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Leseprobe

 

 

 

 

MAX ULRICH

 

 

Eine Mann ohne Angst

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

EIN MANN OHNE ANGST 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

Mark Stone, Inhaber der Havistone-Detektiv-Agentur, New-York-Paris, gab seinem Schaukelstuhl einen Ruck, um ans Telefon zu gelangen. Er hatte es sowieso schon viermal läuten lassen, weil er seiner französischen Sekretärin Caroline gerade zum hundertsten Mal erklärte, wie man einen Kaffee aufbrühen musste, damit ein Amerikaner ihn trinken könne. Seinen Schaukelstuhl hatte er vor drei Jahren aus den Staaten mit herübergebracht, nicht etwa, um einen Bandscheibenschaden günstig zu beeinflussen, sondern um seine langen Beine auch in Paris in aller Bequemlichkeit auf dem Schreibtisch ausstrecken zu können...

 

Der Roman Ein Mann ohne Angst des deutschen Kriminalschriftstellers Max Ulrich (* 6. März 1923 in München; † 21. November 1994 ebenda) beschreibt in kurzangebundenem, prägnantem Stil die aufregenden Abenteuer des von harten Verbrechern gefürchteten und von der holden Weiblichkeiten geliebten New Yorker Privatdetektivs Mark Stone. 

Ein Mann ohne Angst erschien erstmals im Jahr 1964. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  EIN MANN OHNE ANGST

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Mark Stone, Inhaber der Havistone-Detektiv-Agentur, New-York-Paris, gab seinem Schaukelstuhl einen Ruck, um ans Telefon zu gelangen. Er hatte es sowieso schon viermal läuten lassen, weil er seiner französischen Sekretärin Caroline gerade zum hundertsten Mal erklärte, wie man einen Kaffee aufbrühen musste, damit ein Amerikaner ihn trinken könne. Seinen Schaukelstuhl hatte er vor drei Jahren aus den Staaten mit herübergebracht, nicht etwa, um einen Bandscheibenschaden günstig zu beeinflussen, sondern um seine langen Beine auch in Paris in aller Bequemlichkeit auf dem Schreibtisch ausstrecken zu können. Er nahm den Hörer und sagte: »Hallo.«

»Hier Gringal, ich möchte Monsieur Stone sprechen.«

Die Stimme konnte einem Admiral oder einem Auktionator gehören.

»Am Apparat«, sagte Stone.

»Ich habe einen 20.000-Francs-Auftrag für Sie. Das macht rund viertausend Dollar und dürfte Ihre sonstigen Honorare um das Zehnfache übersteigen. Ich halte mich zurzeit in La Baule auf. Wann kann ich Ihren Besuch erwarten, Monsieur Stone?«

»In drei Monaten.«

»Was soll das heißen?«

»Dass Sie mir schon etwas mehr erzählen müssen, Gringal, bevor ich eine Spritztour an den Atlantik mache, nur um Sie zu sehen. Im Übrigen habe ich mir ausgerechnet, dass es für mich günstiger ist, in einer Stunde hundert Dollar zu verdienen als für Ihre viertausend vielleicht acht Tage arbeiten zu müssen.«

»Nun geben Sie mal nicht so an, Stone. Die Stunde, in der Sie hundert Dollar verdienen, ist noch nicht angebrochen.«

»Wenn ich die Zeit addiere, die Sie jetzt schon reden, komme ich auf mindestens dreißig Dollar entgangenen Gewinn.«

»Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben! Ich bin George Gringal, Aufsichtsratsvorsitzender der ASOR-Chemie AG.

Das ist die Holding des ASOR-Konzerns.« Gringals Stimme hatte jetzt ungefähr die Gemütlichkeit einer 40-mm-Schnellfeuerkanone erreicht.

»Na und?« Stone spannte den Bogen noch etwas mehr.

»Ich kann den Auftrag auch an jemand vergeben, dessen Erziehung nicht schon in den Flegeljahren unterbrochen wurde.«

»Das können Sie nicht.«

»So, das kann ich nicht? Und warum wohl nicht, Herr Detektiv?«

»Weil ich die letzte Station bin, Gringal. Weil zu mir nur die Leute kommen, die schon überall hereingefallen sind. Und zwar hereingefallen mit gerade solchen, deren Erziehung darin besteht, vor dem Herumgeschnauze irgendeines Auftraggebers Männchen zu machen. Und wer vor ein paar hochgehaltenen Kröten Männchen macht, der kneift auch den Schwanz ein, wenn es hart auf hart geht. Und bei viertausend Dollar geht es immer hart auf hart. Wenn Sie so einen netten, ruhigen Auftrag zu vergeben hätten, den auch ein x-beliebiger Kollege bearbeiten könnte, dann hätte ich von einer Ihrer Sekretärinnen ein unauffälliges Schreiben erhalten: ...bitte mich in nächster Zeit einmal aufzusuchen... Aber nein, die Spitze des Aufsichtsrats persönlich. Also, was liegt an, Gringal?«

»Ich kann Ihnen am Telefon nicht viel sagen, Stone. Ich benötige Ihre Dienste zur Durchführung von Recherchen, mit denen wir an einem toten Punkt angelangt sind. Ich habe den Eindruck, dass Sie der Mann sind, der uns weiterhelfen kann. Die ganze Sache ist äußerst dringend.«

»Ich bin heute Abend bei Ihnen. Hinterlassen Sie Ihre Adresse bei meiner Sekretärin. So long, Gringal.«

Stone gab Caroline ein Zeichen und telefonierte auf einer anderen Leitung mit Crignis, dem die Auskunftei tout savoir gehörte.

» 'n Tag, Crignis«, sagte Stone, »ich brauche alles über einen Mann, der sich Gringal nennt, angeblich Aufsichtsratsvorsitzender des ASOR-Konzerns sein soll, und der sich zur Zeit in La Baule aufhält.«

»Bis wann brauchst du die Angaben?«, fragte Crignis.

»Wie immer, schon gestern«, drängte Stone und hängte ein.

Caroline hatte die Adresse Gringals notiert, Ker Oberon, 25, Avenue des Flamingos, La Baule les Pins. Sie hatte veranlasst, dass der Wagen aufgetankt und Geld von der Bank geholt würde. Ferner hatte sie eine Karte von La Baule und Umgebung sowie Hoteladressen herausgesucht. Jetzt ging sie hinüber in Stones Privatappartement, um seinen Dreitagekoffer zu packen. Caroline war eine Perle. Eigentlich eine Zuchtperle, denn Stone hatte immerhin ein Jahr gebraucht, um ihr seine Junggesellenallüren als etwas durchaus Natürliches zu suggerieren. Sie war ihm bei der Entflechtung eines Mädchenhändlertrusts quasi als Nebenverdienst zugefallen. Damals hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre in dem als Luxusyacht getarnten Harem eines Libanesen auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Seither war sie als seine Sekretärin tätig. Außer ihr beschäftigte er noch drei Detektive und ein Nachwuchsstudent mit dem Namen Fredy.

Stone sah die Hoteladressen durch, entschied sich für das Mazy Plage im benachbarten Pornichet und sagte zu Caroline, die seinen Koffer brachte, sie möge ihm Crignis’ Bericht dahin nachsenden. Um ein Zimmer war ihm nicht bange. Es war erst Vorsaison. Caroline sollte aber zur Sicherheit trotzdem im Mazy Plage anrufen, Caroline versuchte, ein paar versteckte Ratschläge anzubringen, lehnte sich sehr weit zum Fenster hinaus und rief ihm ein kleines bonne chance nach, als sein Roadster mit ziemlicher Geschwindigkeit durch die Rue St. Honore davonfuhr.

Stone wählte die Strecke über Le Mans-Tours-Nantes. Die Bucht von La Baule mit ihrem weißen Badestrand war ihm vertraut. Er hatte dort vor zweieinhalb Jahren einen Fall geklärt, der unter dem Schlagwort Spielbankmord große Wellen in der Presse geschlagen hatte. Wie immer war die Polizei schlecht dabei weggekommen, und das hatte Kommissar Dumail, der Polizeichef von La Baule, bestimmt noch in Erinnerung.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das Zimmer im Mazy Plage war okay. Stone fuhr gleich weiter zu Gringal. Es war Viertel nach acht und schon fast dunkel. Er stellte seinen Wagen in einer Seitenstraße der Avenue des Flamingos ab. Er kletterte gerade hinaus, als ein Vorgang auf der abendlich ruhigen Straße seine Aufmerksamkeit erregte.

Die Seitenstraße, in der er sich befand, war sehr schmal und wurde links von einer hohen Gartenmauer und gegenüber von dem Zaun einer Tennisplatzanlage begrenzt. Dazwischen bewegte sich in auffälliger Weise eine Frau. Stone hatte, als er die Wagentür öffnete, im Unterbewusstsein das Geräusch ihrer hohen Absätze auf dem Pflaster wahrgenommen. Dieses Tack-Tack wurde plötzlich schneller, und er blickte auf. Eine junge Frau in eleganter Kleidung lief mit allen Anzeichen höchster Aufregung auf ihn zu. Erst hielt sie sich links auf der Mauerseite, dann stockte sie und lief hinüber an den Tenniszaun. Irgendwie erinnerten ihre Bewegungen an ein Huhn. Auf einmal blieb sie stehen, und es hatte den Anschein, als wollte sie umkehren. Zuerst hörte man sie ein leises wohlerzogenes »zu Hilfe« sagen. Dann schrie sie »Hilfe! Hilfe!« Stone hatte den Grund für ihre Angst erkannt. Ein untersetzter Mann in einem Trenchcoat verfolgte sie. Er tat dies mit einer gewissen, breitbeinigen Gemächlichkeit. Er war seiner Sache sicher. Er war der Korken auf der Flasche, der Spielmacher sozusagen. Die beiden anderen standen im Schatten der Mauer und ließen das Mädchen herankommen. Ihr Anblick hatte es auf die andere Straßenseite getrieben. Mark Stone rannte los. Er war nur fünf Schritte hinter den beiden, als sie bei dem Mädchen anlangten. Sie waren nicht schlecht. Sie machten sofort kehrt und wandten sich dem ankommenden Gegner zu. Der Korken mochte noch dreißig Meter entfernt sein.

Die beiden waren ein Team und verstanden sich ohne Zuruf. Sie machten auch gleich Ernst, ohne Ouvertüre. Der eine warf sich dem Gegner vor die Füße, wobei er nach den Knien angelte, um ihn zu Fall zu bringen, Der andere hatte bereits ein Messer in der Hand - er brauchte es nur aufrecht zu halten. Stone hatte nicht viel Zeit.

Noch im Laufen machte er einen Zwischentritt wie ein Weitspringer, der mit dem richtigen Fuß an der Absprungplanke sein muss, verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein, und der Tritt saß genau im Gesicht des Fußanglers. Stone wusste, ohne hinzusehen, dass ihm dieser Mann für die nächsten zehn Minuten nicht mehr gefährlich werden konnte. Da war auch schon der zweite Mann da. Er stand mit geteilten Beinen über seinem Kameraden. Die feststehende Klinge fuhr mit großer Wucht nach vorn. Der Stich war von unten nach oben geführt. Stone erwischte ihn beim Handgelenk, hob den Arm an und legte ihn sich mit einer Drehung über die Schulter. Der Mann schrie. Doch erst als der Arm ausgekugelt war, ließ er das Messer fallen.

»Jetzt ist mal Schluss mit der Gymnastik.« Das war der Borken« Stone löste sich aus dem Knäuel und sah - der Kampf war erst einmal aus. Der Mann stand nur da, in vier Meter Abstand. Er kam nicht näher. Er hielt eine 7,65er Walther-Pistole im Anschlag, die er Stone genau auf die Leibesmitte richtete.

Der versteht sein Geschäft, dachte Stone und blickte sich um. Die Frau stand da wie gelähmt. Durch ihre Ausdruckslosigkeit hindurch sah man ihre Klasse. Sie war von dem aparten Typ, der neben Wünschen auch Fragen suggeriert. Das Team rappelte sich hoch. Der Messerheld jammerte vor sich hin. Der Untermann musste sich am Rinnstein übergeben. Ihm fehlten vorne zwei Zähne. Die Nase war geschwollen.

»Wir fahren jetzt ein bisschen ans Meer«, sagte der Korken. »Du, mein Freund, nimmst deine Arme hoch, und du, Heli, fahr einmal mit deinem gesunden Arm unter seine linke Achselhöhle. Ich habe da so eine verdächtige Beule bemerkt.«

Der Mann, der Heli genannt wurde, holte aus Stones Tweedjacke einen .38er Colt hervor, der in einem Schultergürtel gesteckt hatte. Der Korken nahm ihn an sich und verteilte die Rollen. Eine dunkle Limousine war langsam näher gekommen.

»Ihr zwei lasst euch verarzten. Aber nicht bei der gleichen Adresse. Und denkt euch was Plausibles aus. Ich komme mit Hassan schon zurecht. Du steigst vorne ein«, er gab Stone ein Zeichen,

»...und lass dir ja keinen Trick mehr einfallen - es könnte dein letzter sein. Das Mädel kommt hinten zu mir.«

Stone hatte schon so eine Ahnung, wo sie hinwollten, als der Fahrer in den Remblai, die breite Küstenstraße, einbog. Es gab draußen in Richtung St. Marc einen einsamen Strand, der zum Baden ungeeignet war, weil die Loire-Strömung auch den stärksten Schwimmer hinaus ins offene Meer trug. Diese Gegend war schon am Tage einsam. Abends würde sie es umso mehr sein. Der Verkehr auf dem Remblai war ziemlich rege. Es war zwar erst Vorsaison, aber das schöne Wetter und das Spielkasino von La Baule hatten den Hotels schon die erste Urlauberschwemme hereingetrieben. »Fahr langsamer, Hassan«, sagte der Korken; »ich will keine Karambolage.«

Der Fahrer, ein Marokkaner, ging mit dem Tempo herunter. Stones Gedanken arbeiteten schnell aber exakt. Sie hatten bestimmt nicht zu viert einem Mädchen aufgelauert, um ihm die Handtasche zu entreißen. Es gab drei Möglichkeiten: Mord, Entführung, oder sie wollten etwas wissen.

Falls sie die Frau aus irgendeinem Grunde umbringen wollen, dachte er, werden sie mit mir dasselbe versuchen. Sie können sich keinen Mitwisser leisten. Das hätten sie zwar schon in der Seitenstraße erledigen können, aber vielleicht wollen sie keine Spuren hinterlassen. Wenn es auf eine Entführung hinaus soll, werden sie mich - wenigstens für eine Zeitlang - auch verschwinden lassen, weil ich zwei von der Bande gezeichnet habe und über sie den ganzen Fall aufrollen könnte. Wenn sie nur etwas wissen wollen und das Mädchen quälen, werden sie mir jedenfalls einen gehörigen Denkzettel verpassen. Mal sehen, ob der Korken wirklich so gut ist, wie er tut.

Mark Stone bewegte seine rechte Hand millimeterweise nach unten. Schon nach anderthalb Zentimeter sagte der Korken, er solle seine Hände vorn auf das Polster des Armaturenbretts legen.

Sie mochten ungefähr fünfzehn Minuten unterwegs sein, als der Fahrer nach rechts in die Bucht von St. Marc einbog. Dann wurde es also ernst. Ein Körper, da draußen ins Meer geworfen, wurde in kurzer Zeit zwanzig Seemeilen hinausgetrieben. Der Wagen holperte einen Weg entlang, der nach einiger Zeit in den gemiedenen Strand von St. Marc mündete. Die reguläre Straße lief vierzig Meter oberhalb, parallel zur Küste, weiter.

Der Korken sprang zuerst hinaus. Er gab sich keine Blöße. Er dirigierte Stone und das Mädchen zwischen sich und die Brandung, das Mädchen drei Meter weiter, etwas seitwärts, aber in der gleichen Schussrichtung.

»Schau in seinen Taschen nach, Hassan, ich glaube, wir kriegen was zu lachen.«

Der Marokkaner hatte in Windeseile den gesamten Tascheninhalt Stones beisammen. Er schlug die Brieftasche auseinander und ließ ein Bellen hören, das nach und nach in ein hohes Meckern überging. Es hing ziemlich lange in der Luft und klang unangenehm in den Ohren.

So lacht ein Hysteriker, bevor sein Lachen in Schreien übergeht. Oder ein Transvestit, dem man die Frauenkleider versteckt hat, dachte Stone und sah ihn sich genauer an.

Er war ungefähr dreißig Jahre alt. Sein Körper war schmal und sehnig. Der Kopf konnte einem Asketen gehören, einem blatternarbigen Asketen. Aber da war der Mund, der geschwungene, scharfgezeichnete Mund eines Kaschemmen-Caligula. In seinen Augen stand der blanke Wahnsinn. Der Anzug wies die übertriebene Fasson auf, wie sie von gewissen Kriminellen bevorzugt wird. In der äußeren Brusttasche steckte etwas, das aussah wie ein Füllfederhalter. Nach nochmaligem Hinsehen konnte Stone feststellen, dass es ein Rasiermesser war.

»Du wirst es nicht glauben, Al, das ist der Mann, der vor zwei Jahren Valdas hochgenommen hat. Hier steht’s: Mark Stone, Detektiv-Agentur Havistone, New York-Paris«, sagte Hassan.

»Dann muss Valdas nicht so schlau gewesen sein, wie wir immer geglaubt haben, wenn er diesem grünen Jungen auf den Leim gegangen ist. Der steckt ja noch in den Kavaliersschuhen. Die werden wir ihm gleich mal ausziehen. Untersuch jetzt unser Nora-Püppchen, aber gründlich. Sie muss das Kuvert noch bei sich haben. Und vor allem, keine Verletzungen. Es muss nachher alles aussehen wie ein gemeinsamer Freitod.«

Hassan warf Stones Utensilien zu Boden und ging auf das Mädchen zu. Stone hatte den Eindruck, dass der Augenblick für das Ziehen der Notbremse nicht mehr viel länger hinausgeschoben werden konnte. Korken-Al hatte einen Fehler gemacht. Er fühlte sich unangreifbar und hatte die Katze aus dem Sack gelassen. Ja, es sollte alles aussehen wie ein Liebestod. Man würde sie erst einzeln fesseln, dann ersäufen und hinterher einfach davonschwimmen lassen. Mark Stone hatte gewiss nichts gegen das Baden. Aber unter anderen Voraussetzungen.

Die Frau schrie: »Lassen Sie mich in Ruhe! Hier haben Sie das Kuvert.«

Stone konzentrierte sich ganz auf den Korken. Er wollte ihn noch sicherer machen. Er wollte ihm zeigen, dass er es mit der Angst bekam.

»Was könnt ihr denn schon davon haben, wenn ihr mich hier fertigmacht? Es wird nur Scherereien geben, und dein Boss setzt dich auf halbe Ration.«

»Halt’s Maul, du Versager. Es wird gar keine Scherereien geben. Es wird alles ganz natürlich aussehen. Du wirst einen guten Romeo abgeben. Siehst du, vor der Kanone da hast du Angst. Das habe ich gleich gesehen.«

Stone drehte sich um und raste los. Er hatte, als er aus dem Wagen gestiegen war, einen Felsblock gesehen, der von dem Platz, auf dem er zuletzt stand, ungefähr zehn Meter entfernt war. Er schlug einen Haken - noch einen -, ein langer Satz, und er lag hinter dem Stein, der einem liegenden Menschen volle Deckung bot. Er griff an sein linkes Fußgelenk, über dem er einen kleinen Browning festgeschnallt trug, und lugte um den Felsrand. Die Szene, die er vor sich hatte, hätte einem Surrealisten aus der Verlegenheit helfen können. Linker Hand stand im Mondlicht die Frau. Ihr Seidenkleid war an der Schulter völlig zerrissen. Der Abendmantel lag zerknüllt auf dem Sand. Dennoch glich sie in ihrer reglosen Schönheit einer antiken Statue. Hassen kniete wie ein dunkelhäutiger Phidias, der noch etwas am Fuß zu meißeln hat, vor ihr - ihm war das Kuvert hinuntergefallen. Dann glaubte Stone, seinen Augen nicht zu trauen: Der Korken-Al saß am Steuer der Limousine und fuhr in großem Bogen auf den Weg zu, auf dem sie den Strand erreicht hatten. Hassan lief, das Kuvert in der Hand, wie der Teufel hinterher.

Oben auf der Straße hatte ein Auto angehalten, und ein Mann rief, dass das Baden an dieser Stelle gefährlich sei. Zwei Männer kamen den Hang herunter. Die Frau, die der Gangster Nora-Püppchen genannt hatte, stand immer noch reglos wie erstarrt. Stone lief auf sie zu. Er nahm sich keine Zeit zu ästhetischen oder sonstigen Betrachtungen. Ein kleines Bedauern darüber versank in seinem Unterbewusstsein. Er wusste, dass sich dieses kleine, verdrängte Gefühl in spätestens drei Tagen, unter Freimachung großer Energien, wieder ins Bewusstsein drängen würde. Und dann würde er sich Zeit nehmen.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

»Komm, Kindchen, zieh das an«, sagte Stone zu der verstörten Frau in einer Tonart, die er an sich noch gar nicht kannte. Er hielt ihr den Seidenmantel hin, den er auf gerafft hatte. Als sie sich nicht rührte, legte er ihn um ihre Schultern. Zu mehr war nicht Zeit, weil die beiden Männer fast heran waren.

»Sie dürfen hier nicht baden«, sagte der Ältere der beiden. »Die Strömung treibt Sie hinaus. Oh, entschuldigen Sie, ist der Dame nicht wohl?«

Es war eine blödsinnige Situation. Stone hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und hielt mit der Hand ihren Mantel krampfhaft zusammen, um das zerrissene Kleid zu verdecken. Die beiden Männer schauten diskret aber durchdringend von einem zum anderen und versuchten, einen Reim auf das sonderbare Pärchen zu finden.

»Beunruhigen Sie sich nicht, vielen Dank«, sagte Stone, »wir haben uns von Bekannten hier herausfahren lassen, um ein kleines Bad zu nehmen. Dann wollten wir zu Fuß am Strand entlang nach St. Marc laufen. Nun ist es uns doch etwas zu kühl. Wenn Sie uns von Pornichet ein Taxi herschicken könnten, wären wir Ihnen dankbar.«

»Wir nehmen Sie gern in unserem Wagen mit.« Es war wieder der Ältere, der sprach. Der Jüngere schaute eigentümlich.

Sie sahen aus wie Vater und Sohn. Ihre Gesichter zierte das verbindliche Lächeln guterzogener Menschen. Der Ältere hatte etwas von einem Künstler an sich. Seine Gesichtszüge waren sensibel und harmonisch. Schmale Nase und eine Vertiefung im Kinn. Eher erfolgreich als genial, dachte Stone. Die Kleidung war erlesen. Der Jüngere trug den Stempel sportlicher Vitalität mit gerade so viel geistiger Durchbildung, wie man sie braucht, um sich wohl zu fühlen und anderen nicht auf die Nerven zu fallen. Stone hatte es gleich gesehen: Die waren nicht gefährlich, die waren höchstens lästig.

»Nein, danke«, sagte er, »ein Taxi ist uns lieber.«

Der Jüngere flüsterte seinem Begleiter etwas zu.

»Mein Neffe kann Ihnen vielleicht nützlich sein, falls es der Dame nicht gut ist. Sie müssten ihn nur im Taxi mitnehmen.«

»Viel zu viel Umstände«, sagte Stone schon ein wenig ungeduldig, »fahren Sie nur los.«

Sie traten beiseite und flüsterten miteinander. Sie hatten irgendeinen Verdacht. Dann fassten sie einen Entschluss, und der Ältere wollte gerade einen neuen Vorschlag Vorbringen, als er unterbrochen wurde:

»Tun Sie ruhig, um was mein Mann Sie bittet. Sie können uns getrost allein lassen.« Ihre Stimme hatte den Schmelz eines Guarneri-Cellos. Sie legte mit einer zarten Bewegung ihren Kopf an Stones Schulter, während die Hände den Mantel zusammenrafften.

Und das in Öl gemalt über Großmutters Kanapee, dachte Stone und wünschte die lästigen Nothelfer noch schneller hinweg.

Als sie dann allein waren, gab sie ihm die Hand und sagte:

»Ich danke Ihnen. Ich glaube, wir waren in einer großen Gefahr.«

»Oh, ich hatte noch ein As im Ärmel, oder genauer gesagt, im Strumpf«, lachte Stone und zeigte seinen Browning.

»Diese Karte hätten Sie auch etwas früher ausspielen können.«

In ihren Augenwinkeln entstanden zwei reizende Fältchen, die der ohnehin nicht heftigen Entrüstung noch einigen Abbruch taten. Etwas begann zwischen ihnen zu knistern.

»Abgesehen davon, dass das nicht möglich war, hätte es dem Abend viel von seiner besonderen Note genommen«, meinte er mit einem Augenzwinkern auf ihr Negligé.

»Ich heiße Nora Dalborg«, sagte sie nach einem kurzen Nachdenken, »und ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf, wie ich mein Kleid einigermaßen richten kann. Wenn ich es so lasse, hängt es mir nach drei Schritten um die Knöchel.« Sie nahm ihren Mantel von den Schultern und sah sich die Zerstörung an. »Wenn Sie aus diesen beiden Enden hier einen Knoten machen könnten, würde es bis zu meiner Pension halten.«

Stone sah mit einem Blick, dass sie den Knoten genauso gut allein fertigbringen könnte. Aber er sah nicht ein, warum er das Spiel nicht mitmachen sollte, nachdem er sich ja auch nicht sonderlich zurückgehalten hatte, als die Aussichten weniger angenehm gewesen waren. Trotzdem hätte sie sich den Gag nicht einfallen lassen, wenn sie nicht genau wüsste, wie much woman sie ist, dachte er.

Sie hatte dunkles Haar und eine Figur, die viel zum Verständnis für Katastrophen wie den Trojanischen Krieg beitragen konnte. Ihre Augen mochten graublau sein. Ihr Blick war offen, aber ohne Aufdringlichkeit. Ihre ganze Person strömte eine gesunde Selbstverständlichkeit aus.

Stone knotete das Kleid nach ihren Angaben, half ihr in den Mantel und machte eine kleine Verbeugung.

»Ich heiße Mark Stone, und da ich Sie schon so gut kenne, können Sie mich ruhig Mark nennen.«

»Nur, wenn Sie Nora zu mir sagen«, lachte sie.

Er sammelte seinen Tascheninhalt ein, der noch da lag, wo Hassan ihn hingeworfen hatte, und half ihr in den Mantel. Sie kletterten zusammen den Abhang hinauf. Oben auf der Straße gingen sie langsam dem Taxi entgegen. Stone hatte schon den Mund aufgemacht, um Nora ein paar Fragen zu stellen, als sie sagte:

»Sie als Detektiv werden sich wahrscheinlich fragen, wie ich in eine solche Situation kommen konnte und woher dieser Verbrecher meinen Namen wusste. Ich kann Ihnen da leider nicht viel erzählen.

Ich bin auf Urlaub hier und war heute Nachmittag mit einem befreundeten Ehepaar auf einem Gartenfest. Dort kam das Gespräch auf die Pension, in der ich wohne. Einer der Gäste bat mich, ihm einen Brief zu besorgen. Der Empfänger sei ein Bekannter von ihm und wohne direkt neben meiner Pension. Er habe ihm den Brief noch für heute versprochen. Ich brauche ihn nur in den Briefkasten an seinem Gartentor einzuwerfen. Ich sagte zu, und er gab mir ein geschlossenes Kuvert mit der Adresse seines Bekannten. Abends wollten mich meine Freunde in ihrem Wagen heimbringen. Doch der Wagen wollte nicht. Er blieb unterwegs stecken. Es war nur zehn Minuten zu Fuß bis zu meiner Pension, und ich sagte ihnen, ich fände schon allein nach Hause. Vielleicht dreihundert Meter vor der bewussten Seitenstraße überholte mich die dunkle Limousine, und ich hörte einen Mann ganz deutlich sagen: Da geht sie.

Als ich in die Seitenstraße einbog, stand der Wagen dort, und der Mann, den der Nordafrikaner Al genannt hat, stieg aus und kam hinter mir her. Mir kam das unheimlich vor, und ich ging schneller. Er wurde dann ebenfalls schneller, und ich fing an zu laufen. Das Weitere ist Ihnen ja bekannt.«

»Wissen Sie, ob die beiden anderen, die Sie am Ende der Straße erwartet haben, vorher auch in der Limousine saßen?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Nora, es ist vielleicht sehr wichtig für eine Klärung des Vorfalls - wie hieß der Mann, der Ihnen den Brief gegeben hat, und wie hieß der Empfänger?«

»Der Empfänger hieß Gringal oder jedenfalls ähnlich. Den Namen des anderen kann uns bestimmt Henriette Beaujon sagen. Er hatte nämlich einen ganz unmöglichen Seehundsbart.«

»Wer ist Henriette Beaujon?«

»Das ist meine Freundin. Mit ihr und ihrem Mann war ich heute Nachmittag bei den Lenteuils eingeladen. Es war eine ziemlich große Gesellschaft.«

»Kennen Sie das Ehepaar Beaujon schon lange, Nora?«

»Oh - vielleicht zwei Jahre. Ich bin Directrice bei Granchon, und Henriette kauft in unserem Salon ihre ganze Garderobe ein.«

»Dann müssen die Beaujons aber gut bei Kasse sein.«

»Jean Beaujon ist ein berühmter Mann. Man kennt ihn allerdings nur unter seinem Künstlernamen Jacques Vosgier. Er hat vor dreißig Jahren den Caramel geschrieben, der ein Jahrhundertbestseller geworden ist und ihm ein riesiges Vermögen eingebracht haben soll.«

Stone hatte einen Zettel aus seiner Tasche hervorgekramt.

»Ihre Pension, Nora, ist das die Nummer 23 oder 27 in der Avenue des Flamingos, La Baule les Pins?«

»Ja, Mark, es ist die Nummer 27, Pension Beau Rivage. Aber wie können Sie das wissen?«

»Das ist Berufsgeheimnis.« Stone grinste.

Inzwischen war das Taxi gekommen. Stone nannte dem Fahrer Noras Adresse.

»Müssten wir nicht zur Polizei gehen?«, fragte Nora leise.

»Ach, das mache ich schon. Ich kenne den hiesigen Polizeichef. Vor zweieinhalb Jahren haben wir in einer Sache zusammengearbeitet.«

Das Taxi fuhr sehr schnell. Trotzdem wird es halb zehn sein, bevor ich bei Gringal bin, dachte Stone.

Nach einer Weile hielt der Fahrer vor der Pension Beau Rivage. Stone zahlte, und sie stiegen aus. Dann muss die Villa da drüben Gringal gehören, dachte Stone, als er Nora bis zur Haustür brachte.

»Glauben Sie, dass die Kerle noch mal wiederkommen?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Stone, »das glaube ich nicht, weil sie das, was sie finden wollten, schon gefunden haben. Aber ich möchte Sie trotzdem bitten, ein bisschen auf sich aufzupassen. Hier, nehmen Sie meinen Browning. Morgen Vormittag gehen Sie am besten baden. Es gibt hinter Pornichet eine schöne Stelle am Strand, die à la bonne source heißt. Dort hole ich Sie um elf Uhr zum Aperitif ab. Anschließend können wir zum Essen ins Normandie gehen. Mögen Sie?«

»Gern«, sagte Nora und schaute ihn so strahlend an, dass er sie in den Arm nahm. Aber sie machte sich los und lief die Stufen zur Haustür hinauf. Bevor sie allerdings dahinter verschwand, winkte sie ihm mit einem reizenden Lächeln zu.

 

 

 

 

  Viertes Kapitel

 

 

Die Villa Ker Oberon hatte so wenig von einem Feenschloss wie Gringals Stimme nach Elfenkönig geklungen hatte.

Einer von den großen Steinhaufen, mit denen manche Architekten ihren Namen und die Gegend verschandeln, dachte Stone, als er auf das von mehreren Seiten angestrahlte Gebäude zuging. Man könnte vielleicht darüber hinwegsehen, wenn sie sich nicht wie Ungeziefer vermehren würden, diese Wohlstandsmoränen. Wahrscheinlich, weil es so schnell geht mit dem Aufschütten.

Der Vorgarten war gepflegt, aber stupide in der Anlage. Im Zentrum ein rundes Blumenboskett, um das ein Kiesweg herumlief. Darum ein ringförmiges Blumenbeet, jedoch ohne Durchlass, so dass man den Kiesweg überhaupt nicht erreichen konnte.

Was sich der Gärtner wohl gedacht hat? Stone wusste es noch nicht, als er längst dem Diener durch die Halle folgte. Diese reichte zwei Stockwerke hinauf. Eine geschwungene Treppe führte zu einer Galerie im ersten Stock. Der Diener führte ihn unter der Treppe hindurch.

»Der Chef ist in der Bibliothek.«

Die Bibliothek entsprach so wenig den landläufigen Vorstellungen wie der Diener. Letzterer war ungefähr so distinguiert wie ein Rülpser. Die Bibliothek enthielt keine Bücher. Dafür aber Gringal. Zweifellos ein Mann, bei dem man sofort aufhörte, an fehlende Bücher zu denken. Er war ein energischer Fünfziger mit harten Augen.

Ohne Kleider würde er wie Rodins Penseur aussehen, nur nicht so nachdenklich, war Stones erster Eindruck. Muskulös und auf dem Sprung.

Er kam Stone entgegen und gab ihm die Hand.

»Ich hatte Sie eher erwartet - nehmen Sie bitte hier Platz. Haben Sie schon zu Abend gegessen?« - Stone verneinte und setzte sich. Gringal ließ eine kalte Platte und Rotwein servieren. Während Stone aß, kam er bereits zu seinem Anliegen:

Er sei unter anderem Vizepräsident der Gesellschaft gegen Missbrauch von Opiaten und Verbreitung von Rauschgift. »Diese Gesellschaft«, fuhr er fort, »wurde von einigen Chemiekonzernen, die sich in der Hauptsache mit der Erzeugung von Medikamenten befassen, in der Absicht gegründet, eine Kontrolle aller neu auf dem pharmazeutischen Markt auftauchenden Medikamente auf ihre eventuelle Rezeptpflicht hin durchzuführen und die Öffentlichkeit über die Gefahren der Rauschgiftsucht aufzuklären.«

Stone hätte sich beinahe verschluckt. Zuerst hatte er mit dem Schlucken warten wollen, bis der Satz zu Ende war. Dann wurde der immer länger, und der Brocken in seinem Mund schien sich in eine Betelnuss zu verwandeln. Darauf schluckte er ganz schnell und verpasste das Ende des Satzes.

Was Gringal allerdings nicht hinderte, im gleichen Tempo fortzufahren:

»Wir unterhalten enge Kontakte zum Rauschgiftdezernat der Internationalen Polizeibehörde und sind über das derzeitige rapide Ansteigen des Heroinumsatzes in den meisten europäischen Großstädten unterrichtet und beunruhigt. Unser Referent für Öffentlichkeitsarbeiten, Mandini, hat in meinem Auftrag bereits einige Recherchen durchgeführt und folgendes ermitteln können: Ein gewisser Calix, von dem Mandini vermutet, dass er Großeinkäufer eines weitverzweigten Rauschgifthändlerringes ist, unternimmt regelmäßig Reisen in den Orient. Mandini stellte ihn unter Beobachtung. Es ist diesem Calix bisher jedes Mal gelungen, seine Beobachter abzuschütteln. Einmal in Beirut, ein anderes Mal bereits in Athen. Calix hat dadurch auf sich aufmerksam gemacht, dass er m Paris einen auf dem Montparnasse allseits bekannten Rauschgifthändler, dem man allerdings bisher noch nie etwas nachweisen konnte, in einem Hinterzimmer der Rhumerie Havanaise zusammengeschlagen hat. Eine Überprüfung durch Mandini ergab, dass Calix regelmäßig die Schwerpunkte der neuen Heroinwelle aufsucht.«

Nach diesen Eröffnungen hielt Gringal ein einstündiges Kolleg über Gewinnung, Transport und Verteilung von Rauschgiften im allgemeinen und Heroin im Besonderen, so dass Stone sich im stillen fragte, woher ein Vizepräsident einer gemeinnützigen Stiftung das alles wissen könne. Dann schlug Gringal vor, die Havistone-Detektiv-Agentur solle in seinem persönlichen Auftrag die Produktionsbasis der gegenwärtigen Heroinschwemme durchleuchten.

»Diese Produktionsbasis ist nach den Ermittlungen Mandinis im Iran zu vermuten. Wahrscheinlich werden die Hauptlieferanten in Teheran oder Isfahan zu suchen sein«, meinte Gringal, indem er Stone mit seinen harten Augen musterte, als wolle er ihn an die Rückenlehne seines Sessels nageln. »Wenn Sie mir eine Liste mit den Namen und Preisen dieser Lieferanten bringen, erhalten Sie 20.000 Francs, das heißt rund viertausend Dollar. Alle Spesen gehen selbstverständlich zu meinen Lasten. Falls Sie Erfolg haben sollten, wird unsere Gesellschaft an diese Leute herantreten, um deren gesamte Produktion für die Heilmittelindustrie nutzbar zu machen. Auf diese Weise werden wir dem gegenwärtigen Heroinboom in sanftester Art die Grundlage entziehen, wobei wir außerdem noch einen großen Nutzeffekt erzielen. Für einen Mann von Ihren Qualitäten dürfte dieser Auftrag reine Routine-Arbeit sein.« Gringal rieb sich sein massives Handgelenk, auf dem rote Härchen wuchsen.

»Ich habe einige Fragen zu der Angelegenheit«, sagte Stone, »wenn Sie mir die beantworten und mir vierundzwanzig Stunden Zeit zu eigenen Erkundigungen geben, werde ich den Auftrag übernehmen. Selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass meine Erkundigungen Ihre Ausführungen bestätigen.«

»Bitte, fragen Sie.« Gringals Stimme klang, als hätte ihn der Liftboy wegen einer Gehaltserhöhung angehauen.

»Warum spucken Sie viertausend Dollar aus, w«nn die Durchführung dieses Auftrags nur Routine-Arbeit ist?«

»Weil uns die Durchführung dieses Auftrags so viel wert ist. Es besteht auch die Möglichkeit, dass gewisse Risiken vorhanden sind, die wir bis jetzt noch nicht übersehen können.«

»Wie hieß der Rauschgifthändler, den Calix auf dem Montparnasse zusammengeschlagen hat?«

»Er wird überall Dors-bien genannt, aber ich halte das für einen Spitznamen. Sein richtiger Name ist mir nicht bekannt.«

»Warum übergeben Sie die ganze Sache nicht dem Rauschgiftdezernat der Interpol?«

»Weil die kaiserlich-iranische Regierung dem Interpol-Abkommen bisher nicht beigetreten ist, so dass die Interpol keine Berechtigung hat, auf iranischem Boden tätig zu werden.«

»Wer recherchiert Ihres Wissens in der Angelegenheit noch? Vor allen Dingen, was den Transport und das Verteilersystem anbelangt?«

»Meines Wissens nur Interpol.«

»Warum fährt Ihr Referent Mandini nicht nach Teheran?«

»Weil er der Mann ist, den Calix einmal in Beirut und einmal in Athen abhängen konnte.«

»Wo hält sich Calix auf?«

»Das erfahren Sie, sobald Sie den Auftrag übernommen haben.«

 

 

 

 

  Fünftes Kapitel

 

 

Es ging auf Mitternacht, als Stone über den schlafenden Nachtportier des Hotels Mazy Plage hinweg nach seinem Zimmerschlüssel langte. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, schloss das Zimmer auf und knipste das Licht an. Er grinste seinem Spiegelbild über dem Waschtisch zu und warf seinen Koffer aufs Bett. Dann ließ er die Schlösser aufschnappen und freute sich wie jedes Mal über das dezente Qualitätsgeräusch, das dabei entstand.

Er frönte einem gewissen Snobismus, allerdings weniger, um anderen zu imponieren, als aus dem Gefühl heraus, dass das Beste für ihn gerade gut genug sei. Der Koffer war vorbildlich gepackt.

Die Flasche Armagnac wie immer vorne links. Eine Büchse Corned Beef hinten rechts. Caroline war ein As. Stone machte die Fleischbüchse auf und aß das Corned Beef. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck Armagnac dazu. Er dachte an Gringal. Irgendetwas an der Sache gefiel ihm nicht.

»Ich glaube, dass es an dem Missverhältnis zwischen dem hohen Honorar und der relativ einfachen Aufgabe liegt«, dachte er laut und legte sich ins Bett. Er hatte ja morgen Zeit, um sich die Angelegenheit zu überlegen. Er rauchte eine Zigarette und dachte an Nora. Als er schon längst schlief, war immer noch ein Lächeln in seinem Kleinhirn.

Das Erwachen am nächsten Morgen war viel prosaischer. Der Armagnac hatte einen unangenehmen Geschmack auf der Zunge zurückgelassen. Auf dem Hotelflur schrie eine schrille Weiberstimme nach einer Katze: »Muuukii - Muuukii!« Noch im Halbschlaf dachte Stone, dass er auch nicht käme, wenn er so gerufen würde. Er trollte sich aus dem Bett und ging auf den Miniaturbalkon vor seinem Zimmer, der sich bestenfalls zum Abnehmen einer Parade geeignet hätte, wenn nicht noch fünfzig gleichartige Obstkistchen an derselben Hauswand geklebt hätten.

Ein strahlender Maientag umfing ihn. Die ganze Bucht von Le Pouliguen im Norden bis St. Marc im Süden lag vor ihm, und der Atlantik spielte den Harmlosen. Stone riss die Pyjamajacke herunter und machte eine Kniebeuge. Dann hatte er genug von Natur und Sport, trat ins Zimmer zurück und meldete über sein Zimmertelefon ein Gespräch nach Paris an. Er klingelte der Bedienung. Ein Zimmermädchen, so um die siebzehn, erschien im Türrahmen. Sie musterte mit unverhohlener Bewunderung seinen trainierten Oberkörper. Nach einer Weile fragte sie auch nach seinen Wünschen.

»Butter, Toast, Schinken,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Max Ulrich/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Max Ulrich.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4180-9

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