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Leseprobe

 

 

 

 

ELIZABETH LININGTON

 

 

VIER MÖRDER FÜR MADDOX

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

VIER MÖRDER FÜR MADDOX 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Das Buch

 

Vier mysteriöse Fälle halten das Polizeirevier Wilcox Street in Atem. Der erste ist zweifellos ein Mord; von dem Mörder fehlt jede Spur. Im zweiten und dritten Fall handelt es sich zunächst um Vermisstenmeldungen, und für den letzten könnte es vielleicht eine harmlose Erklärung geben. Aber wie es auch sei - es gibt neue Arbeit für Sergeant Ivor Maddox!

 

»Die Königin der Polizeigeschichten!«

- NEW YORK TIMES

 

Elizabeth Linington (* 11. März 1921 in Aurora Kane, Illinois; † 5. April 1988 in Arroyo Grande, Kalifornien) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Vier Mörder für Maddox erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1973. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  VIER MÖRDER FÜR MADDOX

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Maddox kam ein paar Minuten nach zwei von der Mittagspause ins Revier zurück. Er ging schweigend am Empfangstisch vorbei und streifte weder den dort sitzenden Beamten noch D’Arcy, der neben ihm stand, mit einem Blick.

Der Mann hinter dem Schalter zwinkerte D’Arcy zu. »Vielleicht hat der Mann was gegen Veränderungen. Wäre möglich.«

»Kann sein«, sagte D’Arcy.

»Mit mir wird’s doch wohl nichts zu tun haben, wie?«

»Was denn, zum Beispiel?«, fragte D’Arcy. Maddox’ Schritte verloren sich auf dem Flur des oberen Stocks. Johnny O’Neill lehnte sich im Stuhl zurück und lachte.

»Alle Waliser sind so schwerfällig, dass man sie aufmöbeln muss.«

»Damit gibst du dir beachtliche Mühe, Johnny«, stellte D’Arcy grinsend fest.

Im Revier der Wilcox Street hatte es Veränderungen gegeben, wenn auch nichts Ungewöhnliches. Sie hatten keinen Ersatz für O’Brien bekommen, würden ihn auch nicht bekommen, denn die Polizei war wie üblich knapp an Personal. Der vielversprechende junge Mark Chandos, der im vorigen Jahr zum Kriminalbeamten befördert worden war, war zum Hafen-Revier versetzt worden. Als Ed Carter im April pensioniert wurde und sie einen Ersatz brauchten, bekamen sie Johnny O’Neill vom Präsidium. Der rothaarige Johnny O’Neill, gleichaltrig mit Maddox, mit einem entwaffnenden, schiefen Lächeln, hatte es fast auf Anhieb geschafft, Sergeant Maddox auf die Nerven zu gehen.

»Aufmöbeln«, wiederholte er nun. »Aber da hab ich mir allerhand vorgenommen, D’Arcy, und ich möchte selbst mal wissen, warum ich mir das antue.«

D’Arcy wollte gerade sagen, dass er sich das auch frage, als O’Neill sich gerade setzte, über D’Arcys Schulter blickte und höflich sagte: »Bitte, Madam, können wir Ihnen helfen?« D’Arcy drehte sich um.

Die zögernd unter der Tür stehende Frau kam herein. »Ja, ja. Es ist wegen meinem Sohn. Ich kann mir nicht vorstellen, was geschehen ist, und ich mach mir solche Sorgen. Ich habe alle angerufen, einfach alle, aber keiner weiß etwas, und ich kann mir nicht denken - es passt nicht zu Harry. Er ist immer so rücksichtsvoll, und wo sollte er auch hingehen? Mitten in der Nacht? Er...«

»Beruhigen Sie sich, Madam«, sagte O’Neill. »Mrs. ...?«

»Arthur. Ich bin Mrs. Floyd Arthur, das heißt, mein Mann ist tot, ich bin Ruby Arthur.«

»Und um was geht es, Mrs. Arthur?«

»Das hab ich doch gesagt«, antwortete sie ungeduldig. Sie war eine unscheinbare Frau um die Vierzig, mit kurzem dunklem Haar, das schon ein paar graue Strähnen hatte. Das einzig Auffällige waren die großen dunklen Augen unter den geschwungenen Brauen. Sie trug ein ordentliches, aber unauffälliges, ärmelloses Baumwollkleid. »Wegen Harry. Meinem Sohn. Ich weiß nicht, wo er ist. Es passt nicht zu ihm. Und ich hab...«

»Wollen Sie eine Vermisstenmeldung machen?«, fragte D’Arcy.

Sie drehte sich zu ihm um. »Ja. Ja, das sollte ich wohl, wenn das bedeutet, dass Sie dann nach ihm suchen. Ich kann mir nämlich einfach nicht vorstellen...«

»In dem Fall kommen Sie am besten mit mir nach oben ins Büro, damit ich alles aufschreiben kann...«, sagte D’Arcy. Ein neuer Fall. Schien nichts Besonderes zu sein. Er führte sie die Holztreppe hinauf zum Büro der Kriminalpolizei und stellte sie Maddox vor, der Fotokopien von Karteiblättern las. Maddox, ihr magerer, dunkler und pessimistischer kleiner Waliser, sah bisher nicht besonders aufgemöbelt aus, stellte D’Arcy fest. »Mrs. Arthur möchte eine Vermisstenmeldung erstatten.« D’Arcy bot ihr einen Stuhl an und setzte sich an seinen Schreibtisch; Maddox legte die Fotokopien beiseite und griff nach einem Kugelschreiber.

»Wer wird vermisst, Mrs. Arthur?«

»Harry. Mein Sohn. Ich versteh es wirklich nicht. Es passt nicht zu ihm. Harry - er ist immer auf die Minute pünktlich. Er ist ganz wie sein Vater, schon von klein auf. Und wo soll er denn sein? Weil ich doch schon alle angerufen habe und...«

»Wie ist Ihre Adresse?«, fragte Maddox.

Sie gab sie geistesabwesend an. »Leland Way... ja, wir wohnen zusammen. Meine Tochter Leila ist verheiratet; sie wohnt in Highland Park; aber Harry und Ruth wollen erst nächstes Jahr heiraten, weil sie noch für die Anzahlung für ein Haus sparen. Harry verdient gut - genau wie Floyd. Er denkt immer nur an die Arbeit und ans Sparen; nicht dass er ein Geizkragen wäre, das meine ich nicht. Er kauft mir immer hübsche Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten - aber sonst: zur Arbeit und gleich wieder nach Hause, mehr gibt es nicht. Er...«

»Wie alt ist er?«

»Einundzwanzig. Mit acht hat er Zeitungen ausgetragen, und während der Schulzeit hat er immer nebenher gearbeitet. Er ist zuverlässig, mein Harry, und er...«

»Wann und wo haben Sie ihn zuletzt gesehen, Mrs. Arthur?«

Sie stieß einen langen Seufzer aus und ließ sich zurücksinken. »So etwas hat er noch nie getan. Noch nie. Ich weiß, viele in seinem Alter sind ziemlich wild und treiben sich herum, aber nicht Harry. Der ist wie sein Vater, solide bis in die Knochen. Sie müssten ihn kennen, um zu verstehen, wie merkwürdig sein Verhalten ist. Er ist heute Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen. Und so etwas hat er noch nie getan.«

Maddox legte den Stift aus der Hand. »Für eine Vermisstenmeldung ist das noch etwas früh, Mrs. Arthur. Noch keine 24 Stunden? Ein junger Mann, der - vermutlich - Geld in der Tasche hatte...«

»Mr. Bell hat vorausgesagt, dass Sie so reagieren würden«, stellte sie resigniert fest. »Er ist meiner Meinung, aber er kennt Harry ja auch. Er hat gesagt, er würde gern mit Ihnen reden, wenn Sie das wollen. Er meint auch, wenn man Harry kennt, findet man es nicht mehr komisch. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Harry treibt sich nicht herum. Er geht zur Arbeit und kommt nach Hause. Er hat zwei Jobs - im Hauptberuf arbeitet er bei einem Bauunternehmer, bei einer neuen Wohnsiedlung in La Crescenta - und dann abends als Tankwart bei Mr. Bell in Melrose. Außer zur Arbeit geht er nur zu Ruth - ich hab Ihnen ja gesagt, dass sie verlobt sind -, an seinem freien Abend, meine ich. So komisch es klingt, aber sie gehen kaum mal ins Kino. Harry macht sich nichts draus, und Ruthie auch nicht. Sie ist ein liebes Mädchen und passt so gut zu Harry.«

»Ja«, sagte Maddox. »Wann und wo haben Sie ihn zuletzt gesehen, Mrs. Arthur?«

»Wieso? Gestern nach dem Abendessen natürlich. Er kam zur üblichen Zeit nach Hause, kurz nach sechs. Und ich hatte das Essen fertig. Frikadellen und Erbsen und Möhren und Kartoffelbrei und Schokoladenpudding. Ich steh schon um fünf Uhr auf. Ich arbeite bei Stella-Damenmoden, das ist nicht weit, am Sunset; ich kann zu Fuß hingehen. Ich bin um halb sechs nach Hause gekommen, wie immer. Ich hab das Essen gekocht, dann ist Harry gekommen, wir haben gegessen, und er hat mir beim Abwaschen geholfen. Danach hat er geduscht und sich noch mal rasiert und ist zur Tankstelle. Außer sonntags arbeitet er da jeden Abend von acht bis elf. Und nachts ist er überhaupt nicht nach Hause gekommen. Ich hab es erst heute Morgen bemerkt. Ich bin gegen halb elf ins Bett gegangen und hab erst nach dem Aufstehen gesehen, dass er nicht zu Hause war. Und sein Wagen war auch nicht da. Ich hab einen Mordsschrecken bekommen und gleich Mr. Bell angerufen; er hatte Angst, es wäre eingebrochen worden - bloß, dass wir das erfahren hätten -, und ist gleich zur Tankstelle gefahren, aber da war alles in Ordnung. Die Kasse war versperrt und alles war richtig abgeschlossen. Nur von Harry keine Spur, bloß sein Wagen war da.«

»Sein Wagen?«, fragte Maddox. »Das ist ungewöhnlich. Er stand bei der Tankstelle?«

»Ja. Er stand da, hat Mr. Bell gesagt. Aber das Geld war im Safe. Er vertraut Harry; er darf an den Safe, verstehen Sie? Alles war in Ordnung. Als hätte Harry wie üblich um elf Uhr abgeschlossen. Aber warum ist er dann nicht nach Hause gekommen? Ich habe jeden angerufen, der mir überhaupt eingefallen ist, alle seine Freunde. Niemand weiß etwas. Und Ruthie...« Plötzlich sah sie so aus, als würde sie gleich weinen.

»Nun warten Sie mal«, sagte Maddox langsam. »Ich glaube, es ist zu früh, sich zu beunruhigen, Mrs. Arthur. Es könnte doch ein Bekannter vorbeigekommen sein und ihn zu einer Party eingeladen haben, nachdem er die Tankstelle geschlossen hatte - so etwas, meine ich. Es war schließlich Samstagabend. Vielleicht ein Freund, den Sie nicht kennen. Und...«

»Sie wissen nicht, wie Harry ist«, wandte sie ein, »Er hätte mir Bescheid gesagt. Und so lange dauert doch keine Party. Ich - ich hab schreckliche Angst, dass was passiert ist - aber was?«

»Wenn Sie eine offizielle Anzeige machen wollen, nehmen wir sie natürlich auf.« Maddox notierte die Personalangaben. Harry Arthur, 21, 1,72, 75 Kilo, dunkle Haare und Augen, keine besonderen Kennzeichen. Braune Gabardinehose, braunes Hemd, braune Mokassins. »Aber ich glaube, Sie machen sich grundlos Sorgen, Mrs. Arthur. Junge Männer...«

»Nein«, erklärte sie entschieden. »Nicht Harry. Sie müssten ihn kennen, um das zu verstehen.« Sie stand auf. »Was werden Sie unternehmen? Fragen Sie in den Krankenhäusern nach und...«

»Wir suchen nach ihm.« Maddox erhob sich höflich. »Halten Sie mit uns Verbindung. Rufen Sie uns an, wenn er heute Abend nach Hause kommt.«

»Selbstverständlich - aber ich habe große Angst -, es passt nicht zu ihm.« Sie sah einen Augenblick zögernd die Männer an, sagte dann: »Auf jeden Fall vielen Dank«, und ging hinaus.

»Es könnte was auf sich haben, Ivor«, sagte D’Arcy. »Ja, sicher - einundzwanzig. Aber die Menschen sind verschieden, und sie sollte ihn kennen. Der strebsame, fleißige junge Mann - zwei Arbeitsstellen...«

»Ja, und immer nur Arbeit und kein Vergnügen«, murmelte Maddox. »Also schön, er ist solide. Er könnte jemand eine Nachricht für sie gegeben haben: Ich bleibe bei Bill und mache morgen einen Ausflug mit ihm. Sie hat die Nachricht nur nicht bekommen. Wir können die Krankenhäuser anrufen, aber ich glaube, der Fall wird sich in Wohlgefallen auflösen... Ich möchte wissen, ob Cesar diese Galgenvögel aufgetrieben hat.«

»Ich hab versprochen, ihm die Hälfte der Liste abzunehmen. Ich könnte ja auch mal was arbeiten«, sagte D’Arcy träge. Einen Augenblick blieben sie stumm sitzen und dachten beide an den langen, heißen Sommer, den sie vor sich hatten. Die erste kurze Hitzewelle in diesen letzten Junitagen hatte die Verbrechensquote schon ansteigen lassen; mit dem Fortschreiten des Sommers würde es schlimmer werden.

Die Schulen hatten Sommerferien; die Kinder trieben sich herum und hatten Zeit, auf dumme Gedanken zu kommen. Es gab ein paar Fälle von Vandalismus, dazu kamen die Ladendiebstähle und die gelegentlichen Kämpfe jugendlicher Banden. Und es gab sehr viel mehr Ärger mit Rauschgift als im vorigen Jahr, mit allen dazugehörenden Bagatell- oder schwerwiegenderen Fällen, die sich daraus entwickelten.

Am Freitagabend war in dem neuen, am Hang liegenden Haus von Mr. und Mrs. George Vedder von mindestens zwei Männern eingebrochen worden. Mr. Vedder, 68 Jahre alt und allein im Haus, hatte nur zwei gesehen. Sie hatten Mr. Vedder zusammengeschlagen, dann das Haus geplündert und waren mit Schmuck im Schätzwert von 20.000 Dollar, einem Nerzmantel, Mrs. Vedders gesamter Garderobe, dem Farbfernsehgerät, einem neuen Smith-&-Wesson-Revolver, Kaliber 38, und einem Transistorradio entkommen. Mr. Vedder konnte im Krankenhaus nur eine vage Beschreibung der Männer geben, und die Beamten der Wilcox Street suchten nun nach Tätern, auf die die Handschrift der Tat passte.

Am Donnerstag hatte es nachts am Sunset einen Einbruch in ein Juweliergeschäft gegeben; bisher fehlte jede Spur. Wenn der Einbrecher so töricht war, die Beute zu verpfänden, würden sie wahrscheinlich ihn und die Beute schnappen. Alle Pfandleihen in der County Los Angeles standen unter scharfer Kontrolle; aber die Sache hatte einen professionellen Eindruck gemacht, und vermutlich hatte der Einbrecher seinen eigenen Hehler.

Sergeant Ellis und Lieutenant Eden halfen den Kollegen vom FBI bei der Suche nach einer großen Menge gefälschter Zwanzig-Dollar-Scheine, die überall in der Stadt verteilt wurden. Bis jetzt waren die Verteiler der Polizei um eine Nasenlänge voraus, und das Geschrei der reingelegten Geschäftsbesitzer nahm ständig an Volumen zu.

Gestern, am Morgen, war eine Leiche auf der Fernwood Avenue gefunden worden, wahrscheinlich das Opfer eines flüchtigen Autofahrers. Fernwood war eine schmale alte Wohnstraße unterhalb von Sunset, pechschwarz in der Nacht; und um die Zeit fast ohne Verkehr. Aber der Tote, ein Mann von etwa fünfzig, hatte keinen Ausweis gehabt. Jetzt warteten sie auf den Obduktionsbefund und mögliche Hinweise von Dr. Bergner.

Im Großen und Ganzen war es eine ruhige Woche gewesen, aber bei der einsetzenden Hitzewelle konnte sich das jeden Tag ändern.

Maddox stand gähnend auf. »Ich hab noch ein paar Namen von der Zentralkartei bekommen. Einbrecher, die nach der Methode arbeiten, soweit man das eine Methode nennen kann, wenn einer einbricht und den Hausbesitzer zusammenschlägt. Soll ich mal weissagen? Diese Bande macht es noch mal, ehe wir sie erwischen.«

»Deine Sorgen möchte ich haben!«, sagte D’Arcy, und dann streckte Sergeant Daisy Hoffman den blonden Kopf durch die Tür und fragte, ob sie Sue gesehen hätten.

»Carstairs? Keine Ahnung, wo sie steckt. Tut mir leid.«

»Ach«, seufzte Sergeant Hoffman. »Na, vielleicht ist sie unten.«

Maddox knurrte: »Lässt sich von dem blöden Iren den Kopf verdrehen. Es ist - ungehörig. Jawohl.«

Beide betrachteten ihn mit verstecktem Interesse. »Sie wird schon irgendwo sein«, sagte Sergeant Hoffman unbestimmt. »Diese verdammten Ausreißer - wir haben schon wieder zwei aufgegriffen. Kaum sind die Schulen zu, packt sie die Sehnsucht nach Hollywood. Ich frag mal Johnny nach ihr.« Der blonde Kopf verschwand.

»Dieser verdammte Ire«, sagte Maddox.

Rodriguez kam herein. Er zog einen mürrisch aussehenden großen Mann hinter sich her. »Setzen Sie sich, Carl. Keine Aufregung, nur ein paar Fragen.«

»Verdammte Bullen! Ich hab nix gemacht. Bloß weil ich mal reingefallen bin, glaubt ihr blöden Bullen...«

Sie hatten die Platte schon so oft gehört, dass sie gar nicht mehr reagierten. Joe Feinman kam und ging zu Rodriguez. Sie begannen Fragen zu stellen. »Freitagabend? Muss ich überlegen. Ich hab da in einer Bar einen Bekannten getroffen, das war so um fünf, schätze ich...«

Auf Maddox’ Schreibtisch klingelte das Haustelefon. »Sag bloß nicht, dass es was Neues gibt!« unkte D’Arcy.

»Maddox.«

»Sie haben einen neuen Mord, Sergeant Maddox«, sagte O’Neills fröhliche Stimme in sein Ohr. »Nach dem Motto: keine langweilige Minute. Auf der Rosewood Avenue.«

»Oh, verdammt! Was ist es?«

»Mehr weiß ich auch nicht. Die Dame hat nur gesagt: Sie müssen einen Krankenwagen schicken, hier ist eine Tote. Den Krankenwagen hab ich geschickt. Die Einzelheiten müssen Sie selbst herausbekommen. Ach, falls Tante Daisy noch nach Sue sucht: sie kommt gleich rauf. Dann viel Spaß mit der Leiche.«

Maddox warf den Hörer unnötig heftig auf. »Komm mit«, sagte er zu D’Arcy. »Wir müssen uns das ansehen.«

Auf dem Flur trafen sie Police Officer Carstairs, die eilig zu Sergeant Hoffmans Büro lief. »Hallo!«, sagte sie lässig.

»Sie sind ja wohl zur Polizei gekommen, um mit für Recht und Ordnung zu sorgen und nicht, um mit dem Beamten am Empfang zu flirten. Sie...«

»Ach du liebe Güte!«, stöhnte Sue wütend. »Wenn ich an einem Sonntag nicht mal vierzig Minuten Mittagspause machen und drei Minuten mit Johnny reden kann, was ist das dann für ein Dienst...«

»Beeilen Sie sich, Sergeant Hoffman sucht Sie.« Sue ging mit zornigem Gesicht an Maddox vorbei. »Der Kerl schafft nichts als Unruhe. - Das Mädchen war früher mal sehr in Ordnung. Wozu mussten sie uns diesen verdammten Iren schicken! Tante Daisy! Die ganze Disziplin geht zum Teufel!«

D’Arcy ging hinter ihm die Treppe hinunter und wechselte auf dem Weg zur Tür einen Blick mit O’Neill, der ihm zublinzelte. O’Neill saß am Empfang und summte vor sich hin. Nicht zum ersten Mal stellte D’Arcy fest, dass Johnny O’Neill ein gutaussehender Bursche war.

Er hoffte, dass es mit dem neuen Mord nicht zu viel auf sich haben würde. Er hatte sich am Abend mit Sheila Fitzpatrick verabredet.

 

Rosewood Avenue gehörte noch vor dreißig Jahren zu einer recht ansehnlichen Wohngegend. Heute war es eine heruntergekommene Straße mit Stuckhäusern von 1925, an deren ganzer Länge die Hollywood-Autobahn entlanglärmte.

Sie erkannten ihr Ziel an dem Krankenwagen vor dem Haus. Ein Mann der Mannschaft lehnte rauchend am Wagen und betrachtete bewundernd den rassigen blauen Maserati, den Maddox hinter dem Krankenwagen zum Halten brachte. »Donnerwetter! Is der importiert?«

»Ja. Und was gibt es hier?«, fragte Maddox ungeduldig. »Herzschlag, Schlaganfall?«

Der Mann grinste. »Sieht mehr nach ’ner Kugel aus. Da wir wissen, wie genau ihr es nehmt, haben wir nichts angerührt, damit ihr euer kleines Geheimnis habt. Zwei Frauen, wohnen zusammen, die eine kommt herein und findet die andere tot vor. Sagt sie wenigstens. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sergeant. Sie wird in die Kristallkugel sehen und Ihnen die Lösung sagen. Sie sind Wahrsagerinnen oder sowas.«

»Wahrsagen ist innerhalb der Stadtgrenzen verboten«, sagte Maddox.

»Nicht, wenn sie es Religion nennen«, stellte der Mann fest.

Neugierige Nachbarn standen in Grüppchen herum. Das Haus war alt und größer als die anderen und hätte dringend gestrichen werden müssen. Der Rasen vor dem Haus war ungepflegt, braun und fleckig. Maddox und D’Arcy gingen, von allen Blicken verfolgt, zu der kleinen, quadratischen Betonloggia. Die Haustür stand auf; über dem Briefkasten hing ein sauber gedrucktes Schild.

 

LICHTKREIS-GEMEINDE

WÖCHENTLICHES TREFFEN MITTWOCH 20 UHR

PRIVATE BERATUNG NACH VEREINBARUNG.

 

Im vorderen Zimmer, das dunkel war und schal roch, fanden sie den Arzt mit einer großen, dürren, dunklen Frau vor, die ununterbrochen mit schriller Stimme redete. Sie saß auf einer alten, mit verschossenem grünem Samt bezogenen Couch und presste eine gewaltige schwarze Handtasche vor die Brust.

»...fast zwanzig Jahre zusammen - und kein böses Wort. Sylvia und ich haben uns so gut verstanden - und die liebe Sylvia, eine so wundervolle Seele, wir haben uns so gut ergänzt. Ich hab es einfach nicht glauben können, wo doch erst gestern bei der Sitzung der liebe Mr. Clemens sich so deutlich manifestiert hat und so freundlich und hilfsbereit war und uns doch sicher gewarnt hätte; denn er hätte es doch bestimmt gewusst, wenn Sylvia in Todesgefahr schwebte - und er hat kein Wort gesagt, immer nur, wie gut es ihm mit all seinen alten Freunden ging. Ich hätte bestimmt geglaubt, dass er es sagen würde. Und als ich fortging, saß die liebe Sylvia dort ganz ruhig und hat gelesen. Sie hatte bis vier Uhr keine Verabredung; und zum Lunch hat sie nur ein halbes Glas Milch getrunken, um sich auf die Sitzung mit Mrs. Nestor vorzubereiten, natürlich. Sie hat mich noch an die Koteletts erinnert, weil sie nach einer wirklich erfolgreichen Sitzung immer ganz ausgehungert ist - wissen Sie, wegen der großen Kraft, die sich manifestiert. Und wirklich, als ich hereinkam und sie gefunden habe - gefunden -, hab ich im Augenblick den Kopf verloren. Sylvia. - So nett von Mrs. Miller, dass sie für mich die Polizei gerufen hat, wo sie doch früher oft so unfreundlich gewesen ist und es böse Worte gegeben hat. Aber ich muss an das denken, was uns unsere Freunde von drüben ja auch immer nahelegen: ich darf keine profanen Gedanken haben und nur an Liebe und Gott denken. Aber man sollte doch meinen, dass wenigstens eine der freundlichen Seelen von drüben Sylvia gewarnt hätte. Nicht, dass man sich vor dem Tod fürchten müsste, aber doch wegen der Vorbereitung für den Übergang. So ein Schrecken, hier hereinzukommen und sie zu finden...«

Der Arzt gab stumm ein Zeichen, und Maddox und D’Arcy gingen durch das armselige Wohnzimmer auf einen Flur mit Blick in die große Küche gegenüber und drei Türen am anderen Ende. Zwei normale Schlafzimmer, verhältnismäßig ordentlich, ein altmodisches, schwarzweiß gekacheltes Bad und dann, ganz am Ende des Flurs, ein größeres Schlafzimmer, das aber nicht zum Schlafen eingerichtet war.

In der Mitte des Raums stand ein großer, quadratischer Holztisch mit vier Rohrstühlen, von denen einer umgekippt war. Der Raum war mit einem abgetretenen beigefarbenen Teppich ausgelegt. In einer Ecke stand auf einem kleinen Tisch ein billiges Koffergrammophon, neben ihm ein Ständer für Platten. Die vorderste Langspielplatte enthielt Inspirational Hymns, wie das Etikett besagte. Die Vorhänge des einzigen Fensters waren aus blauem Samt und sahen staubig aus. An einer Wand hing ein alter Kupferstich: Die Auferstehung aus dem Grabe. Und an der anderen Tischseite, als sei sie aus dem umgestürzten Stuhl gefallen, lag die Leiche einer Frau.

Sie betrachteten sie einen Augenblick stumm. Sie lag auf dem Rücken mit zur Seite gedrehten Beinen; in ihrer Stirn waren zwei kleine schwarze Löcher. Sie hatte nur wenig geblutet. Sie mochte fünfzig Jahre alt sein, eine dicke Frau, aber nicht schwammig, ein rundes, hellhäutiges Gesicht, blaue Augen und eine Fülle rotblonder Haare, die sich zum Teil aus dem großen Knoten gelöst hatten und in das Gesicht fielen. Die Augen waren schreckgeweitet und starr. Sie trug ein langes, weites hellblaues Baumwollhauskleid, das sie in graziösen Falten umhüllte. Ein runder kleiner, nackter Fuß kam unter dem Saum hervor. Der Samtpantoffel lag daneben.

Endlich stellte D’Arcy traurig fest: »Kleines Kaliber. Darum hat auch keiner die Schüsse gehört. Falls sie nicht gehört wurden.«

»Oder die Leute glaubten an Fehlzündungen«, sagte Maddox. »Wir können danach fragen.«

»Und diese - Sitzungen?«

»Séancen. Wir sollten die Mannschaft vom Labor rufen, damit sie gleich anfangen kann.« Maddox starrte die Kristallkugel auf dem Tisch an. Was für eine Situation, dachte er. Sie hatte für einen Kunden in die Kristallkugel gesehen. Hatte ihm nicht gefallen, was Sylvia darin gesehen hatte? Er seufzte und machte sich auf die Suche nach dem Telefon. Vorsichtig griff er nach dem Hörer. - Man konnte nie wissen, wo Spuren auftauchten. Nachdem er das Labor angerufen hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück, wo D’Arcy mit der Vernehmung der anderen Frau begann.

»Es tut uns leid, Sie in dieser Situation behelligen zu müssen, Mrs. - Miss? Aber wir müssen Sie fragen...«

»Oh, das verstehe ich«, sagte sie seelenvoll. »Oh, ich verstehe das. Es geht mir jetzt wieder viel besser. Der freundliche junge Mann dort... Obwohl wir natürlich nicht an Medikamente glauben; für uns gelten Ruhe, Gebete und Meditation. Und ich kann auch nicht richtig trauern, höchstens, dass ich allein geblieben bin. Weil doch der Tod nur ein Übergang in einen viel wünschenswerteren Zustand ist, was unsere Wissenschaft uns so klar bewiesen hat.

»Ich hab ihr eine Spritze gegeben«, murmelte der Arzt. »Das Herz hat ganz schön geflattert. Die Arme hat einen schweren Schock, sie macht Ihnen bestimmt nichts vor.«

Es war gut, das zu wissen. Sobald sie präzise Fragen stellten, antwortete sie überraschend klar, wenn auch etwas weitschweifig. Sie war Madame Cecilia. Also, Cecilia Taylor, beruflich aber nannte sie sich... Die Tote war Madame Sylvia, eigentlich Brown. Sie selber hätte um ein Uhr eine Verabredung mit Mrs. Westfall gehabt, erklärte Madame Cecilia. Daher war sie um halb eins fortgegangen, weil die Busse zu unregelmäßig fuhren. Sylvia war zu der Zeit ganz wie immer gewesen und hatte sie noch an die Koteletts erinnert. Sylvias Vier-Uhr-Termin war mit Mrs. Nestor gewesen und andere Besucher hatte sie nicht erwartet. Aber Mrs. Nestor würde Sylvia nie und nimmer etwas angetan haben - und im Übrigen war es ja noch gar nicht vier Uhr. Niemand würde Sylvia etwas antun wollen. Im Gegenteil: alle waren Sylvia überaus dankbar. Ein Einbrecher, sagte Madame Cecilia. Es konnte nur ein Einbrecher gewesen sein.

Sie baten sie, nachzusehen, ob etwas fehle. Inzwischen war die Labor-Mannschaft eingetroffen; sie begannen die Routinearbeit in dem Raum, in dem die Leiche lag. Sie sah nach und sagte zweifelnd, es schiene nichts zu fehlen. Sylvias Mondsteinkette war da und auch der Verlobungsring ihrer Mutter. »Ich habe natürlich die Skarabäen getragen, die hier, ich trag sie ja noch. Sie bringen Glück und helfen, die Kraft herbeizuholen. Ich wollte doch so gern etwas erreichen, um Mrs. Westfall eine Freude zu machen. Ich glaube, Sylvia hat ihren Blutsteinring getragen; sie trägt ihn immer. Den haben sie ihr doch nicht genommen, nicht wahr? Nein, ich glaube nicht, dass etwas fehlt...«

Feinde? Drohungen? Aber nein! Niemand hatte einen Grund, Sylvia etwas anzutun. »Ihr Leben war dem Dienst an ihren Mitmenschen gewidmet - unser beider Leben. Und alle waren so rührend dankbar! Wir konnten sie mit ihren Lieben in Verbindung bringen und...«

»Ein kleines Geheimnis, wie der Mann vom Krankenwagen so richtig gesagt hat«, bemerkte D’Arcy. Sie standen in der Loggia; die Nachbarn standen noch auf der Straße. »Und das zu allem anderen, was wir am Hals haben.«

»Also fangen wir mit der Routine an«, murrte Maddox. »Vielleicht kommt was zutage. Die Nachbarn könnten uns weiterhelfen. Kleine Grundstücke, die Häuser dicht nebeneinander, vielleicht hat jemand einen hineingehen sehen. Lieber Gott, ein Medium!«

»Schwindel? Betrug?«

Maddox hob die Schultern. »Da hast du freie Wahl. Such dir was aus.«

»Schön, fangen wir mit der Routine an. Gut möglich, dass es um Betrug geht. Eines der Opfer ist böse geworden.«

»Da bin ich nicht sicher«, stellte Maddox nüchtern fest. »Es muss nicht sein. Die andere Frau hört sich echt an; sie meint es vielleicht ehrlich und macht sich selbst was vor. Ich hab genug Beweismaterial gelesen - und von Beweisen sollte ein Polizist was verstehen -, um von etwas überzeugt zu sein, D’Arcy: Kein Mensch hört plötzlich auf, als Bewusstseinseinheit zu existieren, nur weil er das ist, was wir tot nennen.« Maddox las alles, was ihm in die Hände geriet. »Aber ob nun jeder körperlose Geist jedem wahren Gläubigen, der Hymnen singt und ihn zum Plaudern einlädt, zur Verfügung steht, das ist eine ganz andere Frage.«

»Wie du mal wieder recht hast«, stellte D’Arcy düster fest. »Auf zur Routine. Fragen wir die Nachbarn. Auf jeden Fall war diese Dame Cecilia echt erschüttert.«

»Trotzdem werden wir bei ihr nachbohren.«

Dabney kam heraus. Sie hätten nicht viele brauchbare Abdrücke gefunden und wären bald fertig, sagte er. Der Wagen könne die Leiche fortbringen. Sie hatten beide Kugeln gefunden, wenig verformt, glatte Durchschüsse. Aus nächster Nähe abgeschossen, aber doch nicht nahe genug, um Pulverspuren auf der Haut zurückzulassen. Dann verließ er sie, um zum Labor zu gehen.

»Danach könnten wir die Waffe feststellen«, sagte D’Arcy. »Glaubst du das wirklich? Das mit der echten Manifestation? Dass dieser Dr. Rhine...? Na, ich hab nicht viel davon gelesen...«

»Die Beweise sind schlüssig.« Maddox wirkte geistesabwesend. »Was natürlich nicht heißt, dass jede Madame Sylvia in echtem Kontakt mit dem Jenseits steht... Und da gibt’s noch was, verdammt noch mal. Die Carstairs geht regelmäßig zur Kirche.«

»Was?«, fragte D’Arcy. »Kirche?«

»Und der vermaledeite Ire geht auch. Sie hat es gesagt. Er kommt jetzt in ihre Gemeinde. Was in drei Teufels Namen tut einer, der O’Neill heißt, in einer Episkopalkirche?«

»Das weiß ich nicht«, sagte D’Arcy. »Sollten wir jetzt nicht lieber die Nachbarn verhören? Um mal voranzukommen?«

»Ach, zum Teufel, ja.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Was sie von den Nachbarn erfuhren, war weniger als gar nichts. Mrs. Miller von nebenan hatte einen Mann auf das Nachbarhaus zugehen sehen, gegen halb zwei Uhr, glaubte sie. Sie konnte ihn nicht beschreiben und wusste nicht einmal seine Größe. Die Zeitangabe entsprach ungefähr der vom Arzt geschätzten Zeit des Todes.

»Ich hab mich nicht darum gekümmert, was da vor sich ging«, sagte Mrs. Miller tugendsam. »Als sie eingezogen sind, haben wir damit gerechnet, dass es Ärger geben würde, aber dann war nichts - keine lauten Gesellschaften oder so was -, bloß manchmal das Grammophon ganz aufgestellt, aber eben nur Kirchenlieder. Daran haben wir uns dann gewöhnt und nicht weiter drauf geachtet. Ich persönlich halte ja nichts von solchen Sachen und glaub auch nicht, dass Verstorbene wiederkommen und mit einem reden können. Glauben Sie das?«

Maddox erklärte diplomatisch, dass es darüber verschiedene Meinungen gäbe. »Sie können nicht sagen, ob Sie den Mann vielleicht früher schon mal gesehen haben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Irgendein Mann, der zum Haus ging. Ich hab nicht auf ihn geachtet.« In den anderen Häusern war niemand zu Hause gewesen, und die weiter entfernt wohnenden Nachbarn hatten nichts gesehen oder gehört.

Sie sprachen noch einmal mit Cecilia und erfuhren dies und das. Dinge aus der Vergangenheit. Offenbar war Sylvia vor vielen Jahren verheiratet gewesen. Aber er war, laut Cecilia, ein sehr irdischer Mensch, und als Sylvia sich für Okkultes zu interessieren begann und ihre mediale Veranlagung entwickelte, war es zur Scheidung gekommen. Cecilia hatte seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern. Sie sprach sehr offen über die Lichtkreis-Gemeinde: eine gute Gemeinschaft von Gläubigen; sie spendeten, soviel sie konnten; obwohl keiner von ihnen reich war. Natürlich verlangten sie und Sylvia für private Sitzungen extra Bezahlung, nicht, dass es dabei allein um das Geld ging, aber sie mussten leben und es musste eben sein. Dann gaben sie noch Annoncen in den einschlägigen Zeitschriften auf. Sie beantworteten briefliche Fragen über psychische Dinge.

Sie nahmen sie in die Wilcox Street mit, um eine formelle Aussage aufzunehmen, und ließen sie dann von einem Streifenwagen nach Hause fahren. »Wenn sie was mit dem Mord zu tun hat«, sagte Maddox, »fress ich meine Dienstmarke. Und die Labor-Leute haben die Wohnung durchgekämmt.«

»Die beiden haben ganz hübsch verdient«, bemerkte D’Arcy. »20 Dollar für eine private Séance, mein Gott! Um Madame Sylvia zuzusehen, wenn sie vortäuscht, in Trance zu fallen und Botschaften von Onkel Bill zu übermitteln. Die Leute...«

»Mach’s nicht ganz so wild, D’Arcy«, sagte Maddox nachdenklich. »Soweit man nach Madame Cecilia schließen kann, waren beide nicht bewusst auf Betrug aus. Vielleicht war tatsächlich etwas wie Parapsychologie im Spiel - viele Menschen sind dafür latent geeignet. Du glaubst gar nicht, wie viele sentimentale und wohlmeinende Menschen etwas aus dem Unterbewusstsein heraufholen und dann ehrlich glauben, dass es Onkel Bill ist. Und immer gibt es zahllose Leute, die nichts lieber wollen, als ihnen zu glauben. In gewisser Weise sind die Sylvias und Cecilias auch nur arme Opfer.«

»Ich glaube es nicht. Die wussten, was sie taten. Stell dir doch nur vor, 20 Dollar!«

Maddox ließ das Thema fallen. Er wusste ein wenig mehr darüber als D'Arcy. Sicher, es gab genügend bewusste Betrüger in diesem Metier, die Brimborium machten und die Geisterstimmen vortäuschten, aber das waren andere Typen als Cecilia und Sylvia. Und hatte das etwas mit dem Mord zu tun? Wahrscheinlich nicht.

»Ich fürchte, wir werden mit jedem Mitglied dieser Gemeinschaft sprechen müssen, das an den Treffen teilgenommen hat. Und werden nichts herausbekommen, es sei denn, einer hat aus irgendeinem Grund mit Madame Sylvia Krach gehabt.«

»Unwahrscheinlich«, brummelte Maddox. Eine feine Arbeit, wahrhaftig. Sie hatten eine Anwesenheitsliste geführt, die unterschrieben werden musste. Es gab also Namen und Adressen. Aber die Sorte Menschen, die von so etwas wie der Lichtkreis-Gemeinde angezogen wurde, neigte selten zu Gewalttaten. Es waren dumme, sanfte, furchtsame oder sensationslüsterne Leute mit viel Zeit und meistens aufrichtigen, wenn auch vagen religiösen Sehnsüchten.

Rodriguez und Feinman kamen herein. Rodriguez sah verschwitzt und verärgert aus. »Zeitverschwendung, glatte Zeitverschwendung«, brummte er, warf sich auf den Schreibtischstuhl, lockerte die Krawatte und zündete sich eine Zigarette an. »Diese Galgenvögel! Jeder, bei dem wir waren, hätte den Vedder-Einbruch machen können; bis auf zwei, die hatten Alibis. Wir haben bei Vedder noch mal nachgebohrt. Es geht ihm besser. Er soll morgen entlassen werden. Ein zäher alter Kerl. Aber seine Beschreibungen taugen nichts. - Ich hab gehört, wir hätten einen neuen Mord?«

»Ein Medium«, sagte D’Arcy. »Zwei Mediums. Die Lichtkreis-Gemeinde! Und kein Hauch von einer Spur.«

»Vaya, zur Abwechslung mal was Exotisches. Schwarze Messen und Orgien?«, erkundigte sich Rodriguez.

Maddox lachte kurz auf. »Ganz im Gegenteil. Zwei biedere Frauchen in reiferen Jahren, die es fertigbringen, von den eigenen Wahnideen und den Wunschträumen anderer ganz gut zu leben.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, du hieltest was...«

»Oh, dafür gibt es Beweise. Echte Beweise sogar. Aber ein wirklich gutes Medium, D’Arcy, wohnt kaum in einer so armseligen Straße, hält wöchentlich Séancen ab und lässt den Hut für milde Gaben herumgehen. Und wird sich nicht anbieten, brieflich drei Fragen für 5 Dollar zu beantworten, sei es per Kristallkugel oder Kartenlegen. Und warum sich diese Sylvia hat ermorden lassen, geht einfach über meinen Horizont. Es ist ein ungewöhnlicher Fall.« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Es war schon fast halb sechs.

Ellis und Lieutenant Eden kamen mit Brandon vom FBI von unten herauf. Sie sprachen miteinander und hörten sich ärgerlich und enttäuscht an. Sie verschwanden in Edens Büro; die Tür knallte hinter ihnen zu. In diesem Moment erschien Dr. Bergner im Dienstzimmer. Die Zigarre im Mund, knurrte er: »Ihr verschwendet mal wieder das Geld der Steuerzahler, sitzt rum und quatscht. Hier ist der Bericht über euren Unfalltoten. Ist nicht viel dran. Wahrscheinlich war es kein großer Verlust. Und jetzt habt ihr schon wieder Arbeit für mich. Darum kümmere ich mich morgen. Heute gehe ich mit meiner Frau zum Essen aus.« Damit verschwand er wieder.

»Ist’s dir recht, wenn ich ein bisschen früher abhaue?«, fragte D’Arcy. »Ich bin verabredet.« Er gähnte. Die ersten richtig heißen Tage waren immer anstrengend.

Maddox überflog den Obduktionsbefund. Eine genaue Beschreibung der Leiche: alles wies auf einen Gewohnheitstrinker hin; und er war betrunken gewesen, als er überfahren wurde. Das Labor hatte seine Kleidungsstücke. Maddox schob D’Arcy den Bericht zu. »O’Neill soll die Beschreibung dem Vermissten-Dezernat durch telefonieren; dann kannst du gehen. Kein großer Verlust, wie der Doktor sagt, aber wir müssen wenigstens tun, was von uns erwartet wird.«

»Wenn sie’s noch mal versuchen«, sagte Rodriguez gedankenverloren, »die Galgenvögel, meine ich, bekommen wir vielleicht eine bessere Beschreibung.«

»Das ist ein schwacher Trost, Cesar«, meinte Feinman, »aber du hast natürlich recht. Wir könnten sie bekommen. Mir tun die Füße weh. Ich glaube, ich gehe auch früher.«

D’Arcy fuhr nach Hause in das alte Haus oberhalb von Silver Lake, das er aus Entschlusslosigkeit nach dem Tod seiner Eltern behalten hatte. Er rasierte sich, duschte und holte Sheila Fitzpatrick ab. Er ging mit ihr in die Neun Musen und sie sprachen an der Bar und beim Essen ausschließlich über Fotografie. Am Ende landeten sie in D’Arcys Dunkelkammer.

Maddox fuhr nach Hause, stellte ein Fertiggericht in den Backofen und suchte in den Bücherregalen nach etwas über Parapsychologie. Er aß geistesabwesend, ganz auf Zwischen zwei Welten konzentriert.

Oh, ja, es gab Beweise. Aber sie wurden nicht von den Madame Sylvias geliefert...

 

Als er am Montagmorgen um zehn vor acht im Revier eintraf, wartete Dick Brougham von der Nachtschicht bereits auf den ersten Mann, der zum Dienst kam. »Es ist was Komisches passiert«, sagte er. »Je mehr man darüber nachdenkt, umso merkwürdiger wird es. Ich hab einen Bericht geschrieben, aber ich wollte es dir doch lieber mündlich sagen.«

»Ach du großer Gott! Was ist jetzt wieder los?«

»Es ist komisch. Das Hollywood Receiving hat gegen halb vier Uhr morgens angerufen, und ich bin hingefahren - einen Streifenwagen hab ich auch gerufen.« Hollywood Receiving lag nur zwei Querstraßen entfernt; es war das Unfallkrankenhaus. »Sie haben einen Arzt verloren. Er ist vom Erdboden verschwunden.«

»Was?«

»Es ist verrückt, Ivor. Ein Dr. Charles Grantby - der Chef vom Nachtdienst der Unfallstation. Er ist seit Jahren da und jeder kennt ihn. Sein Dienst geht von Mitternacht bis acht Uhr morgens. So, wie ich es verstanden habe, sieht er sich alle Verletzten an, gleich wenn sie eingeliefert werden, und gibt an, was geschehen muss. Er ist über fünfzig und wohnt im Haus. Also: er tut Dienst wie üblich - es war ziemlich viel los -, und ganz plötzlich ist er nicht mehr da. Alle glauben, er ist für einen Augenblick rausgegangen, aber endlich merken sie, dass er nicht dorthin ist, du verstehst schon... Sie suchen überall und rufen ihn, schließlich uns. Wir haben auch gesucht, aber er ist einfach verschwunden. Sein Wagen steht auf dem Parkplatz; sein Zimmer sieht ganz normal aus; alle Kleidungsstücke sind da, wo ist er also? Alle sagen, er wäre absolut zuverlässig. Es ist komisch.«

»Eher seltsam als komisch. Sehr seltsam. Verrückt.«

»Ach, eine Mrs. Arthur hat angerufen - ihr Sohn ist nicht nach Hause gekommen. Fehlt noch einer?«

»Erraten. Ach, so ein Mist«, stöhnte Maddox. »In der Tat komisch!«

»Ich hab den Leuten vom Krankenhaus gesagt, einer von der Tagesschicht würde kommen und sich weiter darum kümmern.«

»Das müssen wir schon.« Schon wieder einer, dachte Maddox. Verdammt! Und Sylvia... Na, die Ballistik-Experten würden ihnen heute wahrscheinlich was über die Waffe sagen können.

Harry Arthur. Möglicherweise noch ein komischer Fall. Sie mussten seine Beschreibung durchgeben. Die Mutter hatte gesagt, er hätte Papiere bei sich gehabt, aber es konnte sein, dass er überfallen worden war und sie ihm die Brieftasche abgenommen hatten. Er konnte unidentifiziert in irgendeinem Krankenhaus liegen. Maddox fluchte, ging wieder nach unten und gab Johnny O’Neill die Beschreibung von Harry Arthur. »Geben Sie das an die Krankenhäuser und Gefängnisse. Fragen Sie nach, ob er jemand aufgefallen ist.«

»Sofortige Erledigung wird garantiert«, sagte O’Neill fröhlich. »Jawohl. Einen schönen guten Morgen, Tante Daisy. Du siehst blühend und frisch wie der junge Tag aus.« Er griff nach dem Telefon.

»Frechdachs«, sagte Sergeant Hoffman milde, stieg die Treppe hinauf und fügte hinzu: »Und dass du mir Sue nicht wieder aufhältst! Wir haben ein paar Kleinigkeiten zu erledigen.«

»Ich werde kühn, mutig und entschlossen sein und sie auf Trab bringen. - Guten Morgen. Wilcox Street-Revier, Sergeant O’Neill am Apparat. Wir würden gern...«

Maddox ging hinaus. Warum hatten sie ihnen den bloß aufgehalst...

 

»Es ist unverständlich«, sagte Steve Kane ernst. »Absolut unverständlich. Dr. Grantby!« Er sah Maddox an. Ein großer, ungeschlachter junger Mann, einer der Pfleger vom Nachtdienst aus Hollywood Receiving. »Wir können es nicht begreifen.«

»Die paar Tatsachen, die wir wissen, haben wir schon dem Beamten mitgeteilt, der in der Nacht gekommen ist,« Dr. Gurley gähnte. »Entschuldigen Sie. Ich bin gerade wieder aus dem Bett geholt worden.« Gurley war einer der Ärzte vom Nachtdienst. »Es ist wirklich nicht zu verstehen. Ausgerechnet Grantby!«

»Und was wissen Sie nun?« Maddox sah sich in der Runde um. Sie hatten seinetwegen vier Mann vom Nachtdienst geweckt. Keiner war länger als eine Stunde im Bett gewesen; alle sahen verschlafen und müde aus. Zwei Pfleger und zwei Ärzte.

»Es war eine ziemlich betriebsame Nacht«, sagte Kane. »Sonntag. Nicht so hektisch wie Samstag und nicht so hektisch wie in Georgia Street in der Innenstadt, aber lebhaft genug. Unfälle, ein Selbstmordversuch, eine Messerstecherei und so weiter. Dann die Zwillinge, die im Vorraum geboren wurden - aber das war früher, so gegen ein Uhr. Um die Zeit war Dr. Grantby noch da.«

Gurley zündete sich eine Zigarette an und gähnte wieder. »Ich sollte Ihnen wohl besser erklären, wieso das, was geschehen ist, überhaupt geschehen konnte. Dr. Grantby ist der Chef der Unfallambulanz. Das bedeutet, dass er einfach überall zu sein hat, bei der Aufnahme, in den Operations- und Behandlungsräumen. Verstehen Sie? Seine Aufgabe ist es, sich die Neuzugänge noch im Unfallwagen anzusehen und an Ort und Stelle zu entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Selbst behandeln tut er nicht, obwohl er natürlich einspringt, wenn wir Hilfe brauchen. Aber normalerweise sieht er sich die Patienten nur an und sagt: bringt ihn in den OP, oder: pumpt ihm den Magen aus, gebt ihm Morphium, na, eben in dem Sinn. Dann bringen die Pfleger sie zu uns.«

»Aha«, sagte Maddox. »Dann war er gestern Nacht also anfänglich noch auf seinem Posten?«

»Da war alles in bester Ordnung. Wir haben um Mitternacht gemeinsam angefangen«, sagte der zweite Arzt, ein großer semmelblonder junger Mann namens Reeves. »Dr. Grantby ist sehr beliebt, Sergeant. Er ist zuverlässig und nett. Und ein guter Arzt. Wir können einfach nicht - ach, wir hatten ziemlich viel zu tun. Es war so, wie Steve gesagt hat. Es hat schon schlimmere Nächte gegeben, aber Arbeit hatten wir zur Genüge. Dr. Grantby ging zu jeder ankommenden Fuhre auf den Hof, sah sich dann die Patienten im Aufnahmeraum an und kam oft noch mit den Patienten in den OP oder in die Behandlungszimmer, um Gurley oder sonst jemand zu erklären, was zu geschehen hatte. Dann ging er wieder zur Aufnahme zurück. Verstehen Sie?«

Maddox nickte. »Wann haben Sie ihn vermisst?«

»Schwer zu sagen.« Diesmal antwortete Gurley. »Man achtet nicht auf die Uhrzeit, Sergeant, wenn man Messerwunden näht. Ich weiß bestimmt, dass ich ihn um 2 Uhr 15 noch gesehen habe. Da hatten wir gerade das Ehepaar mit dem Frontalzusammenstoß versorgt. Wir hatten die Bluttransfusionen gemacht und sie zur Intensivstation raufgeschickt. Dr. Grantby kam von draußen herein. Ich erinnere mich, dass er gesagt hat, das sei im Moment alles und wir könnten jetzt etwas verschnaufen. Er hat mir eine Zigarette angeboten, und dabei habe ich auf die Uhr gesehen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. - So, Steve, jetzt sag du dem Mann, an was du dich erinnerst.«

Kane runzelte die Stirn. »Es kam dann gleich wieder Arbeit. Ein Krankenwagen mit vier Leuten fuhr vor - Verkehrsunfall. Ich und Bill und noch zwei andere gingen raus, als der Wagen vor der Tür anhielt. Und als ich zum Heck kam, stand da dieser Mann. Er sagte, er müsse Dr. Grantby

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elizabeth Linington/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Elizabeth Linington.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Edda Jonas und Christian Dörge (OT: Policeman's Lot).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4128-1

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