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Leseprobe

 

 

 

 

ELVIRA HENNING

 

 

TAWAMAYA

1.1.: HERMON

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

TAWAMAYA 1.1: HERMON 

RICHMOND, Juni 1864 

DIE WILDNIS, April 1965 

CHARLOTTESVILLE, April 1865 

DUGGER, Mai 1865 

DIE POTTER-RANCH, Mai 1865 

OHIO RIVERBOAT, Mai 1866 

MISSISSIPPI, Juni 1866 

INDEPENDENCE, Oktober 1866 

DER TRECK, Mai 1867 

DIE PRÄRIE, Juni 1867 

FORT KEARNY, Juni 1867 

FORT LARAMIE, August 1867 

MONTANA, September 1867 

Liste der Lakota-Worte 

Das Buch

 

Der amerikanische Bürgerkrieg geht zu Ende. Die 17jährige Hermon flieht auf einem gestohlenen Yankee-Pferd aus der brennenden Stadt Richmond, der Hauptstadt der Südstaaten. 

Getarnt als Saddleboy legt sie allein und ohne Ziel einen weiten Weg nach Westen zurück. Das einzige, worauf sie sich versteht, sind Pferde - dank dieser Kenntnisse kann sie überleben.

Als sie sich entscheidet, von Kansas aus weiter nach Westen zu ziehen, begegnet sie Alex Mehegan, dem Treckführer auf dem Oregon-Trail, der schließlich sehr verwirrt ist über seine Gefühle für den jungen Saddleboy, weil er lange Zeit nicht ahnt, dass sich hinter der Maske des mutigen Jungen mit der Pferdeseele ein Mädchen verbirgt...

 

Tawamaya 1.1: Hermon ist der erste Teil des Auftaktbandes einer epischen historischen Familien-Saga aus der Feder von Elvira Henning (Jahrgang 1955). 

  TAWAMAYA 1.1: HERMON

 

 

 

 

 

 

 

Für Josef 

 

 

 

 

  RICHMOND, Juni 1864

 

 

Das Mädchen lief mit tief gesenktem Kopf die Straße entlang, um die Tränen zu verbergen, die ihm übers Gesicht rannen und auf das schmucklose, verwaschene Kleid tropften. Niemand sollte ihre Trauer sehen, was ging sie die Leute an. Doch die Menschen, die durch die Straßen von Richmond hasteten, hatten ihre eigenen Sorgen. Niemand beachtete sie. Unbehelligt erreichte sie das dreistöckige Wohnhaus in der Broad Street, einen Straßenzug von der alten St. Johns Church entfernt.

Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, stieg die Stufen hinauf und drehte den Schlüssel im Schloss der Haustür um. Im Windfang vor der Flügeltür blieb sie stehen. Sie hatte gehofft, unbemerkt in ihre Kammer unter dem Dach zu gelangen, doch aus dem Salon drang die grelle, aufgebrachte Stimme ihrer älteren Schwester Cathleen an ihr Ohr.

»Ich kann dieses verdammte Wort nicht mehr hören! Alle Leute reden von nichts anderem als von diesem Krieg! Alles wird verdorben von diesem ewigen Gerede von irgendwelchen dramatischen Schlachten, ihren großartigen Siegen und dieser ermüdenden Angeberei über ihre Heldentaten. Sie haben völlig vergessen, dass es außer diesen verdammten Yankees auch noch...«

»Cathy! Hör auf! Wie kannst du nur solche Ausdrücke gebrauchen!«, fiel ihr nun Elisabeth, die älteste der drei Brinkfield-Schwestern ins Wort, »wenn Mama dich hört!«

Aber Cathy war nicht zu bremsen: »Es ist doch kein Wunder! Wir sehen ja aus wie die Vogelscheuchen mit unseren gewendeten Kleidern, und das, obwohl unser Vater mit diesen Blockadebrechern Geschäfte macht und durchaus an neue Stoffe herankommen könnte! Bloß unsere tapferen Jungs rennen mit neuen grauen Jacken, für die ihre Frauen immer noch irgendwo Stoffe auftreiben, wie die aufgeplusterten Gockel herum...«

Cathy schnappte nach Luft, und Beth fiel ihr erneut ins Wort: »Hör auf, so zu übertreiben! Du solltest dir um andere Dinge Sorgen machen, als um deine Kleider! Natürlich könnte Vater Stoffe besorgen, aber wie sieht es denn aus, wenn wir neue Kleider tragen, während alle anderen in Lumpen gehen!«

»Das ist mir egal! Ich habe das alles so satt, und ich will, dass dieser Krieg endlich aufhört und alles wieder wird wie früher.«

»Du bist wirklich ein Kind, Cathy, so wird es nie mehr sein«, belehrte sie Beth.

Das Mädchen im Windfang hatte die Stirn an die kalte Wand gelehnt und biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuschreien. Der Redeschwall wollte nicht enden.

»Weißt du noch, jubelnd sind sie losgerannt, als Fort Sumter angegriffen wurde. In zwei Wochen werden wir die Yankees zum Teufel jagen, haben sie geschrien! Das war vor drei Jahren!«

»Cathleen! Ich kann dein ewiges Gejammer nicht mehr ertragen!« Beth wurde nun ärgerlich, »du solltest lieber froh sein, dass wir in Richmond leben. Unsere Hauptstadt werden die Yankees nicht bekommen, sie ist uneinnehmbar, das sagen alle. Unsere Männer liegen draußen vor der Stadt in den Gräben und...«

In diesem Moment wurde die Flügeltür aufgestoßen. Das Mädchen trat mit steinerner Miene ein. Beide verstummten. Im Eifer des Wortgefechts war ihnen das Schlagen der Haustür entgangen. Sie hatten nicht bemerkt, dass ihre jüngste Schwester in der Hoffnung, sie würden aus dem Salon verschwinden, seit geraumer Zeit vor der Tür gestanden hatte.

Sie wollte ihnen ihr verweintes Gesicht nicht zeigen, am Ende hatte sie es jedoch nicht mehr ertragen. Mit großen Schritten durchquerte sie den mit sorgfältig polierten Chippendale Möbeln ausgestatteten Salon und lief zur Treppe gegenüber der Flügeltür. Die Schwestern sahen ihr nach, und Cathy hatte eben eine giftige Bemerkung auf den Lippen, als sie sich auf der untersten Stufe noch einmal umdrehte und voller Verachtung hervorstieß: »Ihr blöden Kühe!« Dann rannte sie die Treppe hinauf.

»Was ist denn in die gefahren?«, fragte Cathy verblüfft, »die ist ja völlig verheult!«

Sie kannte ihre jüngere Schwester als trotzig, stur, verschlossen und zornig bis zur Gewalttätigkeit, aber Tränen hatte sie bei ihr nie gesehen.

»Ihr muss irgendetwas Furchtbares passiert sein«, vermutete Beth, aber Cathy bemerkte abfällig, »was soll der schon Schlimmes passiert sein?«

Beth dachte einen Moment daran, ihr zu folgen, doch sie wusste, dass es wohl sinnlos war und ließ es bleiben.

Hermon Brinkfield rannte die knarrenden Stufen bis ins Dachgeschoss hinauf, verschwand in der winzigen Dachkammer und warf sich auf das schmale Bett unter der Dachschräge. Sie vergrub den Kopf in den Armen und weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Sie konnte nicht fassen, dass es wirklich geschehen war. Es war einfach zu schrecklich.

Im Geist sah sie Gavins lachende, blaue Augen und seinen blonden Wuschelkopf vor sich, fühlte sich von seinen starken Armen hochgehoben. Er war der große Bruder, den sie selbst nie gehabt hatte, der Bruder ihrer einzigen Freundin Melody.

Er würde sie nie mehr mit seinen blauen Augen anlachen. –

In den Straßen jubelten die Menschen, weil die Grauröcke die Stadt erfolgreich verteidigt hatten. Sechzigtausend Yankees hatte General Grant im Frontangriff gegen die Stadt geführt. Die Konföderierten hatten sie zurückgeschlagen.

Siebentausend Mann, so erzählte man, seien in nur fünfzehn Minuten vor den Schützengräben der Grauröcke gefallen. Grant musste aufgeben, zurückweichen.

Wie so oft war Hermon allein durch die Stadt gelaufen, und am Bahnhof hatte sie Wayne Himes getroffen, Gavins Freund, der mit ihm Seite an Seite im Schützengraben gelegen hatte. Von ihm hatte sie es erfahren.

Unter den Konföderierten gab es kaum Verwundete und nur wenige Tote. Einer davon war Gavin Bennett. Kopfschuss. Er war auf der Stelle tot.

Hermon erinnerte sich nicht, wie sie nach Hause gekommen war. Sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen und zitterte noch immer am ganzen Körper. In ihren Schläfen hämmerte es, und ihre Augen waren blind vor Tränen. Es gelang ihr einfach nicht, die Bilder der Vergangenheit aus ihrem Kopf zu verbannen.

Gavin hatte sie zu lachen gelehrt, hatte ihr gezeigt, was Freude ist. Er war es gewesen, der Hermon zum ersten Mal auf einen Pferderücken gesetzt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam am Flussufer entlanggeritten waren. Wenn sie im Sattel saß, hatte die Welt ein neues Gesicht.

Die Erinnerungen ließen sie schließlich ruhiger werden. Langsam versiegten die Tränen.

Sie stand auf, trat an die Kommode, goss Wasser aus der Porzellankaraffe in die Waschschüssel und presste einen nassen Lappen auf ihr heißes Gesicht und die geschwollenen Augen. Dann warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel darüber.

Hermon hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihren beiden hübschen, blonden Schwestern. Ihr Gesicht war eckig, die Brauen über den grünen Augen kräftig und dunkel, die schmale Nase zu lang, der Mund zu breit und ihr Kinn von eigensinniger Eckigkeit.

Sie hatte trotz ihrer sechzehn Jahre kaum Brüste und keine Taille. Das dunkle, viel zu lockige Haar trug sie straff zurückgekämmt zu einem geflochtenen Knoten aufgesteckt.

Niemand in ihrer Familie sah aus wie sie, und von Cathy bekam sie bei jeder Gelegenheit zu hören, wie hässlich sie sei und dass sie gewiss nie einen Mann bekäme.

Wer will schon eine wie dich! Du siehst ja selber aus wie ein Kerl, hast eine Figur wie ein Waschbrett! Wie oft hatte sie sich das anhören müssen.

Auf die Frage, warum sie sich so sehr von ihren Schwestern unterschied, hatte sie lange keine Antwort gehabt. Und als sie es schließlich erfahren hatte, machte es die Sache auch nicht besser. An die Hänseleien der Schwestern war sie gewöhnt, so lange sie denken konnte.

Es klopfte leise an die Zimmertür. Dooney, das einzige schwarze Mädchen, das sie noch im Haus hatten, kam hereingehuscht.

»Miss Hermon, das Essen ist... oh, Missy, was ist geschehen? Sie sehen sehr schrecklich aus!«

»Es geht mir nicht gut, Dooney, ich komme nicht herunter«, entgegnete sie.

»Aber Miss Hermon, Misses Brinkfield wird furchtbar böse werden, wenn Sie nicht kommen zur Mahlzeit!«

»Das ist mir egal, Dooney! Und jetzt lass mich in Frieden!« Hermon schob das schwarze Mädchen in dem blauen Kattunkleid, das schon an vielen Stellen geflickt war, einfach zur Tür hinaus und knallte sie hinter ihm zu, warf sie sich wieder auf ihr Bett, schloss die Augen und versank erneut in ihren Erinnerungen.

In Gedanken kehrte sie zurück auf die Bennett Farm. Wie mochte es Melody jetzt gehen?

Melody und Hermon hatten sich in der Schule kennengelernt. Sie war ihre einzige Freundin. Zu Besuchen und Gesellschaften wurde sie nur selten mitgenommen.

Sie war das dritte, ungeliebte, kränkliche Kind in der Familie, das ewig unter Bauchschmerzen, Erbrechen und Durchfällen litt. Mit zunehmendem Alter kamen auch noch diese ständigen Kopfschmerzen hinzu.

Hermon hatte sehr früh begriffen, dass es zwischen ihr und ihren Schwestern einen Unterschied gab. Cathy und Beth wurden getröstet, wenn ihnen etwas wehtat, sie wurde gescholten. Die Schwestern bekamen häufige Besuche von Freundinnen, Hermon blieb ausgeschlossen. Niemand wollte etwas zu tun haben mit diesem verschlossenen, zornigen kleinen Mädchen.

Auch in der Schule stand sie schweigsam in den abgetragenen Kleidern ihrer Schwestern, von denen das schwarze Dienstmädchen Rüschen und Spitzen abgetrennt hatte, allein und abseits. Sie saß in der letzten Bank und wurde von Lehrern und Schülern kaum wahrgenommen, da sie nie ein Wort sagte. Doch es gab noch ein Mädchen, das nicht dazugehörte und gehänselt und ausgelacht wurde.

Melody Bennett wäre mit ihren dicken, hellbraunen Zöpfen und dem zarten Gesicht hübsch gewesen, doch ihre blauen Augen blickten in verschiedene Richtungen und ließen das Gesicht grotesk erscheinen. Lange Zeit beobachtete Hermon das grausame Treiben der Kinder schweigend.

Schielauge – schielende Kuh – kannst um die Ecke gucken – wer schielt, ist dumm im Kopf! so wurde sie ständig gehänselt.

Melody weinte oft. Manchmal kam sie schon verweint in die Schule. Dann trieben es die Kinder noch schlimmer. Eines Tages aus heiterem Himmel schritt Hermon ein. Sie packte den Jungen, der an Melodys Zopf riss und Schielauge schrie, und schlug ihm so fest ins Gesicht, dass seine Nase blutete. Sie wurde hart dafür bestraft, aber das war ihr egal. Von diesem Tag an stand Melody unter Hermons Schutz, die sich mit diesem Schlag Respekt verschafft hatte. Die Kinder ließen beide in Ruhe.

Hermon blieb auch Melody gegenüber schweigsam und verschlossen. Der Lehrer erlaubte immerhin, dass sie sich nebeneinander setzen durften. Eines Morgens fasste Melody zaghaft Hermons Hand: »Du bist nett, Hermion!« Hermon sah sie ungläubig an. Kein Mensch hatte ihr je gesagt, dass sie nett sei. Und niemand außer dem Lehrer nannte sie Hermion, wie ihr Name eigentlich lautete. Ihre Mutter hatte wohl keinen hässlicheren gefunden, und das i war irgendwann verloren gegangen.

Melody hatte sie angelächelt und gefragt: »Willst du meine Freundin sein?«

Von diesem Tag an gingen sie Hand in Hand. Hermon hatte begonnen, mit ihr zu reden. Zum ersten Mal konnte sie mit einem Menschen Geheimnisse teilen.  

 

Hermon hörte die Schritte auf der Treppe nicht. Die Tür wurde unvermittelt aufgestoßen. Ihre Mutter, eine schlanke Frau, hübsch und blond wie ihre beiden älteren Töchter, sah sie mit hochgezogenen Brauen verärgert an: »Was soll das wieder, Hermon? Du weißt genau, dein Vater und ich legen Wert darauf, dass die Abendmahlzeit von der ganzen Familie gemeinsam eingenommen wird! Komm sofort herunter!«

Hermon sprang auf und funkelte ihre Mutter mit ihren verweinten Augen zornig an: »Nein!«

»Was hast du?«, fragte ihre Mutter irritiert von ihrem Anblick.

»Das ist meine Sache, es ist dir doch sowieso egal! Euch allen ist es egal, wie es mir geht!« Hermons Stimme begann zu vibrieren.

»Hermon! Nimm dich zusammen und mach nicht schon wieder eine Szene! Du solltest froh sein, dass dein Vater...«

»Er ist nicht mein Vater!«, Hermon begann zu schreien, »er würde alles tun, um mich loszuwerden, wenn er bloß vor den Leuten zugeben könnte, dass er mich nicht leiden kann, genau wie du! Ihr liebt doch nur diese beiden Milchgesichter, die nichts als Kleider, Feste und Männer im Kopf haben und so dumm sind wie Stroh!«

Ella Brinkfield wurde bleich. Es schien so, als wollte sie etwas sagen, doch plötzlich hob sie die Hand und schlug ihrer sechzehnjährigen Tochter ins Gesicht. Hermon stand sekundenlang wie zur Salzsäule erstarrt. Dann geschah etwas Ungeheuerliches. Sie holte aus und schlug zurück.

Der Schlag war so hart, dass ihre Mutter mit dem Kopf gegen die Türfüllung schlug. Hermon knallte ihr die Tür vor der Nase zu, dann lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen.

Sie hatte das nicht gewollt, aber es tat ihr auch nicht wirklich leid. Sie hatte schon zu viele Schläge bekommen, wenn auch meistens vom Vater.

Ihre Wange brannte wie Feuer. Diesmal war es zu viel! Sie starrte auf die Hand, mit der sie zugeschlagen hatte. Sie hatte an der Daumenwurzel ein sichelförmiges Muttermahl. Wie alles an ihr erschienen ihr auch ihre Hände hässlich. Sie waren grob und viel zu groß geraten.

Auf der Treppe war es totenstill. Sie hörte das Schaben des Riegels an der Tür und die Schritte der Mutter auf den Stufen. Es machte ihr nichts aus, eingesperrt zu sein, so hatte sie wenigstens ihre Ruhe. Sie zog die Nadeln aus ihrem Haarknoten, ließ den dicken Zopf über ihren Rücken fallen und warf sich wieder auf das Bett.

Ihr Gesicht ins Kissen gepresst schloss sie die Augen, und in Gedanken kehrte sie zurück zu Gavin.

Melody Bennetts Familie züchtete Pferde. Ihr Hof lag weit draußen vor der Stadt. Melody wurde jeden Morgen von Ihrem Bruder mit dem Pferdewagen zur Schule gebracht und am Nachmittag wieder abgeholt. Hermon sah ihn oft von weitem. Und schließlich wurde sie eingeladen, die Freundin zu besuchen. Aber ihre Mutter erlaubte es nicht. Sie ließ Hermon nirgendwo allein hingehen, außer in die Schule, notgedrungen, da Cathy und Beth eine Privatschule für höhere Töchter besuchten.

Eines Nachmittags, als Hermon wusste, dass ihre Mutter eine Einladung hatte, von der sie erst spät zurückkommen würde, fuhr sie mit Melody nach Hause. Mrs. Bennett begrüßte sie herzlich, doch Hermon war schrecklich verlegen.

Sie brachte den Mädchen Milch und Kekse. Dann nahm Gavin die beiden mit nach draußen und zeigte Hermon die Pferde. Damals war sie elf. Aber Gavin sprach mit ihr wie mit einer Erwachsenen. Die großen Tiere machten ihr keine Angst. Sie streichelte ihr glänzendes Fell, flüsterte mit ihnen und zog sie mit ihrer Stimme sofort in ihren Bann. Sie spürte, da war etwas ganz Besonderes zwischen ihr und den Pferden. Gavin beobachtete sie aufmerksam und nahm wahr, wie die Pferde auf das Mädchen reagierten.

Dann hatte er zu ihr gesagt: »Ich glaube, du hast eine Pferdeseele, die Tiere verstehen deine Sprache.« Er setzte sie auf den Rücken einer hellbraunen Stute.

Ganz von selbst glich sich ihr Körper den Bewegungen an. Sie hatte das Gefühl, dorthin zu gehören. Es war Hermons glücklichster Tag, so lange sie denken konnte. Daran änderte auch die Tracht Prügel nichts, die sie am Abend vom Vater bekommen hatte. Sie begann, längere Schulzeiten, Strafarbeiten und Nachsitzen zu erfinden, um mit Melody nach Hause zu gehen. Mrs. Bennett freute sich über ihre Besuche, und Gavin brachte ihr den Umgang mit Pferden und das Reiten bei.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Ella Brinkfield herausfand, was ihre Tochter hinter ihrem Rücken trieb. Und da sie froh war, ihr nicht ständig ins Gesicht sehen zu müssen, duldete sie nun stillschweigend, dass Hermon zu diesem Mädchen ging.

Die Stunden, die sie mit Melody und ihrer Familie verbrachte, waren ihre beste Zeit.

Und nun lag Gavin tot da draußen im Schützengraben. 

Ich muss zu ihnen gehen, überlegte Hermon, doch der Gedanke, Melody und ihre Eltern trauern zu sehen, war unerträglich. Sie begann wieder zu weinen, wurde jedoch aus ihren Gedanken gerissen, als Cathy und Beth die Treppe heraufkamen und in ihrem Zimmer rumorten. Zu ihr kam an diesem Abend niemand mehr. Sie blieb angekleidet auf ihrem Bett liegen und weinte sich schließlich in den Schlaf.

 

Früh am nächsten Morgen kam Dooney mit einer Karaffe Wasser herein. Hermon war bereits wach. Sie rührte sich nicht, noch nicht bereit für diesen neuen widerwärtigen Tag. Dooney trat geräuschlos an ihr Bett und strich mit der Hand sanft über ihre Schulter: »Miss Hermon! Guten Morgen, Miss Hermon, Zeit aufzustehen!«

Unwillig öffnete sie die Augen und blickte zu dem kleinen Fenster. Es war kaum hell und der Himmel grau.

»Es ist viel zu früh, Dooney.«

»Nicht zu früh, Missy, ihr Vater lässt bestellen, er will mit Ihnen reden, bevor er zur Arbeit geht.«

Aber ich nicht, dachte Hermon, doch sie wusste, ihr blieb nichts übrig, als die Konsequenzen ihres Verhaltens zu tragen. Sie streckte sich noch einmal, dann stand sie auf. Dooney hatte bereits Wasser in die Waschschüssel gegossen und half Hermon, das verschwitzte Kleid auszuziehen, in dem sie geschlafen hatte. Während sie sich wusch, legte Dooney ihr frische Sachen zurecht.

Wenn Hermon sich im Haus aufhielt, und das tat sie die meiste Zeit, lehnte sie es ab, sich in ein enges, unbequemes Korsett zu zwängen. Am liebsten trug sie ihre einfachen, unförmigen Baumwollkleider. Mit der Mutter führte sie deshalb immer wieder Debatten.

»Ich habe doch sowieso eine Figur wie ein Waschbrett!«, war dabei ihr schlagkräftigstes Argument.

Auch heute hatte Dooney ein leichtes Fischbeinkorsett bereitgelegt, aber Hermon zog es nicht an. Sie schlüpfte in den weißen Unterrock, der mit drei breiten Volants etwas Fülle unter ihren Rock brachte. Das war genug! Dooney löste den Zopf, bürstete ihr wildgelocktes, widerborstiges Haar, flocht es und steckte es zu einem strammen Knoten auf. Dann streichelte sie sanft über ihre Schulter.

»Danke, Dooney«, Hermon brachte ein klägliches Lächeln zustande. In ihren Schläfen begann es zu hämmern, ihr Bauch fühlte sich an wie mit Kieselsteinen gefüllt.

Sie lief die Treppe hinunter und hörte die Mutter in der Küche herumhantieren. Hastig schlug sie den Weg in den hinteren Teil des Hauses ein, wo der Vater sein Kontor hatte. Dort saß er gewöhnlich in aller Frühe über den Büchern. Mit einem kurzen Klopfen trat sie ein. William Brinkfield hob den Kopf von der Arbeit. Sein Blick hatte etwas Vernichtendes. Seine ganze Gestalt wirkte auf Hermon bedrohlich.

Er war groß, breitschultrig und übergewichtig, aber sein grauer Anzug saß tadellos. Das schüttere, dunkelblonde Haar wies bereits graue Strähnen auf. Seine Brauen waren dunkel, langhaarig und gaben seinem scharfkantigen Gesicht etwas Diabolisches.

Nun zog er sie zu aufgespannten Bögen hoch: »Hermon Brinkfield, manchmal frage ich mich, warum du meinen Namen trägst! Du bist die Achtung nicht wert, die wir dir entgegenbringen! Schämst du dich nicht, deine Mutter zu schlagen?«

Statt den Blick zu senken, wagte Hermon zu widersprechen: »Schämt sie sich, mich zu schlagen? Ich habe in meinem Leben genug Prügel bekommen, und ich bin sechzehn Jahre alt!« Sie konnte ihre Wut nicht zügeln.

William Brinkfield sprang auf: »Was fällt dir ein! Wenn du Prügel bekommen hast, so war sie verdient! Du wirst dich bei deiner Mutter entschuldigen, für das, was du gesagt und für das, was du getan hast!«

Hermon biss die Zähne so fest zusammen, dass die Kiefer schmerzten, ohne jedoch den Blick zu senken.

»Die nächsten drei Tage wirst du in deinem Zimmer verbringen und darüber nachdenken, was du deiner Mutter schuldig bist! Und jetzt geh mir aus den Augen!«

Hermon ging wortlos. Sie brauchte all ihre Selbstbeherrschung, die Tür nicht ins Schloss zu knallen.

Wenn ich nur fort könnte, wenn ich nur irgendjemand hätte, zu dem ich gehen könnte, weit weg von Richmond!

Aber es gab niemanden, keinen Menschen, an den sie sich wenden konnte, um zu entkommen. Ihre einzigen Freunde waren die Bennetts. Und Gavin war tot.

Hermon ging zurück in ihr Zimmer und warf sich wieder auf ihr Bett. Sie wollte jetzt keinem Menschen begegnen. Es war besser, mit ihrer Trauer allein zu sein.

Etwas später brachte Dooney ihr ein Tablett mit einem sparsamen Frühstück und einen Korb voller Flickwäsche. Seit die übrigen Haussklaven sich bei Nacht und Nebel davongemacht hatten, war Hermon für solche Arbeiten zuständig.

Nachdem sie ein paar Bissen gegessen hatte, beschäftigte sie sich mit Näharbeiten. Ihre Hände waren schnell und geschickt, und während sie fadenscheinige Kleidungsstücke noch einmal reparierte, hing sie ihren Gedanken nach.

Die beste Zeit war das Jahr vor Kriegsbeginn. Mit dreizehn war sie alt genug, ihren Willen gegen die Willkür der Eltern durchzusetzen. Damals verbrachte sie nahezu all ihre freie Zeit auf der Farm der Bennetts. Mit Mel konnte sie ihre Geheimnisse und ihren Kummer teilen, mit ihr lachen und weinen. An den Abenden ritten sie oft am Ufer des James Rivers entlang. Hermon war inzwischen eine gute Reiterin. Sie übersprang jedes Hindernis und ließ in wilder Jagd selbst Gavin hinter sich zurück. Sie lachten und schrien wie übermütige Kinder, und Hermon konnte in dieser Zeit all ihren Kummer vergessen.

Dann hatte der Krieg begonnen. Nichts war mehr so wie vorher. Und nun war Gavin tot.

Sie nahm einen zerrissenen Unterrock aus dem Nähkorb. Er gehörte Cathy. Mit einer zornigen Geste warf sie ihn auf den Boden, denn Cathys Gejammer über die abgetragenen Kleider kam ihr wieder in den Sinn. Sie war die Schlimmere der beiden Schwestern, gehässig, eitel und schadenfroh. Von klein an hatte sie Hermon gepeinigt, wo sie nur konnte. Beth dagegen hatte sie hin und wieder in Schutz genommen. Sie war außer Dooney die Einzige gewesen, die ihre kleinste Schwester manchmal getröstet hatte. Doch Cathy war eifersüchtig darauf bedacht, Beth auf ihre Seite zu ziehen. Die Mutter war ihr, solange sie denken konnte, nur mit Strenge begegnet. Ihre Schwestern jedoch wurden zärtlich geliebt. Mit ihren Puppengesichtern, den blonden Zöpfen und den hübschen Rüschenkleidern hatten sie schon als Kinder überall im Vordergrund gestanden. Hermon trug stets schlichte Kleider, ihr dunkles Haar wurde streng aus dem Gesicht frisiert. Die kleinen Locken, die sich in ihre Stirn ringelten, musste Dooney stets mit einer ekelhaft riechenden Flüssigkeit glatt streichen. Hermon war schon früh aufsässig geworden und hatte begonnen, sich zur Wehr zu setzen. Doch die Mutter hatte sie angeschrien: »Sollen die Leute denken, dass du das Kind eines Niggers bist!« Hermon wusste nicht einmal, was sie damit meinte.

Während sie einen Knopf annähte, versuchte sie die hässlichen Erinnerungen zu verdrängen.

Was sie getan hatte, tat ihr nicht leid. Wie oft war sie vom Vater mit dem Riemen geprügelt worden, und die Mutter hatte sie mit dem Kochlöffel auf die Hände geschlagen.

Sie konzentrierte sich auf die Näharbeit, beobachtete durch das kleine Fenster die Wolken, die hinter dem Birnbaum mit den jungen Frühlingsblättern vorbeizogen, sah wieder Gavins lachendes Gesicht und hörte seine Stimme: »Lass dich nicht unterkriegen, kleine Hermon!«

Das hatte er oft zu ihr gesagt. Sie weinte wieder, über Gavins Tod und all den Kummer in ihrem kurzen Leben, für den sie noch nie eine Träne hatte, bis heute.

Das Essen, das Dooney ihr zwischendurch hereinbrachte, rührte sie kaum an. Hin und wieder drangen Stimmen zu ihr herauf. Im Birnbaum vor ihrem Fenster sang eine Amsel ihr Lied, und einmal hörte sie in der Ferne ein Geräusch, das wie Schüsse klang.

Hermon verließ ihre Kammer drei Tage lang nicht. Nur Dooney kam, um Essen zu bringen und das Nachtgeschirr zu leeren. Sonst ließ sich niemand blicken.

Sie dachte daran, dass man Gavin begraben würde. Aber sie wollte gar nicht dabei sein, sie würde es nicht ertragen.

Der Riegel wurde zurückgeschoben. Dooney brachte einen Bottich mit Wasser, Leinentücher und frische Kleider. Sie wusch Hermon von Kopf bis Fuß, kleidete sie in ein graues, nicht ganz so schäbiges Kleid, das einmal ihrer Mutter gehört hatte und frisierte sie sorgfältig, bis keine Locke mehr in die Stirn sprang.

»So, Miss Hermon, jetzt gehen Sie und entschuldigen sich, dann ist alles gut.«

Dooney wusste es also auch! »Wofür zum Teufel soll ich mich entschuldigen! Sie hat mich zuerst geschlagen!«

»Aber ist ihre Mutter, Missy«, sie tätschelte Hermons Arm, dann begann sie aufzuräumen. Hermon wartete, bis sie gegangen war. Sie wusste, Dooney würde nun ihrer Mutter in der Küche beim Zubereiten des Frühstücks zur Hand gehen.

Mit steinerner Miene ging sie nach unten. Ella Brinkfield wandte sich ihr wortlos zu, und das schwarze Mädchen verließ unaufgefordert die Küche.

»Ich entschuldige mich«, sagte Hermon in einem Ton, der jede Reue vermissen ließ, »hättest du mich nicht zuerst geschlagen, so wäre es nicht passiert.«

»Du glaubst also, du könntest dir jede Respektlosigkeit gegen deinen Vater und deine Schwestern erlauben!«, fuhr die Mutter sie an.

»Haben sie je Respekt vor mir gehabt! Warum hast du mich überhaupt zur Welt gebracht! Es wäre besser, ich wäre niemals geboren!«

Ella Brinkfield senkte einen Atemzug lang den Blick. Hermon erhaschte für eine Sekunde einen Ausdruck von unbeschreiblichem Schmerz in ihren Augen, den sie sich nicht erklären konnte. »Bring das Tablett in den Salon!« In ihrer Stimme war ein Zittern.

Hermon deckte den Tisch. Dann versammelte sich die Familie zur morgendlichen Mahlzeit.

Die Mahlzeit verlief schweigsam. In Gegenwart des Vaters hielt selbst Cathy den Mund. Als William Brinkfield sich erhob und damit das Frühstück beendete, verließ Hermon fluchtartig das Haus, ging in den Stall und redete mit dem alten Kutschpferd. Es war das einzige Wesen im Haus, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Sie erzählte ihm, was geschehen war und dass sie eigentlich gar nicht wusste, was sie auf der Welt sollte.  

 

Die kommenden Wochen erschienen Hermon wie ein einziger Alptraum.

Sie ging ihrer Familie aus dem Weg, so gut sie konnte, beschäftigte sich in ihrer Kammer stundenlang mit Näharbeiten, und hin und wieder schlich sie sich aus dem Haus, obwohl es sich für ein junges Mädchen nicht gehörte, allein in den Straßen herumzulaufen. In ihrer schlichten, abgetragenen Kleidung unterschied sie sich nicht von den Dienstboten, und kaum ein Mensch nahm Notiz von ihr. An heißen Tagen ging sie am liebsten in die nahe gelegene St. Johns Church. Sie mochte das alte Backsteingebäude mit dem dreiteiligen Turm. Stundenlang konnte sie unter den hohen Bäumen auf dem Kirchhof sitzen oder sie genoss das Alleinsein in der Stille des düsteren Kirchenraums. Manchmal ging sie auch hinunter zum James River, wo die Lagerhäuser aus rotem Backstein standen und die Schiffe anlegten. Dort beobachtete sie die Menschen und erfuhr die eine oder andere Neuigkeit. Doch zum Oregon Hill, wo die Pferdefarm der Bennetts lag, ging sie nicht, obwohl sie immer wieder daran dachte. Sie schaffte es einfach nicht, und sie schämte sich dafür. Nun hatte sie nicht nur Gavin verloren, sondern auch ihre einzige Freundin. Die Zeit schien stillzustehen. Es gab kein Morgen. –

Der Krieg ging weiter. General Grant hatte seine Truppen von Richmond abgezogen und belagerte nun Petersburg. Noch verteidigten die Konföderierten die Stadt erfolgreich. Doch selbst in Richmond wurde nicht mehr gejubelt, der Krieg dauerte schon zu lange. Die Waren wurden immer knapper, die Läden und Verkaufsstände von Woche zu Woche leerer. William Brinkfield machte sich Sorgen um den Verkauf seiner diesjährigen Tabakernte. Obwohl er gute Beziehungen hatte, standen die Aussichten schlecht. Kaum ein Schiff kam noch durch die Blockade der Yankees, und auch die meisten Bahnstrecken waren in der Hand der Union. Die Nachrichten über verlorene Schlachten häuften sich. Anfang September nahmen die Yankees die hart umkämpfte Stadt Atlanta ein, und auch in Virginia begann mehr und mehr die Hoffnung auf einen Sieg der Konföderation zu schwinden.

Hermon las die Nachrichten in den Zeitungen, die ihr Vater im Salon liegen ließ, aber sie nahm all das mit großer Gleichmut hin. Was hatte sie schon zu verlieren! Und sie fragte sich, ob das Ende des Krieges für sie irgendeine Bedeutung haben würde.

 

»Hermon, du kommst sofort herunter und hilfst Dooney in der Küche! Wir werden heute Abend Gäste haben!«, rief Ella Brinkfield durch den Treppenaufgang zu ihrer jüngsten Tochter hinauf. Seit dem Streit hatte sie keinen Fuß mehr in ihre Kammer gesetzt.

Hermon legte die Handarbeit zur Seite und ging wortlos nach unten. In der Küche fand sie nur das schwarze Mädchen vor, das Gemüse putzte.

»Ich soll dir helfen, Dooney«, bemerkte sie kurz und griff zum Messer, um den Kohl zu schneiden. »Weißt du, wer kommt?«

»Master Brinkfield bringt Gäste mit, ein Kaufmann. Er kommen mit ganzer Familie.«

Dooney war wie immer gut informiert. Sie hatte mit Sicherheit gelauscht. Von ihr bekam Hermon oft Informationen, die die Familie ihr vorenthielt.

Während sie das Gemüse putzte, plauderte Dooney munter weiter: »Weiß nicht, wie die Leute heißen, aber sind schon hier gewesen. Sie haben Tochter, so alt wie Miss Beth, und Sohn. Er war im Krieg, ist jetzt wegen einer Verwundung zu Hause.«

Hermon sagte nichts dazu. Sie hasste es, wenn Gäste ins Haus kamen. Und heute sah sie keine Möglichkeit, sich vor der Mahlzeit zu drücken, denn sie konnte sich im Augenblick keinen Ärger mit den Eltern mehr leisten. Die Atmosphäre war ohnehin unerträglich.

Schließlich kam ihre Mutter in die Küche, um Dooneys Arbeit zu kontrollieren. Durch die offene Tür hörte Hermon Geschirr klappern.

»Wenn du mit dem Gemüse fertig bist, geh nach oben und kleide dich um«, wies ihre Mutter sie an, »zieh das Blaue mit den Perlenknöpfen an.«

Hermon hasste dieses Kleid, denn sie konnte es nicht ohne Korsett tragen. Doch eine Diskussion war sinnlos. Dooney ging mit ihr, um sie zu schnüren.

Hermon fuhr sie an: »Verdammt, mach es nicht so eng, wie soll ich sonst etwas essen!«

»Wenn ich es weiter lasse, Kleid geht nicht zu. Und eine Dame isst in Gesellschaft wie...«

»Lass deine Sprüche, ich kann sie nicht mehr hören. Es ist vollkommen egal, wie ich aussehe, niemand wird mich beachten, und ich muss niemandem gefallen.«

»Miss Cathleen und Miss Elisabeth schnüre ich viel enger!«

»Das ist mir ebenfalls egal!«

Das Mädchen bekam das Kleid mit einiger Mühe zu und Hermon stampfte wütend mit dem Fuß auf. Sie hatte das Gefühl, nicht atmen zu können. Nur über der Brust war das Kleid zu weit. Dooney schuf Abhilfe, indem sie zwei Tüllbeutel in den Ausschnitt stopfte. Dann bürstete sie ihr die Haare und glättete die Locken.

Danach verschwand sie lautlos und Hermon ließ sich aufs Bett fallen, aber das Korsett hinderte sie daran, sich zu entspannen. Sie schloss die Augen. Mit der schwindenden Sommerhitze hatten die ständigen Kopfschmerzen etwas nachgelassen, aber der bevorstehende Abend verursachte ihr Magenkrämpfe. Cathy würde gewiss wieder alles tun, um die Aufmerksam des jungen Mannes auf sich zu ziehen. Sie sah in jedem Mann unter dreißig, der sich auf Blicknähe an sie heranwagte, einen potentiellen Heiratskandidaten. Hermon war sicher, wäre der Krieg nicht gekommen, hätte Ella Brinkfield ihre beiden älteren Töchter längst unter die Haube gebracht. Beth war seit über einem Jahr mit Calvin Meland, einem Pflanzersohn aus der Umgebung verlobt. Wegen einer verkrüppelten Hand war ihm der Kriegsdienst erspart geblieben, und er konnte sich um die väterliche Plantage kümmern. Beth würde heiraten, sobald der Krieg zu Ende war, denn sie wünschte sich eine Traumhochzeit mit einem Brautkleid aus Paris.

Über ihre eigene Zukunft dachte Hermon nur ungern nach. Sie hatte nie mit den Eltern darüber gesprochen. Sicher würden sie irgendeinen Ehemann für sie auftreiben. Das war die einfachste Art, sie loszuwerden. Doch der Gedanke an eine Ehe löste Grauen in ihr aus.

Was für ein Mann sollte das sein, der sie nahm? Wenn sie darüber nachdachte, was sie sich für die Zukunft wünschte, kam kein Mann darin vor. Sie wollte frei sein, das war alles, was ihr dazu einfiel. Wie diese Freiheit aussehen sollte, wusste sie nicht.

In der Welt, in der sie aufgewachsen war, wurden Mädchen nun einmal verheiratet. Wer keinen Mann fand und keinen Besitz hatte, musste von Almosen leben. Etwas anderes wusste Hermon nicht. Dienstleistungen wurden bisher von den schwarzen Sklaven erledigt. Was würde werden, wenn die Yankees den Krieg gewannen und ihnen auch die letzten Sklaven wegnahmen?

Noch in Gedanken hörte Hermon von unten Stimmen und Geräusche. Der Besuch war eingetroffen. Sie musste hinuntergehen, wenn es nicht noch mehr Ärger geben sollte. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, aus dem sie dieses kantige Gesicht mit den zornigen grünen Augen ansah, schlüpfte in die Schuhe, raffte die Röcke und schlich die Treppe hinunter. An der Stelle, von der aus man den Salon überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden, verharrte sie einen Moment. Sie erinnerte sich, diesen langen, dünnen Mann mit der Nickelbrille schon einmal mit ihrem Vater gesehen zu haben.

Ihre Mutter und Beth unterhielten sich mit einer kleinen, korpulenten, auffallend lebhaft gestikulierenden Dame. Hermon lauschte.

»Oh, nein, nein, keineswegs, Mrs. Brinkfield, Mister Lincoln ist trotz seiner Einstellung ein sehr sympathischer, wenn auch recht exzentrischer Mensch. Wir sind ihm vor dem Krieg in Washington begegnet. Auch seine Gattin Mary Todd Lincoln ist eine ganz reizende Dame. Damals war es im Gespräch ganz offensichtlich, dass sie der Ideologie des Südens anhing, mehrere Mitglieder ihrer Familie leben schließlich im Süden. Zu Kriegsbeginn gab ihre Einstellung Anlass zu allerhand Klatsch. Man erzählte sich sogar, Präsident Lincoln hätte vor einem Komitee schwören müssen, dass niemand aus seiner Familie Verrat an der Union beabsichtigt. Haben Sie davon gewusst, Mrs. Brinkfield?«

Was ihre Mutter antwortete, konnte Hermon nicht verstehen. Ihre Aufmerksamkeit galt dem jungen Mädchen, das klein und stämmig ganz nach ihrer Mutter schlug. Ihr gelbes Rüschenkleid wirkte makellos, es musste sorgfältig geschont worden sein. Sie und Cathy steckten die Köpfe zusammen und kicherten, aber Cathys Blick ging ständig an der Pummeligen vorbei in die andere Zimmerecke. Dort stand etwas abseits von den Männern still und unauffällig, in grauer Uniform, einen Arm in der Schlinge, der junge Mann, dem Cathys begehrliche Blicke galten. Er war groß und dünn wie sein Vater und hatte dichtes, dunkelblondes Haar. Als Ella Brinkfield ungeduldig zum Treppenaufgang blickte, setzte Hermon sich notgedrungen in Bewegung.

»Oh, das ist sicher ihre jüngste Tochter?«, bemerkte die korpulente Dame sofort, als Hermon den Salon betrat, »sie sieht aber ihren Schwestern so gar nicht ähnlich!«

Hermon hätte sich am liebsten auf der Stelle umgedreht, um wieder nach oben zu verschwinden. Doch man hatte sie bereits gesehen.

»Unsere Tochter Hermon«, stellte Ella sie mit säuerlicher Miene vor, »Mrs. und Mister Roof, ihre Tochter Henriette und ihr Sohn Phil.«

Hermon reichte allen die Hand. Mrs. Roof begutachtete sie mit abschätzendem Blick, ihr Gatte nahm sie kaum wahr, und Henriette war völlig mit Cathy beschäftigt. Nur Phil schenkte ihr ein warmes Lächeln, verneigte sich leicht und sagte: »Sehr erfreut, Miss Brinkfield.«

Mühsam quälte Hermon sich ein kleines Lächeln ab. Sie fühlte sich wie immer überflüssig und völlig fehl am Platz. Zum Glück bat Ella Brinkfield gleich darauf zu Tisch. Ihr blieb die Entscheidung erspart, in welche Ecke sie sich verkriechen sollte und setzte sich auf ihren Platz zwischen Beth und ihrem Vater. Dooney servierte mit einem Knicks das Essen. Die Männer redeten über die Tabakernte. Mrs. Roof und Ella diskutierten das Problem der fehlenden Haussklaven. Phil beteiligte sich nicht an den Gesprächen und auch die Mädchen schwiegen nun. Hermon versuchte, sich mit gesenktem Kopf auf das Essen zu konzentrieren und ein paar Bissen hinunterzuwürgen.

Sie war froh, als die Mahlzeit zu Ende ging und sich alle erhoben, damit Dooney abräumen konnte. William Brinkfield und Mister Roof zogen sich ins Arbeitszimmer des Hausherrn zurück. Dooney brachte ein Tablett mit Fruchtsaft, und Hermon sah sich nach einem Fluchtweg um. Plötzlich stand Phil Roof vor ihr und reichte ihr lächelnd ein Glas Saft: »Wollen wir uns nicht setzen, Miss Hermon?« Er wies auf das kleine, rote Samtsofa an der Wand gegenüber der Flügeltür unter einem großen, düsteren Ölgemälde. Bevor ihr eine Antwort einfiel, nahm er sie sanft am Arm und führte sie dorthin.

Hermon versuchte ein einziges Mal tief Luft zu holen, aber es ging nicht, das Korsett presste ihr die Rippen zusammen. Und ehe sie sich versah, saß sie neben Phil auf dem Sofa. Cathy und Beth kamen mit ihren Getränken in der Hand nun ebenfalls herüber, setzten sich in die beiden dazu gehörigen Sessel. Eigenartigerweise gehörte Phils Aufmerksamkeit Hermon, die sich ein Loch wünschte, in das sie verschwinden könnte. Cathy bedachte sie mit einem giftigen Blick, bevor sie sich an Phil wandte: »Was glauben Sie, Phil, wird der Krieg bald zu Ende sein? Ich habe das alles so satt!«

»Das ist schwer zu sagen, Miss Cathleen, aber ich wünsche mir, dass ich nicht noch einmal auf die Schlachtfelder muss.«

»Der Krieg macht Ihnen Angst?«, fragte Beth.

»Der Krieg macht jedem Angst, der ihn erlebt hat! Nur die Maulhelden geben es nicht zu.«

»Haben Sie in vielen Schlachten gekämpft?«

»In zu vielen, Miss Elisabeth!«

»Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als der Krieg begann. Wir feierten gerade meinen sechzehnten Geburtstag, als die Nachricht vom Angriff auf Fort Sumter eintraf. Alles, was Hosen trug, rannte auf der Stelle los, um sich zur Armee zu melden.«

»Ja... ja, ich weiß. Wir hatten ja alle keine Ahnung. Wir hatten keinen blassen Schimmer, was Krieg wirklich bedeutet. Es ist wahr, wir konnten es gar nicht abwarten, die Yankees endlich zum Teufel zu jagen, ihnen zu zeigen, wie ein Gentleman kämpft. Am Anfang war alles ein großes Abenteuer. Ich diente in der Nord Virginia Armee unter General Lee. Wir haben Richmond erfolgreich verteidigt. Bei Fair Oaks haben wir gesiegt, überlegen. Aber drei Wochen später rückten die Yankees wieder an. Dieser eingebildete Fatzke McClellan hatte den Oberbefehl. Sieben Tage lang stürmten sie gegen uns an, aber wir haben sie immer wieder zurückgeschlagen, haben ihnen Richmond nicht in die Hände fallen lassen. Natürlich gab es Tote und Verwundete, aber wir haben gesiegt. Auch ich hatte eine leichte Verwundung und bekam einen Heimaturlaub genehmigt.«

Cathy schnaufte ungeduldig und scharrte nervös mit den Füßen. Hermon und Beth hörten Phil gebannt zu. Er fuhr fort: »Dann schickten sie mich nach Pennsylvania. Wir kämpften bei einem Ort namens Gettysburg in Picketts Division. Ein Korps der Yankees verteidigte eine Pfirsichplantage. Sie benutzten die Grenzmauern als Brustwehr. Wir hatten keinerlei Deckung. Es war heiß, die Luft flimmerte und man konnte die Gefahr fast körperlich spüren. Trotz der Mauern gelang es uns, die Yankees zurückzudrängen. Das war am zweiten Tag. Aber am dritten Tag folgte dann die unglaubliche Katastrophe. Plötzlich kamen die Yankees wie die Heuschrecken, und sie rannten alles nieder. Es war ein Gewehrkolben, der mich vermutlich versehentlich traf und niederstreckte. Als ich aufwachte, lagen um mich herum nur Leichen. Jeder Flecken Erde war mit Blut getränkt.«

Hermon saß stocksteif auf der Sofakante. Sie nahm Phils Worte nicht mehr wahr. Vor ihren Augen stand Gavins Gesicht, sein Lächeln, das in den Gewehrsalven der Yankees erstarb. Das Blut pochte in ihren Schläfen, und sie hatte das Bedürfnis, zu schreien. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich über die Stirn und stand auf: »Verzeihung, mir ist nicht wohl.«

Phil unterbrach seinen Redefluss und erhob sich ebenfalls: »Oh, Miss Hermon, das tut mir leid! Ich hätte nicht davon reden sollen! Ich wollte Sie nicht aufregen. Kann ich etwas für Sie tun, Ihnen ein Glas Wasser bringen?«

»Nein, danke, es geht schon. Ich werde mich einen Augenblick hinlegen.«

»Miss Hermon...« Doch bevor er weitere Worte fand, war sie ihm entschlüpft und davongehuscht wie ein Schatten.

»Oh, es tut mir so leid, ich wollte sie nicht erschrecken«, wiederholte Phil und sah ihr bedauernd nach. »Lassen Sie sie, Phil, das hat nichts mit Ihnen zu tun, sie ist immer so überempfindlich!«, Cathy war ebenfalls aufgesprungen, »setzen Sie sich wieder, Phil! Wissen Sie, die ist ewig krank. Aber ich wette, das ist alles nur eingebildet!« Und sie setzte sich mit ihrem koketten Lächeln an seine Seite. Beth hatte inzwischen die Saftgläser nachgefüllt: »Bitte erzählen Sie doch weiter, Phil!«

»Nun, ich glaube, wir sollten uns einem anderen Thema zuwenden.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Phil!«, zwitscherte Cathy, »ich kann dieses ewige Gerede über den Krieg schon lange nicht mehr hören!«

Hermon war froh, als sie in ihrer stillen, dunklen Dachkammer allein war. Die Aufmerksamkeit, die Phil ihr geschenkt hatte, war ihr peinlich gewesen. Das war ihr noch nie passiert. Cathy hatte sicher eine Stinkwut auf sie und das würde sie in den nächsten Tagen ausbaden müssen.

Zu fortgeschrittener Stunde steckte Dooney ihren Kopf herein: »Miss Hermon, bitte kommen Sie herunter, die Gäste wollen sich verabschieden. Mister Phil möchte Sie noch sprechen.«

»Das kannst du vergessen, Dooney!«

»Aber Miss Hermon...«

»Lass mich um Himmelswillen in Frieden!«

»Was sollen die Gäste denken, Miss Hermon!«

»Das ist mir völlig egal! Und jetzt mach mir dieses blöde Korsett auf!«

Wortlos kam Dooney der Aufforderung nach, bevor sie lautlos verschwand. Hermon zog die Nadeln aus ihrem Haar und schlüpfte in ihr Nachthemd. Sie trat zu dem kleinen Fenster, stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank, legte das Kinn in die Hände und sah hinaus in das schwindende Tageslicht. Ein sanfter Wind bewegte die Blätter im Birnbaum. Das Vogelgezwitscher war verstummt. Sie wünschte sich, wie ein Vogel zu sein, wegfliegen zu können in die Freiheit.

 

Regen prasselte gegen die Scheibe. Hermon zog ihr ältestes Kleid an. Es war aus dunkelbraunem, völlig verwaschenem Kattun, und an vielen Stellen geflickt. Es hatte einmal Cathy gehört, wie die meisten ihrer Kleider. Bevor sie es bekam, war es mit weißer Spitze verziert, die Dooney abtrennen musste. Hermon erinnerte sich an ein Gespräch, das sie einmal belauscht hatte. Auf die Frage einer Bekannten, warum ihr jüngstes Kind stets so schmucklose Kleider trüge, hatte ihre Mutter erklärt, dass dieses Kind, wenn es wütend war, Rüschen und Spitzen von den Kleidern riss. Es war eine Lüge, sie hatte das niemals getan.  

Als Dooney die Rüschen in den Abfall warf, hatte Hermon sie wieder herausgezogen und die Stoffstreifen in die Seitennähte gesetzt. Nun war es so weit und bequem, wie sie es liebte. Immer, wenn der Stoff sich an einer anderen Stelle durchscheuerte, setzte sie mit feinen Stichen einen Flicken ein. Und da es vorn eine Knopfleiste hatte, konnte sie es ohne Dooneys Hilfe anziehen. Auch den Zopf steckte sie sich heute selbst auf. Die kleinen, widerspenstigen Locken ließ sie in die Stirn springen. Sie kam als letzte zum Frühstückstisch und erntete vernichtende Blicke.

»Setz dich hin, Tochter!«, herrschte der Vater sie an. Hermon hasste es, wenn er sie so nannte. Sie setzte sich auf die Stuhlkante und senkte den Kopf über ihren Teller. Die Blicke der Mutter brannten auf ihrer Haut. Und die erwartete Strafpredigt des Vaters folgte: »Musst du immer diesen abscheulichen Sack anziehen? Du siehst aus wie ein Dienstmädchen. Aber es scheint dir ja Spaß zu machen, uns zu blamieren. Ich könnte mir sparen, dir zu sagen, dass du dich gestern wieder unmöglich benommen hast. Ständig muss deine Mutter dich bei den Leuten entschuldigen. Ich frage mich, wie du mit deinem ewigen Gejammer durchs Leben kommen willst! Kein Mann hält so etwas auf die Dauer aus. Mit deinen ständigen Zuständen wirst du uns wohl bis ans Ende aller Tage auf der Tasche liegen!«

Ihr seid es, die mich krank machen! Aber sie zog es vor, zu schweigen.

William Brinkfield war ein schneller Esser. Er schob den Teller zur Seite, griff nach der Zeitung, die an seinem Platz lag und schlug sie auf. Ella wandte sich ihrer ältesten Tochter zu: »Wirst du mich heute Mittag zum Handarbeitskreis bei Mrs. Leatherwin begleiten?«

»Muss das sein, Mama?«, entgegnete Beth, die mit den Stricknadeln auf Kriegsfuß stand.

»Ja, Elisabeth, ich wünsche, dass du mitkommst!«, sagte sie nachdrücklich, »wir müssen die Socken für unsere Soldaten fertig bekommen, bevor der Winter hereinbricht. Was denkt man von mir, wenn ich immer allein komme!«

»Meine sind für Calvin und da er nicht bei der Armee ist, genügt es, wenn sie zu Weihnachten fertig sind.«

»Stell dir vor, Mrs. Linley Dorn wird da sein! Du erinnerst dich? Sie ist eine Cousine von Präsident Jefferson!«

William Brinkfield schüttelte den Kopf und raschelte mit der Zeitung: »Es ist unfassbar! Die Yankees haben drüben in Missouri bei Westport die Truppen von Sterling Price besiegt! Westlich vom Mississippi werden unsere Grauröcke nicht mehr viel ausrichten können!«

Er stand mit einer heftigen Bewegung auf und warf die Zeitung auf den Tisch. »Ich muss los! Habe unten am Shokoe Bottom eine Verabredung mit Jim Fisk.«

Ella war aufgestanden und reichte ihrem Gatten Hut und Jacke »Will, bitte nimm dich in Acht vor diesem Mann, er hat keinen guten Ruf! Nicht dass er dich in irgendetwas hineinzieht!«

»Er hat Beziehungen, Ella, ohne Beziehungen geht zurzeit gar nichts mehr.«

Er küsste seine Gattin flüchtig auf die Stirn und ging. Ella sah ihm besorgt nach. Sie war stets unruhig, wenn er zum Hafen ging, denn dort trieb sich das schlimmste Gesindel herum. Die Hafengegend war selbst zu Friedenszeiten nicht ungefährlich gewesen. Jetzt war sie der reinste Sündenpfuhl. Hochzeit für Diebe, Gauner, Betrüger und Huren. Dass ihre jüngste Tochter manchmal ganz allein dort hinunterging, wusste Ella nicht.

An diesem Morgen musste Hermon zu Hause bleiben, da es noch immer in Strömen goss. Also verdrückte sie sich in die Wäschekammer und verbrachte die Zeit mit Bügeln. Dort war sie ungestört und wurde von niemandem behelligt. Nur Dooney kam ab und zu herein, um das Eisen mit frischen glühenden Kohlen zu füllen.

Nach dem Essen wurde eine Stunde Mittagsruhe gehalten, und danach verließ Ella mit Cathy und Beth das Haus. Der Regen hatte inzwischen etwas nachgelassen, trotzdem zog Ella es vor, mit der Kutsche zu fahren. Beth hatte notgedrungen gelernt, den alten Gaul einzuspannen, nachdem sich auch der Stallknecht aus dem Staub gemacht hatte.

Hermon war froh darüber, sich eine Weile frei im Haus bewegen zu können. Sie ging herum und suchte nach den Bildern der wenigen glücklichen Erinnerungen. Es gab nicht viele.

Sie war in diesem Haus am Church Hill geboren. Es war ein großes Haus mit einem einst wunderschönen Garten, in dem im Schatten hoher Bäume noch immer die Baracke stand, in der früher ein Teil der Sklaven gewohnt hatte. Jetzt war sie leer und verschlossen, ebenso wie der Anbau am hinteren Teil des Hauses, in dem die schwarzen Hausmädchen untergebracht waren. Auch Dooney wohnte nicht mehr dort. Sie hauste in einem winzigen Raum neben der Wäschekammer. Als Kind hatte Hermon sich oft bei ihnen aufgehalten, denn die Schwarzen hatten das kleine, traurige Mädchen geliebt. Als sie über Nacht verschwanden, war Hermon todunglücklich gewesen. Ella Brinkfield hatte getobt und für Augenblicke ihre ganze Erziehung vergessen, als sie die Flucht entdeckte, denn nun musste sie notgedrungen zum ersten Mal im Leben selbst mitzupacken, da Dooney auch nur zwei Hände hatte. Einen Teil ihrer Wut hatte sie an Hermon ausgelassen.

Hermon erinnerte sich sehr genau an diesen Tag. Sie hatte den Nachmittag auf der Farm der Bennetts verbracht und war stolz auf ihre neue rosa Haarschleife gewesen, ein Geschenk von Mel. Im Treppenhaus lief sie Cathy in die Quere, die sich sofort darüber lustig gemacht hatte.

»Wie albern siehst du denn aus mit dieser affigen Schleife!«, hatte sie gepöbelt, ihr die Schleife vom Kopf gerissen und darauf herumgetrampelt. Hermon hatte sich auf sie gestürzt und ihr ein ganzes Büschel Haare ausgerissen. Cathys Geschrei gellte durchs ganze Haus: »Du Schlampe! Du Miststück... du... du Bastard!«

In diesem Moment war die Mutter auf der Treppe erschienen und eingeschritten: »Was ist hier los! Cathy, warum schreist du so?«

»Die Kuh hat mir meine Haare ausgerissen!«

Ella hatte ihre Jüngste am Arm gepackt, und Hermon war aufgefallen, dass alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war. »Du gehst sofort auf dein Zimmer, Hermon und du, Cathy, nimmst dieses Wort nie mehr in den Mund!«

Cathy verschwand wortlos, Hermon riss sich wütend los und schrie ihre Mutter an: »Wieso nennt sie mich einen Bastard! Was hat das zu bedeuten?«

In diesem Moment erschien William Brinkfield, der den Streit gehört hatte, am Treppenabsatz. »Sag es ihr, Ella!«, befahl er mit kalter Stimme, »sie ist alt genug, sie soll es wissen!« Ella starrte Hermon an und wurde noch einen Ton bleicher, dann flüsterte sie mit tonloser Stimme: »Du bist nicht das Kind von William.«

»Erzähl ihr alles, Ella!«, forderte er. Ihre Mutter zögerte, ihre Miene wurde zu Eis, und sie presste hervor: »Du bist das Kind eines Landstreichers, der mir Gewalt angetan hat. Du hast sein Gesicht, seine Augen, damit siehst du mich jeden Tag an. Nun weißt du es, nun kennst du die Wahrheit.«

Hermon hatte geschrien: »Nein, nein, das ist nicht wahr...« Und ihre Mutter war vor ihren Füßen ohnmächtig geworden. William Brinkfield eilte die Stufen hinauf, doch bevor er sich um seine Frau kümmerte, schrie er Hermon an: »Nun siehst du, was du angerichtet hast! Du solltest froh und dankbar sein, dass wir dich überhaupt großgezogen haben!«

Hermon rannte in ihre Kammer. Etwas in ihr war zu Stein erstarrt. Sie fühlte sich schmutzig wie ein Haufen Abfall. Das Schlimmste aber war, dass sie plötzlich begriff, warum ihre Familie sie nicht mochte. Und sie fühlte sich schuldig für das, was ihr Vater, dieser fremde, schreckliche Mann ihrer Mutter angetan hatte.

Drei Tage lang konnte niemand sie dazu bewegen, aus ihrer Kammer zu kommen. Sie dachte darüber nach, dass es das Beste sei, zu sterben, denn eigentlich hatte sie kein Recht, am Leben zu sein. Seltsamerweise ließ die Mutter sie diesmal gewähren. Doch am dritten Tag kam sie in ihre Kammer, um sie zur Ordnung zu rufen. Hermon lag auf ihrem Bett, das Gesicht in den Armen verborgen. Die Worte der Mutter waren ungewöhnlich freundlich: »Bitte, Hermon, komm herunter, bevor William wieder die Geduld verliert.« Und dann war ihr, als hätte sie eine sanfte Berührung auf ihrem Haar gespürt.

Sie war aufgestanden und hatte den Weg zurück in den Alltag gefunden. Als sie endlich wieder Zeit fand, die Bennetts zu besuchen, hatte sie erzählt, dass sie krank gewesen sei, was man ihr glaubte, da sie noch blasser und dünner geworden war. Das Schreckliche aber erzählte sie niemandem, auch Mel und Gavin nicht. Das Leben ging weiter. –

Während sie über all das nachdachte, wanderte sie durchs Haus. Vor dem Anbau blieb sie stehen. Sie wäre gerne hineingegangen, aber Ella hatte den Schlüssel versteckt. Eine Weile stand sie vor der Tür und dachte an die Abende, die sie bei den Schwarzen verbracht hatte. Wenn sie mit ihren warmen, dunklen Stimmen sangen, hatte Hermon sich geborgen gefühlt.

 

Hermon wachte vor Tagesanbruch auf. Sie kroch aus dem Bett, legte sich die Wolldecke um und ging zum Fenster. Die kahlen Äste des Birnbaumes stachen schwarz in den dämmernden Morgen und zeichneten sich gespenstisch vor dem Lichtstreifen am Horizont ab.

Es war der 15. November des Jahres 1864, ihr siebzehnter Geburtstag. Der Himmel war wolkenverhangen, es würde Regen geben.

»Das passt!«, sagte Hermon, »herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

Es wurde ein ganz gewöhnlicher Tag, auch ihre Mutter erwähnte ihren Geburtstag nicht, und das war ihr gerade recht. Am Mittag machte sie einen Spaziergang zur St. Johns Church und saß lange im stillen Kirchenraum. Sie dachte an Gavin, der nun draußen auf dem Kirchhof lag. Sie wusste nicht einmal, wo sein Grab war. Wieder einmal nahm sie sich vor, seine Familie zu besuchen. Am nächsten Tag brachte Dooney einen Brief in ihre Kammer.

»Miss Hermon, da war ein Mädchen da, gestern, als Sie fortgingen, ein Mädchen mit komischen Augen, wollte zu Ihnen. Ich sagte, Miss Hermon ist nicht da. Sie hat etwas auf einen Zettel geschrieben.« Dooney reichte ihr ein Stück Papier.

»Danke, Dooney«, erwiderte Hermon mit erstickter Stimme. Als die Schwarze gegangen war, setzte sie sich auf einen Hocker und las:

Liebe Hermon, ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen, aber du bist nicht da. Ich weiß nicht, warum du nicht mehr gekommen bist. Alles ist so schrecklich seit Gavins Tod. Mama weint nur noch. Gavin fehlt uns so sehr. Und ich vermisse dich so. Wir gehen fort aus Richmond. Alle Pferde sind verkauft, und wir gehen irgendwo nach Kentucky. Ich schreibe dir. Deine Freundin Mel. 

Hermon las den Text noch einmal. Zu spät! Und jetzt hatte sie niemanden mehr.

 

Der Winter wurde ungewöhnlich kalt und das Weihnachtsfest fiel bescheidener aus denn je. Die Lebensmittel waren inzwischen so knapp, dass es kaum noch möglich war, Gäste einzuladen. Hermon war das gerade recht. Sie versuchte sich die Tage so einzurichten, dass sie ihrer Familie außer bei den Mahlzeiten kaum begegnete. Sie beschäftigte sich in ihrer Kammer mit Flickarbeiten oder hielt sich in der Waschküche auf, wo die Arbeit nie ausging. Trotz der Kälte machte sie hin und wieder lange Spaziergänge, von denen sie oft erst nach Stunden völlig durchgefroren nach Hause kam. Während sie in Gedanken versunken oder gefangen in der düsteren Ausweglosigkeit ihrer Zukunft durch die Straßen trödelte, merkte sie oft gar nicht, wohin es sie trieb. Gewöhnlich schlenderte sie in Richtung James River, vorbei am State Capitol, hinunter zu den roten Backsteinhäusern am Fluss. Wenn die Kälte ihre Füße noch nicht zu Eis hatte erstarren lassen, lief sie am Ufer entlang bis zum Ende der Stadt und starrte oft lange in die träge dahinfließenden Fluten. Das eine oder andere Mal kam es auch vor, dass sie sich verlief, und mühsam den Heimweg suchen musste.

Eines Tages, als die Dunkelheit schon hereinbrach, sah sie sich plötzlich von zerlumpten, schwarzen Gestalten umgeben, die drohend auf sie zukamen. Einen Moment lang war Hermon wie gelähmt vor Schreck. Dann begriff sie, dass sie sich wohl in Jackson Ward, dem Stadtviertel, in dem die freien Nigger lebten, befand, einer Gegend, in die sich eine Frau auch am helllichten Tag nicht wagen sollte.

Blitzschnell rannte sie um die nächste Straßenecke und verbarg sich in einem Hauseingang. Dort wartete sie, bis die Gestalten sich zerstreut hatten, dann lief sie wie von Furien gehetzt, bis sie wieder eine vertraute Gegend erreichte. Dabei musste sie daran denken, dass es sie nur gab, weil ihre Mutter vergewaltigt worden war, von einem Menschen, der ihr irgendwo aufgelauert hatte. Und das Grausige war, dass sie nun ihre Abneigung verstehen konnte.

Seltsamerweise aber hatte sich das Verhalten ihrer Mutter verändert. Sie war nicht mehr so hart gegen Hermon, seit William Brinkfield sie gezwungen hatte, ihr die Wahrheit zu sagen.  

Als sie endlich nach Hause kam, ging sie in den Stall, um am warmen Körper des alten Kutschgauls ein wenig Trost zu finden. Aber der Stall war leer. Pferd und Kutsche waren verschwunden. Das bedeutete wohl, dass niemand zu Hause war. Sie fand das Haus still und verlassen vor, so konnte sie sich ungestört ans Kaminfeuer setzen und ihre erstarrten Glieder aufwärmen. Eine Zeitlang starrte sie in die Flammen, dann griff sie nach der Zeitung, die auf dem kleinen, runden Mahagonitisch lag, und ihr Blick fiel auf einen Artikel mit der Überschrift: Ende der Sklaverei! Am einunddreißigsten Januar verabschiedete der Kongress der Union den dreizehnten Zusatzartikel zur Verfassung, der die Sklaverei aufhebt.

Ein weiterer Artikel berichtete über die Kapitulation der Hafenstadt Savannah. In Nord Carolina war Fort Fischer an die Union gefallen.

Hermon legte die Zeitung zur Seite, als ihr Blick auf die neueste Vermisstenliste fiel. Sie wollte gar nicht wissen, wie viele Männer wieder gestorben waren. William Brinkfield sprach noch immer von einem möglichen Sieg. Aber im Grunde wusste jeder, dass die Truppen der Union nicht mehr aufzuhalten waren.  

General Shermans Marsch durch Nord- und Süd Carolina ließ eine breite Schneise der Verwüstung zurück, und auch Charleston ging an die Union verloren.

Am 4. März wurde Präsident Lincoln in seiner zweiten Amtsperiode bestätigt. In den letzten Märztagen begann sich auch in Richmond, das in den gesamten Kriegsjahren als uneinnehmbare Festung galt, Panik zu verbreiten, denn es gab Gerüchte, dass Petersburg nicht mehr zu halten sei, und wenn Petersburg General Lee in die Hände fiel, war auch Richmond verloren.

Am 2. April 1865 traf die grauenhafte Nachricht ein. Petersburg war nach zehnmonatiger Belagerung gefallen. Die Menschen von Richmond wussten nicht, was sie tun sollen. Viele packten ihre Habseligkeiten zusammen und flüchteten aufs Land. Plünderer und Gauner begannen die Stadt zu erobern. Auch William Brinkfield wollte seine Familie in Sicherheit bringen, aber Ella weigerte sich, das Haus, das ihr Elternhaus war, zu verlassen.

 

Am Morgen des 2. Aprils war auch Dooney verschwunden. Cathy weinte hysterisch und Ella stritt mit ihrem Gatten, der zum Aufbruch mahnte: »Sei vernünftig, Ella, in der Straße sind fast alle Häuser schon verlassen. Wenn die Yankees hereinbrechen, sind wir ihnen schutzlos ausgeliefert! Packt zum Teufel nochmal euer Zeug, so lange noch Zeit ist!«

Doch Ella jammerte: »Nein, William, wir werden nirgendwo hingehen! Dies ist mein Elternhaus! Glaubst du, ich würde die schönen alten Möbel, die Teppiche und das teure alte Porzellan meiner Großeltern den Plünderern überlassen?«

Nur Beth sagte nichts, sie war wie gelähmt vor Angst. Hermon bekam die Streiterei in lethargischer Gleichgültigkeit vom Treppenhaus aus mit.

Schließlich rannte William wütend und ohne Frühstück aus dem Haus. »Mama, bitte lass uns gehen, ich habe solche Angst!«, bat nun auch Beth, doch Ella entgegnete: »Nimm dich zusammen, wir bleiben hier! Wohin sollen wir denn? Die Yankees sind überall! Jetzt helft mir den Tisch zu decken!« Sie lief hektisch in die Küche, aber die Mädchen rührten sich nicht von der Stelle.

Hermon wollte gerade ihren Lauscherposten auf dem Treppenabsatz verlassen und wieder in ihre Kammer verschwinden, als sie den Lärm draußen vor dem Haus hörte. Dann flog die Haustür mit einem Knall auf. William stürmte mit hochrotem Gesicht herein und schrie: »Ella, Cathleen, Elisabeth! Packt auf der Stelle das Nötigste ein!«

Ella kam aus der Küche geschossen: »Habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt! Ich werde dieses Haus nicht...«

»Frau, lass mich ausreden! Die gesamte Stadt wird evakuiert. Niemand darf bleiben! Jefferson und die gesamten Regierungsbeamten haben Richmond bereits verlassen. Ich fürchte, sie werden die Stadt anzünden.«

»William, sie können doch unser Haus nicht anzünden!«, jammerte Ella.

»Oh doch, sie können! Aber ich denke, sie haben es auf die Lagerhallen abgesehen. Himmel nochmal, steht nicht herum! Cathy, hör auf zu heulen! Ich gehe das Pferd anspannen.«

Er rannte hinaus und Ella Brinkfield hatte sich wieder in der Gewalt: »Los, Mädels, geht packen, aber nur das Nötigste!«

Beth stand auf und zog die Schwester hinter sich her. Hermon lief die Treppe hinauf, verschwand in ihre Kammer und setzte sich aufs Bett. Unter sich hörte sie die Schwestern rumoren. Niemand kam zu ihr herauf, um auch ihr zu sagen, dass sie packen solle. Und sie rührte sich nicht. Eine eisige Ruhe überkam sie. Sollten sie doch gehen! Wahrscheinlich würden sie es nicht einmal merken, wenn sie nicht mitkam.

Das heftige Gewieher des Kutschpferds ließ sie aufhorchen. Ein Schuss fiel. Sie hörte die aufgeregten Stimmen von Ella und William, dann ein splitterndes Krachen, ein gellender Schrei, und noch ein Schuss, dieses Mal im Haus.

Hermon stand auf und öffnete die Tür einen Spalt. Cathy und Beth rannten die Treppe hinunter. »Mama! Mama ! Was ist passiert?«, schrie Cathy.

Dann hörte Hermon fremde Männerstimmen. Glas splitterte, die Mädchen stießen gellende Schreie aus. Sie hörte polternde Schritte von Stiefeln auf der Treppe, und ihr war so, als ob jemand ihren Namen rief.

Sie schloss die Tür, die sich von innen nicht verriegeln ließ, war mit einem Satz am Fenster, schob die Scheibe hoch und drängte sich durch die enge Öffnung. Als sie die Schritte vor ihrer Tür hörte, ließ sie sich von der Fensterbank kippen und landete im Geäst des Birnbaums. Äste streiften ihren Körper, zerrissen ihre Kleider, peitschten ihr Gesicht und Glieder und hinterließen blutige Spuren. Dann bekam sie einen starken Ast zu fassen, klammerte sich fest und bemühte sich, nicht auf die Geräusche im Haus zu hören. Sie kletterte das letzte Stück nach unten und landete unsanft auf der Erde. Dann rannte sie durch den von Unkraut überwucherten Garten, stieg über die niedrige Mauer, lief über mehrere Grundstücke bis zum Kirchhof, dann weiter über die Straße.

Leute mit Leiterwagen waren unterwegs. Ein beladener Pferdewagen holperte die Broad Street entlang und überrollte beinahe einen streunenden Hund. Zwei Reiter in zerrissenen grauen Uniformen kamen dem Wagen entgegen und schrien irgendetwas. Hermon rannte so schnell sie konnte und schlug ohne Nachzudenken den Weg zum Shokoe Bottom ein.

Als sie um die Ecke bog, kamen ihr drei wildaussehende, vor Dreck starrende Kerle entgegen, einer zu Pferd, die zwei anderen zu Fuß. Hermon drückte sich so gut es ging an die Hauswand und versuchte an ihnen vorbeizukommen.

»He, wohin so eilig, junge Lady!«, rief der Mann auf dem Pferd, trieb das Tier an die Hauswand, beugte sich nach vorn und bekam Hermons Arm zu fassen, »hopp, herauf mit dir!« Aber sie setzte sich so heftig zur Wehr, dass er sie wieder loslassen musste. Da war der zweite zur Stelle. Er packte sie mit einem meckernden Lachen, und sein nach Schnaps stinkender Atem schlug ihr ins Gesicht. Sie bäumte sich auf, stemmte eine Hand gegen seine Brust, die andere schlug sie ihm zur Faust geballt so fest sie konnte ins Gesicht.

Er schrie wütend auf, als sie seine Nase traf und ließ los. Hermon duckte sich blitzschnell, tauchte unter seinem Arm hindurch und rannte los. Sie schaffte es bis zur nächsten Straßenecke, fand eine offene Tür und versteckte sich in einem düsteren Treppenhaus. Draußen vernahm sie den Hufschlag, dann wurde die Tür aufgerissen. Sie drückte sich in den hintersten Winkel, aber der Mann hatte sie schon entdeckt. Im selben Moment ließ eine heftige Detonation das Mauerwerk erzittern. Auf der Straße wieherte das Pferd und warf die Hufe in die Luft. Der Mann stürzte nach draußen, um das Tier zu bändigen.

Hermon nutzte die Gelegenheit, um erneut zu flüchten. Ein zweiter und dritter Knall erschütterte die Luft, Funken regneten vom Himmel, Menschen kamen schreiend aus ihren Häusern gestürzt, und Flammen züngelten zum Himmel empor. In all dem Chaos gelang es ihr, zu entkommen. Sie lief um ihr Leben, vorbei am Rebellengefängnis, die Mainstreet entlang, weg von den nun lichterloh brennenden Lagerhallen zum James River. Sie mied die Nähe der Gebäude, denn sie wusste nicht, wie schnell sich das Feuer ausbreiten würde, und ob es noch weitere Sprengungen geben würde. Ihr Ziel war das freie Flussufer am Ende der Stadt.

Ihre Lungen schmerzten und ihre Beine wurden immer schwerer. Die Wohnhäuser, an denen sie vorbeilief, waren menschenleer, Türen standen offen, Scheiben waren zerborsten. Plünderer hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie überquerte die Carry Street am Ende der Lagerhallen der Tobacco Row, dann erreichte sie endlich keuchend freies Gelände.

Sie stolperte durch hohes Unkraut und niedriges Buschwerk am Fluss entlang, bis sie endlich, schützende Büsche erreichte, die mit ihrem frischen Frühlingsgrün Schutz boten. Dort ließ sie sich erschöpft zu Boden fallen.

Mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegend kam sie langsam zu Atem, und das Stechen in ihren Lungen ließ nach. Ihr Herz raste wild. Sie presste die Hände auf die Rippen, richtete sich ein wenig auf und blickte zurück.

Über den Lagerhallen loderten die Flammen, und schwarze Rauchschwaden verdunkelten den Himmel. Sie ließ sich wieder zurückfallen und schloss die Augen. Ihre zerschrammten Glieder schmerzten, Hände, Gesicht und das linke Knie bluteten, und als sie an sich herab sah, bemerkte sie, dass ihr Kleid völlig in Fetzen hing.

Weitere Detonationen ließen sie wieder hochschrecken. Sie rappelte sich auf, setzte ihren Weg am Flussufer nahe am Wasser fort, ohne zu wissen wohin, nur weg von dieser Stadt, weg von diesem Leben!

Mannshohe Büsche gaben ihr Schutz, trotzdem blieb sie aufmerksam. Wenn von weitem ein Boot auf dem Fluss auftauchte, verbarg sie sich im Unterholz, bis es vorüber war. Bald lag die Stadt ein gutes Stück hinter ihr. Der Himmel war verhangen. Immerhin regnete es nicht. Als sie sich umwandte, sah sie, dass der Himmel über der Stadt nun blutrot war. An vielen Stellen züngelten Flammen empor. Die Frage, was aus ihrer Familie geworden war, schob sie entschieden von sich und lief immer weiter.

Das Herz der Konföderierten stand in Flammen, der Süden brach zusammen, und sie hatte keinen Platz mehr auf der Welt, wusste nicht, wo sie heute Nacht schlafen würde, was sie essen, wie sie überleben sollte.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. Ihr Haarknoten hatte sich aufgelöst, der Zopf hing ihr lang über den Rücken. Sie war so erschöpft, ihr Mund trocken. Am Fluss trank sie aus der hohlen Hand. Dann setzte sie sich auf einen Stein und legte den Kopf in die Arme. Ihr war übel, und es hämmerte in ihren Schläfen.

Plötzlich hörte sie Stimmen, richtete sie sich auf und lauschte. Sie kamen von der Höhe des steil ansteigenden, mit Gelbpappeln bewachsenen Ufers, so jedenfalls schien es ihr.

Hermon stand auf und hoffte, dass niemand sie entdecken würde, wenn sie nahe am Wasser im dichten Ufergebüsch ging. Sie bewegte sich so lautlos wie möglich, blieb erschrocken stehen, als sie ein Knacken vernahm. Doch es war wohl nur ein flüchtendes Tier. Sie kämpfte sich durch ein dichtes Schwarzdorngebüsch, und dann entdeckte sie zwei Gestalten am Ufer. Es waren Blauröcke, Yankees!

Hastig versteckte sie sich wieder im Geäst, hörte sie reden und lachen. Dann verschwanden die Männer zwischen den Büschen, aber Hermon konnte sie noch hören. Sie sah die beiden noch einmal oben zwischen den Pappeln. Hermon ging weiter und entdeckte den schmalen Pfad, auf dem die Männer verschwunden waren.

Ich muss fort, mich in Sicherheit bringen, war ihr erster Gedanke. Doch dann musste sie über ihre eigene Dummheit lachen. Sicherheit! So etwas gab es in ihrem Leben jetzt nicht mehr, nirgendwo! Was konnte ihr schon noch passieren?

Sie raffte ihren zerrissenen Rock zusammen und schlich etwas abseits des Pfades die Böschung hinauf. Nun war der Lärm vieler Männerstimmen nicht mehr zu überhören. Dann entdeckte sie das Lager der Yankees.

Auf einer freien Fläche zwischen hohen Laubbäumen hatten sie ihre Zelte aufgeschlagen. Auf einem Platz in der Mitte lümmelten sich recht sorglos zwei oder drei Dutzend Yankees. Einige saßen um ein Feuer, andere standen untätig herum, und dem Gegröle nach zu urteilen waren sie nicht mehr nüchtern.

Hermon suchte sich einen Platz, von wo aus sie das Lager gut überblicken konnte. Etwas abseits nahe der Uferböschung an einer provisorisch angebrachten Stange waren die Pferde angebunden. Ihr fiel sofort auf, dass eines der Tiere etwas abseits stand und nicht einmal abgesattelt war. Sie beobachtete die Männer.

Die Leute sahen abgerissen und schmutzig aus. Eine Flasche machte die Runde. Der Wind trug den Geruch nach Leder und Pferdedung zu ihr herüber. Einer der Kerle am Feuer begann laut und falsch Shermans Marschlied zu grölen und ein paar andere fielen ein: How the darkys shoutet, when they heard the joyfull sound... 

Hermon bewegte sich vorsichtig, um ihren Standort zu ändern, ohne ein Geräusch zu verursachen, obwohl sie es wohl kaum hören würden. Aber womöglich gab es irgendwo einen Wachposten, der nicht betrunken war. Dann entdeckte sie einen Mann, der schnarchend hinter einem der Zelte lag. Sie sah sich wieder nach den Pferden um, schlich näher an sie heran und wandte sich dem abseits stehenden, schmuddeligen Grauschimmel zu. Im Schutz der anderen Tiere konnte sie ganz nahe an ihn herankommen. Sie fragte sich, warum er allein stand, nicht abgesattelt war und sogar zwei prall gefüllte Satteltaschen trug, und besah sich das Tier genau. Womöglich vertrug es sich nicht mit den anderen. Nun wandte es ihr seinen Kopf zu, zuckte mit den Ohren und begann nervös zu trippeln.

»Scht, nicht wiehern, Pferd, keinen Lärm machen«, sagte sie in der sanften, gleichmäßigen Stimmlage, die bei Pferden gewöhnlich Wunder wirkte und Hermon das Gefühl gab, dass sie jedes ihrer Worte verstanden. Das Tier wurde aufmerksam, stellte die Ohren kerzengerade auf und stand still. Nur der Schweif schwang hin und her.

»Du bist nicht besonders groß und nicht besonders schön, aber kräftig, und du kannst bestimmt lange laufen, ohne müde zu werden«, murmelte sie, richtete sich ein wenig auf und warf einen Blick zum Lager. Der Mann hinter dem Zelt schnarchte noch immer. Dann sah sie den Wachposten.

Das Gewehr in der Armbeuge kam er lässig quer durch das Lager geschlendert. Hermon ging hastig in Deckung und verharrte regungslos, um kein Geräusch zu verursachen. Er kam bis auf zehn Schritte heran, warf einen Blick über die Pferdereihe, ging dann zum Feuer und einer der Männer reichte ihm eine Flasche.

Hermon war sicher, dass sie Whiskey enthielt und die Leute bereits alle ziemlich betrunken waren. Der Wachposten machte keinerlei Anstalten, sich wieder von der Feuerstelle und der Whiskeyflasche zu trennen. Hermon wartete noch. Die Männer begannen erneut irgendein Lied zu grölen.

Natürlich, sie feiern bereits ihren Sieg, sagte sie sich. Also jetzt oder nie! Sie näherte sich wieder dem Grauschimmel, streckte vorsichtig die Hand nach seinem Maul aus. Ihr entging nicht das leichte Zucken seiner Ohren. Als der Gaul mit einem irgendwie hämisch wirkenden Blick zubiss, brachte sie ihre Hand schnell in Sicherheit.

»Ha, so einer bist du also, Pferd! Ich habe es mir fast gedacht«, Hermon lachte leise und streckte erneut die Hand aus. Der Graue machte einen Schritt auf sie zu, doch der Strick, der um einen Baum geschlungen war, ließ ihm keinen Raum. Hermon kam näher. Der Gaul fletschte erneut die Zähne, um zu beißen. Diesmal griff sie blitzschnell zu und petzte das Tier in sein weiches Maul. Mit einem erschrockenen Schnauben riss der Graue den Kopf zurück und presste das Maul zu.

»Na siehst du, was du davon hast, wenn du versuchst, mich zu beißen! Also lass es einfach.« Als sie erneut die Hand ausstreckte, wich er etwas zurück. Als er zu beißen versuchte, legte sie schnell ihre Hand von oben auf seine Nase, und da sie ihm nicht wehtat, hielt er still.

»Na also, geht doch!« Sie wagte sich näher, blies ihm in die Nüstern, streichelte seinen Hals und flüsterte ihm ein paar Zauberworte ins Ohr. Sie fühlte, wie sich seine Muskeln unter ihrer Hand langsam entspannten. Noch einmal ließ sie den Blick übers Lager streifen. Die Horde der Yankees war völlig mit sich selbst beschäftigt, und auch der Wachposten machte keinerlei Anstalten, seine Arbeit wieder aufzunehmen.

Schnell löste sie den Strick und griff nach den herunterhängenden Zügeln: »Also was ist, Pferd, machen wir einen Spaziergang?« Sie ging langsam rückwärts, redete leise weiter und der Graue folgte ihr bereitwillig. Nur noch wenige Schritte und sein Hinterteil verschwand zwischen den Büschen. Hermon lief nun etwas schneller, zog das Tier hinter sich her und erreichte das Flussufer.

»Versuch mich ja nicht wieder zu beißen«, warnte sie, als der Graue einen langen Hals machte. Sie zeigte ihm die gespreizten Finger und er zuckte vor ihrer Hand zurück. Dann überprüfte sie die Steigbügel und flüsterte dem Grauen erneut ein paar Zauberworte zu, bevor sie aufsaß und ihn am kurzen Zügel gehen ließ, denn sie spürte seine Unruhe. Ein letzter Blick noch zur Uferböschung, aber dort rührte sich nichts, und so klopfte sie dem Grauen den Hals, ließ ihn ein Stück traben und schließlich in leichten Galopp fallen. Der weiche Ufersand verschluckte das Geräusch der Hufe. Nun galt nur noch eins, Land gewinnen, weit weg zu sein, bis die Yankees bemerkten, dass sie ihnen ein Pferd geklaut hatte.

»Verdammt!«, sagte sie laut, denn in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie eine Pferdediebin war, und Pferdediebe hängte man auf!

Sie wusste nicht, ob es einen Unterschied machte, dass sie eine Frau war. Sie durfte sich einfach nicht erwischen lassen. Um ihre Spuren zu verwischen, ließ sie das Pferd lange Zeit im flachen Wasser laufen. Dann begann sie darüber nachzudenken, was nun werden sollte. Immerhin hatte sie jetzt ein Pferd, das war schon eine ganze Menge. Das einzige, was sie mit Sicherheit wusste, sie würde nicht nach Richmond zurückkehren. Aber das war alles. Sie hatte keine Ahnung, wie ein Ziel oder ein Plan aussehen konnten. Mit ihrem völlig zerrissenen Kleid konnte sie jedenfalls keinem Menschen unter die Augen treten.

Sie hatte kein Geld, nichts zu essen und in der Nacht würde sie grauenhaft frieren. Doch dann fielen ihr die Satteltaschen ein. Vielleicht würde sich darin irgendetwas Brauchbares finden!

»Okay«, sagte sie laut und streichelte dem Pferd den Hals, »machen wir einen Schritt nach dem anderen. Im Augenblick müssen wir nur überleben, erst einmal bis morgen. Wenn wir Freunde werden, Pferd, dann könnten wir das zusammen schaffen.«

Der Graue trottete brav im flachen Wasser voran, und Hermon ließ die Zügel nun locker.

Ein frischer Wind strich ihr durch die Locken. Die grauen Wolken hatten sich verzogen, nur ein paar dünne Schleierwolken verdeckten die Sonne.

Hermon begann zu frieren. Es war noch zu früh im Jahr, um ohne Mantel auszugehen. Trotzdem war sie zuversichtlich und genoss die Stille um sich herum.

  DIE WILDNIS, April 1965

 

 

   Dem Tageslicht nach zu urteilen musste bereits später Nachmittag sein. Hermon war gut vorangekommen und keiner Menschenseele begegnet. Sie beobachtete die Umgebung sehr aufmerksam. Die Angst verursachte ein flaues Gefühl in ihrem Magen, ganz zu schweigen von dem Hunger, der nun darin wühlte. Sie hatte nicht gewagt, eine Pause zu machen.

Nun war sie allein irgendwo in der Wildnis, hatte keine Ahnung, ob es hier gefährliche Tiere gab oder wo sich die nächste Siedlung befand. Um sich selbst Mut zu machen, sprach sie mit dem Pferd: »Weißt du, ich bin wohl ziemlich verrückt! Mir ist kalt, mein Magen knurrt, und ich habe keine Ahnung, wo ich etwas Essbares herbekommen soll. Das Problem hast du wenigstens nicht. Und in ein paar Stunden wird es Nacht werden, was mache ich dann?«

Je länger Hermon über ihre Situation nachdachte, umso mulmiger wurde ihr nun.

»Ich bin nicht nur verrückt, ich bin wahnsinnig! Ich hätte nie einfach aus Richmond wegrennen dürfen. Aber zum Umkehren ist es zu spät.«

Über ihrem Kopf hüpfte ein Eichhörnchen durchs Geäst, und ein Vogel flatterte auf.

Bloß nicht in Panik geraten!  

Das Pferd änderte eigenmächtig die Richtung.

»Heh, was soll das!«, sagte Hermon. Doch das Tier folgte seinem Instinkt. Kurze Zeit später hörte sie das Geräusch fließenden Wassers und entdeckte den Bach. Sie saß ab, ließ das Pferd saufen und schöpfte Wasser mit der hohlen Hand. Dann dehnte und streckte sie sich, blickte sich um und sah, dass der Bachlauf ein Stück weiter durch eine kleine Lichtung floss.

»Untersteh dich, mich zu beißen, Pferd!« Sie griff nach dem Zügel, »glaub ja nicht, dass ich deine schlechten Manieren vergessen habe! Komm, wir sehen uns hier mal um.« Sie führte den Grauen zu der Lichtung unter hohen Laubbäumen. Und dann sah sie etwas Wunderbares! Da stand ein halb zerfallener Holzschuppen unter tief hängenden Ästen. Das Dach war teilweise eingestürzt, trotzdem würde er für die Nacht Schutz bieten.

Hermon näherte sich vorsichtig. Alles war still und verlassen. Wer mochte hier eine Hütte gebaut haben? Möglicherweise ein Jäger. Die Tür war noch intakt. Hermon band das Pferd fest, dann öffnete sie die Tür vorsichtig. Der Schuppen war leer bis auf ein paar Trümmer des beschädigten Daches. Eine große Spinne ließ sich an einem Dachbalken herab. Sie ging wieder nach draußen und brach einen langen Ast ab, denn sie wollte sich vergewissern, dass sich keine Schlangen oder anderes Getier in den Ecken versteckten.

Den Stock weit vorgestreckt fuhr sie durch jeden Winkel, scheuchte aber nur zwei Mäuse auf. Dann sattelte sie das Pferd ab, nahm die Satteltaschen herunter und zog unter den Riemen eine Decke hervor.

»Du hast deine Sache gut gemacht, Pferd!« Sie legte alles auf die Erde. Der Graue wandte ihr den Kopf zu. »Nicht beißen, Pferd!«

Er stieß sein Maul nur gegen ihre Schulter, und sie kraulte seinen Hals. Dann machte sie sich daran, die Beute zu untersuchen.

In der ersten Tasche fand sie Kochgeschirr, eine Blechtasse, einen Löffel und ein Jagdmesser in einer Lederscheide. Aufgeregt suchte sie weiter und holte ein zusammengerolltes Stoffbündel hervor. Es enthielt ein ziemlich hartes Brot, ein Stück Speck und ein Stück Käse.

»Himmel, ich habe etwas zu essen!« Sie fand noch eine Blechflasche, einen Beutel mit Hafer, eine Dose Kautabak und eine halbe Flasche Whisky.

Bis auf Brot, Käse und Speck packte sie alles wieder ein. Die zweite Tasche war so voll gestopft, dass sie sich nicht richtig hatte schließen lassen. Sie enthielt Kleidungsstücke. Hermon zog die zusammengerollten Teile alle heraus, eine Baumwollhose, graue Winterunterwäsche, ein Paar Socken und ein buntes Flanellhemd. Der Besitzer hatte wohl seine gesamte Ausrüstung in die Taschen gepackt.

Hermon hielt die lange Unterhose hoch. Der Mann war wohl nicht besonders groß. Als sie den Ledersack genauer besah, entdeckte sie eine Innentasche. Darin fand sie einen Revolver Marke Colt, ein Päckchen Munition, eine Schachtel mit Zündhölzern und einen ziemlich schweren Lederbeutel. Hermon öffnete ihn und traute ihren Augen nicht, denn er enthielt ein Bündel Dollarnoten und eine Handvoll Kleingeld.

»Wahnsinn!«, murmelte sie. Plötzlich sah die Welt ganz anders aus. »Lass es dir schmecken, Pferd! Jetzt können wir überleben!«

Sie legte die Sachen auf den Boden, nur das Geld steckte sie gleich wieder in die Tasche. Dann lauschte sie einen Augenblick auf die Geräusche im Wald. Sie durfte nicht leichtsinnig werden, musste wachsam bleiben. Doch außer dem leisen Rauschen der Bäume im Wind war nichts zu hören.

Da sie inzwischen erbärmlich fror, zog sie das zerrissene Kleid und den Unterrock aus und schlüpfte in die lange Männerunterwäsche. Die Sachen waren kaum zu groß, herrlich warm und rochen gewaschen. Darüber zog sie das Flanellhemd und die blaue Baumwollhose, die ihr zu weit war, sich aber mit dem dazugehörigen Gürtel halten ließ. Wenigstens war ihr jetzt nicht mehr kalt.

Kleid und Unterrock rollte sie zusammen und stopfte beides in die Tasche. Dann beschäftigte sie sich mit dem Revolver. Gavin hatte ihr und Mel zum Spaß das Schießen beigebracht, und beim Wettschießen hatte sie manchmal gewonnen. Nun war sie froh, dass sie mit der Waffe umgehen konnte. Sie schob Patronen in die sechs Kammern und fühlte sich nun ein bisschen beruhigt. Dann trug sie all die Sachen in die Hütte und machte sich aus der Decke und den Taschen ein Nachtlager. Im letzten Tageslicht setzte sie sich vor die Hütte und aß von dem harten Brot und dem Käse, dazu trank sie frisches Wasser aus dem Bach. Es schmeckte wunderbar. Als sie satt war, überfiel sie eine große Erschöpfung. Sie packte zusammen und band das Tier los: »Komm, Pferd, gehen wir schlafen. Da drinnen ist für uns beide Platz!«

Sie zog den Grauen in die Hütte und schloss die Tür. Da sie sich nicht verriegeln ließ, band sie das Pferd so an, dass es mit dem Hinterteil genau davor stand. Sie streichelte es noch einmal: »Schlaf gut, Pferd. Und wenn du was hörst, weck mich!«

Sie legte sich auf ihr Lager und wickelte sich in die Decke, den Revolver griffbereit neben sich und schloss erschöpft die Augen. Sie spürte, dass es kaum eine Stelle an ihrem Körper gab, die nicht schmerzte. Aber bevor sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, war sie schon eingeschlafen.

 

Es war das leise Scharren der Pferdehufe, das Hermon weckte. Sie hielt die Augen geschlossen, wollte noch nicht zurückkehren in die Gegenwart ihrer Familie. Doch etwas stimmte nicht. Der Geruch! Das war nicht ihr Zimmer!

Da schlug sie die Augen auf. Es war schon hell, und sie erkannte, dass die Bilder in ihrem Kopf von einer wilden Flucht aus dem brennenden Richmond kein Traum gewesen waren.

Warm in eine Decke gewickelt sah sie über sich das beschädigte Hüttendach, und vor der Tür stand ein Pferd. Da kam die Erinnerung an ihre zweifelhafte Heldentat zurück, dass sie den Yankees einen Gaul unter der Nase weggeklaut hatte, und dann musste sie lachen. Über dem Loch im Dach sah sie den blauen Himmel, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen.

Sie streckte sich genüsslich und stand auf. »Guten Morgen, Pferd, ich hoffe, du hast gut geschlafen!« Der Graue zuckte mit den Ohren. Hermon zeigte ihm die Hand mit den gespreizten Fingern: »Versuch ja nicht wieder, mich zu beißen! Du kannst den Blödsinn lassen. Ich denke, wir sind jetzt Freunde!«

Der Graue schreckte vor ihrer Hand zurück, doch dann drehte er den Kopf zur Seite und rieb die Nase an ihrer Schulter.

»Ok, Entschuldigung angenommen, und jetzt schieb mal deinen dicken Hintern zur Seite!« Hermon öffnete die Tür einen Spalt breit und sah hinaus. Alles war friedlich und still. Doch immerhin war es möglich, dass die Yankees ihr Pferd suchten. Gestern waren sie wahrscheinlich zu betrunken gewesen, aber inzwischen hatten sie es sicher bemerkt.

Hermon hoffte, sie würden ihre Spur am Flussufer verlieren.

Über ihr im hellen Frühlingsgrün der Buchen begann ein Vogel zu singen, und die aufgehende Sonne übergoss den Horizont mit goldenem Licht.

Hermon stand still und sah voller Bewunderung in den leuchtenden Morgen.

»Komm raus, Pferd, es wird ein wunderschöner Tag werden!« Sie band den Grauen an einen Baum, wo er genug zu fressen fand, ging zum Bach, und wusch sich im kalten Wasser. Sie musste vorsichtig sein, denn die Schrammen auf ihren Handflächen waren empfindlich und der Riss auf ihrer Wange schmerzte. Als sie die Hose auszog, entdeckte sie eine Menge blaue Flecken und Verletzungen an ihren Beinen. Obwohl die Luft kühl war, tat ihr das kalte Wasser gut. Dann zog sie die warmen Sachen wieder an und kehrte zur Hütte zurück. Ihr Zopf hatte sich gelöst und dicke, lockige Strähnen fielen ihr über die Schultern.

Das Pferd stand friedlich grasend neben der Hütte, und auch sie hatte nun Hunger.

Nach kurzem Zögern entschloss sie sich, ein Feuer zu machen und sammelte trockenes Holz. Mit dem Jagdmesser grub sie eine flache Mulde in die Erde, stapelte das Holz über ein paar dünnen, trockenen Ästen, suchte die Zündhölzer aus der Tasche und zündete es an. Als die ersten Flammen hochschlugen, blies sie eifrig hinein, bis auch die stärkeren Äste Feuer gefangen hatten. Dann füllte sie am Bach die Feldflasche und den kleinen Blechtopf, der mit drei Füßen versehen war, tat von dem Hafer hinein und stellte ihn in die Glut. Während sie wartete, streckte sie sich im Gras aus, lauschte dem Gesang der Vögel und genoss die Wärme der Sonne. Sie hatte das Gefühl, mit dem Pferd allein auf der Welt zu sein, und das war ihr gerade recht. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei. Dieses Gefühl war wunderbar und stärker als die Furcht vor dem Fremden und Ungewissen. Was für ein traumhafter Morgen!

Hermon trank von dem frischen Wasser, während auf der Feuerstelle der Haferbrei brodelte. Schließlich nahm sie ihn vom Feuer, rührte ihn um, bis er abgekühlt war und begann zu essen. Obwohl der Brei klumpig und ein bisschen angebrannt war, schmeckte er köstlich. Sie aß alles auf. Dann löschte sie das Feuer sorgfältig und trank noch einen Schluck Wasser. Das offene Haar fiel ihr über die Schultern. Sie nahm es zusammen und begann es im Nacken zu flechten. Plötzlich kam ihr eine Idee. Hatten Beth und Cathy nicht immer behauptet, sie sähe aus wie ein Junge?

Nun trug sie Männerkleidung. Ihr kleiner Busen war unter dem weiten Hemd nicht zu sehen. Das einzige, was sie als Mädchen erkennbar machte, waren ihre langen Haare.  

Kurzerhand holte sie das Jagdmesser hervor und begann es Strähne für Strähne abzuschneiden. Als sie fertig war, lag ein Berg brauner Locken vor ihr auf der Erde. Sie fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das struppige, kurze Haar, das nun wild um ihren Kopf stand. Aber sie wusste auch, dass es wahrscheinlich furchtbar aussehen musste. Deshalb ging sie zum Bach und machte es nass, sodass es sich in kleinen Löckchen um ihren Kopf ringelte. Danach schüttelte sie sich, bis die Wassertropfen spritzten. Es fühlte sich so wunderbar leicht an.

Hermon kehrte zur Hütte zurück und packte ihre Sachen zusammen. Den Beutel mit dem Geld befestigte sie an ihrem Gürtel, und den Revolver steckte sie ganz oben in die Satteltasche. Gerne hätte sie sich noch eine Weile in die Sonne gesetzt, doch die Gefahr, dass die Yankees nach ihr suchten, war zu groß. Sie wuchtete mit einiger Mühe den schweren Sattel auf den Pferderücken und zog den langen Bauchriemen durch die Schlaufen. Bevor sie aufsaß, sah sie sich noch einmal um. Die Feuerstelle!

Sie deckte die noch heiße Asche und die Haarsträhnen mit Erde und trockenem Laub zu. Dabei fiel ihr auf, dass die Pferdehufe auf dem weichen Boden der Lichtung deutliche Spuren hinterlassen hatten. Ein guter Spurenleser erkannte sein Pferd an den Hufen, das hatte Gavin ihr beigebracht.

Sie bündelte eine Handvoll Äste und verwischte die Hufspuren so gut es ging. Dann saß sie auf und machte sich auf den Weg, immer weiter nach Norden.

Die Sonne fiel durch das frische Frühlingslaub und ein sanfter Wind wehte ihr die Locken in die Stirn.

Als sie Stunden geritten war, fragte sie sich, ob ganz Virginia aus Wald bestand. Wo waren die Felder, auf denen all der Tabak wuchs? Oft war das Unterholz so dicht, dass sie kaum vorankam. Zwischen den Buchen wuchsen Hickorys und riesige Tulpenbäume, die alles überragten.

Sie erschrak, als plötzlich ein Fuchs aus dem Unterholz schoss, aber das Pferd blieb unbeeindruckt. Die Sonne stieg höher, warf ihre Strahlen durchs Geäst, und der Wald wurde licht und freundlich. Der dicke Laubteppich, der den Boden bedeckte, verschluckte das Geräusch der Hufe. Die Umgebung war nun gut zu überschauen, und die Sonne zeigte ihr die Richtung.

An einem Bach beschloss Hermon, eine Rast zu machen, denn Rücken und Beine schmerzten von dem langen, ungewohnten Reiten. Sie ließ das Pferd saufen, füllte ihre Wasserflasche und dann aß sie ein kleines Stück von dem harten Brot. Wenn sie es gut einteilte, würde das Essen noch etwa zwei Tage reichen. Das letzte Stück Brot wickelte sie wieder sorgfältig ein und strich die Locken aus der Stirn, was für ein fremdes, wundervolles Gefühl.

Diese ewige Spannung aus Kopf und Nacken war verschwunden. Ihr Kopf fühlte sich so frei an, keine Spur von Kopfschmerzen. Womöglich lag es an den kurz geschnittenen Haaren. Sie ließ die Finger noch einmal durch die Locken gleiten. Ihr war warm. Sie blieb noch eine Weile am Bach sitzen und sah dem Wasser zu, wie es zwischen den Steinen dahinsprudelt, und sie wunderte sich, dass bis jetzt alles so einfach gewesen war. Niemand schien ihr zu folgten.

Die Stille des Frühlingswaldes, in dem kein menschliches Wesen zu sein schien, über ihr das leise Rauschen der Blätter, Vogelgezwitscher, und das gleichmäßige Geräusch des fließenden Wassers ließen eine große, nie gekannte Ruhe über Hermon kommen. Sie verlor jedes Zeitgefühl und wusste nicht, wie lange sie am Wasser gesessen hatte, als sie wieder aufbrach. Das Pferd lief munter drauf los.

Dann kam sie auf einen Weg. Er war breit, von vielen Pferdehufen ausgetreten, und Wagen hatten tiefe Spuren hinterlassen. Die Armee musste diesen Weg benutzt haben. Er führte nach Westen und Hermon beschloss, ihm erst einmal zu folgen.

Das Pferd zuckte bereits mit den Ohren, bevor sie die Wegbiegung überschauen konnte. Augenblicklich verließ sie den Weg und verschwand im Unterholz. Und dann sah sie die Truppe Blauröcke kommen. Das Herz blieb ihr vor Schreck fast stehen. Hastig saß sie ab, zog das Pferd tiefer ins Gebüsch und legte ihm die Hand über die Nüstern.

Aber die Yankees kamen ihr entgegen. Es dürften wohl kaum Leute sein, die nach ihr suchten.

Sie zogen vorbei. Hermon atmete auf. Sie setzte ihren Weg fort und ritt bis zum späten Nachmittag. Es war Zeit, einen Platz für die Nacht zu suchen, denn sie fühlte sich erschöpft, hungrig und jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte inzwischen. Sie verließ den Weg und ritt in den Nadelwald zu ihrer Rechten. Schließlich entdeckte sie einen Baum an einem Hang, dessen Wurzeln an der abschüssigen Seite so weit in die Luft ragten, dass darunter ein höhlenartiger Hohlraum entstanden war. Immerhin, das war besser als nichts.

Um den Eingang zu verdecken, schnitt sie ein paar Äste, sattelte das Pferd ab, setzte sich auf die Erde und aß die Hälfte ihrer letzten Vorräte auf.

Als sie das harte Brot kaute, begann sie darüber nachzudenken, was nun werden sollte. Sie musste eine Ortschaft finden, in der sie etwas zu essen kaufen konnte. Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Irgendwo in nordwestlicher Richtung von Richmond aus gesehen lag die Stadt Charlottesville. Sie hatte keine Vorstellung, wie groß die Strecke war, die sie zurückgelegt hatte. Wenn es ihr gelang, diese Stadt zu finden, konnte sie einkaufen. Aber was dann? Das Geld würde nicht ewig reichen. Sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun sollte.

»Weißt du, Pferd, ich werde mir am besten Gedanken darüber machen, wenn es so weit ist!«, schob sie jedoch die Entscheidung auf und packte die übrigen Vorräte ein. Den Sattel und die Taschen schob sie in die kleine Höhle, breitete die Decke aus, prüfte noch einmal, ob das Pferd richtig angebunden war und klopfte ihm den Hals: »Sag mir Bescheid, wenn jemand kommt, aber rechtzeitig.«

Bevor sie sich in der Höhle zusammenrollte, legte sie den Revolver griffbereit unter die Taschen.

Obwohl sie todmüde war, konnte sie nicht einschlafen. Ihr Herz klopfte laut, sie lauschte auf jedes Geräusch, das Rauschen der Bäume im Wind, hin und wieder ein leises Knacken im Geäst. Manchmal war ihr, als höre sie Stimmen oder Schritte. Doch das Pferd rührte sich nicht.

Die hereinbrechende Dämmerung machte alles noch unheimlicher. Aber der Himmel war klar und es war Vollmond. Die Nacht würde nicht stockdunkel werden. Doch je mehr die Umrisse der Bäume verschwammen, umso größer wurde ihre Angst. In der Hütte hinter einer geschlossenen Tür hatte sie sich einigermaßen sicher gefühlt. Hier draußen im Freien wurde sie das Gefühl nicht los, dass Augen auf sie lauerten. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ihr einziger Trost war das Pferd. Sie versuchte die Augen geschlossen zu halten, um einzuschlafen. In ihrer Nase war der Geruch nach Moos und feuchter Erde und ihr Magen knurrte vor Hunger, ein eigenartig fremdes Gefühl. Sie hatte nie Freude am Essen gehabt und auch nie wirklich Hunger. Es war nichts weiter als eine Notwendigkeit für sie gewesen. Und trotzdem hatte sie nicht Cathys Wespentaille.

Ein Windstoß fuhr durchs Geäst. Der Baum, unter dessen Wurzeln sie lag, ächzte über ihr, und sie spürte die Bewegung in seinem Stamm. Es hatte jedoch nichts Bedrohliches, machte den Baum vielmehr zu einem lebendigen Wesen, das Schutz gab. Sie entspannte sich ein wenig, ihr Herz fand langsam wieder seinen normalen Rhythmus.

Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Im fahlen Mondlicht bewegten sich die Äste wie Gespensterarme. Besser nicht hinzusehen. Mit der Dunkelheit war auch die Kälte gekommen. Hermon fror. Sie rollte sich ganz fest zusammen und drängte sich in den hintersten Winkel der Höhle. Aber der Schlaf wollte einfach nicht kommen.

Die Nacht schien endlos zu sein. Manchmal bewegte sich das Pferd. Einmal raschelte etwas ganz nah im Gebüsch. Hermon lag wie erstarrt. Irgendwo schrie ein Nachtvogel, dann wieder Stille, nur hoch über ihr das eintönige Rauschen der Bäume. Ihr Körper schien sein Gewicht zu verlieren, sich aufzulösen. Sie spürte den Knoten in ihrem Bauch nicht mehr. Sie schwebte im fahlen Mondlicht durchs schimmernde Grün.

Das Pferd stampfte, stieß heftig die Luft durch die Nüstern. Etwas brach durchs Gebüsch. Hermon schreckte mit wild hämmerndem Herzen hoch. Sie stieß sich den Kopf an einer Wurzel, griff nach dem Revolver, strampelte sich aus der Decke und versuchte etwas zu erkennen.

Es knackte im Unterholz. Das Pferd gab ein leises, drohendes Wiehern von sich. Aber das Geräusch entfernte sich. Hermon atmete auf. In der Wildnis Virginias sollte es wohl auch Bären geben! Sie lauschte noch lange, bis sie sich wieder in der Höhle zusammenrollte, die Waffe dicht neben sich. Schlafen wollte sie nicht mehr.

 

Hermon blinzelte. Ein Sonnenstrahl, der sich den Weg durchs Geäst gesucht hatte, stach ihr ins Gesicht. Es war heller Tag und die Morgensonne hatte den Wald in einen goldenen Schleier gehüllt. So war sie also doch eingeschlafen!

Sie dehnte ihre kalten, steifen Glieder, räkelte sich, um ihren Körper wieder zu spüren, stand auf, ging zum Pferd und schmiegte sich an sein warmes Fell. Dort blieb sie eine Weile stehen. »Ich bin so froh, dass du da bist, Pferd, so bin ich wenigstens nicht ganz allein. Ohne dich wäre ich ganz schön aufgeschmissen!« Hermon streichelte seinen Hals und es rieb die Nase an ihrer Schulter. Sie grub eine Mulde, machte Feuer und wärmte die kalten Hände. Über der Glut kochte sie die Hälfte des letzten Hafers. Es war nicht viel, und es reichte nicht halbwegs, um ihren Hunger zu stillen. Trotzdem war es besser, noch einen Rest aufzuheben.

Als der Brei fertig war, aß sie sehr langsam Löffel für Löffel, und zum Schluss leckte sie alles sorgfältig sauber. Wenigstens gab es genug Wasser, um ihren Durst zu löschen. Das Pferd musste eben warten, bis sie eine Wasserstelle fanden. Dafür hatte es genug Gras, um sich satt zu fressen.

Nachdem sie die Feuerstelle zugeschüttet hatte, packte sie zusammen, stieg in den Sattel und kehrte zurück auf den breiten Weg. Irgendwo musste er ja hinführen. Langsam wurde ihr warm, und sie fühlte sich besser.

Einmal kam ihr ein Wagen entgegen. Es waren keine Soldaten, und sie überlegte, nach dem Weg zu fragen. Doch auf dem Bock saßen zwei Männer. So zog sie es vor, sich in den Büschen zu verstecken, bis das Gefährt vorbei war.

Am späten Nachmittag zogen Wolken auf, und es begann zu regnen. Hermon ritt noch eine Weile im Schutz der Bäume weiter, doch der Regen wurde stärker und ihr war klar, dass sie in der Nacht bitterlich frieren würde, wenn ihre Kleider durchnässt waren. Sie fand einen Felsüberhang, der Schutz vor dem Regen bot. Dort sattelte sie ab und brachte ihre Sachen in die trockene Nische.

Als sie auf die Geräusche lauschte, bemerkte sie, dass das Rauschen nicht nur vom Regen kam. Nicht weit entfernt floss ein munterer Bach. Hermon zog ihre Kleider aus, legte die Sachen an einen trockenen Platz und wusch sich im eisig kalten Wasser. Es war ein herrlich prickelndes Gefühl. Sie rieb sich mit dem feuchten Hemd trocken, zog wieder die graue Unterwäsche an, und breitete die feuchten Kleider zum Trocknen über die Satteltaschen. Dann streckte sie sich auf ihrer Decke aus, lauschte dem Regen und wunderte sich, wie unbeschwert sie sich allein in der Wildnis fühlte. Das einzige wirkliche Problem war der Hunger. Das letzte harte Stück Brot in ihrem Gepäck war nicht größer als ihr Daumen. Sie musste unbedingt eine Ortschaft finden! Wo um Himmelswillen sollte sie sonst etwas zu essen herbekommen?

Auch das Pferd war unzufrieden, denn der vermooste Waldboden bot ihm nur wenig zu fressen und es rupfte die jungen Blätter von den Bäumen.

Hermon beobachtete ein Eichhörnchen, das über ihr im Baum herumsprang. Dann blieb es auf einem dicken Ast sitzen und nagte an etwas. Ohne nachzudenken, griff sie nach ihrem Revolver, spannte den Hahn, zielte wie beim Dosenschießen mit Gavin und drückte ab.

Der Knall hallte laut durch den stillen Wald. Hermon erschrak, als das Tier vom Baum fiel, und im selben Moment tat es ihr leid. Aber ihr Verstand sagte, dass sie etwas zu essen hatte. Sie stand auf und holte das Tier. Die Kugel hatte ihm fast den Hals abgerissen. Mit dem Jagdmesser trennte sie mit geschlossenen Augen den Kopf ab und schleuderte ihn ins Gebüsch. Dann machte sie sich mit ziemlichem Ekel daran, das Tierchen abzuziehen und auszunehmen, was eine Menge Zeit in Anspruch nahm.

Es gelang ihr, unter dem schützenden Felsen ein Feuer anzuzünden. Sie spießte das Tier auf einen Stock und begann es zu braten. Als das Fleisch gar zu werden begann, verschwand der Ekel, und der Hunger kam zurück.

Es regnete noch immer. Die Dämmerung senkte langsam ihre Schatten über den Wald. Hermon machte sich über den kleinen Braten her und nagte jedes Knöchlein ab. Dann baute sie sich unter dem Felsendach ihr Nest und war froh über die Wärme des Feuers. Bevor sie sich in die Decke rollte, zog sie die Sachen wieder an, die einigermaßen trocken geworden waren und lud den Revolver nach. Sie streichelte das Pferd noch einmal, kroch in ihr schützendes Lager und schlief auf der Stelle ein.

 

Am nächsten Morgen war das Leben im Freien schon fast Routine geworden. Sie konnte kaum glauben, dass sie noch vor wenigen Tagen in Richmond in ihrer Dachkammer geschlafen hatte. Das alles war so weit weg, wie in einem anderen Leben.

Zufrieden aß sie den letzten Rest Haferbrei und machte sich erneut auf den Weg. Es regnete noch immer. Bis Mittag war sie völlig durchnässt.

Kein Stück Wild ließ sich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elvira Henning/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3399-6

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