atem raubten.
Sie hustete.
Blinzelnd sah sie sich um.
An dem übergroßen Eichentisch, der vor dem gewaltigen Kamin stand, saß eine Gruppe von etwa dreißig Männern. Vereinzelte Frauen eilten geschäftig umher und verteilten Schüsseln.
In einer Ecke entdeckte sie ein paar Kinder und ältere Frauen, die bei ihrem Eintritt von ihren Handarbeiten aufschauten. Misstrauen und Argwohn, wo auch immer sie hinsah.
Obgleich das Innere der Burg auf den ersten Blick heimeliger wirkte, als das graue Äußere vermuten ließ, bildeten Schmutz und Gestank eine überwältigende Mischung, die ihr die Sinne vernebelte.
Es roch nach Abfall, altem Schweiß und einem undefinierbaren Allerlei von verfaulenden Dingen, die sie lieber nicht identifizieren wollte. Sekundenlang kämpfte sie gegen die Übelkeit, die sie zu überfallen drohte.
Auf dem Boden der Halle, der mit altem, verdrecktem Stroh bedeckt war, sammelten sich Unrat und Knochenreste. Ein paar riesige, zottelige Hunde balgten durch den hohen Saal und stürzten sich auf die Brocken, die jene Männer ihnen achtlos hinwarfen, die an dem Eichentisch vor dem Kamin saßen und ihre Mahlzeit einnahmen.
Sie unterdrückte ein Würgen und war dankbar, dass Wulf sie an der offenen Tür stehen ließ, ohne ihr Entsetzen zu bemerken. Für diese Menschen war dieses Leben vermutlich völlig normal ... ebenso wie der Geruch ... nur sie war angewidert von den hygienischen Umständen.
Fassungslos sah sie sich um.
Das war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.
Wären Schmutz und Gestank nicht gewesen, hätte sie die Halle, die offenbar als Wohn- und Essbereich diente, als durchaus anheimelnd empfunden. Es war ihr unmöglich zu verstehen, wie diese Menschen so leben konnten.
Was war hier vorgefallen?
Riesige Teppiche an den Wänden und über dem Kamin bezeugten, dass diese Burg definitiv schon bessere Tage gesehen hatte. An der Mauer zu ihrer Linken führte eine breite Treppe, aus schwerem Stein gehauen, in das obere Stockwerk. Durch eine Holztür am Ende der Halle erhaschte sie den Blick in die Küche, als eine Frau mit dampfendem Essen heraustrat.
Ihr Magen schien sich einmal mehr um sich selbst zu drehen. Der schmackhafte Duft der Mahlzeit drang durch den süßlichen Geruch des Unrats zu ihr und verstärkte das Würgen in ihrer Kehle. Allein der Gedanke, in diesem Raum zu essen, bereitete ihr einen fast körperlichen Widerwillen.
Die Welle des Ekels überrollte sie erneut und sie schloss für einen Moment die Augen. Sie durfte sich nicht die Blöße geben und sich vor all diesen Menschen übergeben, deren Blicke sie bereits jetzt durchbohrten.
Allerdings bereitete es ihr große Mühe, den galligen Geschmack in ihrem Mund zu verdrängen.
Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass Wulf ihr einen besorgten Blick schenkte. Sie spannte sich und war schlagartig alarmiert. In dieser fremden Welt war er im Augenblick die einzige solide Konstante.
Wenigstens für den Moment schien er wie ein Verbündeter.
Warum sah er sie so an?
Was hatte sie nicht mitbekommen?
Neben ihm bemerkte sie den Mann, mit dem er bereits vor der Tür gesprochen hatte. Er war nicht ganz so groß wie Wulf und um einige Jahre jünger. Braunes, lockiges Haar reichte ihm bis auf die Schultern, ein Bart schmückte sein Gesicht und er taxierte sie aus diesen unergründlichen Augen, die geradewegs bis in ihre Seele zu blicken schienen.
Hitze rollte wie flüssige Lava durch ihre Adern.
Sein attraktives Gesicht war unfreundlich, geprägt von Argwohn und unverhohlener Ablehnung. Wenn das tatsächlich Wulfs Herr war, und danach sah er aus, dann würde ihr Aufenthalt wohl kürzer als erwartet ausfallen.
Plötzlich verspürte sie einen Anflug von Panik.
Wenn man sie fortschickte, wohin sollte sie dann gehen?
Dieser Ort mochte zwar keine Luxusherberge sein, aber im Augenblick war es ihre einzige Zuflucht. Weder konnte noch wollte sie wieder hinaus in diese eisige Kälte.
Sie fühlte sich plötzlich hilflos ausgeliefert und die Blicke, mit denen der Fremde sie geradewegs zu durchbohren schien, machten es nicht besser.
Obgleich sein Auftreten sie auf seltsame Weise verwirrte, spürte sie auch eine ängstliche Beklemmung in sich aufsteigen. Mit einer herrischen Handbewegung gab er ihr ein Zeichen.
„Komm her“, befahl er mit grollender Stimme.
Sie war wie erstarrt, als er zu ihr sprach, und ihre Pupillen weiteten sich. Ein Schaudern überlief sie und eine Welle aus widersprüchlichen Empfindungen rollte über sie hinweg. Vor ihren Augen tanzten bunte Punkte und in ihrem Kopf drehte sich die ganze Welt.
Es war, als würde sie in einen Strudel geraten, der sie wie eine leblose Puppe herumwirbelte. Erinnerungsfetzen überrollten sie und ihr Blick wurde nebelig.
Da war eine Stimme ... sie kannte diese Stimme ... warm und vertraut ... liebevoll und besorgt ... „Lee“.
War das ihr Name?
Sie erinnerte sich an Fetzen, daran, wie jemand zu ihr gesprochen hatte ... ihre Mutter?
Es fühlte sich gut an ... behütet und geborgen.
Der Nebel verflog und sie betrachtete aufgelöst seine faszinierenden Gesichtzüge, die sich zusehends verfinsterten. Seine Miene war grimmig, während er sie musterte. Zwischen den dunklen Augenbrauen entstand eine steile Falte.
„Hast du mich nicht verstanden?“
Sein Blick war hart und sie spürte, wie sich das Gefühl von Hitze in ihr mit eisiger Kälte vereinte.
Stille breitete sich in der Halle aus.
Gespräche verstummten wie auf Kommando und selbst die Hunde verkrochen sich in eine Ecke. Alle Augen richteten sich plötzlich auf sie, die allein vor der Tür zum Hof stand. Unfähig, sich zu rühren, blinzelte sie zwei-, dreimal und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.
Es waren nur wenige Schritte, die sie zu Wulfs Herrn hätte gehen müssen, aber sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Am ganzen Körper zitternd irrte ihr Blick unstet über die Gesichter der Menschen.
Stattdessen stolperte sie furchtsam einen Schritt zurück. Sie sah das verärgerte Stirnrunzeln des Fremden, und wie er leise mit Wulf sprach. Der Krieger mit dem wilden Bart wandte sich ihr zu und war mit schnellen Schritten bei ihr.
Seine Finger schlossen sich fest, aber nicht schmerzhaft um ihren Unterarm. Es fühlte sich eher tröstlich als drohend an. Sie konnte spüren, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich und sie sich von einem Augenblick auf den anderen elend und krank fühlte.
„Ich bringe dich in die Bibliothek“, sagte er. „Lord Royce wird dort mit dir sprechen.“
„Ich gehöre nicht hierher“, flüsterte sie rau.
Wulf schenkte ihr ein schiefes Grinsen.
„Das ist uns auch schon aufgefallen, Junge“, gab er zurück.
Sie wandten sich nach rechts und folgten dem angsteinflößenden Fremden in einen schwach beleuchteten Durchgang.
Fort von den Menschen, dem Gestank und dem Schmutz.
Hinter Wulf betrat sie einen Raum, der mit Regalen gefüllt war, die dicht beieinander standen. Trotz der dicken Staubschicht, die sie selbst auf den beiden Sesseln entdeckte, war es hier wenigstens nur der Geruch von Papier und alten Büchern, der ihr in die Nase stieg.
„Setz dich.“
Lord Royce deutete auf einen mit rotem Samt bezogenen Sessel und sah sie abwartend an. Sie erwiderte seinen bohrenden Blick unsicher und blinzelte nervös. Seine dunklen Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen, als sie sich immer noch nicht rührte.
„Niemand wird dir hier ein Leid zufügen“, bemerkte er.
Verschämt biss sie sich auf die Lippe und trat zögernd einen Schritt näher.
„Lass uns allein, Wulf!“
Verstört sah sie zu, wie der große Krieger nickte und wortlos das Zimmer verließ. Sie war allein mit seinem Herrn. Das Herz hämmerte so wild in ihrer Kehle, dass sie meinte, er könnte es hören.
Sie schluckte hektisch.
„Setz dich“, wiederholte er seine Aufforderung.
Kopfschüttelnd starrte sie ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
Wie sprach man jemanden wie ihn an?
Sir? Eure Hoheit?
Sagte man Sie oder Ihr? Verdammt, sie hatte unzählige historische Romane gelesen, aber sie hatte keine Ahnung, in welchem Jahrhundert man zum gebräuchlichen Sie gewechselt hatte.
Sie konnte ihn unmöglich duzen, oder?
„Ich ... werde nur alles schmutzig machen“, entgegnete sie leise.
Er schnaubte verächtlich und ließ sich achtlos in den zweiten Sessel fallen.
„Dann bleib stehen.“
Einen endlos scheinenden Moment betrachtete er ihr Gesicht und sie starrte ihn fasziniert an. Diese Augen ... verlegen senkte sie den Blick.
Als er wieder sprach, klang er ganz ruhig.
„Wie ist dein Name?“
Sie war sicher, dass Wulf ihm bereits gesagt hatte, dass sie sich nicht erinnerte. Entweder glaubte er ihm nicht - oder ihr. Die zweite Möglichkeit schien irgendwie naheliegender.
Sich räuspernd, zuckte sie mit den Schultern.
Sie wollte ihm gegenüber so ehrlich wie möglich sein und dazu gehörte auch, ihm in die Augen zu blicken ... aber er machte sie auf eine geradezu unangenehme Weise nervös.
„Ich ... bin nicht sicher ... Sir“, erwiderte sie wahrheitsgemäß und sah vorsichtig auf. Sie wusste weder, ob die Anredeform korrekt war, noch, ob er sie gleich als Lügnerin bezichtigen würde. Sie blieb auf der Hut.
Sein Blick brachte sie aus dem Konzept.
Warum sah er sie so an?
Graugrün ... seine Augen waren graugrün ... und wunderschön.
Was ging ihr da durch den Kopf?
Verschämt sah sie zu Boden, als er sie nachdenklich musterte. Er blieb misstrauisch, aber offensichtlich wollte er ihr die Möglichkeit geben, sich selbst zu äußern. Tief durchatmend versuchte sie, sich zu entspannen, und hob das Kinn, um sich seinem durchdringenden Blick zu stellen. Sie wurde das Gefühl nicht los, er könnte bis in ihre Seele hineinsehen.
„Du weißt, wo du bist?“
Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
„Wulf nannte es die Ländereien von Master Royce“, erwiderte sie leise. Zeit, alles auf eine Karte zu setzen. „Ich nehme an, das seid Ihr.“
Die Mundwinkel ihres Gegenübers zuckten kaum wahrnehmbar.
„Nun, das ist wahr.“ Seine Stimme war warm und einladend. Lee unterdrückte ein Seufzen und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. „Es sind meine Ländereien ... oder vielmehr die meiner Familie. Mein Name ist Royce McCallahan, Sohn des Iain McCallahan, Clanherr über zweihundert Seelen - und du bist nun Gast unseres Hauses.“ Den Kopf schief gelegt, musterte er sie eindringlich. „Wulf sagte, dass deine Erinnerungen lückenhaft seien ... erzähl mir von dem, woran du dich erinnerst.“
Sie presste sich die Fingernägel in die Handinnenflächen und versuchte, ihre Gedanken zusammenzuhalten.
„Ich bin nicht sicher ... es sind nur Bruchstücke, aber ich glaube, man nannte mich Lee“, begann sie mit wackeliger Stimme. „In meinem Kopf sind viele merkwürdige Bilder, die mich verwirren.“
Sie schluckte.
Es gefiel ihr nicht, die Tatsachen dermaßen schwammig auszulegen, aber sie konnte ihm schlecht die Wahrheit erzählen, ganz davon zu schweigen, dass er ein zusätzliches Chaos in ihr auslöste, das sie nicht einzuordnen wusste.
„Lee?“ Royce schien zu überlegen, woher dieser Name wohl stammte, dann zuckte er die Schultern. „Du sprichst nicht wie ein Leibeigener ... du klingst gebildet“, stellte er fest. „Kannst du dich erinnern, wo du warst, ehe Wulf dich inmitten dieser Schneewehe gefunden hat?“
„Nein, Sir.“
Sie schüttelte den Kopf.
Den Blick gesenkt, damit er nicht ihr schlechtes Gewissen sah, bemerkte sie, dass ihre Finger nervös gegen ihre Schenkel trommelten.
„In meinem Kopf ist keine Erinnerung daran. Ich weiß nicht, wie ich dort gelandet oder von wo ich gekommen bin.“
Es war keine Lüge ... nur nicht die ganze Wahrheit.
Immerhin hatte sie tatsächlich keine Ahnung davon, wie das alles hatte passieren können, und sie müsste schon ziemlich verrückt sein, ihm zu erzählen, dass sie aus der Zukunft kam.
Wenn sie nicht mit einem großen, schartigen Schwert durchbohrt werden oder das Kaminfeuer unter ihrem Hintern würde spüren wollen, sollte sie über gewisse Dinge einfach den Mund halten.
Callahan-Castle, Sijrevan
Im Nebelung, Anno 1585
Royce betrachtete den schmalen, hochgewachsenen Jüngling, der ihm sichtlich aufgeregt gegenüberstand. Lee hielt den Kopf gesenkt, aber es war nicht zu übersehen gewesen, dass die Augen des Burschen verdächtig geglänzt hatten.
In einem hatte Wulf recht: es war keine Lüge in seinem Blick gewesen. Möglicherweise wusste er wirklich nicht, woher er kam.
Wie verdrießlich mochte es sein, seinen Erinnerungen nachzujagen?
Widerwillig musste Royce sich eingestehen, dass seine Fragerei nicht unbedingt hilfreich war. Andererseits hatte die Vergangenheit ihn gelehrt, nicht mehr unbedarft sein Vertrauen an jemanden zu verschenken, den er nicht kannte.
Die Zeiten waren hart und das Leben ungerecht. An Wunder glaubte er schon lange nicht mehr und das Auftauchen dieses Fremden war mehr als seltsam. Sie mussten ihn im Auge behalten.
„Nun gut.“ Er musterte Lee von oben bis unten. „Wulf hat für dich Obdach erbeten und du darfst bleiben.“
Der Bursche sah auf und in dem Blau seiner Iris lag ein so tiefer Ausdruck von Erleichterung, dass es Royce einen Stich versetzte.
Verärgert bemerkte er, dass ihn der absonderliche Wunsch überkam, sein Gegenüber zu berühren. Es war ihm fremd, einem Menschen Mut zusprechen zu wollen, den er nicht kannte, und noch befremdlicher war die Erkenntnis, dass dieser Bursche Empfindungen in ihm auslöste, die ihm ein solches Unbehagen bereiteten.
Deutlich grimmiger als beabsichtigt fielen aus diesem Grund auch seine nächsten Worte aus.
„Solltest du dir irgendetwas zuschulden kommen lassen oder sollte sich herausstellen, dass du für jemanden spionierst ... wirst du meine Klinge zu spüren bekommen. Wenn du versuchst, uns mit Lug und Trug zu blenden, werde ich dich in Stücken zurück an deinen wahren Herrn senden.“
Die Augen des Burschen wurden groß. Sein Mund öffnete sich, als wollte er widersprechen, und schloss sich zu einem zitternden Spalt. Das Verlangen, diese vollen, viel zu zart geschwungenen Lippen zu kosten, ließ Royce wütend aus seinem Sessel emporschnellen. Lee machte, deutlich eingeschüchtert und mit bleichem Gesicht, einen hastigen Schritt nach hinten.
„Ja, Sir.“
Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern, das in Royces Ohren deutlich zu sinnlich klang und sein Blut wild durch die Adern pulsieren ließ. Er wandte dem Jungen den Rücken zu und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.
Bei den Göttern, was war los mit ihm?
„Lee also ... der Name ist so gut wie jeder andere“, stellte er knapp fest und machte eine unwillige Handbewegung. „Du kannst gehen. Wulf soll dich zu Malissa bringen, sie kann noch Hilfe gebrauchen. Für Unterkunft und Essen wirst du arbeiten müssen.“ Über die Schulter warf er dem Burschen einen letzten Blick zu. „Verschwinde!“
***
Lee wusste nicht, was sie gesagt hatte, kurz bevor sie hastig den Raum verließ, aber es war ihr gleichgültig. Er hatte ihr Angst gemacht.
Noch mehr Angst machten ihr allerdings ihre eigenen Gefühle und dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen. Ihr war der Blick nicht entgangen, mit dem er ihren Mund betrachtet und wie seine Augen kurz ihre Gestalt gestreift hatten.
Schlimmer noch war allerdings die Tatsache, wie nachhaltig ihr eigener Körper darauf reagierte.
Ihr war durchaus bewusst, dass man sie für einen Mann hielt. Dieser Umstand war vermutlich von Vorteil und bot ihr einen gewissen Schutz. Allerdings verhinderte diese Tatsache nicht, dass sie sich viel zu intensiv von Royce angezogen fühlte und ein schon fast schmerzhaftes Ziehen durch ihren Körper schoss.
Was war los mit ihr?
Das war doch nicht sie!
Sie musste unter allen Umständen vermeiden, allein mit ihm zu sein. Es fiel ihr deutlich leichter, seine männliche Ausstrahlung zu ignorieren, wenn sich andere Leute um sie herum befanden.
Einer Flucht gleich, entfernte sie sich raschen Schrittes von der Bibliothek und lief den Gang zurück, durch den sie Royce vor wenigen Minuten gefolgt war. Kurz bevor sie die Halle erreichte, sah sie Wulfs wuchtige Gestalt im Türrahmen erscheinen.
Erleichtert ging sie ihm entgegen und bemerkte, dass er seinen Fellmantel endlich abgelegt hatte. Allerdings änderte das nichts daran, dass er ein wirklich großer Kerl mit wildem Bartwuchs und verfilztem Haupthaar war.
Er erinnerte sie an die Riesen aus den Märchenbüchern, die sie als Kind so gern gelesen hatte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, bevor es heftig weiterpochte.
Die Details ihres bisherigen Lebens kehrten also langsam zurück. Das ließ zumindest darauf hoffen, dass sie sich bald an noch mehr erinnern würde.
„Du hast überlebt“, stellte er trocken fest und zwinkerte ihr amüsiert zu, als sie vor ihm stehen blieb. „Wo ist Lord Royce?“
„Noch in der Bibliothek“, gab sie zurück und deutete hinter sich. „Er hat gesagt, ich darf bleiben. Aber ich soll mich bei Malissa melden, um dort zu helfen.“
„Gut.“ Wulf betrachtete sie einen Moment versonnen. „Hat er dir einen Namen gegeben?“
„Nein ... aber ich erinnere mich an einen Namen ... Lee. Ich weiß nicht, ob es meiner ist. Sir Royce ... er sagte, der Name sei so gut wie jeder andere“, setzte sie mit schiefem Lächeln hinzu.
Wulf nickte bedächtig.
„Gut, dann Lee.“
Im Gestrüpp seines Bartes blitzten ein paar Zähne auf, als er sie kurz angrinste.
„Folge mir, Lee, ich bringe dich zu Malissa. Sie ist die gute Seele unseres Hauses, aber sie führt eine harte Hand. Bemühe dich und faulenze nicht, wenn du für sie arbeitest ... denn den Kochlöffel schwingt sie ebenfalls mit harter Hand.“
***
Als der Tag sich dem Ende neigte, spürte Lee jeden einzelnen Knochen in ihrem Leib.
Malissa war eine rundliche, mütterlich wirkende Frau mittleren Alters, deren sanftmütiges Äußeres über ihren scharfsinnigen Verstand und ihre eiserne Unnachgiebigkeit hinwegtäuschte. Das braune Haar war von vielen grauen Strähnen durchzogen und ernste, grüne Augen hatten Lee lange stumm gemustert, nachdem Wulf sie mit einigen knappen Worten bei Malissa abgeladen hatte.
Ein seltsamer Ausdruck hatte auf ihrem Gesicht gelegen, während sie Lee betrachtet hatte, aber sie hatte keinen Ton von sich gegeben. Schließlich hatte sie Lee einen Besen und einen Eimer gereicht und ihr aufgetragen, die Halle von dem alten Stroh und Dreck zu befreien.
Dankbar, eine Beschäftigung zu haben und somit versuchen zu können, den vielen verwirrenden Dingen zu entkommen, die ihr ständig durch den Kopf schossen, hatte sie sich in die Arbeit gestürzt.
Es hatte Stunden gedauert, den Schmutz und Unrat sowie den damit verbundenen Gestank aus der Halle zu entfernen, aber sie hatte es geschafft. Dass sie sich dabei nicht übergeben hatte, hatte sie mit einem gewissen Stolz erfüllt.
Dem Kreisen ihrer Gedanken hatte es dennoch keinen Abbruch getan. Das unablässige Gegrübel über das, was geschehen war, hatte sie zwar zu keinem befriedigenden Ergebnis gebracht, aber ihr langsam einen schmerzenden Schädel verursacht.
Für die unzähligen Fragen in ihrem Kopf gab es weiterhin keine Antworten ... damit musste sie sich vorerst abfinden und das Beste aus der Situation machen. Nachdem sie sich diese wenig stimmige Erkenntnis lang genug vorgebetet hatte, begannen die Strapazen sie endlich zu erschöpfen und ihre Überlegungen zu unterbrechen.
Nach getaner Arbeit und mit dem Gefühl, etwas Sinnvolles geschafft zu haben, kehrte sie zu Malissa zurück, um die nächste Aufgabe übertragen zu bekommen. Diese wies sie an, sich die Finger zu waschen und anschließend Gemüse zu putzen. Mit einem krummen Messer in der einen und der gefühlt tausendsten Rübe in der anderen Hand saß sie da und wäre fast eingeschlafen, als Malissa ihr sanft eine Hand auf die Schulter legte.
„Lass gut sein für heute, Lee.“ Sie nahm ihr Werkzeug und Gemüse ab und legte beides beiseite. Ein nachsichtiges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. „Du hast mir bekundet, dass du arbeiten kannst und willst. Du hast dir deine Mahlzeit verdient.“
Malissa schob eine Schüssel mit dampfendem Eintopf vor sie. Mit einem leisen Danke machte sich Lee heißhungrig darüber her. Selten hatte ihr ein einfacher Gemüseeintopf so gut geschmeckt wie dieser.
„Ich zeige dir später, wo du deine Lagerstatt für die Nacht aufschlagen kannst.“ Nachdenklich betrachtete Malissa sie. „Solange du dich für einen Burschen ausgibst, kann ich dich nicht bei den anderen Küchenmägden unterbringen.“
Lee verschluckte sich fast an ihrem Essen, spürte, wie ihr Gesicht alle Farbe verlor, und hob bestürzt den Kopf. Malissa sah sie an, das Lächeln war verschwunden, aber ihr Blick blieb aufrichtig.
„Warte nicht zu lange, um dich unserem Herrn zu offenbaren“, stellte sie ernst fest, „du hast nichts zu befürchten, solange es zu keiner Lüge wird und nur deinem Schutz dient.“
„Ich ... es ist nur...“, nach einer Erklärung ringend, brach Lee ab und Malissa hob beschwichtigend eine Hand.
„Du musst dich nicht erklären“, gab sie zurück. „Ich verstehe deine Beweggründe, Lee. Ich mag hier nur die Köchin sein, aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen.“
Sie zwinkerte ihr zu und wurde unvermittelt wieder ernst.
„Obgleich es vielleicht nicht so verkehrt sein mag, wenn du deine Maskerade noch ein Weilchen aufrechterhältst. Die Söldner aus Fallcoar werden in Kürze eintreffen ... jene, die sich kaufen lassen und nicht aus Treue gegenüber unserem Herrn an seiner Seite stehen. Ich traue ihnen nicht und sie sind bereits eine ständige Gefahr für meine Mädchen.“ Sie deutete auf die Schüssel. „Iss auf und ich zeige dir, wo du dich zur Nacht betten kannst.“
***
Das Stroh in der grob zusammengenähten Matratze piekste sie an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Unruhig wälzte sich Lee auf die Seite und starrte in das Halbdunkel, das sich in der Halle ausgebreitet hatte.
Fröstelnd zog sie die Felldecke enger um ihren Körper.
Ihr Nachtlager befand sich in einer nicht direkt einsehbaren Nische unterhalb der Steintreppe, die von der Halle ins Obergeschoss führte. Direkt hinter ihr in der Wand gab es eine alte Tür, die offenbar schon lange nicht mehr benutzt worden war. Vermutlich der Zugang zu irgendeiner vergessenen Kammer. Die Eisenbeschläge waren vom Rost zerfressen und von Spinnweben bedeckt.
Nachdem Malissa ihr gezeigt hatte, wo sie sich waschen und erleichtern konnte, war Lee völlig erschöpft auf ihr künftiges Bett gefallen und hatte die Augen geschlossen.
Eigentlich hatte sie geglaubt, sofort einzuschlafen.
Während die letzten Menschen noch durch die Halle gegangen, aufgeräumt und begonnen hatten, sich auf die Nacht vorzubereiten, war sie ein paarmal weggenickt. Doch seit der letzte Krieger den weitläufigen Saal verlassen hatte und das Feuer im Kamin heruntergebrannt war, kam sie nicht zur Ruhe.
Sie spürte die körperliche Erschöpfung, die Prellungen von ihrem unsanften Sturz, den Muskelkater von der ungewohnten Arbeit. Ihre Augenlider waren schwer wie Blei und Lee fühlte sich völlig verausgabt. Sie sehnte sich nach nichts Anderem als nach ein bisschen Schlaf, doch in ihrem Kopf tobte ein hysterisches Chaos.
Sie drehte sich auf den Rücken und starrte den behauenen Stein an, der die Nische über ihr begrenzte. Nach allem, was heute geschehen war, war es kein Wunder, dass sie Schwierigkeiten hatte, dem Kreisen ihrer Gedanken Einhalt zu gebieten.
Immerhin war sie durch die Zeit gereist und nicht nur in einem anderen Jahrhundert, sondern auch in einer anderen Welt gelandet. Im Grunde konnte sie von Glück reden, dass die Menschen hier trotz ihres offensichtlichen Argwohns so gastfreundlich waren.
Eine Antwort auf die essenzielle Frage, die sie den ganzen Tag beschäftigt hatte, war ihr dennoch nicht eingefallen.
Wie war sie hierhergekommen?
Ihre Erinnerungen waren nach wie vor lückenhaft.
Klar war nur, sie hatte sich unglücklich gefühlt in ihrem alten Leben. Sie war einsam gewesen. Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören und fehl am Platz zu sein, war ihr ständiger Begleiter gewesen.
Schwach erinnerte sie sich an einen einzigen Menschen ... ihre Mutter.
Sie war krank gewesen und Lee hatte sie gepflegt. Nachdem sie gestorben war, schien die Einsamkeit, die Lee vorher schon so oft empfunden hatte, sie regelrecht zu ersticken.
Seufzend rollte sie sich auf die andere Seite. Sie starrte einen Moment lang die Umrisse der Tür an, ehe sie frustriert auf die Matratze einboxte, weil sich erneut ein Halm zwischen den Fasern hervordrängelte und sie in den Hals stach.
Wut und Bitterkeit tobten in ihr.
Sich nicht klar an Details zu erinnern, war noch schlimmer, als sich gar nicht zu erinnern.
Dass sie sich trotz der Leere und Traurigkeit, die der Verlust ihrer Mutter in ihr hervorrief, immer noch nicht an deren Gesicht oder Namen erinnern konnte, machte ihr das Atmen schwer.
Dabei gab es so viele andere Einzelheiten, die sich voller Klarheit in ihr Bewusstsein drängten.
Wie das Leben in ihrer eigenen Welt gewesen war, an den Komfort, den es gegeben hatte ... Strom, der sie mit Licht versorgte ... fließendes Wasser ... Heizkörper, die sie wärmten.
Hier konnte sie nicht einmal duschen gehen.
Wenn sie zur Toilette wollte, musste sie entweder einen Nachttopf benutzen oder sich in der Kälte in irgendwelche Büsche schlagen. Beides war nicht besonders angenehm für jemanden, der ein solches Leben nicht gewohnt war.
Sie hatte zuletzt nachts auf einer Brücke gestanden.
Es war kalt gewesen.
Der Wind hatte an ihren Kleidern gezerrt und ihr das Haar ins Gesicht geweht. Hinter ihr waren der Lärm und die anonyme Eintönigkeit der Stadt in weite Ferne gerückt.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie sich des Weges, der vor ihr lag, absolut sicher gewesen ... sie hatte nur nicht mit dem gerechnet, was danach kam.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie mit gar nichts gerechnet. Sie war kein gläubiger Mensch, für sie gab es keine Engel und kein Himmelstor, keinen Garten Eden.
Doch wach zu werden und sich in einer völlig anderen Welt wiederzufinden, hätte sie niemals erwartet.
Vielleicht war es ihr vorbestimmt, hier zu sein.
Vielleicht würde sie irgendwann eine Erklärung dafür bekommen, warum ihr das alles auf eine sehr merkwürdige Weise vertraut schien, obwohl sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Zitternd drehte sie sich wieder auf den Rücken und wandte ihren Blick zu dem riesigen Kamin. Ein letzter Rest Glut knisterte in dem monströsen Ungetüm. Ob sie es wagen konnte, etwas Holz nachzulegen?
Ihr war fürchterlich kalt.
Zähneknirschend schüttelte sie den Kopf und zog die Decke noch enger um sich. Sie war hier Gast. Sich einfach etwas zu nehmen, das ihr nicht gehörte, sah man vielleicht nicht so gern.
Allerdings hatte sie auch auf keiner piksigen Matratze aus Stroh liegen oder unförmige Kleider tragen wollen. Aber aus irgendeinem Grund war sie hier ... und aus genau dem gleichen Grund trug sie eine Bandage, die ihre Brüste plattdrückte und sie als vermeintlichen Burschen tarnte.
Vielleicht war das einfach ihre zweite Chance.
Vielleicht gab es so etwas wie ein Ende gar nicht.
Vielleicht sprang man von einem Leben zum anderen.
Sie hatte über Reinkarnation gelesen, Dokumentationen im Fernsehen gesehen ... darüber, dass Menschen unter Hypnose von ihren früheren Leben berichteten und sich an Details erinnern konnten, sogar an Namen. Aber sie alle hatten auch von ihrer Geburt und ihrem Tod erzählt.
Keiner von ihnen hatte sich zuvor ohne diese Rückführung an Details erinnern können. Nur Eines war ihnen gemeinsam gewesen: sie alle hatten diese Sehnsucht in sich verspürt. Die Sehnsucht nach einer anderen Zeit ... einer anderen Welt.
Warum konnte sie sich so bewusst an ihr früheres Leben erinnern?
Das ergab alles keinen Sinn.
Noch weniger Sinn machte die Tatsache, dass sie - obwohl ihr Sijrevan mit seinen Menschen und dieser Burg fremd und unbekannt war - trotzdem dieses merkwürdige Gefühl verspürte, endlich heimgekehrt zu sein.
So, wie sie auf der Brücke gewusst hatte, dass sie das Richtige tat, so spürte sie nun, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatte.
Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit.
Etwas, das sie vollständig machte.
Kopfschüttelnd hob sie die Arme und presste die Handballen auf ihre Augen. Sie musste endlich aufhören zu grübeln. Ihre Gedanken kreisten um zu viele Dinge, die sich einfach nicht rational erklären ließen ... die sie vielleicht niemals verstehen würde.
Hinzu kamen all die neuen Eindrücke, die sie verwirrten.
All die Menschen, die plötzlich Teil ihres Lebens waren.
Wulf, der sie der Kälte entrissen und ihr damit zweifellos das Leben gerettet hatte. Ein großer, brummiger Kerl, der einen etwas sonderbaren Humor zu besitzen schien. Er war ihr gegenüber von Anfang an freundlich gewesen und es auch geblieben, als sie sich so sonderbar benommen hatte. Er hatte etwas Väterliches, etwas sehr Vertrautes an sich. Man konnte gar nicht anders als ihn gernzuhaben.
Sie war sicher, dass er ihr zugehört hätte, wenn sie sich ihm offenbart hätte ... er würde ihr auch zuhören, wenn sie ihm von diesen seltsamen Gedanken erzählte, von ihren Erinnerungen und ihrem alten Leben. Allerdings bezweifelte sie, dass er ihr Glauben schenken würde. Niemand würde ihr diese Geschichte abnehmen.
Nicht einmal Malissa, die trotz ihrer Strenge ein sehr gütiger Mensch war. Wobei Lee den Worten von Wulf durchaus glaubte, dass Malissa den Kochlöffel mit harter Hand schwang - in ihrer Küche führte sie ein wirklich strenges Regiment.
Lee hatte noch nie eine so sauber geschrubbte Arbeitsplatte gesehen wie in dem weitläufigen Raum, in dem die gute Seele der Burg ihre Mädchen zwischen Kartoffeln und Rüben herumscheuchte.
Aber trotz ihrer burschikosen Art war Malissa ein Mensch, der Verantwortung übernahm ... sie hatte Lee nicht ohne Grund geraten, ihre Verkleidung aufrechtzuerhalten. Obwohl sie selbst sich von dem Schmutz und der unförmigen Kleidung nicht hatte beirren lassen, war ihre Sorge um Lees Wohl ehrlich gewesen. Und Lee spürte, dass Malissa ihr eines Tages zu einer wichtigen Verbündeten werden könnte.
Verbündete ... warum dieses Wort?
Waren Verbündete wirklich nötig?
Okay, wenn sie es genauer betrachtete, war die Antwort vermutlich ja. Ihr Zusammentreffen mit Royce ... Lord Royce, Sir Royce ... hatte ihr aufgezeigt, dass nicht jeder sie mit offenen Armen empfing.
Es war seltsam gewesen mit ihm.
Er war seltsam.
Das Schlimmste war, dass sie sich auf sehr besorgniserregende Art und Weise zu diesem Mann hingezogen fühlte, den sie nicht kannte. Etwas an ihm war ... vertraut ... vertrauter noch als bei Wulf.
Während sie heute Stroh und Dreck aus der Halle hinausgeschaufelt hatte, hatte sie genug Zeit gehabt, sich über ihre Gefühle und Empfindungen klar zu werden. Es schmeckte ihr nicht, was dabei herauskam, aber sie war ehrlich genug zu sich selbst, um sich damit auseinanderzusetzen.
Er war sexy, aufregend und attraktiv ... und er würde ihr vermutlich das Gesicht nach hinten drehen, wenn sie Malissas Aufforderung nachkam und ihm offenbarte, dass sie alle mit ihrem Auftreten getäuscht hatte.
Trotzdem - kein Mann hatte in ihrem alten Leben je diese Art von Gefühlen in ihr ausgelöst.
Niemand hatte ihren Puls so zum Rasen gebracht und ihr Herz so wild schlagen lassen. Sie fühlte sich auf fast schon unanständige Weise zu ihm hingezogen.
Das Dumme war, dass sie sich damit angreifbar machte.
Obgleich sie weniger seine Klinge fürchtete als seine Worte, wollte sie sich nicht verletzen lassen ... von ihm am allerwenigsten.
Als sie die Arme sinken ließ, tanzten helle Punkte vor ihren Augen und sie konnte einen Moment lang gar nichts mehr um sich herum erkennen.
Das alles war wie ein schlechter Traum und sie ertappte sich nicht zum ersten Mal dabei, dass sie sich wünschte, daraus zu erwachen. Aber weder schlief noch träumte sie.
Stattdessen befand sie sich in einer fremden Welt, die sie verwirrte und ängstigte, mit Menschen, die ihr mit Misstrauen begegneten und ein emotionales Chaos in ihr hervorriefen.
Ganz gleich, wie sehr sie sich den Kopf zerbrechen mochte, es würde nichts ändern. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich zu arrangieren und zu versuchen, hier irgendwie Fuß zu fassen.
Lee wandte den Kopf, als ein Geräusch sie aus ihren Gedanken riss. Zwei der großen, zotteligen Hunde, die sich am Tag noch um die Knochen gestritten hatten, trotteten durch die Dunkelheit auf sie zu.
Sie schluckte nervös.
Eine Erinnerung blitzte in ihrem Kopf auf ... sie hatte sich immer einen eigenen Hund gewünscht, aber nie einen bekommen. Nun, da zwei dieser Riesengeschöpfe auf sie zukamen, hätte sie ein bisschen mehr Erfahrung im Umgang mit diesen Tieren gebrauchen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Ewa Aukett
Bildmaterialien: Coverdesign von Alexander Kopainski (www.kopainski-artwork.weebly.com) ; Bildmaterialien Karten-Illustration: Alexander Kopainski, Augen: Accord / shutterstock.com
Lektorat: Sandra Nyklasz, Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2015
ISBN: 978-3-7368-8092-4
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