ELIZABETH LININGTON
MORD MIT VARIATIONEN
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MORD MIT VARIATIONEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Das Buch
Innerhalb einer Woche werden in Los Angeles vier Morde verübt, die allesamt auf das Konto eines einzigen Mörders gehen. Sind Sie das Werk eines Irren, oder soll die Polizei auf eine falsche Spur gelenkt werden?
Sergeant Maddox steht vor einem Rätsel, bis ihm endlich beim Lesen eines Kriminalromans eine Parallele auffällt...
Elizabeth Linington (* 11. März 1921 in Aurora Kane, Illinois; † 5. April 1988 in Arroyo Grande, Kalifornien) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.
Ihr Roman Mord mit Variationen um den schrulligen Sergeant Ivor. G. Maddox von der Polizei in Los Angeles ist eine ebenso liebenswerte wie spannende Hommage an die Werke von Agatha Christie und Edgar Wallace.
Mord mit Variationen erschien erstmals im Jahr 1964; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
MORD MIT VARIATIONEN
Erstes Kapitel
»Sie haben aber eine Menge Bücher, Sergeant Maddox«, sagte Diane Clinton voll Respekt.
Maddox räumte ein, dass man das wohl sagen könne. Vor den leeren Regalen in vielen Schachteln bunt zusammengewürfelt schienen es doppelt so viele zu sein wie in Wirklichkeit. Ob er sie heute noch alle ordnen konnte, war zweifelhaft; es war immerhin schon zehn Uhr.
»Warum haben Sie so viele Bücher, Sergeant Maddox?«
»Tja, ich habe eben eine Vorliebe für Bücher«, erwiderte Maddox. Trotzdem - so viele? Er hatte gar nicht gewusst, wie viel da im Laufe der Zeit zusammengekommen war. Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren zog er um, der Bestand hatte sich seither um die Bibliothek seines Vaters vermehrt. Es gelang ihm einfach nicht, auch nur an einem einzigen Antiquariat vorüberzugehen. Alle anderen Sachen waren an seinem freien Tag letzte Woche abtransportiert und aufgestellt worden, aber die Bücher würden ihn länger als einen Tag in Anspruch nehmen, darüber war er sich jetzt schon im Klaren. Diese Vielzahl der Bücher war auch der Grund, warum er so schwer eine neue Wohnung gefunden hatte; keines der vielen Appartements, die er besichtigt hatte, war auch nur im Entferntesten geräumig genug. Dieses kleine Haus auf dem Grundstück hinter dem Anwesen der Clintons an der Gregory Avenue hatte er eigentlich nur genommen, um alle Bücher unterbringen zu können.
Er richtete sich mühsam auf und zündete sich eine Zigarette an. Man musste sich Zeit lassen und durfte die Bücher nicht gedankenlos in die Regale stopfen. Wenigstens waren schon alle Borde aufgestellt und abgestaubt.
»Sie haben ziemlich weit draußen gewohnt, nicht?«, fragte Diane interessiert. »Mutter hat es Daddy erzählt. Und. dann sind Sie Sergeant geworden und man hat Sie versetzt.«
Maddox sah resigniert auf sie hinunter. Ein nettes kleines Mädel, die zehnjährige Diane, aber Weiber!
»Stimmt«, sagte er. Zuerst hatte er sich ein bisschen darüber geärgert; alles war drunter und drüber gegangen, weil mehrere ältere Beamte gleichzeitig das Pensionsalter erreicht hatten. Es war zwar angenehm gewesen, endlich befördert zu werden - er hatte die Prüfung schon drei Jahre zuvor abgelegt -, aber die Aussicht, sich an ein neues Revier - das Wilcox Avenue Revier in Hollywood - und an einen kompletten neuen Haufen von Untergebenen und Vorgesetzten gewöhnen zu müssen, hatte die Freude doch gedämpft. Er war immer im Van Nuys Revier tätig gewesen, seit er vor sieben Jahren Kriminalbeamter geworden war. Aber es wurde dann doch nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte: Lieutenant Eden war ein netter Kerl, und seine Kollegen erwiesen sich als freundlich und hilfsbereit; bis auf diesen O’Brien waren sie auch bei der Arbeit auf Draht. Alles hatte sich längst eingespielt; er arbeitete nun schon sechs Monate in der Wilcox Avenue. Erst, nachdem er drei Monate lang die weite Strecke von und nach Van Nuys zurückgelegt hatte, war er darangegangen, sich in Hollywood eine Wohnung zu suchen, und wegen der vielen Bücher hatte es eine Weile gedauert, bis sich etwas Passendes bot.
»Ich hab’ die Anfangsbuchstaben von Ihrem Vornamen auf dem Scheck gesehen, den Sie Mutter gegeben haben«, sagte Diane. »I. G. Wofür steht denn das I, Sergeant Maddox?«
»Für Ivor.«
»Das ist ein komischer Name, nicht wahr? Ich habe ihn noch nie gehört. Er ist hübsch.«
»Das ist ein walisischer Name.«
»Oh. Maddox ist auch ein - ein seltener Name. Woher kommt er denn?«
»Auch walisisch.«
»Oh. Und was bedeutet das G?«
»Das«, sagte Maddox wahrheitsgemäß, »erzähle ich keinem Menschen mehr.« Das letzte Mal hatte er es einer Blondine anvertraut, die ihm recht gut gefiel, Frances Sowieso, und sie hatte so gelacht, dass sie beinahe erstickt wäre.
»Oh. Ist es sehr schlimm?«
»Und wie«, sagte Maddox. Wo sollte er anfangen? Er hatte die Schachteln natürlich beschriftet, aber es war doch eine Heidenarbeit, alles zu sortieren.
»Oh«, sagte Diane. »Tragen Sie eine Pistole, Sergeant Maddox? Auch wenn Sie keine Uniform anhaben?«
»Es wird uns empfohlen«, sagte Maddox. An der Rückwand würde er mit Archäologie anfangen, dann musste er an der Seitenwand bei Sprachen landen und konnte dann auf der anderen Seite mit Belletristik weitermachen. Das hatte seine Vorteile.
»Das wird so eine Art Bibliothek, nicht?«, sagte Diane. »Wie bei einem Millionär.«
»Na ja, stimmt ja auch«, meinte Maddox. Der Raum hier war das zweite kleine Schlafzimmer, im ersten und im Wohnzimmer standen ebenfalls Regale, aber die meisten hatten hier Platz gefunden; einfache Naturkiefer mit verstellbaren Brettern. Manche Regale hatte noch sein Vater anfertigen lassen, den Rest hatte er selbst an geschafft. Er lächelte auf die blonde, hübsche Diane hinunter. »Die einzige Ähnlichkeit zwischen mir und einem Millionär.«
Sie kicherte. »Darf ich Ihnen helfen?«
»Nein, so etwas kann man nur allein machen«, gab Maddox bedauernd zurück. »Ich würde nie mehr etwas finden, wenn ich das nicht selbst mache.«
Mrs. Clinton klopfte flüchtig an die offene Haustür und kam herein. »Hab’ mir schon gedacht, dass du hier bist«, sagte sie zu Diane. »Du darfst Sergeant Maddox nicht belästigen, Schatz. Er hat schon genug zu tun, und wenn er sich auch noch mit dir abgeben muss
»Ich belästige ihn doch gar nicht!«
»Wir verstehen uns prima«, sagte Maddox. Mrs. Clinton war ebenfalls hübsch und blond.
»Na, sie hat Ihre Geduld lange genug in Anspruch genommen«, meinte sie lächelnd. »Komm jetzt, Herzchen, du bist bei Dr. Roberts bestellt.«
»Aber Mammie!«
Diane ließ sich widerstrebend hinausführen und schenkte Maddox zum Abschied noch ein strahlendes Lächeln.
Maddox drückte seine Zigarette aus und ging in sein Schlafzimmer. Er betrachtete sich im Spiegel über der Kommode; nicht zum ersten Mal überlegte er sich, dass es wirklich recht merkwürdig war, weil man ihn beim besten Willen nicht gutaussehend nennen konnte. Mit einem Meter sechsundsiebzig überschritt er knapp die geforderte Mindestgröße, und ein paar Pfund Untergewicht waren die Regel bei ihm. Ein schmales, dunkelhäutiges Gesicht ohne besondere Kennzeichen, schwarzes Haar, gerade Nase, gewöhnliche blaue Augen, die Wangen ein bisschen eingefallen. Im Übrigen sah er immer so aus, als könnte eine Rasur nicht schaden. Die dichte Behaarung auf der Brust bis hinauf zum Hals war jetzt zu sehen, weil er den Kragen aufgeknöpft hatte.
Er betrachtete sich kopfschüttelnd. Es blieb ein Rätsel, über achtzehn Jahre jetzt schon, seit er mit dreizehn dahintergekommen war. Warum die Frauen von Ivor Maddox so fasziniert waren, würde er nie begreifen, und manchmal war es sogar recht peinlich. Wahrscheinlich war es auch ein Grund, warum er erst drei Jahre nach bestandener Prüfung zum Sergeant befördert worden war. Die Polizeibehörde von Los Angeles verfügte für solche Fälle über eine ganze Sammlung von puritanischen Vorschriften und Bestimmungen; die einzigen Tadelsvermerke in seiner Personalakte, seit er sich vor zehn Jahren um die Einstellung in den Polizeidienst beworben hatte, verdankte er den Frauen. Er war ja schließlich kein Schürzenjäger, der jeder Frau nachjagte. Eigentlich war es ungerecht. Er verlangte nichts anderes als ein ruhiges Leben in seiner Freizeit und Zeit zum Lesen. Aber sie ließen ihn nicht in Ruhe, und schließlich - Maddox seufzte. Er hatte mitgehört, als Captain Samuels mit Lieutenant Eden telefonierte - kurz nachdem die Versetzung offiziell durchgegeben worden war. Captain Samuels hatte ein bisschen unlieber geklungen.
»Wenn Sie das berücksichtigen und entsprechend großzügig sein wollten, verstehen Sie? Er ist wirklich sehr tüchtig, wenn man ihm freie Hand lässt - hat wirklich was auf dem Kasten. Nur - es klingt ja recht komisch, und ich glaube nicht, dass er etwas dafür kann - bei jeder zweiten Gelegenheit ist eine Frau im Spiel. Sie sind wie die Verrückten hinter ihm her. Aber seine Leistungen beeinflusst das nicht, er ist absolut ehrlich und vertrauenswürdig, da brauchen Sie keine Sorgen zu haben. Wenn Sie gelegentlich ein Auge zudrücken Würden
Maddox seufzte wieder. Er war Captain Samuels für seine gutgemeinten Ratschläge dankbar; vielleicht hatten sie doch etwas genützt...
Er ging zurück in das andere Zimmer. Jeder hat sein Kreuz, dachte er. Da kann man eben nichts machen. Und im letzten halben Jahr hatte er tatsächlich ausgesprochene Strafpredigten vermeiden können - der Lieutenant hatte ihn wegen der Kleinen aus Texas nur ermahnt, und später wegen der Rothaarigen...
Er fand die Schachtel mit der Aufschrift A/T und nahm das erste Buch heraus. Von Königswald - nein, lieber mit Velikovsky anfangen, damit er in Zukunft wusste, wo er zu finden war. Für die kosmischen Theorien dieses Verfassers hatte er einiges übrig.
Eine halbe Stunde später war er bis zur Mitte der Schachtel gelangt, als das Telefon läutete. Ergeben ging er hinüber, um den Hörer abzunehmen, wobei ihm schon dämmerte, was ihn erwartete.
Es war Kriminal-Assistent César Rodriguez.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen den freien Tag vermiesen muss«, sagte er, »Der Lieutenant hat zuerst versucht, Anderson zu erreichen, aber er ist nicht zu Hause.«
»Kann ich mir denken«, meinte Maddox. »Hat sich etwas getan?«
»Sie sind ein Hellseher«, sagte Rodriguez. »Es hat sich was getan.
Ein Raubüberfall - kann sich zu einem Mord auswachsen. Jemand muss sich das ansehen.«
Maddox warf einen Blick auf die Kartons mit Büchern und sagte: »So ein Mist! Na schön. Wo?«
»Draußen in der Fountain Avenue«, und Rodriguez gab ihm die Anschrift durch. »Der Mann hat einen winzigen Malzbierladen. Er ist wahrscheinlich gestern Nacht überfallen worden, als er zusperren wollte. Wirklich was Ausgefallenes. Sie treffen mich und D’Arcy dort.«
»Okay«, sagte Maddox. Er ging ins Schlafzimmer, nahm aufs Geratewohl eine Krawatte, knöpfte den Kragen zu und band sich den Schlips. Er zog das graue Jackett an, holte seinen zerdrückten Filzhut aus dem Schrank, suchte in der Tasche nach den Schlüsseln und verließ das Haus. Ein gepflasterter Weg schlängelte sich an dem größeren Haus der Clintons vorbei zur Straße. Dort hatte er seinen blutroten Frazer Nash stehen.
Als er sich ans Steuer setzte, dachte er, dass es vielleicht seine Autos waren, die das schwache Geschlecht anlockten. Wenn er einen ganz gewöhnlichen Oldsmobile oder Buick hätte - aber er mochte nun einmal ausgefallene Fahrzeuge, und außerdem wusste er, dass sich damit nicht alles erklären ließ. Er fuhr den Frazer Nash, den er für seinen Mercedes eingetauscht hatte, schon fast zwei Jahre und war sehr zufrieden. Er brauchte zwar mehr als zehn Liter auf hundert, bei einem Achtzylindermotor musste man sich aber damit abfinden. Im Großen und Ganzen machte ihm der Wagen wirklich Spaß.
Er fuhr zur Fountain Avenue, bog links ab und starrte auf die Nummernschilder. Nach ein paar Häuserblocks entdeckte er D’Arcys Wagen und parkte seinen Nash auf der anderen Straßenseite.
Das Lokal befand sich in einem einstöckigen Ladenbau zwischen einem Dutzend anderer Läden. Über der Tür ein Schild: Walt’s. Die Tür stand offen. Er trat ein.
D’Arcy und Rodriguez standen herum und unterhielten sich, während sich zwei Leute vom Spurensicherungsdienst hinter der Theke betätigten. D’Arcy und Rodriguez waren die beiden Kriminalbeamten, mit denen Maddox normalerweise zusammenarbeitete, und er kam gut mit ihnen aus. Er und D’Arcy hatten eine Gemeinsamkeit entdeckt, weil sie beide ungewöhnliche Namen trugen; niemand rief D’Arcy bei seinem Vornamen, wenn er nicht Streit haben wollte, und César Rodriguez kam mit allen Leuten aus. Maddox grinste, als er sie so stehen sah - D’Arcy knapp über einsneunzig, schlaksig und dunkelhaarig, Rodriguez fünfzehn Zentimeter kleiner, adrett und schnurrbärtig. Wie üblich war es D’Arcy, der gestenreich einen Vortrag hielt, während Rodriguez gelangweilt und mit ironischer Miene zuhörte.
»Na, was gibt’s denn?«, sagte Maddox, als er sich zu den beiden gesellte.
»Man soll nichts berufen«, meinte D’Arcy. »Ich habe das Gefühl, dass wir nicht zum letzten Mal von dem Burschen hören, Ivor. Vielleicht wirklich ein Irrer - aber ich fange lieber von vorne an. Dieser Walt, Walt McLean, um die Sechzig, betreibt den Laden hier schon ungefähr zwanzig Jahre. Seine Nichte hat uns Bescheid gesagt - die einzige Verwandte, er ist Witwer. Er verdient ordentlich, nichts Aufregendes, verstehen Sie. Ja, er wohnt drüben in Kingsley, schon seit Jahren, und der Hausverwalter und seine Frau sind mit ihm befreundet, verstehen Sie? Sie haben sich jedenfalls Sorgen gemacht, als er gestern nicht zur üblichen Zeit heimkam. Er hat gewöhnlich bis neun Uhr offen und kommt so um halb zehn heim.«
»Ist er ganz allein hier?«, fragte Maddox, während er sich umsah. Vier kleine Nischen, zehn Hocker an der Theke. Eine kleine Speisekarte über dem Spültisch hinter der Theke. Frikadellen, ein paar Sorten belegter Brote, Malzbier, Eiskrem, alkoholfreie Getränke.
»Eine Frau half von Mittag bis sechs Uhr aus«, erwiderte Rodriguez. »Nach sechs Uhr war er allein. Übermäßig viele Kunden wird er wohl nicht gehabt haben.«
»Nein. Und?«
»Die Wohnung des Hausverwalters liegt unmittelbar neben der von McLean«, fuhr D’Arcy fort, »und er war immer noch nicht heimgekommen, als sie zu Bett gingen. Und heute früh fingen sie dann an, sich Sorgen zu machen. McLean schien noch nie ausgeblieben zu sein, und sie riefen hier an - aber es rührte sich niemand. Dann telefonierten sie mit seiner Nichte, einer Marcia Dwight, und sagten ihr Bescheid. Sie bekam es mit der Angst zu tun, ließ sich von ihrem Chef freigeben - sie arbeitet bei Dean Witters als Sekretärin - und fuhr hierher. Vorne war abgesperrt, sie ging nach hinten - hinter dem Gebäude ist eine kleine Gasse - und sah McLean auf dem Boden des Hinterzimmers liegen, durch die Glasscheibe in der Tür. Sie verständigte uns. Die Leute vom Ambulanzwagen meinten, der arme Kerl müsse dort seit gestern Abend um neun gelegen haben. Er ist nicht tot, jedenfalls lebte er noch, als er abtransportiert wurde, aber seine Aussichten sind nicht besonders rosig. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen. In der Wunde wurden Spuren von Holzsplittern gefunden.«
»Ja«, sagte Maddox. »Er hatte wohl gerade zugesperrt. Der Täter muss durch die Gasse herangeschlichen sein und gewartet haben, bis McLean ins Hinterzimmer kam. Ist er immer hinten rausgegangen?«
»Ich glaube schon. Die Ladenbesitzer parken hinten. Sein Wagen steht noch dort. Ein alter Dodge.«
»Wieviel fehlt?«, fragte Maddox. »Ich wüsste nicht, was da so ausgefallen sein sollte.«
Rodriguez lächelte strahlend; er hatte eine Vorliebe für ungewöhnliche Fälle.
»So viel sich beurteilen lässt, ist überhaupt nichts gestohlen worden, Amigos«, sagte er. »Wir haben mit der Nichte gesprochen. Sie ist jetzt im Krankenhaus. Sie stand mit ihrem Onkel sehr gut - immerhin war sie die einzige Verwandte - und weiß über das Geschäft Bescheid. Jeden Abend nahm er mit nach Hause, was in der Kasse war, und am anderen Tag, sobald diese Mrs. Oliver hinter der Theke stand, fuhr er zu seiner Bank am Santa Monica Boulevard und zahlte ein. Durchschnittlich wird er pro Tag fünfunddreißig Dollar verdient haben, meint sie.«
»Ja?«, sagte Maddox.
Rodriguez betrachtete nachdenklich seine Zigarette.
»McLean trug siebenunddreißig Dollar und dreiundvierzig Cent bei sich. Außerdem seine neue Uhr, die ihm seine Nichte zum Geburtstag geschenkt hat, und einen Rubinring, den er immer trug.«
»Oh«, sagte Maddox. »Aha.«
»Ich würde mir noch etwas ansehen«, riet ihm Rodriguez.
Maddox ging mit ihnen hinter die Theke. Eine schmale Türöffnung führte in ein kleines Lager, das die Form eines L hatte; den restlichen Platz hatte man für eine schmale, Toilette verwendet. Es gab Regale zur Warenlagerung, einen zweiten Kühlschrank, eine Tür, die auf die Gasse hinausführte.
»Da war er«, sagte D’Arcy, »mitten auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Man sieht die Blutflecke noch. Er lag mit dem Kopf zur Tür, die in den Laden führt. X muss also hereingekommen sein, während McLean ihm den Rücken drehte. Aber das Entscheidende ist das da. Man musste es herunternehmen, um ihn auf die Bahre zu legen, aber die Funkstreifenbeamten waren auch nicht auf den Kopf gefallen, sie haben dafür gesorgt, dass niemand die Sachen angerührt hat. Sie lagen auf der Leiche - na ja, ich meine, hoffentlich kommt es nicht soweit.«
»Ist noch nicht einmal auf Fingerabdrücke untersucht«, meinte Rodriguez erfreut.
»Was Sie nicht sagen«, knurrte Maddox. Er ging in die Hocke und sah sich die Sachen an.
Das erste war ein Straßenführer für den Bezirk Los Angeles, ein ziemlich dickes Buch, neueste Ausgabe, die etwa hundertzehn Karten und ein Straßenverzeichnis enthielt. Um die Mitte war säuberlich ein Band aus hellgrüner Seide gebunden, mit einer feinen Schleife. Unter dem Band befand sich ein halbes Blatt Schreibmaschinenpapier, auf das jemand mit grünem Kugelschreiber in Großbuchstaben geschrieben hatte:
DAS IST NUMMER EINS! DIE GRÜNE MASKE.
»Oh, nein«, sagte Maddox. »Das glaube ich einfach nicht. Machen Sie hier Witzelten, César? So etwas würde Ihnen ähnlich sehen!« Rodriguez lachte. »Ich habe nichts damit zu tun. Es war wirklich so, so wahr ich hier stehe.«
»So wahr ich hier stehe!«, sagte D’Arcy. »Das ist doch das Tollste - ich hab’ ja gesagt: ein Verrückter. Sie sehen, was ich meine? Ich meine - ich frage Sie, wer macht so etwas Verrücktes?«
»Alle«, sagte Maddox traurig, »die irgendeinen von tausend schlechten Kriminalromanen gelesen haben, um neunzehnhundertzwanzig.« Er stand auf und kramte in seinen Taschen nach einem Päckchen Zigaretten. Und dann, als er gerade dabei war, sich eine Zigarette anzustecken, ließ er das Zündholz ausgehen und starrte die Sachen an. »Herrgott noch mal - das bringt mich auf eine Idee... Nein, ist schon fort, ich kann’s nicht festnageln. Hat einer schon so etwas gesehen? Du meine Güte!«
»Hab' ich’s nicht gesagt?«, meinte Rodriguez. »Ausgefallen, Mir passt’s. Wir finden ganz bestimmt keine brauchbaren Abdrücke. Das wird eine feine Sache werden, wartet nur ab. Damit kommen wir alle in die Zeitung.«
»Ein kleiner Sonnenstrahl«, meinte Maddox.
»Na ja, komisch ist es wirklich«, sagte D’Arcy. »Das sieht jeder. Die Nichte sagt, sie wüsste genau, dass McLean keinen von diesen Stadtplänen hatte. Er fährt überhaupt nicht viel. Und dass das Ding noch auf ihm lag...«
»Und die Mitteilung. Diese Mitteilung«, sagte Rodriguez. »Nummer eins. Die Graphologen können mit Druckbuchstaben nichts anfangen, wissen Sie. Sicher ein Schizophrener mit Verfolgungswahn. Wie dieser Roland im letzten Jahr.« Es fehlte nur noch, dass Rodriguez sich die Hände rieb. »Ich möchte nur wissen, wird Nummer zwei wieder der Besitzer eines Imbisslokals sein oder ganz einfach ein Mann um die Sechzig, oder...«
»Heiliger Strohsack!«, sagte Maddox. »Nicht so schnell. Die grüne Maske. Ich bitte Sie! Das ist doch lächerlich... Er hätte die Kasse ausräumen können. Die siebenunddreißig Dollar, die McLean bei sich trug, brauchen nicht in der Kasse gewesen zu sein. Vielleicht hat er sie einfach übersehen.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, erwiderte Rodriguez. »Die Nichte behauptet, McLean habe nie mehr als fünf oder sechs Dollar bei sich gehabt - abgesehen von der Tageseinnahme, bevor er zur Bank fuhr. Und«, fügte er beinahe befriedigt hinzu, »überhaupt keine Hinweise, jedenfalls nicht an der Oberfläche. Wir werden keine Abdrücke finden.«
In diesem Augenblick kamen die Leute vom Spurensicherungsdienst herein und vertrieben sie vorübergehend.
»Das schlägt doch dem Fass den Boden aus«, sagte Maddox. »Die grüne Maske. Du ahnst es nicht... Da will sich jemand aufspielen. Ich möchte nur wissen, warum. Nicht zu fassen!« Er schwieg eine Weile, dann meinte er: »Ja. Sollte wohl so aussehen - irrsinnig. Von außen her. Unpersönlich. Weil es in Wirklichkeit gar nicht so war? Der Kerl hat wohl zu viel Kriminalromane gelesen?«
»Nein«, sagte Rodriguez. »Ihr altes Laster - Sie machen alles zu kompliziert. Der typische Schizophrene.«
»Die Nichte behauptet, dass er nicht sehr viele Freunde hatte«, meinte D’Arcy. »Er hat sehr zurückgezogen gelebt. Es sieht nicht so aus, als steckten persönliche Motive dahinter. Ein ganz gewöhnlicher, harmloser alter Knabe. Kein Geld. Keine Verwandten bis auf die Nichte. Übrigens eine tolle Nummer - ungefähr sechsundzwanzig, brünett, Figur wie ein Filmstar...«
»Verflucht und zugenäht«, sagte Maddox unglücklich. Der Fall hatte ihm von Anfang an nicht gefallen. Das war doch wirklich das letzte, und wenn auch noch eine solche Frau mit im Spiel war, konnte er sich jetzt schon gratulieren. So eine Ungerechtigkeit!
»Die grüne Maske«, sagte er. »Du lieber Gott. Wie in einem schlechten Verbrecherroman aus den zwanziger Jahren.«
Zweites Kapitel
»Na schön«, sagte er, »wir müssen was tun. Sehen wir uns die Gasse an. Oder habt ihr das schon getan?«
Sie hatten nicht. Sie waren mit der Nichte beschäftigt gewesen, bis diese gebeten hatte, ins Krankenhaus fahren zu dürfen, dann war man beisammengestanden, hatte die Sache besprochen und auf Maddox gewartet.
»Genau das ist der Grund, warum ihr nicht befördert worden seid«, meinte Maddox. »Er kann bei der Flucht die Waffe verloren haben, und je früher wir sie finden...«
Sie zwängten sich an den Leuten vom Spurensicherungsdienst vorbei, die aufheulten, man möge diese Tür ja nicht berühren.
»Oh«, sagte Maddox ein bisschen verwirrt, »da habt ihr auch wieder recht.«
»So ein schlauer Sergeant«, sagte D’Arcy. Sie gingen durch den Laden und traten ins Freie. Sie marschierten bis zur Ecke und zählten auf dem Weg die Läden ab. Die Gasse begann, wenn man nach links einbog, nach zehn Metern. Sie war so breit, dass mehrere Autos Platz hatten, und wurde von den Hintergärten der Häuser an der nächsten Straße begrenzt - Kleinbürgergegend, hauptsächlich alte Holzbungalows. Es war keine Gegend, in der die Bewohner ihre Grundstücke besonders pflegten - nur einige Gärten zeigten Ansätze zu einem Rasen, ein paar Blumenbeete, von denen einige wild durcheinanderwuchsen: trockenes braunes Gras, nasse Erde, langer ungestutzter Efeu, der das Dach einer plump zusammengezimmerten Garage überwucherte. Nur das eine Grundstück schräg hinter dem rückwärtigen Ausgang von McLeans Lokal ließ Spuren von Pflege erkennen: ein besprühter, gemähter Rasen, ein paar vom Unkraut befreite Blumenbeete an der Rückseite des Hauses, das erst vor kurzem frisch gemalt worden war.
»Ich dachte, wir suchen nach der Waffe?«, sagte D’Arcy.
»Ja. Kommt schon nach. Anschließend klopft ihr beide an ein paar Türen, zuerst da drüben, und erkundigt euch, ob jemand gestern Nacht irgendetwas Verdächtiges gehört hat.«
»Sie meinen, dass der Hausbesitzer da drüben, der offenbar gerne im Garten arbeitet, vielleicht gerade im Freien gewesen sein könnte?« Er schüttelte den Kopf. »Aber nicht um neun Uhr abends.«
»Meine Überlegung ist viel einfacher«, sagte Maddox. »Das ist das einzige Grundstück hier, das Beleuchtung im Freien hat. Seht ihr die Drähte vom Haus zur Garage und den großen Scheinwerfer auf dem Garagendach? Wäre durchaus möglich. Ein schöner Juniabend, nicht zu kalt.«
»Sie sind eben ein bisschen schlauer, okay. Aber hat nun unser Irrer die Waffe verloren?«, sagte Rodriguez.
Sie suchten. Gründlich, in der ganzen Gasse, weil sie nicht wussten, wohin er sich gewandt hatte. Wie in den meisten Hintergassen, lag auch hier eine Menge Abfall herum. Alte Konservendosen, Bierflaschen, Weinflaschen, Schnapsflaschen, zerknautschte leere Zigarettenpäckchen und Papierfetzen. Auf halbem Wege fanden sie einen Holzprügel, ungefähr dreißig Zentimeter lang, der an der Wand lag. Maddox hockte sich nieder und studierte den Knüppel. An einem Ende war er mit Farbe verschmiert, es konnte aber ebenso Blut sein.
»Sehr günstig«, sagte er. »Wir lassen die Spuren sichern.«
»Zeitverschwendung«, meinte Rodriguez.
»Das weiß man nie«, sagte Maddox sanft. »Sie behaupten, er sei ein Schizophrener mit Verfolgungswahn. Vielleicht hat er also an Abdrücke gar nicht gedacht. Und der Prügel ist auf drei Seiten rau, aber auf der vierten glattgehobelt.« Er stand auf und starrte die kleine Straße hinunter. »Ein bisschen weiter in der Richtung nach Ogden als zur anderen Querstraße. Seinen Wagen hatte er also dort irgendwo geparkt - wenn er mit dem Auto hier war.«
In stillschweigendem Einvernehmen machte sich D’Arcy auf den Weg, um die Leute vom Spurensicherungsdienst auf den Knüppel aufmerksam zu machen, während Maddox und Rodriguez weitergingen. Die Gasse mündete in eine schmale, stille Wohnstraße ein mit bescheidenen Einfamilienhäusern, mehrere größere Häuser waren weiter oben. Eine Parklücke war kaum zu finden.
»Nachts noch viel weniger«, meinte Maddox. »Vielleicht hat er also seinen Wagen in größerer Entfernung abgestellt. Wenn er überhaupt ein Auto hatte. Hier dürfte niemand etwas gehört oder gesehen haben... Übrigens, César - hat er sich einfach aufs Geratewohl ein Opfer ausgesucht? Ging er herum und suchte nach irgendeinem Menschen, der zur Nummer eins werden sollte? War er gerade zufällig in der Gasse, als McLean herauskam? Nein, kaum, weil...«
»Aus verschiedenen Gründen nicht«, sagte Rodriguez entschieden. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Verrückten - gleichgültig, zu welchem Typ sie gehören - oft weitaus logischer vorgehen als normale Menschen. Ihr Verhalten kann man eher voraussehen. Solche Personen, die auf die Idee kommen, dass sie der Himmel bestimmt hat, Prostituierte oder Barkellner oder ähnliche Menschen umzubringen - sie entwerfen meist recht raffinierte Pläne. Sie unternehmen Schritte - denken Sie an die klassischen Fälle und an die paar in unserem Bezirk -, um sich zu schützen, weil sie sich in ihrer Arbeit natürlich nicht stören lassen wollen. Wer der Bursche auch sein mag, ich würde meinen, dass er sich McLean bewusst ausgesucht und ihn lange genug beobachtet hat, um seine Gewohnheiten kennenzulernen.«
»Ja«, sagte Maddox. »Wenn er so einer ist, stimmt das natürlich... Mir gefällt dieser blöde Zettel nicht.«
Rodriguez legte den Kopf auf die Seite. »Warum nicht?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Maddox. »Wenn das einen Sinn ergibt - weil es nicht die Art von Nachricht ist, die ein Schizophrener hinterlassen würde. Oder doch? Mein Gott, die Psychiater können siebzehn verschiedene Gründe für jede Handlung eines Irren angeben.« Er warf seine Zigarette auf den Boden, trat sie aus und kehrte um. »Da McLean schon so lange hier gelebt hat, werden ihn wohl ein paar von den anderen Ladenbesitzern näher gekannt haben. Erkundigen wir uns.«
»...nach dem merkwürdig aussehenden Fremden, der ihnen aufgefallen sein könnte«, stimmte Rodriguez zu.
»Sicher.«
»Natürlich sieht es so aus«, meinte Maddox, der mit sich selbst zu diskutieren schien. »Der von einer höheren Macht eingesetzte Verrückte, diese oder jene Leute umzubringen. Die Umstände - der Zettel und so weiter. Alle Jubeljahre kommt so etwas schon vor. Zum Glück nicht oft. Aber mir passt da noch etwas anderes nicht, César. Wenn so ein Irrer auftaucht, fühlt er sich meist berufen, solche Leute umzubringen, ohne die man wirklich recht gut auskommen könnte - er treibt es nur mit seiner irren Logik zu weit. Prostituierte, wie Sie schon sagten, Munitionsfabrikanten oder Rauschgifthändler. Aber was ist harmloser als ein alter Mann, der eine Imbissstube betreibt?«
»Vielleicht ist unser Freund ein bankrotter Schnapshändler«, meinte Rodriguez. »Man kann eben noch nichts sagen. Wir wissen nicht, in welche Kategorie er passt. Vielleicht hat McLean eine anrüchige Vergangenheit? Nummer zwei müsste uns da eigentlich weiterhelfen.«
»Um Gottes willen!«, sagte Maddox. »Sie kaltblütiger Gauner. So lange warten, bis noch jemand umgebracht wird - ja, sicher, das ist ganz einleuchtend. Also, wir müssen uns Mühe geben.« Er seufzte. Gerade die anonymen Fälle machten die meisten Schwierigkeiten. Aber man durfte sich nicht entmutigen lassen. Mit dem Routineverfahren ließen sich viele Fälle aufklären.
Man fand natürlich eine Unzahl von Abdrücken in dem Lokal. Die meisten an den Sachen hinter der Theke waren nur die von McLean oder Mrs. Oliver. Mit ihr musste man auch noch sprechen. Alle anderen stammten zweifellos von Gästen. Maddox hielt es für nicht sehr wahrscheinlich, dass X den vorderen Raum betreten hatte. Oder als Gast, vor dem Überfall? War die Hintertür abgeschlossen gewesen? Wahrscheinlich. X hat also gewartet, bis McLean sie aufsperrte, und sich hereingedrängt, um ihn zu überfallen. McLean wollte die Flucht ergreifen und war niedergeschlagen worden, mit dem Gesicht zum Imbissraum.
Auf dem Stadtplan, dem steifen, schimmernden Band und dem Schreibmaschinenpapier befanden sich überhaupt keine Abdrücke. Es handelte sich ganz offensichtlich um das normale, billige Schreibmaschinenpapier, zweihundertfünfzig Stück für rund einen Dollar, in jedem Kaufhaus zu erwerben. Das Band war sicher auch nicht von besonderer Qualität. Jeder konnte sich einen Reiseführer kaufen - alle Buchhandlungen führten sie, manche Schreibwarenhändler und einige große Drugstores. Trotzdem schickte Maddox, um sicherzugehen, alle drei Stücke ins Labor mit dem Ersuchen, sie durch die Mühle zu drehen.
In der Haverton Avenue, einen Straßenzug von der Fountain Avenue entfernt, hatte niemand in der vergangenen Nacht etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Niemand war nach sieben Uhr im Freien gewesen. Sackgasse.
Auf dem Holzknüppel fanden sich keine Abdrücke, aber die Flecken waren Blut - wie sich heraussteilen sollte, Blut von McLeans Blutgruppe. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: war es also die Waffe. Und der Täter konnte sie überall aufgeklaubt haben; es war hoffnungslos, dem Ursprung nachspüren zu wollen. Im ganzen Bezirk wurde fieberhaft gebaut, von Chatsworth bis Lakewood, von Claremont bis Pacific Palisades. Bürogebäude, neue Bibliotheken und Gerichte, Appartementhäuser, Villen. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte jeder eine dieser Baustellen betreten und ein Stück Holz mitnehmen.
Sonst gab es nicht allzu viele Suchgelegenheiten. Man konnte praktisch keine brauchbaren Hinweise verzeichnen. Eine Möglichkeit war natürlich McLean selbst. Wenn X wirklich ein Verrückter war - wenn alles so war, wie es aussah, ein Irrsinniger, der einen Auftrag zum Töten zu besitzen glaubte musste er einen logischen Grund gehabt haben, sich McLean als Opfer auszusuchen. Das mochte etwas so Bedeutungsloses - abgesehen für den Verrückten - sein, wie die Tatsache, dass McLean ein Demokrat oder ein Antialkoholiker oder ein Zeuge Jehovas war. Und wenn der Täter nicht geisteskrank war, sondern nur versuchte, diesen Eindruck entstehen zu lassen, dann ging es um eine persönliche Frage, dann existierte ein normales Motiv, und die Überprüfung McLeans und seiner Vergangenheit musste auf die Spur führen.
Maddox schickte D’Arcy zu Mrs. Helen Oliver und Rodriguez zu den anderen Ladenbesitzern. Er selbst fuhr zum Krankenhaus.
Der Arzt, der McLean operiert hatte, hatte wenig Hoffnung.
»Kräftige Konstitution, sonst hätte er nicht einmal so lange durchgehalten, Sie verstehen?«
Mit dem Knüppel war achtmal zugeschlagen worden, dreimal auf die linke Schädelseite, fünfmal auf die Schädeldecke und den Hinterkopf. Maddox sah die Szene vor sich. McLean sperrte die Hintertür auf, und der wartende X drängte herein - ein Rechtshänder schlug zu. McLean taumelte zurück, brach aber noch nicht zusammen, so dass er noch zweimal getroffen wurde, bevor er sich entweder zur Flucht wandte oder zu Boden stürzte, dann wurde wieder zugeschlagen, um das Werk zu vollenden.
Maddox beschrieb dem Arzt die Waffe,
»Wäre dazu mehr als die übliche Kraft erforderlich?«, erkundigte er sich. Man musste auch die allzu offensichtlichen Fragen stellen. Der Arzt verneinte.
Die Nichte war noch im Haus. Er fand sie in einem Wartezimmer im dritten Stock und stellte sich vor.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte sie wie betäubt. »Onkel Walt, Weil - er machte immer Witze darüber - dass Geschäfte wie das seine nie überfallen werden, jeder weiß, dass dort nicht viel zu holen ist.«
»Nun, es sieht auch nicht so aus, als habe es sich um einen Raubüberfall gehandelt«, meinte Maddox. Er setzte sich ihr gegenüber in einen unbequemen modernen Sessel. Marcia Dwight war wirklich sehr hübsch, da musste er D’Arcy recht geben, rötlichbraunes Haar, kurz geschnitten mit einer Andeutung von Ponyfransen, ausdruckvolle große braune Augen unter ziemlich dichten Brauen, ein breiter, zum Lächeln geschaffener Mund. Größe etwa einszweiundsechzig, schlank, aber mit erfreulichen Kurven. Sie war adrett angezogen, in einem einfachen kastanienbraunen Hemdblusenkleid, und hatte eine Handtasche aus imitiertem Krokodilleder. Am linken Strumpf hatte sie eine Laufmasche. Er sah sie vor dem bewusstlosen McLean knien, aufschreien, vielleicht weinen. Ihre Augen waren gerötet, mit der einen Hand umkrampfte sie ein zerknülltes Taschentuch, Das alles vermerkte er automatisch.
»Sie glauben, dass er stirbt«, meinte sie. »Der Arzt meinte, dass ich keine Hoffnungen haben dürfe. Es ist so ungerecht - er war ein so braver Mann!«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Miss Dwight«, sagte Maddox. »Natürlich ist es ungerecht, und wir wollen herausfinden, wer es getan hat.«
»Sie müssen!«, sagte sie wild. Sie sah ihn mit größerer Aufmerksamkeit an. »Wie ist Ihr Name?... Was wollten Sie fragen?«
»Haben Sie ihn in den letzten Tagen gesehen?«
»Am letzten Samstag.« Heute war Dienstag.
»War er unverändert?... So. Er erwähnte nichts von einem eigenartigen Gast, der ihn beobachtet oder sich ein bisschen auffällig benommen hat?«
»Nein, nein.« Sie starrte ihn an. »Nichts dergleichen. Warum? Glauben Sie...?«
»Ich kann mir noch kein rechtes Bild machen«, erwiderte Maddox. »Wir sammeln noch Tatsachen. Sie kennen niemanden, der etwas gegen ihn gehabt haben könnte?«
»Natürlich nicht! Es war kein Raubüberfall? Ich war überzeugt davon - aber es kann doch niemand gewesen sein, den er kannte? Dieser Stadtplan - mir ist er erst aufgefallen, als der Polizist sich erkundigte -, hat der Täter ihn zurückgelassen?« Sie brach ab und putzte sich die Nase.
»Ich hätte gern in kurzen Zügen über das Leben Ihres Onkels etwas gehört«, sagte Maddox. »Alles was Sie über ihn wissen.«
»Aber warum denn? Ich verstehe nicht...«
»Sehen Sie, es ist so: Wir wissen bei solchen Fällen nicht, ob ein persönliches Motiv dahintersteckt oder nicht. Wir müssen alles berücksichtigen.« Er lächelte sie an. »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als über das Opfer so viel herauszubringen wie nur möglich.« Er beugte sich vor und bot ihr eine Zigarette an. »Wenn Sie mir nur in groben Umrissen berichten würden. Ist er hier geboren? Was hat er getrieben? Und so weiter.«
Was unvermeidlich war, geschah auch: Sie begann, ihn nach einer Weile mit anderen Augen anzusehen. Mitten in ihrem Leid und ihren Sorgen - für die Echtheit hätte sich Maddox verbürgt - blieb sie doch eine Frau, und irgendetwas an Ivor Maddox machte Eindruck auf sie. Er kam einfach nicht dahinter, was es sein mochte. Sie nahm eine Zigarette und ließ sich Feuer geben. Sie machte die Handtasche auf und klappte sie wieder zu. Sie wollte sich wohl die Nase pudern und die Lippen nachziehen, war aber zu verlegen, um es vor ihm zu tun. Sie zog den Rock über die Knie.
»Ich - aber damit kann es doch nichts zu tun haben! Alle mögen Onkel Walt, und er kennt nicht viele Leute, er lebt sehr zurückgezogen. Es ist - ja, ich verstehe schon, was Sie meinen, Sergeant, aber das hilft Ihnen nicht weiter. Er hat sein Geschäft schon so lange, zwanzig Jahre, seit - er braucht nicht viel. Er verdient genug, um davon leben zu können, das ist alles. Er liest sehr viel, geht häufig in die Bibliothek, und an den Sonntagen bleibt er fast immer zu Hause und liest. Er mag es, wenn die Kinder kommen - in der Nähe ist eine Schule, wissen Sie er mag Kinder. Er und Mr. Reilly, das ist der Hausverwalter, spielen gerne Schach, und sie setzen sich jeden Sonntagabend zusammen. Ab und zu geht er ins Kino - nicht oft.«
»Worum es mir geht, Miss Dwight, ist eine kurze Skizze seiner Vergangenheit. Ist er hier geboren? Wen hat er geheiratet? Und so weiter.«
»Ja«, sagte sie. »Ich - ich - aber das kann doch nichts damit zu tun haben! Ach je, ich muss es ja doch wohl erzählen. Albern, so etwas, weil es bestimmt nicht zusammenhängt mit - dem, was gestern Nacht passiert ist. Aber Sie würden wohl doch dahinterkommen - Fingerabdrücke Sie schluckte und sagte leise: »Ich - ich weiß, dass die Polizei sehr tüchtig ist, Sergeant.«
»Er ist vorbestraft«, meinte Maddox sanft.
Sie drückte ihre Zigarette langsam in dem runden Glasaschenbecher auf dem Tisch neben der Couch aus.
»Ich wüsste nicht, was Ihnen das in dieser Sache helfen könnte. Wir - wir alle sind vom Norden heruntergekommen. Wir haben in Oakland gewohnt, ich meine, meine Eltern und ich. Ich hah’ das alles von meinem Vater erfahren, wissen Sie, damals konnte ich mich an Onkel Walt nicht erinnern, weil das passierte, als ich noch ganz klein war, vor sechsundzwanzig Jahren. Mein Vater war Anwalt, und - und Onkel Walt war Arzt. Praktischer Arzt. Er war erst sechs Jahre tätig, als er - eine Abtreibung vornahm, an einer Bekannten. Es war gar nicht so, wie Sie glauben! Ihr Vater war einer seiner Patienten, er kannte die Familie, und das Mädel tat ihm leid. Sie war erst fünfzehn, und ein paar junge Burschen hatten sie betrunken gemacht. Er - er ist ein recht eigensinniger Einzelgänger, wissen Sie, und für sein Gefühl handelte er moralisch richtig. Nur sie muss strohdumm gewesen sein - sie konnte den Mund nicht halten, es wurde bekannt, und Sie begann wieder zu weinen.
»Ja. Wieviel bekam er?«
»D-rei Jahre, glaub5 ich. Aber man hat ihm natürlich die Approbation entzogen. Und seine Frau - Vater sagte, sie sei sehr puritanisch gewesen, Sie kennen vielleicht den Typ - ließ sich von ihm scheiden und bekam natürlich den kleinen Jungen zugesprochen. Er wusste nicht, wohin sie gezogen war - niemand wusste es. Onkel Walt versuchte sie zu finden, aber es gelang ihm nicht. Aber Marcia trocknete sich die Augen und sah Maddox ernsthaft an - »Sie wissen einfach nicht - wenn Sie mir nur glauben würden, was für ein großartiger Mensch er ist! Ich hab’ ihn nicht gekannt. Er kam hierher, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, er schrieb Vater immer wieder - meine Eltern starben, ich war erst sechzehn, sie kamen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und er fuhr sofort her. Kein Mensch hätte gütiger sein können. Er erledigte alles - viel war nicht übriggeblieben - und nahm mich zu sich. Damals zogen wir in den Kingsley Court, wissen Sie. Er war so gut und so verständnisvoll, ich hatte immer das Gefühl, ihn von Anfang an gekannt zu haben. Er war wie Vater. Und er war nicht hasserfüllt - ich meine, wegen der ganzen Sache, Sie verstehen? Es war einfach passiert. Er sagte sogar, dass es gar nicht so übel sei. Man habe mehr vom Leben, statt dass man als Arzt von einem Hypochonder zum anderen laufen müsse. Das einzige, was er übelnahm, war, dass seine Frau ihren kleinen Jungen mitgenommen hatte, so dass er ihn nicht wenigstens ab und zu sehen konnte. Das tat ihm sehr leid, aber es ist lange her. Er gewöhnte sich an dieses Leben, und er hatte Spaß daran. Er führte gerne sein Geschäft, er mochte die Menschen. Er ist der beste Mensch, den ich kenne. Er hörte den Leuten zu, und die Leute mochten ihn. Alle mögen ihn. Er hat sehr viele Stammkunden; Leute, die in der Nähe arbeiten, kommen zum Mittagessen - und die Schulkinder auf dem Heimweg er versteht die Menschen.«
Die Worte überstürzten sich, so eifrig versuchte sie, ihm das alles begreiflich zu machen.
»Wenn ich es Ihnen erklären könnte - er sah ein, dass ich auf eigenen Füßen stehen wollte, als ich eine Stellung bekam, die so viel einbrachte - er sagte, es sei richtig, dass ich weggehe und mir mit Betty die Wohnung teile - er wusste, dass nichts Schlechtes dahintersteckte, dass junge Menschen einfach das Gefühl des Freiseins haben wollen - und wir sahen uns mindestens einmal in der Woche zum Essen. Er kam in unsere Wohnung, und ich machte ihm etwas Besonderes, was er gerne mag, Wie Boeuf Stroganoff oder Reisauflauf. Es ist so ungerecht, er ist erst achtundfünfzig - und er hat nie etwas vom Leben gehabt - und dann dieses Schreckliche
Wahrscheinlich hat er seine Strafe in St. Quentin abgesessen, dachte Maddox. Drei Jahre. Im Urteil drei bis fünf Jahre, aber zeitweiser Straferlass wegen guter Führung. Wen hatte McLean im Gefängnis kennengelernt? Eine Unzahl von Männern. Vor dreiundzwanzig Jahren natürlich. Ein Wahnsinniger? Ja?
Abtreibung. Vielleicht ein Verrückter mit puritanischen Ansichten? Es gab sie in allen Sorten, wie andere Menschen auch. Aber wer außer Marcia Dwight wusste das von McLean? Sprach er überhaupt davon? War das allgemein bekannt gewesen?
Die Tür zum Wartezimmer ging auf, und ein Arzt in weißem Kittel kam herein. Er machte ein ernstes Gesicht.
»Miss Dwight?«
»Ja - ist er - ist er...?« Sie stand auf, und die Tasche aus imitiertem Krokodilleder fiel zu Boden.
»Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Ihnen sagen muss - ja - er ist tot. Es war ein Wunder, dass er sich überhaupt so lange gehalten hat, wissen Sie.«
»O mein Gott!«, sagte sie. »Das ist so ungerecht. Er hat nie etwas gehabt...«
Maddox sprang hin, um sie aufzufangen, als sie umkippte; er legte sie auf die Couch. Ein sehr nettes, wohlgeformtes Mädchen, sagte er sich. Das arme Ding. Der Arzt legte ihre Beine hoch und fühlte ihren Puls.
»Hat er noch etwas gesagt?«, fragte Maddox. Vor McLeans Zimmer hatte seit seiner Einlieferung ein uniformierter Polizist gestanden, für den Fall, dass er zu Bewusstsein kommen würde.
Der Arzt schüttelte den Kopf und starrte auf Marcia Dwight hinunter.
»Ganz hübsches Mädel«, sagte er. »Nein. Er hat keinen Augenblick das Bewusstsein erlangt. Tut mir leid.«
Maddox seufzte. Also ein Mord.
Drittes Kapitel
Um sechs Uhr trafen sich die drei im Büro des Reviers, verglichen ihre Ermittlungsergebnisse und berieten sich. Sie hatten dies und jenes; vielleicht war ein Teil davon brauchbar, vielleicht auch nicht.
»Diese Mrs. Oliver?«, fragte Maddox.
»Nette Frau, sehr mütterlich, Sie kennen den Typ - ungefähr fünfundsechzig, dick, graues Haar, kein Make-up.« D’Arcy gähnte. Sie hatten einen anstrengenden Tag hinter sich. »Ich würde sagen, eine absolut ehrliche Frau. Keine Spur von Ausflüchten, sehr viel Phantasie. Sie war fast so entsetzt wie das Mädchen, seine Nichte - sie konnte ihn wirklich gut leiden. Mr. McLean sei ein Gentleman gewesen. Sie habe ungefähr acht Jahre für ihn gearbeitet, seit ihr Mann gestorben war. Er bezahlte ihr
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Elizabeth Linington/Signum-Verlag. Published by arrangement with the estate of Elizabeth Linnington.
Bildmaterialien: Christian Dörge/apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Tony westermayr und Christian Dörge (OT: Greenmask!).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3519-8
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