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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

Kandlbinder und

das Ende aller Straßen

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

KANDLBINDER UND DAS ENDE ALLER STRASSEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

München, 1964.

Seit einem Jahr ist Bert Hufnagel, Chef-Cutter bei der Münchner Gibraltar-Film, spurlos verschwinden. David Hirschbrunn, der Regisseur des Films Einfache Fahrt in den Tod, beauftragt Privatdetektiv Jack Kandlbinder damit, nach seinem Freund zu suchen.

So betritt Kandlbinder eine Welt voll von rücksichtslosen Egozentrikern und hemmungslosen Starletts, für die auch ein Mord geradezu alltäglich scheint...

 

Kandlbinder und das Ende aller Straßen von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der sechste Band der Roman-Serie um den Münchner Privatdetektiv Jack Kandlbinder. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2023 erscheint sein neues Album Kafkaland. 

 

Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de

  KANDLBINDER UND DAS ENDE ALLER STRASSEN

 

 

 

 

 

 

Ludwig 'Jack' Kandlbinder: Privatdetektiv aus München, 42 Jahre alt. 

Nora Brecht-Dubois: Schriftstellerin und Kandlbinders Geliebte.

Korbinian Russenschluck: Jacks Partner in der Detektei Kandlbinder und Russenschluck.

Sandra Büchner: Sekretärin in der Detektei Kandlbinder und Russenschluck.

David Hirschbrunn: Regisseur des Films Einfache Fahrt in den Tod.

Max Dennscherz: David Hirschbrunns Faktotum. 

Luis Reich: ein Angestellter bei den Isarfilm-Studios.

Bert Hufnagel: Chef-Cutter beim Film.

Suzanne Plato: seine E-Frau. 

Mario Selvaggiani: ein Regisseur. 

Alice Kreutz: Lektorin.

Marlon Unger: ein überaus zwielichtiger Geschäftsmann.

Stella Rowohlt: eine Schauspielerin.

Moritz Cloos: Besitzer eines Bauernhofes in der Nähe von Murnau.

 

 

Dieser Roman spielt in München im Jahr 1964.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Geräuschlos näherte ich mich dem Lichtkegel, in welchem sich zwei Männer Auge in Auge einander gegenüberstanden, wobei der eine von ihnen eine Pistole in der Hand hatte. Sie sah aus wie eine kurzläufige .38er, und der Mann, der sie in der Rechten hielt – ein großer, dunkler Typ in einem grauen Anzug – ging damit um, als sei das für ihn eine ganz alltägliche Sache. Der andere, blond, jünger und lässig gekleidet, schien zunächst wie erstarrt zu sein. Doch dann entspannte er sich zusehends und zeigte ein jungenhaftes Grinsen, das mir ein wenig klischeehaft vorkam: das Produkt ausführlicher Studien und Experimente vor einem Spiegel.

»In ein paar Minuten verschwinde ich von hier«, sagte er, »und zwar rechtzeitig, um meine Maschine nach Übersee zu erreichen. Die Pistole ist zwar recht eindrucksvoll, aber du wirst sie nicht benutzen, Paul.«

»Und warum nicht?«

Pauls Frage kam mit solch enormer Gleichgültigkeit, als sei das eine rein wissenschaftliche Hypothese, und der jüngere Mann grinste schon wieder, als er entgegnete: »Das weißt du ebenso gut wie ich. Ich bin dein Freund. Ganz gleich, was ich getan habe, es ändert doch nichts an dieser Tatsache. Vielleicht bist du ein guter Polizeibeamter; vielleicht handelst du getreu den Buchstaben deiner Anweisungen. Aber es gibt Situationen, in denen dich deine Anweisungen im Stich lassen – und dies ist eine solche Situation!«

Sein Selbstvertrauen war annähernd so überentwickelt wie sein Grinsen, und ich fragte mich, wie es Paul wohl aufnehmen würde, denn der kam mir vor wie ein nachdenklicher Mensch, ein Mann, für den Vernunftgründe maßgebender waren als Dienstanweisungen.

Nach einer kurzen Pause sagte er: »Du hast mich ausgenutzt. Du hast mich in einen Mord hineingezogen. Du hast unsere Freundschaft verraten, hast sie zerstört und erniedrigt. Unsere Freundschaft bedeutete für dich nur einen weiteren Vorteil, der es dir ermöglicht hat, deine eigenen, gesetzlosen Wege zu gehen. Verlass dich drauf: Ich werde dich dem Staatsanwalt übergeben.«

»Nein. Oh, nein!« Der blonde Bursche schüttelte den Kopf. »Du bist nun einmal so, wie du bist, Paul. Du bist zu alt, um dich von Grund auf zu ändern.« Er lachte. »Tut mir leid, dass ich dich ausgenutzt habe, wirklich. Aber du weißt ja, wie es ist: Gerät man erst einmal in Schwierigkeiten, ergreift man jeden Strohhalm, der sich einem anbietet. Auch, wenn es sich dabei um den besten Freund handelt.« Er richtete die Schultern auf mit der Geste eines Mannes, der weiß, dass er schon zu viel Zeit auf Nebensächlichkeiten verschwendet hat. Ich musste ohnehin meine Ohren anstrengen, um das Gespräch der beiden Männer erlauschen zu können, doch jetzt sagte er sogar noch leiser: »Also dann, leb wohl, alter Kumpel. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.«

Er drehte dem anderen den Rücken zu und ging zur Tür. Er hatte schon die Hand auf der Klinke, als ihn der andere zurückrief. »Karl!«

Er drehte sich um, grinste noch einmal wie gehabt, und Paul feuerte zwei Schüsse auf ihn ab. Sie klangen irgendwie unwirklich, wie das trockene, kurze Knallen von Platzpatronen, und ich konnte auch keine Einschussstellen an Karls Körper erkennen.

Dennoch zuckte Karl zusammen, fasste sich mit beiden Händen nach dem Brustkorb, sank zu Boden. Als er die Hände wegnahm, waren sie blutbeschmiert, und plötzlich sickerte auch Blut durch sein weißes Hemd. Er starrte erst auf seine Hände, dann auf Paul. Er wirkte eher überrascht als entsetzt.

Während er sich krümmte und dann flach auf dem Boden liegenblieb, versuchte ich, mir Pauls Gesichtsausdruck einzuprägen, aber ich konnte seine Züge nicht erkennen. Er schien erstarrt zu sein und hielt die Pistole noch immer schussbereit in der Rechten.

Danach folgte eine kurze, beeindruckende Stille.

Dann rief der Mann, der mit dem Rücken zu mir in einem segeltuchbespannten Klappstuhl saß: »Schnitt! So funktioniert die Szene. Ab ins Kopierwerk!«

Die dreißig oder vierzig Leute, die um den Lichtkegel herumsaßen, schienen wie aus einer einzigen Brust aufzuatmen. Scheinwerfer zischten, Kabelträger huschten herum, Schminkassistenten drängten sich um die beiden Schauspieler, denen ich eben zugesehen hatte. Der eine, der die Rolle Karls übernommen hatte, stand auf und betrachtete sein blutgetränktes Hemd mit Amüsement. Er lächelte immer noch und bewies damit, dass sein Lächeln vor der Kamera keineswegs forciert war, wie ich gedacht hatte. Den zweiten Schauspieler, der den Paul mimte, hatte ich auf den ersten Blick erkannt. Er war der große Star dieses Jahres – in einer Epoche des Films, in welcher ständiger Mode- und Geschmackswechsel alljährlich einen neuen großen Star erforderte. Wenn Leute wie er länger als ein paar Monate an der Spitze bleiben wollten, mussten sie sich ständig selbst über die Schulter schauen und die neu herandrängenden Talente scharf beobachten – und kopieren.

Der Mann, der Schnitt! gerufen hatte, war der Regisseur David Hirschbrunn, und ich befand mich im Studio 14 der Gibraltar-Filmgesellschaft, wo man gerade eine Szene des Fernsehfilms Einfache Fahrt in den Tod gedreht hatte. Der Mann rechts von mir, der mich aus dem Produktionsbungalow hierhergebracht hatte, berührte mich behutsam am Ellbogen.

»Jetzt werde ich Sie Herrn Hirschbrunn vorstellen«, raunte er.

Der Regisseur war aufgestanden und unterhielt sich mit einem der Kameraleute. Er hörte sich die Argumente des Kameramanns an, lachte dann und schaltete den Filmrücklauf ein, als ihn ein Assistent auf meine Anwesenheit aufmerksam machte. Hirschbrunn ließ den Kameramann einfach stehen und kam zu mir herüber. Dabei schubste er die Leute, die auf der Szene herumstanden, so entschieden und nachdrücklich zur Seite, dass es fast schon einen rüpelhaften Anschein hatte. Die meisten gingen ihm freilich ohnehin rechtzeitig aus dem Weg.

Er streckte mir seine Hand entgegen und sagte: »Ludwig Kandlbinder?«

Als ich sie ergriff und dazu nickte, schüttelte er sie kurz, aber hart – die übliche Chiffre, die Härte, Dynamik und Männlichkeit ausdrücken sollte.

David Hirschbrunn, der bereits auf ein halbes Dutzend wichtiger Filme zurückblicken konnte, war höchstens Anfang Dreißig – immerhin reichlich jung für einen Regisseur. Die alten Tage, in denen man erst jahrelang Erfahrungen sammeln musste, waren offenkundig vorüber. Wenn man es bis Dreißig noch nicht geschafft hatte, konnte man ruhig die Finger davon lassen und Schmierseifenvertreter werden. Hirschbrunn, in einem weißen Tennishemd und einer sorgfältig gebügelten Leinenhose, war einer von den Großen, einer, der ohne Anstrengungen jene beiläufige Atmosphäre um sich verbreitete, die Außenstehende glauben ließ, dass es beim Film ausgesprochen léger zuging. Mir kam er in etwa so léger vor wie ein Löwenbändiger, und wenn nicht die Härte seines Händedrucks diese nachlässige Haltung bereits Lügen gestraft hätte, dann wäre es mir spätestens beim ersten Blick in seine fanatischen Augen aufgefallen. Blau und fast unangenehm klar: die Augen eines Menschen mit Sendungsbewusstsein – eines Mannes, dessen Blick weder nach rechts noch nach links abschweifte, ganz  gleich, was es dort Schönes zu sehen gab. Sein dichtes, lockiges Haar fiel ihm in die Stirn, und sein Gesicht war zu rund, um attraktiv zu wirken. Aber die Augen, zusammen mit dem breiten Mund und seiner gebogenen Nase, verwandelten ihn in eine Persönlichkeit, an deren Gesicht man sich erinnerte, und verbreiteten vielleicht mehr Faszination, als das bei einem nur gutaussehenden Burschen der Fall war. Er hielt sich wie eine Kämpfernatur, und ich nahm an, er war auch eine.

»Sind Sie schon lange hier?«, fragte er.

»Erst seit dem letzten Take.«

»Könnten Sie noch einen Augenblick warten, bis ich ein paar Großaufnahmen im Kasten habe?« Er besaß die fette, nasale Stimme eines Mannes, der wahrscheinlich zu viel rauchte. »Es dauert hoffentlich nicht länger als eine halbe Stunde, aber bei unserem verrückten Beruf kann man das nie so genau vorhersagen. Es brennt schließlich immer mal wieder ein Scheinwerfer durch, oder ich entdecke einen Schatten, dort, wo keiner sein soll – ich fürchte, eine ziemlich langweilige Angelegenheit für Zuschauer.«

»Kümmern Sie sich nicht um mich. Ich bin mehr an Ihrer Arbeit interessiert als die üblichen Besucher im Atelier.«

»Ach ja, ich erinnere mich. Man hat mir gesagt, dass Sie ein Filmfan seien.«

Das gab mir zu denken. Ich wusste nicht, wer mich ihm empfohlen hatte, und wieso er ausgerechnet auf mich gekommen war. Und ich hatte bislang auch noch nicht den Hauch einer Ahnung, in welcher Weise ich ihm behilflich sein sollte.

»Wir unterhalten uns während des Mittagessens«, fuhr er fort, »vorausgesetzt, es passt in Ihren Zeitplan, Kandlbinder.«

»Es passt vorzüglich.«

Während ich wartete, dachte ich über Hirschbrunns Filme nach. Ich mochte sie übrigens nicht – eine Antipathie, mit der ich mich in der Minderheit befand, aber immerhin in einer Minderheit, die Nora Brecht-Dubois und ein paar andere gescheite Leute einschloss, nicht zuletzt eine brillante und nonkonformistische Filmkritikerin einer großen Münchner Tageszeitung. Hirschbrunn gehörte zu jenen Jungfilmern, die anstatt überzeugende, logische Kameraführung zu erarbeiten, fast ausschließlich mit dem Zoom arbeiteten. In seinen Filmen gab es keine langen, flüssigen Szenen, sondern zuckende, sprunghafte Aktionen, die einen letzten Endes ebenso abstumpfen, als müsste man ununterbrochen Ohrfeigen entgegennehmen. Rasche, abrupte Schritte verbargen die Schwächen dieser Aufnahmetechnik, und das hatte zur Folge, dass den meisten Zuschauern Hirschbrunns im Grund unbewegte, starre Kamera gar nicht weiter auffiel. Ich allerdings vermisste in seinen Filmen die lange durchdachten Einstellungen eines sich weniger modisch gebenden Regisseurs, der das Tempo aus dem Film selbst bezog, nicht aus den nachträglichen, brutalen und übertriebenen Schnitten.

Aber ich wusste zugleich, warum ein Mann wie Hirschbrunn heutzutage ganz oben stand auf der Erfolgsleiter der Studios in Berlin und München. Seine Filme brachten das große Geld. Er kam vom Fernsehen, hatte viele Fernsehspiele live inszeniert und war es gewöhnt, unter Druck zu arbeiten, so dass er im Nu einen neuen Film abgedreht hatte und dadurch nicht selten eine Spannung und Erregung erzeugte, nach der man sich im Drehbuch vergebens umgesehen hätte. Eine der Folgen dieser Drehtechnik bestand darin, dass seine Filme in fast vulgärer Weise emotional wirkten. Und darin ließ er sich bis zum Exzess hinreißen, einen Exzess, den die meisten seiner Fans für unwiderstehlich hielten.

Nachdem er die Dreharbeiten für die Mittagspause abgebrochen hatte, schlug Hirschbrunn vor, ins Kasino der Produzenten zum Essen zu gehen. Ungeduldig schüttelte er ein paar lästige Leute ab, aber einer davon, ein schlanker, gutaussehender Bursche, der eigentlich eher vor als hinter eine Kamera gehört hätte, war hartnäckiger als die übrigen.

»David«, sagte er, »ich sollte dich an die Hunde erinnern, die du für die Takes heute Nachmittag brauchst. Hast du sie vergessen?«

»Okay«, knurrte der Regisseur gutmütig, »du hast mich daran erinnert, und ich habe die Hunde nicht vergessen.«

»Um 17.00 Uhr bist du beim Schneider bestellt.«

»Lächerlich. Ruf ihn an; ich kann nicht kommen.«

»Und da ist noch die Option auf diesen Roman, David. Ich glaube nicht, dass Harald Laux...«

»Harald Laux soll zum Teufel gehen. Er kann warten. Er hat einfach zu warten!«

Die Augen des Jungen waren mit einer derartigen Intensität auf Hirschbrunn gerichtet, dass er mich noch gar nicht bemerkt hatte. Er war blond und muskulös, aber sein übertriebener Eifer, typisch für ein Faktotum beim Film, beeinträchtigte die gute Wirkung. Er trug einen teuren Kaschmirpulli, und um seinen Hals hing eine Kette mit einem Eisernen Kreuz aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Jugend von heute und ihr Spielzeug. Er musste noch in den Windeln gelegen haben – wenn er den Zweiten Weltkrieg überhaupt noch mitbekommen hatte.

Aber nein – er war höchstens siebzehn, achtzehn: ein gebildeter, selbstsicherer Jüngling, wenn man einmal von seiner unterwürfigen Haltung gegenüber Hirschbrunn absah.

Schließlich fragte er: »Brauchst du mich noch, David?«

»Nein, momentan nicht. Ich gehe mit Herrn Kandlbinder ins Kasino zum Essen.«          

Wir traten hinaus in das grelle Sonnenlicht. Hirschbrunns Schritte waren fest und rasch, aber ich kam ohne große Mühe nach.

Um die Konversation in Gang zu halten, fragte ich: »Wer war denn das eben?«

Hirschbrunn lachte. »Max Dennscherz. Jeder in unserem Geschäft braucht einen Max Dennscherz. Er lebt nur, um mir gefällig sein zu können, und ohne ihn wäre ich vermutlich ganz schön aufgeschmissen – behauptet man jedenfalls. Er verhindert alle Störungen, die auf mich einzuwirken drohen, und füllt sozusagen den leeren Raum aus zwischen Leuten wie meinem Manager und meinem Agenten. Max tauchte vor drei Jahren hier auf, weil er Schauspieler werden wollte. Können Sie sich so einen Namen auf einem Vorspann denken? Ich überzeugte ihn davon, dass er es nie schaffen würde, milderte gleichzeitig den schweren Schlag und engagierte ihn für den Job, den er bis heute innehat. Eine Arbeit, die vielleicht unbedeutend aussieht, aber bedeutend mehr Sicherheit bietet als die Schauspielerei. Es heißt, wenn man David Hirschbrunn erreichen will, muss man erst an Max Dennscherz vorbei.«

»Und ist das wirklich der Fall?«

»Nein. Aber ich habe nichts gegen farbenfrohe Legenden – Sie vielleicht?«

Er steuerte mit mir auf einen ruhigen Tisch im Kasino der Produzenten zu, einer Exklave der Mächtigen neben der Abfütterungshalle für das gemeine Fußvolk.

Während er die Speisekarte studierte, fragte er: »Was halten Sie von dem, was Sie vorhin gesehen haben?«

»Faszinierend. Ich nehme an, Sie drehen die Szenen nicht der Reihenfolge nach.«

»Das tun wir fast nie, aber warum erwähnen Sie es?«

»Sie haben noch viel Arbeit an dem Film vor sich, doch das ist vermutlich eine der letzten Szenen.«

»Richtig. Woher wissen Sie das, Herr Kandlbinder?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kenne das Buch. Meines Wissens ist es dort allerdings ein wenig anders. Der Polizist lässt Karl ungeschoren davonkommen. Er kann ihn einfach nicht niederschießen. Aber das haben Sie vermutlich geändert.«

»Du meine Güte – wo ich gehe und stehe, bin ich von Kritikern umgeben!« Der Regisseur warf mir einen gespielt verzweifelten Blick zu. »Das Publikum will heutzutage nicht mit Gefühlsduselei gelangweilt werden, Herr Kandlbinder. Der Kerl merkt, dass ihn sein Freund als Schutzschild für einen Mord benutzt hat. Außerdem ist er Polizist, und als solcher muss er den Mord entweder verhindern oder seinen Freund hochgehen lassen. In einer solchen Situation zählen Freundschaft und Loyalität nicht viel – und kommen Sie mir bloß nicht mit den inhaltlichen Absichten des Autors. Heutzutage muss alles für die Leinwand umgearbeitet werden – und mitunter ist das sogar gut für das Werk. Außerdem leben wir in den 60ern: Freundschaft ist nichts als altmodisches Gewäsch. An so etwas glaubt heute kein Mensch mehr.«

»Ich glaube daran.«

Er schaute mich neugierig an. »Vielleicht habe ich mich deshalb entschlossen, Sie zu engagieren.«

Es war eine orakelhafte Bemerkung, aber ich wollte nicht warten, bis er sich bequemte, das Rätsel zu lösen. Nachdem unser Essen serviert war – ein Steak-Sandwich für Hirschbrunn und ein Krabbensalat für mich –, fragte ich: »Und wieso haben Sie sich für mich entschieden?«

»Sie sind mir wärmstens empfohlen worden. Ich habe neulich Waldo Böttcher getroffen und ihm zufällig gesagt, dass ich einen Privatdetektiv brauche. Und er meinte, Sie seien einer von den Besten.«

Ich nickte. Jetzt war ich im Bilde.

Waldo Böttcher war ein Komponist, der die Musik zu einem von Hirschbrunns Filmen geschrieben hatte. Ein großartiger, aber sehr unglücklicher Mensch, und als vor ein paar Jahren seine Geliebte ermordet worden war, hatte ich es geschafft – nicht ohne großes Glück –, seine Verbindung zwischen ihm und der Toten nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor seiner Frau geheimzuhalten.

Nora und ich waren seitdem mit Waldo Böttcher befreundet. Vielleicht war es das, was Hirschbrunn mit seiner Bemerkung vorhin ansprach. Vielleicht gab es allerdings auch noch ein anderes Motiv, weshalb er gerade mich engagieren wollte.

»Was kann ich also für Sie tun?«, wollte ich wissen.

»Sie sollen einen Mann namens Bert Hufnagel finden. Er war bei allen meiner Filme – bis auf die beiden letzten – der Chef-Cutter, und er ist einer der Besten seines Fachs in ganz Deutschland. Oder besser, er war es. Aber Bert bedeutete mir mehr. Er war mein Freund – und das können nicht viele Leute von sich behaupten. Vielleicht hilft es uns beiden, wenn ich Ihnen ein wenig über ihn und mich erzähle. Bert hätte Regisseur werden können – ein guter Regisseur sogar, und mir war durchaus gegenwärtig, dass er diesbezügliche Ambitionen hegte. Auf technischem Gebiet ist er absolut führend, und er hat ein hervorragendes, künstlerisches Fingerspitzengefühl. Doch das reicht nicht aus für einen Regisseur unserer Tage. Man muss auch in der Lage sein, sich wie eine Hure zu verkaufen, muss Menschen und Situationen beherrschen können. Und es ist nicht von Nachteil, wenn man sich auch mit finanziellen Dingen ein wenig auskennt. Ein Regisseur muss also zugleich Hure, Manager und vielleicht auch noch Marktschreier sein. Bert Hufnagel hätte sich niemals wie eine Hure verkaufen können – dazu ist er viel zu empfindsam und zurückhaltend. Ich selbst indes... bin mit diesen zweifelhaften Fähigkeiten gesegnet. Vor fünf Jahren ist es mir gelungen, einen der bekanntesten Stars für meinen ersten Spielfilm zu gewinnen, und dadurch war ich geradezu zum Erfolg verurteilt.« Er lächelte bitter. »Ein Teil dieses Erfolges geht zweifellos auf Bert Hufnagels Schnitt zurück! Aber ich verfüge auch noch über das, was Bert fehlt: Ich beherrsche all die schäbigen, kleinen Tricks, auf die es ankommt, habe die nötige Dreistigkeit, den Ellenbogencharme – nennen Sie es, wie Sie wollen.«

»Sagen wir: Trick siebzehn.«

»Genau, das ist es. Trick siebzehn.« Er lachte. »In meinem Beruf muss man ein wandelndes Kaufhaus voll schmutziger Tricks sein, Kandlbinder, und Bert ist viel zu weich, zu empfindsam  dafür. Edward Gibbon nannte die Korruption das sicherste Erkennungsmerkmal unserer konstitutionellen Freiheit, und damit liegt er goldrichtig. Es ist das gleiche wie bei jedem anderen Geschäft. Erst Korruption bringt die Räder zum Rollen, und ich ergebe mich willig dieser Korruption. Bert konnte das nicht, und er wird es nie können. Also war und blieb er Cutter, während ich mir als Regisseur einen Namen machte. Ich erzähle Ihnen das alles, weil ich glaube, dass es ganz nützlich ist, wenn Sie die Hintergründe ein wenig kennen. Was mit Bert geschehen ist, wenn ich es einmal so bezeichnen darf, entbehrt nämlich nicht einer gewissen Logik.«

Er stocherte wenig begeistert in seinem Steak-Sandwich herum. Ich gönnte ihm eine Pause und machte mir inzwischen meine Gedanken über die wahre Natur seiner Freundschaft mit Hufnagel. Eine Freundschaft, die dem Zweck diente – zweifellos, eine reine Berufsfreundschaft. Aber war das alles? Hirschbrunns Sorgen um Bert Hufnagel schienen echt und aufrichtig zu sein.

Schließlich nahm er den Faden wieder auf: »Vor mehr als einem Jahr ist Bert plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Sonderbar und unerklärlich – vor allem in einer Branche, in der Untertauchen gleichbedeutend ist mit beruflichem Selbstmord. Aber es überraschte mich kaum. Bert war zum Trinker geworden.« Er lachte. »Auch das ist nicht gerade selten bei uns Filmleuten, ebenso wie bei Anwälten, Ärzten und ähnlichen Berufen. Vielleicht sogar bei Privatdetektiven, nach dem, was ich lese und höre über Ihren Beruf. Es gibt Leute, die mich hinter meinem Rücken Alkoholbrunnen nennen, also trage wohl auch ich ein wenig zu diesem Ruf bei. Doch Berts Alkoholismus hatte die Gefahrenmarke erreicht und nicht selten überschritten. Nicht, dass seine Arbeit darunter gelitten hätte. Aber wie auch immer, eines Tages kündigte er seine Wohnung und brach den Kontakt zu seinen sämtlichen Bekannten von heute auf morgen ab. Nachdem ich gerade eine Drehpause hatte und er in der Zwischenzeit keinen anderen Auftrag angenommen hatte, fiel es mir zunächst gar nicht weiter auf. Ich vermisste ihn erst ein paar Monate später. Ich war zu dieser Zeit intensiv mit einem neuen Projekt beschäftigt, und als alle Versuche, Hufnagel zu finden, fehlschlugen, hatte ich keine Zeit, mir allzu viele Gedanken darüber zu machen, denn ich legte gerade die Außenaufnahmen für meinen neuen Film fest, der in New York spielte.«

»Aber das dauerte doch kein ganzes Jahr«, bemerkte ich. »Warum sind Sie erst jetzt auf den Gedanken gekommen, einen Privatdetektiv auf die Suche nach Hufnagel zu schicken?«

»Darauf komme ich gleich. Wissen Sie, Kandlbinder, eigentlich stehe ich immer und ständig unter Druck. Das gehört nun mal zu unserem Beruf. Es gibt eine Redensart bei uns: Soll es ein Kunstwerk werden, oder wollen Sie den Film nächsten Donnerstag haben? Wenn man seine Karriere weiter aufbauen will, muss man sehr viel Zeit dafür aufwenden, und ich glaube, ich habe bei dem Trubel Bert schlicht und ergreifend vergessen. Das spricht vermutlich nicht für mich, aber ich will es Ihnen lediglich erklären, nicht mich dafür entschuldigen. Immerhin hat er sich niemals in der ganzen Zeit an mich gewandt; ich hörte überhaupt nichts von ihm. Unter Umständen ist es sogar richtig, wenn man den Wunsch eines Menschen respektiert, der untertauchen und verschwinden möchte. Das war jedenfalls meine Meinung – bis vor zwei Wochen. Beruflich habe ich Bert einfach abgeschrieben und mir einen neuen, hervorragenden Chef-Cutter besorgt. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Filme selbst zu schneiden, und Sie werden sich wundern, wie wenige Regisseure das in Wirklichkeit tun. Wieder ein Zeichen für den Zeitdruck, der auf die Menschen in unserem Beruf ausgeübt wird.«

»Was geschah vor zwei Wochen?«

»Eine Frau rief bei mir an. Sie meinte, es würde mich vielleicht interessieren, dass Bert Hufnagel in einer Heilanstalt für Alkoholiker sei – in der Eremitage. Sie sagte, es gehe ihm sehr schlecht.«

»Wie hieß diese Frau?«

»Oh, ihren Namen behielt sie selbstverständlich für sich.«

»Und was haben Sie unternommen?«

»Ich rief die Eremitage an. Bert war tatsächlich dort gewesen. Aber er war nach kurzer Zeit ausgerückt und hatte keine Adresse hinterlassen. Ich sprach mit einem gewissen  Doktor Kruse, der mir bestätigte, dass Bert in sehr schlechtem Zustand gewesen sei, als man ihn eingeliefert hatte.«

»Warum, glauben Sie, hat diese Frau ausgerechnet Sie angerufen?«

»Darüber habe ich lange nachgedacht. Ich denke nicht, dass Bert sie darum gebeten hat. Entweder sie kennt mich – doch das halte ich für unwahrscheinlich –, oder Bert hat von mir gesprochen. Früher oder später wird jeder Alkoholiker redselig. Nun, ich hatte mich um Einfache Fahrt in den Tod zu kümmern und ließ es dabei bewenden. Aber das Gewissen – falls es das ist, was mich plagt – ist schon etwas Sonderbares. Ich dachte, ich hätte mich vielleicht doch zu wenig um Bert gekümmert – eine Unterlassungssünde.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich hätte etwas unternehmen müssen, und zwar früher. Gerät ein alter Freund in Bedrängnis, muss man vermutlich zu Hilfe kommen. So, und damit wären wir bei Ihnen, Herr Kandlbinder. Wenn Sie wollen, übergebe ich Ihnen den Auftrag, Bert Hufnagel zu suchen.«

»Die Antwort lautet: Ja, aber ich möchte, dass zwischen uns alles klar ist. Bis jetzt gehen wir davon aus, dass sich Hufnagel hier in München oder zumindest in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3395-8

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