ELIZABETH LININGTON
KEINE KATZE
OHNE KRALLEN
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
KEINE KATZE OHNE KRALLEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das Buch
Dorrie Mayo kündigte ihrem Chef mittels eines kurzen Briefes; den Nachbarn hängte sie einen Zettel an die Tür: Sie sei mit ihrem Töchterchen zurückgefahren in den Osten, zu ihrer Familie.
Aber warum hat sie ihre Freunde nicht informiert? Und wieso sind die Zettel mit der Schreibmaschine geschrieben, obwohl Dorrie weder eine Maschine besitzt noch je tippen gelernt hat?
Einer von vielen Fällen, die Sergeant Maddox und das Polizeirevier Wilcox Street in Los Angeles auf Trab bringen...
»Die Königin der Polizeigeschichten!«
- NEW YORK TIMES
Elizabeth Linington (* 11. März 1921 in Aurora Kane, Illinois; † 5. April 1988 in Arroyo Grande, Kalifornien) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.
Keine Katze ohne Krallen erschien erstmals im Jahr 1973; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1979.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
KEINE KATZE OHNE KRALLEN
Erstes Kapitel
Sue hatte vergessen, den Wecker zu stellen. Sie hatten verschlafen. Während sie hektisch nach sauberen Strümpfen suchte, rasierte sich Maddox eilig und schnitt sich dabei ins Kinn. Er fluchte, und Sue meinte: »Wenn du einen elektrischen...«
»Im Gegensatz zu den Behauptungen der Werbung kann man sich mit diesen Dingern nicht sauber rasieren. Schon gar nicht bei einem so starken Bart wie dem meinen.«
Sue sauste in die Küche und stellte fest, dass wenigstens die elektrische Kaffeemaschine ihre Pflicht getan hatte. Der Kaffee war fertig, aber viel zu heiß zum Trinken. Sie goss zwei Tassen ein und holte ihr Kleid aus dem Schlafzimmer.
»Eier?«
»Keine Zeit«, antwortete Maddox, knöpfte sein Hemd zu und griff nach einem Schlips. »Ich gehe heute Mittag früher essen. Ich glaube wirklich, ich hätte den Maserati gegen eine Kiste mit niedrigeren Ratenzahlungen eintauschen sollen, damit du einen...«
»Fang nicht schon wieder damit an«, unterbrach ihn Sue. »Ich brauche keinen Verlobungsring. Der andere gefällt mir gut.« Sie zog ihre flachen Schuh? an und lief wieder in die Küche. Der Kaffee war jetzt halbwegs trinkbar.
Maddox schluckte eine halbe Tasse hinunter und rief: »Mein Gott, ich muss weg! Bis bald!« Er gab ihr hastig einen Kuss und war verschwunden.
Sue stellte die Tassen in den Spüler, legte ihr Make-up auf und ging fünf Minuten nach ihm aus der Wohnung.
Sie schloss die Tür des Häuschens ab, das hinter Clintons größerem Haus an der Gregory Avenue lag. Maddox konnte seinen Wagen auf der Straße stehen lassen, aber für Sues Chrysler war kein Platz mehr. Dafür hatten sie bei der alten Mrs. Patterson zwei Häuser weiter eine Garage gemietet. Als Sue die Einfahrt entlanglief, sah sie aus wie jede andere schlanke junge Frau Mitte zwanzig, schlicht und ordentlich gekleidet, auf dem Weg zu einer normalen Arbeit. Aber das war sie natürlich nicht.
Zehn Minuten später parkte sie den Chrysler hinter dem kleinen blauen Maserati am Straßenrand gegenüber dem Polizeirevier Wilcox Street. Dort standen schon Cesar Rodriguez’ alter Chevrolet, Daisy Hoffmans Buick und Sergeant Ellis’ Ford. Sie ging hinüber zu dem alten verwitterten Ziegelbau, grüßte Sergeant Johnny O’Neill im Vorbeigehen und machte sich auf den Weg in die Garderobe. Dort zog sie ihre flotte marineblaue Uniform an. Als sie die Treppe hinaufging, holte sie zwei Zivilisten ein und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Der Sergeant unten meinte, wir sollen mit Sergeant Hoffman sprechen«, begann der Mann zögernd. »Unsere Tochter ist weggelaufen.« Es waren einfache Leute in schlichter Straßenkleidung. Die Frau schien geweint zu haben.
»Dann kommen Sie bitte mit.« Sue führte sie in das Büro, das sie mit Daisy teilte.
»Ich heiße übrigens John Rodney.«
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Daisy lächelnd. Die energische, blonde Daisy sah gar nicht nach einer Großmutter aus, war es aber. »Ich bin Sergeant Hoffman, das ist meine Kollegin Maddox.« Nach sechs Monaten hatte sie sich endlich Sues Mädchennamen Carstairs abgewöhnt.
Sue holte ihr Notizbuch hervor und hörte sich die übliche Familientragödie an: Tochter in schlechte Gesellschaft geraten, weggelaufen, vermutlich Rauschgift.
»Sie brauchte doch nicht fortzulaufen«, jammerte Mrs. Rodney. »Natürlich hatte es Streit gegeben, aber das war nicht nötig. Sie muss schon lange nach Mitternacht weg sein, hat beide Koffer mitgenommen, und dann diese Notiz...«
»Ging es bei dem Streit um die Schule und um ihre Freunde?«, fragte Daisy.
»Ja«, antwortete Rodney. »Wir wollten sie ins College schicken, aber sie hatte keine Lust.«
Sue senkte ihr Notizbuch. »Wie alt ist Ihre Tochter, Mr. Rodney?«
»Ella ist zwanzig.«
Sue sah Daisy nur an.
Als Maddox eine Treppe höher in sein Büro bei der Kripo eintrat, tippte Joe Feinman gerade einen Bericht, und Rowan las ein Rundschreiben. Er sagte: »D’Arcy und Cesar sind gerade losgefahren. Es gibt ein paar Leichen.«
»Das fehlt uns gerade noch«, sagte Maddox. »Schon eine Nachricht aus Sacramento?«
»Nichts. Aber mit den Fotokopien der Führerscheine müssten wir etwas anfangen können.«
»Kaum«, knurrte Maddox. »Passfotos sehen dem Besitzer nie ähnlich.«
Aber es war zumindest etwas. Die ersten gefälschten Schecks waren vor einem Monat aufgetaucht, und sie hatten noch keinen Anhaltspunkt gewonnen. Die Schecks waren auf Großfirmen ausgestellt, die jeder kannte: Lockheed, May, Robinson und einige Mineralölfirmen wie Shell, Gulf und Standard. Es waren nicht einmal sehr gute Fälschungen: keine Nachahmungen der echten Schecks, sondern nur recht ordentlich gedruckte Formulare mit den Firmennamen. Sie wurden bei Supermärkten, Drugstores und Spirituosengeschäften in Zahlung gegeben. Firmen also, die täglich Hunderte von Schecks einlösten, sich aber natürlich einen Ausweis zeigen ließen: einen Führerschein oder einen Studentenausweis des Los Angeles City Colleges.
Aber im LACC waren derzeit keine Studenten namens Patricia Gail, Joseph Ruzicka, Eleanor Wayne, Robert Gunderson, Coralee Lambert oder Richard Goslin immatrikuliert. Man konnte der Polizei nicht einmal sagen, woher die Studentenausweise stammen mochten.
»Ich fand das immer schon idiotisch«, sagte Maddox. »Wenn man einen Scheck einlösen will, fragt jeder nach dem Führerschein, und dabei ist das gar kein Ausweis. Bei jedem Straßenverkehrsamt kann man sich auf einen beliebigen Namen einen Führerschein ausstellen lassen.«
»Ob wir über das Wochenende wieder einen Stapel Schecks bekommen?«, fragte Feinman. Alle Schecks waren immer an Wochenenden eingelöst worden. Keine Summe lautete über fünfzig Dollar. Es war zweifelhaft, ob die Fotokopien der Führerscheine etwas erbringen würden, falls Sacramento sie überhaupt schickte.
Die vorliegenden Personenbeschreibungen waren vage, denn junge Leute sehen heutzutage alle gleich aus. Die Mädchen haben langes, glattes Haar, tragen kaum Makeup und sind salopp gekleidet. Keiner der drei Männer hatte überlanges Haar, aber das war auch schon alles.
Sie warteten auf Nachricht vom FBI wegen der Fingerabdrücke des Unfallopfers, das am Mittwochabend am Hollywood Boulevard gefunden worden war. Ein Fall von Totschlag war gerade an die Staatsanwaltschaft gegangen. Die letzten Wochen waren bis auf die Scheckfälschungen recht ruhig verlaufen. Die übliche Hitzewelle im März würde das Geschäft für die Polizei wieder beleben.
Dann läutete das Telefon. O’Neill hob ab und meldete: »Ein Mister Harvey Easterfield und seine Frau aus Cincinnati sind auf dem Weg zu uns.«
»So?«, fragte Maddox. »Danke, Johnny.« Das Ehepaar stand schon in der Tür. »Mr. und Mrs. Easterfield, ich bin Sergeant Maddox. Sie wollten sich beschweren?«
Sie kamen zögernd näher. Der Mann war etwa fünfzig, stämmig, fast kahl und ziemlich konservativ gekleidet. Seine Frau war jünger und künstlich erblondet. Auch sie trug ein langweiliges dunkles Kleid und wenig Schmuck, der dafür echt sein mochte.
»Ich hab’s dir doch gesagt, Harry«, sagte sie. »Die waren es nicht. Nur der Uniformierte unten sah ihm ähnlich.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte Maddox. »Worum geht es, Sir?«
»Ich war erst richtig wütend«, begann Easterfield. »Aber je mehr wir darüber gesprochen haben... Ich dachte immer, Los Angeles hätte eine gute Polizei.«
»Das hoffen wir.«
»Alice meinte, sie waren nachgemacht, und ich dachte mir, es könnte nicht schaden, wenn ich es Ihnen sage. Sehen Sie, wir sind nicht zum ersten Mal in Kalifornien. Unsere Tochter ist in Santa Monica verheiratet, und wir wollten ein bisschen Urlaub machen. Ich habe zu Hause ein Haushaltswarengeschäft - aber machen wir’s kurz: Gestern nach dem Mittagessen wollten wir zum Strand zurückfahren und waren auf dem Sunset Boulevard in Hollywood, da bog ich nach links ab in die Western Road. Plötzlich stand ein Wagen neben mir mit zwei Polizisten drin - in Uniform. Der auf dem Beifahrersitz beugte sich heraus und sagte, ich solle anhalten. Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte, aber ich bin nicht so oft in Kalifornien und kenne vielleicht nicht alle eure Straßenverkehrsregeln. Also hielt ich an der nächstbesten Stelle. Die beiden Polizisten stiegen aus und wollten mir ein Strafmandat für verbotenes Linksabbiegen verpassen.«
»Dabei ist das gar nicht verboten«, sagte seine Frau. »Dick hat es uns erklärt...«
»Verzeihung«, unterbrach sie Maddox, »war es ein Streifenwagen?«
Easterfield schüttelte den Kopf. »Ein ganz einfacher grüner Dodge, ungefähr vier Jahre alt. Aber es gibt ja auch neutrale Polizeifahrzeuge.«
»Hat einer der beiden Ihnen seine Dienstmarke gezeigt?«
»Ja, der erste, es war verdammt lästig. Er sagte, dass er Anzeige erstatten müsste, und wir haben doch nur drei Wochen Zeit. Ich ärgerte mich natürlich darüber, und er meinte, ich könnte mir die Anzeige ersparen, wenn ich an Ort und Stelle zehn Dollar Strafe bezahle - gegen Quittung natürlich.«
Maddox horchte auf. »Und Sie haben es getan?«
»Ja, ich wollte nicht zwei Tage auf dem Gericht herumsitzen. Hier ist übrigens die Quittung.« Er nahm sie aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Tisch.
Es war eine ganz übliche neutrale Quittung, wie jedes Geschäft sie ausstellt, mit der Anmerkung: Gebühr für Verkehrsübertretung erhalten. Die Unterschrift R. O. Dillon war fast unleserlich. Maddox legte die Quittung auf den Tisch und zog seine eigene Dienstmarke in dem Lederetui aus der Brusttasche.
»Hat die Marke so ausgesehen?«
Beide betrachteten sie, dann schüttelte Mrs. Easterfield den Kopf. »Nein, dieser Turm war nicht drauf.«
»Das ist unser Rathaus«, murmelte Maddox zerstreut.
»Am unteren Ende stand: POLIZEI«, erklärte Easterfield. »Und sie war auch vergoldet. Aber soweit ich mich erinnere, war ein Stern in der Mitte.«
»Mhm«, sagte Maddox. »Und die Uniformen? Marineblau?«
Beide nickten. »Aber die Männer trugen keine Waffen«, fügte Mr. Easterfield hinzu. »Irgendwie kamen mir die Uniformen auch anders vor als hier bei Ihnen.«
»Mhm«, machte Maddox wieder, »ich fürchte, man hat Sie hereingelegt, Mr. Easterfield. Das waren bestimmt keine Polizeibeamten. Trotzdem bin ich Ihnen für die Anzeige sehr dankbar. Das scheint ein neuer Dreh zu sein.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Mr. Easterfield.
»Um diese Jahreszeit gibt es hier viele Urlauber. Die auswärtigen Fahrzeuge erkennt man an den Nummernschildern. Diese beiden Burschen haben sich nun Uniformen geliehen, halten fremde Wagen an und brummen den Fahrern eine angebliche Strafe auf. Die meisten wollen sich den Ärger ersparen und zahlen an Ort und Stelle. Sie kennen die Verkehrsregeln Kaliforniens nicht so genau und auch nicht unsere Uniformen. Wir werden uns bemühen, den beiden das Handwerk zu legen.«
»Donnerwetter«, sagte Easterfield, »jetzt verstehe ich, und ich bin froh, dass wir gekommen sind.«
Maddox bedankte sich noch einmal, führte die beiden Besucher hinaus und ließ sich dann mit der Public-Relations-Abteilung in der Zentrale verbinden. Sergeant Forster hörte sich seine Geschichte an und sagte: »Vor zehn Minuten habe ich mit einem Streifenbeamten aus dem Universitätsviertel gesprochen. Dem hat ein Passant genau dieselbe Geschichte erzählt. Der Mann hatte erst seine Strafe bezahlt, dann waren ihm Zweifel an der Echtheit der Polizisten gekommen. Wie lange mögen es die beiden schon so treiben? Die meisten Verkehrssünder rühren sich natürlich nicht.«
»Dachte ich auch«, sagte Maddox. »Ich wollte Sie nur verständigen.«
»Das ist verdammt schlecht für unseren guten Ruf«, erklärte Forster.
D’Arcy und Rodriguez kamen herein. D’Arcy machte ein finsteres Gesicht, und Rodriguez lächelte wie immer ironisch.
»Ich gebe die Sache an den Chef weiter und schreibe eine Nachricht für Presse und Fernsehen. Wenn wir die Gaunerei publizieren...«
»Urlauber kümmern sich nicht immer um Zeitungen und Fernsehen.«
»Wir können’s ja versuchen«, sagte Forster. »Vielen Dank.«
»Wie sieht es aus?«, fragte Maddox.
Der lange D’Arcy ließ sich auf einem Stuhl nieder und seufzte. »Sehr rätselhaft. Ich habe Sheila gestern Abend noch einmal gefragt, und sie meinte: vielleicht. Ihr Vater sagt, sie sei ein Flittchen. Ich möchte gern, dass sie sich beruhigt...«
»Nur Geduld«, unterbrach ihn Rodriguez. »Sieh dir Sue an. Sie hat auch einen Mann gekriegt.«
Maddox grinste. Natürlich hatte man sie allgemein geneckt, als sie im letzten September. gleichzeitig Urlaub nahmen und drüben in Las Vegas heirateten. »Was ist daran so rätselhaft?«
»Das Baby«, antwortete Rodriguez. »Meine Frau hörte das Baby schreien und rief an. Das Paar saß in einem Caddy an der Sycamore Avenue, beide mit Kopfschuss. Die Frau hatte das verletzte Baby auf dem Schoß. Es handelt sich um einen etwa sechs Monate alten Jungen. Keinerlei Papiere bei den Toten, kein Geld, nur ein paar Kosmetikartikel und das hier.« Er legte eine Plastiktüte mit einem Stück Papier auf den Tisch. »Eine Hotelrechnung aus Pasadena. Ich wollte sie gerade überprüfen.«
»Vielleicht hat man sie vom Rücksitz aus erschossen«, sagte D’Arcy und gähnte. »Vermutlich eine .32er. Fangen wir mit dem Bericht an.« Er zog sich die Schreibmaschine näher. »Die beiden sind inzwischen im Leichenschauhaus. Hätte jemand Lust, ihnen Fingerabdrücke abzunehmen?«
»Mach’ ich«, sagte Feinman. »Das Geschäft scheint wieder besser zu gehen.«
»Ich habe auch eine Neuigkeit«, meinte Maddox und berichtete den Kollegen von den beiden Betrügern. Rodriguez fuhr sich mit dem Zeigefinger über den flotten, kleinen Schnurrbart.
»Wissen Sie was, Ivor, wenn diese Gauner durchblicken lassen, dass es sich bei den sogenannten Strafen mehr oder weniger um Bestechungen handelt, werden sich die Verkehrssünder erst recht nicht melden. Wenn die Streifenbeamten korrupt sind, dann sind es ihre Kollegen in der Zentrale wahrscheinlich auch. Verdammt, ich möchte aber doch wissen, wie lange sie das schon so treiben?«
»Public Relations hält das für Rufschädigung«, sagte Maddox trocken.
»Mal sehen, was das Labor über den Caddy herausfindet«, bemerkte D’Arcy. »Es war keine Zulassung drin. Die Nummernschilder stammen aus Florida.«
»Hier ist die Antwort schon«, sagte Sue von der Tür her. »Computer!« Seit der Einführung der zentralen Informationsstelle hatten es alle Polizisten im ganzen Land leichter. Rodriguez betrachtete den Zettel, den sie ihm reichte.
»Also wissen wir jetzt, dass der Caddy einem gewissen Roderick Cameron aus Sarasota gehört. Er wurde vor drei Wochen von einem öffentlichen Parkplatz gestohlen.«
»Das scheint darauf hinzudeuten, dass die beiden Leichen auf der falschen Seite des Zauns standen«, bemerkte Maddox.
»Dann dürften ihre Fingerabdrücke irgendwo registriert sein.« D’Arcy begann langsam zu tippen, gähnte noch einmal und entschuldigte sich mit Frühjahrsmüdigkeit.
Es war zehn Uhr. Maddox knurrte der Magen, aber er musste noch einen Bericht über das Gespräch mit dem Ehepaar Easterfield schreiben. Glücklicherweise gab es wenigstens den Kaffeeautomaten.
»Will noch jemand Kaffee?«
D’Arcy reichte ihm einen Zehner. »Mit Sahne, vielleicht wach’ ich dann auf.«
Neben der Kaffeemaschine maß ein Fremder in weißem Overall die Wand aus. »Was haben Sie denn vor?«, fragte Maddox.
Der Mann drehte sich um und zeigte ihm ein rundes, gutmütiges Gesicht mit Stupsnase und Sommersprossen. »Ach, gehören Sie hierher. Mein Partner und ich sind froh, dass Ihre Zentrale endlich den Startschuss gegeben hat. Wir bohren seit mindestens einem Jahr. Aber Sie kriegen Ihren morgen.«
»Wen?«
»Unsere Maschine - den Sandwichautomaten. Wir stellen ihn überall da auf, wo Leute Überstunden machen müssen und keine Zeit zum Essen haben.«
»Wie praktisch«, sagte Maddox interessiert. Sein Hunger verstärkte sich. »Wie funktioniert so ein Ding?«
»Prima«, antwortete der Mann strahlend. »Der Hersteller hat Pleite gemacht, und wir haben eine ganze Menge von den Dingern billig gekauft. Es gibt vier Sorten zur Auswahl, jeden Tag frisch, hygienisch verpackt. Man wirft fünfzig Cents in den Schlitz und zieht am Handgriff, dann kommt ein Sandwich heraus. Die Maschine passt genau hier an die Wand. Außer Fred und mir haben wir schon drei Leute zum Nachfüllen der Automaten.«
»Na schön«, murmelte Maddox und holte sich seinen Kaffee. Er wünschte, der Sandwichautomat wäre schon hier.
Es fiel Sue und Daisy nicht ganz leicht, die Rodneys wieder loszuwerden. »Ihre Tochter ist schließlich volljährig«, sagte Daisy. »Sie hat die Schule hinter sich.«
»Ja, seit zwei Jahren«, antwortete Mrs. Rodney traurig. »Sie fing gleich eine Lehre in einem Schönheitssalon an. Und dabei sollte sie doch studieren!«
»Dafür hatte ich fast Viertausend zusammengespart«, sagte Rodney. »Aber Ellie ließ sich nicht überreden.«
»Nun ja...«, begann Sue.
Er schüttelte den Kopf. »Sie meinte, sie wüsste mit ihrer Zeit etwas Besseres anzufangen, als blöden Professoren zuzuhören. Ich habe versucht, es ihr klarzumachen...«
Nach einer Weile gelang es den beiden, die Rodneys hinauszukomplimentieren. Sie vergaßen den Zwischenfall und machten sich an die Arbeit.
Ein Supermarkt zeigte zwei Ladendiebe an. Sue und Daisy machten sich auf den Weg. Es handelte sich um Mutter und Tochter, beide schon einschlägig vorbestraft. Sie arbeiteten mit hohlen, in Packpapier gewickelten Paketen, die sie auf einen Gegenstand stellten, um ihn mit aufzuheben. Aber gegen die astronomisch ansteigenden Ladendiebstähle ließ sich nicht viel machen. Meistens bekamen die Leute Bewährung. In diesem Falle ergab eine Rückfrage vier Vorstrafen innerhalb von zwei Jahren - immer wegen echtem Schmuck. Also Profis, dachte Daisy und nahm die beiden vorläufig fest, während Sue den Bericht tippte.
Inzwischen hatte die Vermisstenabteilung ihre Routinemeldung durchgegeben: wieder eine durchgebrannte Jugendliche, aber diesmal die Tochter eines Abgeordneten aus dem Osten. Die Beschreibung passte auf keine der registrierten Toten oder Inhaftierten.
»Ich möchte gern zum Essen gehen«, sagte Daisy. »Ich muss zehn Pfund abnehmen und habe das Frühstück übergangen.«
»Ich auch«, antwortete Sue. »Ich habe den Wecker vergessen.«
»Flitterwochen!«
»Nach sechs Monaten? Aber geh nur voraus.«
»Wir bekommen übrigens einen Sandwichautomaten«, sagte Daisy. »George Ellis hat es mir heute Morgen erzählt. Sehr praktisch.«
»Das stimmt«, murmelte Sue mit knurrendem Magen. Zehn Minuten später hatte sie den Bericht über den Ladendiebstahl fertig und fuhr zum Essen in den Santa Monica Boulevard. Sie setzte sich zu Maddox und Rodriguez an den Tisch. Als sie von den beiden Leichen erfuhr, sagte sie: »Ein Wunder, dass das Kind nicht verletzt wurde. Armes Ding, ob sich Verwandte melden werden?«
»Die neue Betrugsserie macht mir Sorgen«, meinte Rodriguez. »Diese Witzbolde ruinieren unseren guten Ruf.«
Sie hatte schon davon gehört. »Ich muss Tante Evelyn warnen«, sagte sie lachend. »Sie fährt für ein paar Tage zu meiner Mutter. Ein tolles Ding! Habt ihr schon von dem Sandwichautomaten gehört?«
Als sie in die Dienststelle zurückkam, blätterte Johnny O’Neill in einer Zeitung. »Na, was macht der Bericht, Johnny?«, fragte sie. Er hatte im vergangenen Jahr bei einer Schießerei eine Kugel ins Fußgelenk bekommen und hoffte, die verhasste Schreibtischarbeit bald wieder loszuwerden.
»Müsste am Montag eingehen«, antwortete er lächelnd.
»Ich hoffe, dass ich dann wieder Außendienst machen kann.«
»Wird schon werden«, beruhigte ihn Sue. Johnny hatte ihr sehr dabei geholfen, Ivor Maddox kennenzulernen.
»Beeilen Sie sich, Sue«, sagte Johnny, »Sie werden schon erwartet.«
Neben Daisys Schreibtisch saßen zwei junge Frauen. Daisy stellte sie als Mrs. Teresa Fogarty und Miss Sandra Cross vor. Sue setzte sich und griff nach ihrem Notizblock.
»Bitte noch einmal ganz genau«, sagte Daisy. »Sie machen sich also Sorgen wegen einer Freundin. Wie war doch der Name?«
»Theodora Mayo«, antwortete Sandra Cross. »Sie wird Dorrie genannt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie wegläuft, ohne jemandem etwas zu sagen. Aber wo ist sie? Und wo steckt Monica?«
»Bitte noch einmal von vorn«, sagte Daisy geduldig. »Monica? Ist Dorrie verheiratet?«
»Sie war verheiratet«, erklärte Teresa Fogarty, eine schlanke, dunkelhaarige Frau Mitte zwanzig in einem schlichten gelben Baumwollkleid. Sandra war etwas jünger, hellblond und rundlich; sie trug ein hübsches marineblaues Kleid und falsche Perlen. Beide Frauen wirkten aufgeregt.
»Ihr Mann kam bei einem Autounfall ums Leben, als Monica erst einen Monat alt war. Ein Betrunkener hat ihn über den Haufen gefahren. Es war schrecklich - Ken war erst siebenundzwanzig. Dorrie ist jetzt vierundzwanzig.«
»Wann war das?«
»Letztes Jahr. Monica ist inzwischen fünfzehn Monate alt. Wir haben Dorrie und Ken kennengelernt, als sie das Haus nebenan kaufen wollten«, erklärte Teresa Fogarty. »Wir wohnen drüben am Roseview. Kens Mutter wollte, dass Dorrie zu ihr ziehen sollte. Aber den Plan musste Dorrie natürlich aufgeben. Die Lebensversicherung war nicht hoch. Und wegen der kalten Winter wollte sie auch nicht in den Osten übersiedeln.«
»Ihr Mann hat dort noch einen verheirateten Bruder«, fügte Sandra hinzu. »Die beiden wollten das Kind zu sich nehmen. Aber das hat sie auch abgelehnt. Sie hatte es nicht leicht, verstehen Sie?«
»Wo im Osten?«, fragte Daisy.
»Danbury in Connecticut. Dann hat sie eine Stellung bei Robinson bekommen. Sie hat die Schmuckabteilung, ich nebenan die Kosmetik. Wir wurden Freundinnen, aßen immer zusammen, und sie hätte mir ganz bestimmt Bescheid gesagt, wenn sie hätte umziehen wollen. Aber nichts - kein Wort. Sie ist einfach weg.«
»Augenblick mal!«, rief Daisy. »Hat sie denn keine Verwandten?«
Teresa antwortete: »Sie ist in einem Waisenhaus in Fresno aufgewachsen. Deshalb hatte sie überhaupt niemanden außer Kens Familie. Die war sehr nett zu ihr. Sein Bruder kam zur Beerdigung und half ihr den Nachlass zu regeln. Aber wir haben alle ihre Bekannten gefragt, und sie hat zu keinem ein Wort gesagt. Das sieht Dorrie nicht ähnlich.«
»Wo wohnt sie?«, fragte Daisy.
»An der Lexington.« Teresa gab die Adresse an. »Sie hätte bestimmt etwas gesagt. Wir sehen uns zwar nicht oft, weil wir zwei Kinder haben, aber ein paarmal in der Woche telefonieren wir...«
»Sagen Sie, Mrs. Fogarty«, warf Sandra plötzlich ein, »das kann doch nicht etwas mit Brian Faulkner zu tun haben?«
»Bitte die Einzelheiten«, mahnte Daisy. »Sie ist aus ihrer Wohnung ausgezogen?«
»Wir haben keine Ahnung, wo sie ist«, antwortete Sandra mit Tränen in den Augen. »Und da dachte ich, dass vielleicht Mrs. Fogarty...«
»Ich habe noch die Geburtstagsparty für Monica ausgerichtet.« Auch Teresa war den Tränen nahe. »Das war im letzten Dezember. Ihr erster Geburtstag.«
»Sie ist ein richtiges Püppchen«, sagte Sandra. »Dorrie hat ihr ein hübsches, blaues...«
»Wann haben Sie die Frau zuletzt gesehen?«, fragte Daisy eine Spur strenger.
»Am vergangenen Samstag.« Heute war Freitag. »Sie war genau wie immer«, berichtete Sandra. »Am Montag kam sie dann nicht zur Arbeit, und ich dachte, sie wäre vielleicht krank geworden, deshalb rief ich an. Aber es meldete sich niemand. Am Abend versuchte ich es noch einmal. Als sie am Dienstag auch nicht zur Arbeit erschien, fragte ich Mr. Simon, den Chef der Schmuckabteilung, und erfuhr, dass sie sich nicht krank gemeldet hatte. Er war wütend. Am Mittwoch fuhr mich mein Bruder zu ihrer Wohnung, aber da war niemand. Einen Hausmeister gibt es nicht. Keiner wusste etwas. Da fiel mir Mrs. Fogarty ein.«
»Und ich weiß auch nichts«, sagte Teresa. »Am letzten Sonntagmorgen habe ich noch mit Dorrie telefoniert. Ganz belanglos, verstehen Sie. Ich wusste wenigstens, dass Dorrie ihre Miete immer an eine große Immobilienfirma bezahlt. Dort habe ich gestern nachgefragt und nach einigem Hin und Her erfahren, Mrs. Mayo hätte die Wohnung gekündigt. Die Leute waren verärgert, weil sie keine Adresse angegeben hatte, aber ich wusste sie auch nicht.«
»Was kann nur geschehen sein?«, jammerte Sandra.
»Außerdem hat sie keine Schreibmaschine«, sagte Teresa. »Aber an Mrs. Littletons Wohnungstür hat sie eine maschinengeschriebene Nachricht hinterlassen. Das ist eine andere Kollegin von uns. Und als mein Bruder Jim mich hinfuhr, erzählte sie mir von der Nachricht, die an ihrer Tür klebte: Dorrie wollte zu ihrer Schwiegermutter ziehen. Dabei hat sie kein Wort gesagt, und Mr. Simon...«
»Augenblick«, unterbrach sie Daisy. »Wer ist dieser Brian Faulkner? Ein Freund von Mrs. Mayo?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Teresa. »Sie hat ihn bei uns kennengelernt, er ist mit meinem Mann zur Schule gegangen. Dorrie gefiel ihm, und er hat ihr einen Antrag gemacht, aber sie wollte nicht. Sie hat die Sache mit Ken noch nicht überwunden. Mit ihrem Fortgehen hat er sicher nichts zu tun.«
»Was war mit Mr. Simon?« Daisy sah Sandra an.
»Ich habe ihn heute Morgen gefragt, ob er nicht etwas von Dorrie gehört hätte. Da sagte er, sie hätte gekündigt - schriftlich. Aber warum sollte sie? Ohne uns etwas zu sagen. Ich bin gleich nach dem Mittagessen zu Mrs. Fogarty gelaufen, weil mir alles so komisch vorkam.«
»Komisch«, wiederholte Sue und sah Daisy an.
Auf den ersten Blick war das wenig: ein Kündigungsbrief, eine Nachricht an eine flüchtige Bekannte. Ältere Freundinnen hatten nichts erfahren. Warum nicht?
»Wo hatte sie denn tagsüber ihr Kind?«, fragte Daisy.
»Wir haben gar nicht an Mrs. Moran gedacht!«, rief Sandra. »Ihr müsste sie doch etwas gesagt haben. Mrs. Moran kümmerte sich tagsüber um Monica. Sie ist Witwe und wohnt an der Virginia Avenue nicht weit von Dorrie. Sie liebt Kinder und nimmt nur einen Dollar täglich.«
Sue legte ihr Notizbuch weg. »Die Sache ist komisch«, sagte sie. »Eine ganz gewöhnliche junge Frau...«
»Sie ist nicht gewöhnlich.« Sandra weinte. »Kens Tod hat sie fast umgebracht. Die beiden waren doch erst zwei Jahre verheiratet, aber sie war sehr tapfer und hat alles getan, um die kleine Monica richtig zu erziehen...«
»Seltsam«, murmelte Daisy. »Siehst du einmal nach, wer von den Kollegen da ist.«
Sue ging in die weitläufige Kriminalabteilung. Zurzeit war nur ihr Mann da. Er saß an seinem Schreibtisch und studierte Schriftstücke.
»Wir haben da eine Sache, mit der wir allein nicht klarkommen«, sagte Sue.
»So«, Maddox hob den Kopf. »Hier sind endlich die Fotokopien der Führerscheine. Ein paar Jugendliche - aber das wussten wir schon. Anfang zwanzig - was zum Teufel nützen die Fotos? Auf meinem sehe ich aus wie ein Gangster. Was gibt’s?«
»Eine komische Sache«, sagte Sue. »Man soll sich nicht auf Gefühle verlassen, aber etwas sagt mir, dass es vielleicht Kidnapping ist.«
»Kidnapping?« Maddox fuhr hoch. »Was du nicht sagst! Ist das FBI schon informiert?«
»So weit sind wir noch nicht. Es scheint auch nicht viel Geld da zu sein. Ich habe nur so ein Gefühl...«
»Weibliche Polizei«, stöhnte Maddox. »Schieß los.«
Zweites Kapitel
Vom Geschäftsführer des Astro-Motels am Stadtrand von Pasadena hatte Rodriguez einiges erfahren. Der Caddy aus Florida war am vergangenen Dienstag angekommen. Zwei Männer und eine Frau hatten ein Doppelzimmer genommen. Die vage Beschreibung von Mr. Stanley Kelleher und seiner Frau schien auf die Leichen zu passen: Anfang dreißig, der Mann mit Stirnglatze, die Frau dunkelhaarig und pummelig.
»Und das Baby?«, fragte Rodriguez.
»Ein Baby habe ich nicht gesehen, aber sie können eins mitgehabt haben. Auch der andere Mann ist mir nicht unter die Augen gekommen. Das Motel ist groß, und sie waren selten hier. Außerdem waren es ja nur zwei Tage. Kelleher hat die Anmeldung ausgefüllt und den Namen seines Begleiters als Gary Rowe angegeben.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Elizabeth Linington/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Elizabeth Linington.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Norbert Wölfl und Christian Dörge (OT: Crime By Chance).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2023
ISBN: 978-3-7554-4046-8
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