CARTER BROWN
Die traurige Verführerin
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE TRAURIGE VERFÜHRERIN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Das Buch
Drei betörend schöne Mädchen, aber nur zwei Arme hat Danny Boyd, um sie festzuhalten. Nebenbei soll er noch Tyler Morgans verschwundene Nichte Linda aufspüren. Und Danny findet sie auch. Aber Linda hat sich ein wenig verändert, seit sie ihrem Onkel davongelaufen ist: Sie ist tot, erdrosselt mit einem Nylonstrumpf...
Der Kriminal-Roman Die traurige Verführerin des australischen Schriftstellers Carter Brown (* 1. August 1923 in London, England unter dem Namen Alan Geoffrey Yates; † 5. Mai 1985 in Sydney, Australien) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1965 (unter dem Titel Blonde Engel sind gefährlich).
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
DIE TRAURIGE VERFÜHRERIN
Erstes Kapitel
»Was willst du denn noch hier, Johnny«, fragte die Blondine ungeduldig, als sie mir die Tür öffnete. »Hast du wieder mal deinen Schlüssel vergessen?«
Aber dann sah sie auf, und was sie mir noch an Freundlichkeiten hatte an den Kopf werfen wollen, blieb in der Luft hängen. So bot sie einen nicht eben geistreichen, aber dem Auge wohlgefälligen Anblick. Geist ist bei hübschen Puppen sowieso meist störend.
Ihr seidiges, blondes Haar war kurz geschnitten. Die schrägen Ponys fielen ihr bis über die linke Augenbraue. Sie trug ein cremefarbenes Jackenkleid aus dünner Seide, an den strategisch wichtigen Stellen erfreulich knapp geschnitten. Der helle Stoff war mit einem abstrakten, blauen Muster bedruckt.
»Haben Sie was verloren?«, fragte sie kalt. »Oder sind Sie vielleicht der neue Sachbearbeiter im Statistischen Bundesamt, der die Idealmaße der amerikanischen Frau ermitteln soll?«
»Ich bin Danny Boyd«, erklärte ich, »vom Detektivbüro Boyd, New York.«
Ich drehte meinen Kopf einen Viertelzentimeter, um sie in den vollen Genuss meines linken Profils kommen zu lassen, das - wie ich hier einmal in aller Bescheidenheit feststellen muss - in seiner Art nicht seinesgleichen hat und jedes normale weibliche Wesen auf den ersten Blick in atemloses Entzücken versetzt. Mein Pech ist es, dass ausgerechnet mir so auffallend viele unnormale weibliche Wesen über den Weg laufen. Auch die Blondine schien zu diesen unerfreulichen Ausnahmen zu gehören. Sie machte ein gelangweiltes Gesicht.
»Danny Boyd«, wiederholte sie langsam. Aus ihrem hübschen Mund hörten sich die beiden Wörter an wie der Name eines besonders widerlichen Insektenvertilgungsmittels. »Kenn’ ich nicht«, entschied sie.
»Dann werden Sie mich bald kennenlernen, mein Schatz«, sagte ich freundlich. »Ihr lieber Onkel und Vormund vermisst Sie bitterlich. Er möchte, dass Sie wieder in sein trautes Heim zurückkehren und hat mich beauftragt, Sie heil und gesund in seinen liebenden Armen abzuliefern.« Das klang etwas anders, als ich es eigentlich gemeint hatte. »Die liebenden Arme meinte er natürlich nur platonisch, wie sich das für einen braven Onkel gehört. Wir verstehen uns, nicht wahr?«
Sie sah kurz über meine Schulter, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Komisch«, sagte sie fast abwesend, »ich sehe ihn noch gar nicht.«
»Wen?«
»Den Herrn, der Ihnen die Zwangsjacke nachbringt. Sie sind doch bestimmt geradewegs dem Irrenhaus entsprungen!«
»Jetzt Schluss mit dem Unsinn«, forderte ich energisch. »Sie sind Linda Morgan, nicht wahr?«
»Natürlich nicht«, blaffte sie mich an und trat schnell einen Schritt zurück, die Hand auf der Türklinke.
»Na gut«, seufzte ich. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie auch Joan Morton nennen. Unter diesem Namen wohnen Sie doch hier, stimmt’s?«
»Wie heißen Sie doch gleich?«, fragte sie wieder.
»Danny Boyd.« Mein Ziel, die reiche Nichte Linda zu finden, war erreicht. Es lohnte sich also, ausnahmsweise mal Geduld zu üben. »Von Ihrem Onkel - Tyler Morgan - habe ich den Auftrag erhalten, Sie nach New York zurückzubringen. Zum drittenmal setze ich Ihnen das aber nicht auseinander!«
Sie war flink, aber in der letzten Sekunde gelang es mir, meinen Fuß in den Türspalt zu schieben. Dann half ich mit der Schulter nach - die Tür öffnete sich sehr plötzlich, und meine blonde Schöne wurde unsanft in die Wohnung hineingeschleudert.
»Tja, auf meine Reflexe kann ich stolz sein«, erklärte ich und trat ein. »Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich auf die Sekunde Voraussagen kann, wann eine Puppe endgültig nein sagt. Dazu darf man es nie kommen lassen. Meinen Sie, ich verdiene mein Geld im Schlaf?«
Der dünne Seidenstoff straffte sich. »Machen Sie, dass Sie rauskommen«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Oder ich schrei’ das ganze Haus zusammen.«
»Hören Sie doch auf mit dem Theater, Linda«, sagte ich ungeduldig und schloss die Tür. »Ihr Onkel hat mir gutes Geld bezahlt, damit ich Sie nach New York zurückbringe. Weshalb Sie davongelaufen sind, weiß er nicht, aber er hat versprochen, Sie von jetzt ab wie ein rohes Ei zu behandeln, wenn Sie gesteigerten Wert darauf legen.«
In ihren Augen stand Angst, und die war echt. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich. Denn ein solches Gefühl passte nicht zu einer Puppe, die sozusagen mit einem silbernen Frachter in der Wiege zur Welt gekommen ist. Tyler Morgan war ein großes Tier in Amerikas Transportwesen - und er war ihr Onkel.
Endlich gab sie sich geschlagen. »Wie wär’s mit einem Drink, Mr. Boyd, bevor wir uns auf den geschäftlichen Teil der Angelegenheit stürzen?«
»Großartig«, sagte ich und hoffte, dass meine Stimme Vertrauen und Zuversicht ausströmte. »Wir werden uns schon verstehen, Linda, nicht wahr?«
»Ja - doch, sicher.« Sehr überzeugt klang das nicht.
Sie ging mit wiegenden Hüften hinüber zur Hausbar. Ich habe schon immer gesagt, dass kein Stoff weiblichen Kurven so gut steht wie Seide! Plötzlich schwenkte sie nach rechts ab. Ich sah, dass dort eine Tür vom Wohnzimmer abging. Mit ein paar Schritten war ich hinter ihr, um notfalls zupacken zu können. Aber dann schloss sie nur die Tür, die halb offengestanden hatte, und ging weiter, als sei nichts geschehen.
Aber meine Neugier war geweckt.
Gibt es weibliche Wesen, die ein Paar Beine zum Wechseln im Schlafzimmer aufzubewahren pflegen? Entweder hatte mich meine blonde Superfee mit ihren Zweifeln an meinem Geisteszustand angesteckt oder... Bei meinem kurzen Blick über ihre Schulter, bevor sie so energisch die Tür zuklappte, hatte ich nämlich in ihrem Schlafzimmer zwei wohlgeformte Frauenbeine gesehen. Eins war mit einem dünnen Nylonstrumpf und einem hochhackigen Schuh bekleidet, das andere war nackt.
»Scotch und Wasser«, sagte die Blondine und wandte sich mit einem Glas in jeder Hand zu mir um. »Ich hoffe, das genügt Ihnen - etwas Edleres habe ich leider nicht auf Lager.«
Ich war ihr sehr viel näher auf die Pelle gerückt, als sie erwartet hatte. Sie fuhr heftig zusammen, und der gute Scotch kippte auf den Teppich.
»Was ist los mit Ihnen, Herzblatt?«, fragte ich besorgt. »Man könnte ja auf den Gedanken kommen, dass Sie etwas zu verbergen hätten!«
»Zu verbergen?«, wiederholte sie mit verdächtig schwankender Stimme. »Sie haben mich gefunden. Genügt Ihnen das nicht? Sie bringen mich wieder zurück zu meinem Onkel, und alles ist in schönster Ordnung!«
»Vorausgesetzt, dass Sie Linda Morgan sind«, ergänzte ich.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, fuhr sie mir über den Mund. »Was verlangen Sie denn noch? Dass ich Ihnen das unverwechselbare Muttermal zeige oder was?«
»Vorhin haben Sie mit der gleichen Bestimmtheit erklärt, Sie wären nicht Linda Morgan«, widersprach ich sanft. »Da müssen Sie schon Verständnis dafür haben, dass ich jetzt ein bisschen misstrauisch geworden bin. Vielleicht sind das sogar Lindas Beine, die ich eben im Schlafzimmer gesehen habe?«
Ich riss die Schlafzimmertür auf, und die Blondine spurtete zur Wohnungstür. Ich holte sie mit ein paar Sätzen ein. An der Schwelle stießen wir zusammen, und sie fuhr mir mit ihren Fingernägeln ins Gesicht. Es war kein angenehmes Gefühl. Ich schrie auf, dann packte ich sie an der Bluse und hielt sie ein Stück von mir weg. Sie zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen und machte sich los. Dabei zerriss die dünne Seide unter meinen Händen. Sie war so in Schwung, dass sie nur mit Mühe das Gleichgewicht bewahrte.
Ohne die cremefarbene Seidenhülle stand sie sozusagen im Freien da. Zu jeder anderen Zeit hätte ich dieses Bild bewundernd in mich aufgenommen - ich treibe nämlich sehr gern Naturstudien. Aber in diesem Augenblick siegte meine berufliche Neugier über die private.
Als ich es wagte, mich in Richtung Schlafzimmer zu bewegen, zeigte sie wieder die Krallen. Es blieb mir nichts anderes übrig - ich pachte ihre Handgelenke, verdrehte ihr die Arme auf den Rücken und schob sie ins Badezimmer. Was für ein Segen sind doch Türen mit altmodischen Schlössern! Ich nahm den Schlüssel heraus und trat zurück ins Wohnzimmer.
»Ich würde zu einer kalten Dusche raten, Schatz, das gibt einen klaren Kopf.« Damit knallte ich die Tür zu und verschloss sie von außen.
Fünf Sekunden später versenkte ich mich im Schlafzimmer in die Betrachtung jener Gehwerkzeuge, die meine Neugierde gereizt hatten. Sie gehörten auch einer Blondine. Sie trug ein buntgeblümtes Sommerkleid aus Cotton und lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett. Als ich näher hinsah, begriff ich, weshalb das eine Bein nackt war. Der dazugehörige Nylonstrumpf lag um ihren Hals. Sie musste schon einige Zeit tot sein.
Ich richtete mich auf und zündete mir eine Zigarette an, während das Sonnenlicht, das durch die Jalousien fiel, helle Kringel auf das buntgeblümte Kleid malte. Da war ich in eine schöne Geschichte hineingeschliddert. Eine Blondine, mit einem Nylonstrumpf erwürgt - eine Erinnerung regte sich. In den letzten vierzehn Tagen waren genau nach diesem Muster in dieser Gegend drei Morde verübt worden. Wenn das so weiterging, musste sich die Fremdenverkehrswerbung von Santo Bahia bald etwas Neues einfallen lassen, um den guten Ruf dieses liebreizenden Ortes zu wahren.
Das Telefon stand im Wohnzimmer, und ich sah es an wie der Ochse die Schlachtbank. Das war zweifellos ein Fall für die Polizei, und ich hatte das Gefühl, dass sie nicht weniger erbaut von meinem Fund sein würde als ich. Ein Privatdetektiv zieht in den Augen jedes normal empfindenden Kriminalbeamten Ärger und Verwicklungen nach sich wie ein Kometenschweif, und ich konnte mir den Jubel vorstellen, wenn ausgerechnet ein so zweifelhaftes Exemplar der Gattung Mensch ihnen den vierten Sittlichkeitsmord in vierzehn Tagen meldete.
Als ich nach dem Hörer griff, sagte hinter mir eine unangenehme Stimme: »Pfoten weg!«
Ich drehte mich sehr langsam um. Als erstes sah ich die Kanone, dann den Mann, der sie auf mich richtete. Er war mittelgroß und untersetzt und hatte ein Gesicht, das aussah, als hätte es jemand ausgiebig mit grobem Sandpapier bearbeitet. Sein Anzug aus schillerndem Lurex-Gewebe ließ auf einen ausgeprägten Geschmack schließen. In diesem Aufzug irgendwo unauffällig unterzutauchen, verbot sich für diesen unerwarteten Besucher von selbst. Er musterte mich gelassen. Seine Schusshand war vollkommen ruhig. Ich hatte es also mit einem Profi zu tun.
»Sie müssen Johnny sein«, bemerkte ich scharfsinnig. »Der Glückliche, der einen Wohnungsschlüssel hat.«
»Versteh’ ich nicht, Kumpel«, sagte er unumwunden. »Haben Sie auch einen?«
»Mein Name ist Danny Boyd«, stellte ich mich höflich vor. »Ich bin auf einer Rundreise durch den guten alten wilden Westen - aber ich hab’ den unangenehmen Eindruck, dass ich an der falschen Adresse gelandet bin.«
Er verzog keine Miene. »Sehr komisch! Vielleicht sagen Sie mir ganz schnell, wo Jeri ist - bevor ich Sie auseinandernehme?«
»Wer Jeri ist, weiß ich nicht, mein Junge«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Aber ich kann Ihnen im Schlafzimmer eine tote Blondine bieten und im Badezimmer eine lebendige, ganz nach Lust und Laune.«
Wie aufs Stichwort begann die lebende Blondine die Badezimmertür mit kräftigen Fäusten zu bearbeiten. Es war wie eine Großaufnahme von flüchtenden Cowboys in einem Western - nur ohne Bild.
Der Revolvermann sah mich an, als hätte ich ihm vorgeschlagen, mit seiner Großmutter zum Tanztee zu gehen.
»Lass sie raus«, sagte er mit gefährlicher Sanftmut. »Und zwar ein bisschen dalli!«
Einer so höflichen Aufforderung konnte ich noch nie widerstehen - besonders wenn ihr ein .38er Police Special den nötigen Nachdruck verleiht. Ich schloss die Badezimmertür auf, und die Blondine betrat, ein wenig mitgenommen, das Wohnzimmer. Sie betrachtete meinen Revolverhelden ohne besondere Freundlichkeit.
»Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen, Johnny«, fauchte sie gereizt. »Der Kerl hier hat geklingelt, und ich dachte, du hättest wieder mal den Schlüssel vergessen, und...«
»Wer ist denn das überhaupt?«, unterbrach Johnny. »Was will er hier?«
»Er ist Privatdetektiv«, teilte sie ihm ein wenig schadenfroh mit. »Er hat gedacht, er würde Linda Morgan hier finden. Hör mal, wir sollten...«
»Halt den Mund! Wir haben schon genug Schwierigkeiten.« Sein Blick verriet, dass er mich als Schwierigkeit Nummer eins ansah, und ich bekam ein ungutes Gefühl in der Magengrube.
»Steht der Wagen unten?«, fragte die Blondine unruhig.
»Klar«, knurrte der Revolvermann. »Aber ich weiß nicht, ob uns der Schlitten jetzt noch etwas nützt. Dieser Kerl hat unsere ganzen Pläne über den Haufen geschmissen.«
Wenn ich ihm Zeit genug zum Überlegen ließ, würde er sehr bald darauf kommen, dass es einen bequemen Ausweg aus seinem Dilemma gab - eine in die Anatomie von Danny Boyd gejagte Kugel aus seinem .38 er. Dabei wäre es wirklich ein Jammer, fand ich, wenn das Boyd-Profil zur Unzeit von dieser schönen Welt verschwinden müsste. Johnny sah noch immer unentschlossen die Blondine an. Der Zeitpunkt schien günstig. Ich machte einen Satz auf ihn zu. Aber ich war nicht schnell genug gewesen. Johnny trat ohne Eile einen Schritt zur Seite und hieb mir den Lauf des .38er Revolvers über die Schläfe. Ich rutschte hilflos an ihm vorbei und stürzte in die Schwärze der Bewusstlosigkeit. Zum Ärger über diese Finte blieb mir keine Zeit mehr. Doch das war nur ein schwacher Trost.
Als ich wieder halbwegs zur Besinnung kam, hörte ich ein hässliches Zischen, spürte einen faden, süßlichen Geschmack im Mund und ein überwältigendes Gefühl von Platzangst. Ich öffnete die Augen, hob schnell den Kopf und stieß gegen etwas Hartes, Unnachgiebiges. Das Gefühl der Platzangst verstärkte sich. Meine Hände ertasteten an allen Seiten harte Wände. Ich kam nicht vorwärts. Aber ein richtiges Genie weiß sich immer zu helfen. Ich versuchte es mit dem Krebs- oder Rückwärtsgang.
Und siehe da - die Platzangst verschwand sofort. Mein Kopf kam aus der Backröhre des Küchengasherdes hervor. Ich drehte die Gashähne ab, taumelte ins Wohnzimmer, schaffte es gerade noch zum Fenster und riss es weit auf. Ein paar Minuten lang war ich vollauf damit beschäftigt, in tiefen Atemzügen frische Luft in meine Lungen zu pumpen. Dann begann auch mein Denkapparat wieder zu funktionieren. Jeri und Johnny - das hörte sich an wie eine Tanznummer aus einem dritt- klassigen Cabaret, aber mir war gar nicht zum Lachen zumute. Die beiden waren durchaus ernst zu nehmen. Sie hatten die Sache großartig eingefädelt - so schwer es mir auch fiel, das vor mir selber zuzugeben. Ein ermordetes Mädchen im Schlafzimmer, ein Selbstmörder mit dem Kopf im Küchenherd - da hatte man es den Freunden von der Polizei wirklich leicht gemacht.
Als ich sicher sein konnte, dass ich diesen unfreiwilligen Selbstmordversuch überleben und nicht mein Inneres nach außen stülpen würde, ging ich zurück ins Schlafzimmer, um mir die Leiche näher anzusehen. Sie war noch da, hatte sich aber inzwischen sehr verändert. Statt des buntbedruckten Cotton-Fähnchens trug sie ein übel zugerichtetes Jackenkleid aus cremefarbener Seide mit abstraktem blauem Muster.
Selbst mein gasvernebeltes Gehirn registrierte, dass Jeri mit der toten Blondine die Kleider getauscht hatte. Warum? Das war die große Frage. Wenn sie mit ihrem Revolverhelden türmen wollte, durfte sie natürlich nicht mit ihrem leicht lädierten Kleid, das überall Aufsehen erregt hätte, in der Weltgeschichte herumkutschieren - so viel war mir klar. Aber wenn es ihr nur darum gegangen wäre, hätte sie sich bestimmt aus Lindas reichgefülltem Kleiderschrank bedienen können.
Wollten sie mir den Mord anhängen? Ich spürte noch immer schmerzhaft Jeris Kratzer auf meinem Gesicht. Wieder kam mir zum Bewusstsein, dass ich Johnny auf den ersten Blick als Profi erkannt hatte. Ja, das war Kennerarbeit.
Im Wohnzimmer rief ich jetzt endlich die Polizei an, ohne gestört zu werden. Der Beamte am anderen Ende der Leitung nahm meine Meldung unerschüttert zur Kenntnis. Wenn ich einmal nichts Besseres zu tun habe, werde ich das nächste Polizeirevier anrufen und dem Beamten am Apparat mitteilen, dass er im Preisausschreiben der Putzefix-Werke einen zweiwöchigen Urlaub im Apartment eines Hollywood-Stars einschließlich Starbenutzung gewonnen hat. Ich wette mit Ihnen um alles, was Sie wollen, dass der Wackere diese Nachricht mit stoischem Gleichmut aufnehmen und mich höchstens nach näheren Einzelheiten, wie der Oberweite der Dame und so weiter, fragen wird.
Nachdem ich meine Meldung losgeworden war, ging ich noch einmal zurück, um mir das tote Mädchen anzusehen. Das seidene Jackenkleid war nicht billig gewesen. Es hatte Chic. Wenn ein Mädchen so viel für ein Kleid ausgibt, hat es auch Anspruch auf ein Firmenschild in dem guten Stück. Leider war die Bluse so zerrissen, dass dieses Schildchen fehlte. Egal - das Ding musste her!
Das Wohnzimmer trug noch Zeichen des Kampfes mit Jeri - ein kleiner Tisch war umgefallen, eine Vase lag in Scherben auf dem Boden, die dazugehörigen Blumen auf dem Teppich verstreut. An der Tür fanden sich ein paar Fetzen cremefarbener Seide. An dem zweiten Fetzen, den ich aufhob, war noch das Firmenschild, Maison d’Annette, Santo Bahia, las ich. Ich schob das Stückchen Stoff in meine Jackentasche, zündete mir eine Zigarette an und übte einen gleichmütigen Gesichtsausdruck, bis etwa zehn Minuten später die Polizei eintraf.
Lieutenant Schell besaß Geduld, Intelligenz und Skepsis. Ich hatte gehofft, auf einen Polizeiboss zu treffen, der seinen einflussreichen Posten allein seinen guten Beziehungen verdankte - wieder hatte ich Pech gehabt. Er war groß und sehnig, hatte kurzgeschnittenes, eisengraues Haar und tiefliegende, dunkle Augen, die die Welt voll Missmut betrachteten.
Er setzte sich in einen Sessel und zündete sich umständlich eine Zigarette an, wobei er mich abfällig musterte. »Ich höre Ihre Geschichte schon zum zweiten Mal, Boyd«, sagte er unfreundlich, »und ich kann nicht sagen, dass sie mir jetzt besser gefällt.«
»Von gefallen kann gar keine Rede sein«, antwortete ich bissig. »Sie wollten doch die Wahrheit hören. Aber wenn Sie wollen, kann ich sie auch gern für Sie etwas ausschmücken.«
»Verschonen Sie mich mit Ihren Geistesblitzen! Ich habe einen schwachen Magen.«
»Ich verstehe«, sagte ich freundlich. »Von einem braven Bürger erwartet man lediglich, dass er die Wahrheit sagt und die Polizei bei ihrer schweren Arbeit nach Kräften unterstützt. Dass einem die Hüter des Gesetzes besonders sympathisch sein müssen, wird zum Glück nicht verlangt.«
»Ihre Behauptungen lassen sich durch nichts beweisen«, knurrte er. »Scheußliche Kratzer haben Sie da im Gesicht, Boyd! Das Kleid des Mädchens ist zerrissen. Sie muss sich mit der Kraft der Verzweiflung gegen ihren Mörder gewehrt haben. Aber sie hat den Kampf verloren - und ist mit ihrem eigenen Nylonstrumpf erwürgt worden.«
»Ich hab’ Ihnen doch erzählt, was geschehen ist«, sagte ich erschöpft. »Die Blondine Jeri und ihr Freund Johnny, der den Schlüssel zu ihrer Wohnung hatte...«
»Sie haben eine blühende Phantasie, Boyd«, erklärte Schell mit beißendem Spott. »Sie müssen doch selber zugeben, dass sich Ihre Geschichte reichlich unwahrscheinlich anhört.«
»Das haben alle wahren Geschichten so an sich«, gab ich zurück. »Ich erinnere mich, dass ich einmal...«
»Heben Sie sich das für Ihre Memoiren auf - falls Ihnen noch Zeit bleibt, welche zu schreiben«, fauchte er. »Dass Sie mit dem Kopf in der Backröhre wieder zu sich gekommen sein wollen, ist wirklich ein starkes Stück.«
»Ich habe Ihnen aber gesagt, dass ich diesen Johnny Sowieso für einen Profi halte, einen mit allen Wassern gewaschenen Burschen, der sich in der Mentalität unserer Polizei sehr gut auskennt.«
»Vielleicht ist dieser Johnny in Lebensgröße Ihrer fruchtbaren Phantasie entsprungen«, meinte Schell. »Ich hätte nicht übel Lust, Sie auf der Stelle unter Mordverdacht zu verhaften.«
»Ich weiß, weshalb Sie so grantig sind, Lieutenant«, sagte ich tröstend. »Innerhalb der letzten beiden Wochen sind drei Mädchen in Ihrem Bezirk erwürgt worden. Ich kann mir schon vorstellen, dass Sie es eilig haben, den Mörder zu finden. Aber versuchen Sie nicht, mich zum Sündenbock zu machen. Ich bin gestern Abend mit der Sieben-Uhr-Maschine in Santo Bahia gelandet. Ich kann beweisen, dass ich zu der Zeit, als die anderen Morde verübt wurden, in New York war.«
Er zerdrückte mit einer wütenden Bewegung seinen Zigarettenstummel in einem großen bronzenen Aschbecher.
»Ich weiß, dass ich Ihnen die anderen drei Morde nicht anhängen kann, aber es ist sehr gut möglich, dass Sie die Sachs mit Absicht so gedreht haben, dass wir denken sollten, es handele sich um ein weiteres Opfer des Nylonstrumpfmörders.«
»Ich? Johnny und seine Biene haben die Sache so gedreht!«, verbesserte ich.
»Vielleicht!« Er zuckte gelassen die Achseln. »Wenn dieses saubere Pärchen wirklich existiert, werden in der Wohnung Fingerabdrücke vorhanden sein, und meine Leute werden sie finden. Es besteht noch ein auffälliger Unterschied zwischen diesem und den anderen drei Morden. Alle anderen Mädchen sind im Freien, in Parks oder am Strand ermordet worden.«
»Ich hab’ so das Gefühl, dass auch diese Leiche in einem Park landen sollte, aber mein Erscheinen hat den beiden ihren schön ausgetüftelten Plan durcheinandergeworfen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Johnny war vor meinem Erscheinen schon einmal in der Wohnung gewesen. Als er zurückkam, fragte Jeri ihn nach dem Wagen.«
»Und Sie meinen, die beiden wollten das ermordete Mädchen in irgendeinen Park fahren?«
»Nach Anbruch der Dunkelheit hätten sie die Leiche ohne weiteres über die Feuerleiter herunterschaffen können. Aber nach meinem unerwarteten Besuch mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen.«
»Möglich.« Schell stand entschlossen auf. »Und Sie sind sicher, dass die Tote Linda Morgan ist, Boyd? Können Sie sie identifizieren?«
»Nein.« Ich schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich glaube ziemlich sicher, dass es Linda
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alan Geoffrey Yates/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Alan Geoffrey Yates.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Renate Guttmann und Christian Dörge (OT: The Sad-Eyed Seductress).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2023
ISBN: 978-3-7554-4091-8
Alle Rechte vorbehalten