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Leseprobe

 

 

 

 

HARRY GENTER

 

 

MORD AM STACHUS

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

MORD AM STACHUS 

Erstes Kapitel  

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Viel Tröstliches in Bezug auf meinen Mandanten konnte ich nicht entdecken.

Nach den Ermittlungen der Polizei war die Tat etwa gegen fünf Uhr abends verübt worden. Dellborg war in seinem Büro durch einen Schuss aus nächster Entfernung niedergestreckt worden. Die Kugel musste fast augenblicklich den Tod herbeigeführt haben. Nach dem Plan, den ich bei der Akte fand, lagen die Verwaltungsbüros von Dellborg und Schimmer auf der einen Seite eines langen Ganges im 6. Stock eines modernen Hochhauses, das Dutzende von Büros und Privaträumen enthielt. Gegenüber den Büros der Immobilienfirma gab es einige Türen, die zu den Toiletten und Waschräumen sowie zu zwei kleinen Apartments führten, die von einem gewissen Andrew Nosakoff, einem russischen Emigranten, und einem Arzt namens Pulter bewohnt wurden...

 

Der Roman Mord am Stachus von Harry Genter erschien erstmals im Jahr 1967 und wurde mit dem Edgar-Wallace-Preis ausgezeichnet.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur .

  MORD AM STACHUS

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel 

 

 

»Ich nehme noch eine Karte«, sagte ich entschlossen.

Daniela Weyring schien meine Verbissenheit zu bemerken. Sie lächelte mir freundlich zu und schob mir mit ihrer sorgfältig manikürten Hand die oberste Karte des Päckchens zu. Mit einer hastigen Handbewegung wendete ich das Blatt. 

Herz sieben!

Resigniert warf ich den ganzen Kartenhaufen auf den Tisch. Ich war Zeit meines Lebens kein allzu flinker Rechner gewesen. Doch dass die lausige Sieben, die ich eben von Dany erhalten hatte, zusammen mit den Karten in meiner Linken mehr als einundzwanzig ausmachten, konnte auch ich mir mühelos zusammenaddieren. Ich hatte wieder verloren.

»Wollen wir weiterspielen oder möchten Sie lieber aufhören?«, fragte das Mädchen. Ich bemühte mich, kühl zu bleiben.

»Wieviel schulde ich Ihnen eigentlich, Kindchen?«

»Gestern Nachmittag waren es sieben Mark achtzig. Heute...«, sie addierte flink die Zahlen auf ihrem Block, »...zwölf Mark und einige Pfennige. Und natürlich...«

»Ja, ich weiß.«

Bei dem Gedanken an die für meine gegenwärtigen Verhältnisse astronomische Zahl, welche Danielas Gehalt für die verflossenen vier Wochen ausmachte, musste sich mein Gesichtsausdruck unwillkürlich verändert haben, denn Fräulein Weyring sagte vorwurfsvoll: »Aber ich habe Sie doch in keiner Weise gedrängt, Herr Garner. Wirklich, ich weiß doch...«

Natürlich – sie wusste.

An und für sich ist es gewiss eine recht ungewöhnliche Situation, wenn ein ehrenwerter junger Anwalt mit seiner tüchtigen und vor allem ausnehmend hübschen Sekretärin am helllichten Nachmittag Siebzehn und Vier spielt. Dass es trotzdem so weit gekommen war, hatte viele Gründe, vor allem aber zwei: Wir hatten Zeit, unendlich viel Zeit. Und außerdem hoffte ich, auf diese Weise von meinem hohen Schuldenstand einige Mark abbuchen zu können. Allerdings hatte ich nicht mit Danys sagenhaftem Glück im Spiel gerechnet...

Ich saß in meinem wenig repräsentativen Büro im dritten Stock eines wenig repräsentativen Hauses in einer wenig repräsentativen Straße, die zudem weit vom Justizpalast entfernt lag – und wartete. Aber leider gab es in dieser miesen Gegend wenige Leute, die als Klienten in Frage gekommen wären. Wenn ich in dem düsteren Zimmer umher sah, das mir und meiner Sekretärin als Büro diente, konnte ich es den Leuten gar nicht einmal verdenken, dass sie den Gedanken, Rechtsanwalt Robert Garner, neunundzwanzig Jahre alt, eins-achtzig groß, in Rechtsfragen zu konsultieren, schon im Treppenhaus aufgaben.

Dabei hatte ich auf Grund meines Studiums und meiner Zulassung das Recht, jedermann vor den Gerichten der schönen Stadt München zu vertreten – aber offenbar machte niemand von dieser Möglichkeit Gebrauch. Mein letzter Klient war ein mürrischer Ausländer gewesen, der ein paar Ecken weiter einen gut florierenden Schnapsausschank betrieb. Seine Frage, wie oft seine Frau zu verprügeln ihm das hiesige Gesetz gestatte, konnte ich vermutlich nicht so beantworten, wie er sich das erhofft hatte. Als ich für eine eingehende, geduldige Beratung von etwa zwei Stunden – ich erwähnte bereits, dass ich über Zeit in Überfluss verfügte – zwanzig Mark von ihm wollte, bekam er einen Tobsuchtsanfall und teilte mir gehässig mit, dass er bei diesen Preisen in Zukunft davon Abstand nehmen werde, seine Frau zu verhauen. So sehr ich mich über meinen Beitrag zum künftigen Eheglück des Mannes freute, war ich mir darüber im Klaren, dass mich dieses erhebende moralische Gefühl keine zehn Minuten lang sättigen würde. Nach einer energischen Aufforderung durch Dany zahlte er endlich verdrossen acht Mark, wobei er mir zugleich anheimstellte, seine Bar künftig zu meiden. Ich war nicht beleidigt, nahm das Geld und rächte mich mit der leicht hingeworfenen Bemerkung, mein Gesundheitszustand verbiete mir ohnehin den weiteren Besuch seines Raritätenkabinetts, da mir mein Arzt die Einnahme flüssiger Gifte ausdrücklich untersagt habe. Nach einem unheildrohenden Blick auf mich und einer schnellen, wenngleich gründlichen Musterung von Danielas beachtlicher Figur schmiss der ergrimmte Klient die Tür hinter sich zu – ich hatte wieder einen Kunden weniger. Das war am Montag passiert. Heute war Freitag. In der Zwischenzeit war niemand, aber auch gar niemand hier gewesen. In Anbetracht dessen, dass ich von meinem Job eigentlich leben wollte, war dies ein Zustand, der einem auf die Nerven gehen konnte.

Der einzige Lichtblick in meiner Misere war meine Sekretärin. Die Vorstellung, statt dieses entzückenden Geschöpfs in kurzer Zeit vielleicht nur mehr die leeren Aktenregale gegenüber anstarren zu müssen, flößte mir gelindes Grauen ein.

Ich hatte meinen Beruf mit Illusionen begonnen. Immerhin, Illusionen sind das Vorrecht der Jugend. Und ich war damals sehr jung. Damals – als ich meinen Vater mit der Mitteilung überraschte, ich wolle studieren. Mein alter Herr hatte zu dieser Zeit einen – nun, heute würde man sagen: ambulanten Handel. Er zog die Woche über mit allerlei Krimskrams über das Land. Wenn er pro Tag drei Mark verdiente, war er Ende der Woche gut aufgelegt, und die Familie lebte in Luxus.

Mein seinerzeitiger Wunsch bewegte Vater nur sehr wenig. Normalerweise hätte er mir wahrscheinlich stillschweigend eine Ohrfeige gegeben, aber gerade in diesem Augenblick kam eine Nachbarin zu uns in die Wohnung, um drei Meter Gummiband zu kaufen. Das Geschäft lenkte Vater ab und erst, nachdem er seine Kundin freundlich verabschiedet hatte – damals wurde Kundenpflege noch großgeschrieben –, brummte er, offenbar mehr belustigt als ergrimmt: »Studium? Ach nein! Würde dir Cambridge genügen? Oder soll’s was Besseres sein?«

Ich konnte mir unter Cambridge nichts vorstellen und deshalb verpuffte Vaters feiner Sarkasmus. Ich wusste allerdings, dass es nur besser sein konnte als die dunkle Ein-Zimmer-Wohnung, in der ich aufwuchs – und jedenfalls unendlich besser als die Aussicht, später vielleicht ebenfalls einmal wie Vater loszuziehen und auf dem flachen Land mit Hosenträgern zu hausieren. Wenn ich allerdings meine gegenwärtige Situation betrachtete, konnte ich gewisse Zweifel nur mit Mühe unterdrücken...

Nun, trotz der Skepsis meines Vaters schaffte ich mein Studium. Ich musste zwar nebenbei hart arbeiten, aber das war mir nichts Neues. Abends spielte ich damals außerdem in einer Tanzkapelle und lernte auf diese Weise eine Reihe skurriler Schwabinger Clubs von innen kennen, was meinen soziologischen Kenntnissen ungemein zustattenkam.

Ich wollte partout Anwalt werden.

Freilich waren meine Vorstellungen von der Anwaltschaft weitgehend durch das Bild einiger Staranwälte geprägt, deren sensationelle Prozesse ich als Junge mit Interesse und Begeisterung in den Zeitungen verfolgt hatte. Ein behagliches, eichengetäfeltes Büro in der Innenstadt, eine Sprechanlage, die mich mit meiner Sekretärin verband, im Wartezimmer die ungeduldig meines Rates harrenden Klienten...

Die Praxis sah dann freilich anders aus. Die Tatsache, dass eine neue Leuchte der Rechtspflege in München amtierte, musste sich in einschlägigen Kreisen noch nicht so recht herumgesprochen haben.

Trotzdem warf ich die Flinte nicht ins Korn. Im Gegenteil, in einem Anfall von Größenwahn engagierte ich Daniela Weyring. Sie war eine ausnehmend tüchtige Sekretärin, obschon ich gestehe, dass ich bei ihrer Einstellung mehr auf ihre attraktiven Beine als auf ihre Zeugnisse gesehen hatte. Aber trotz meiner reizenden Schreibkraft besserte sich meine finanzielle Situation um keinen Deut. Im Gegenteil – nach vierzehn Tagen begann ich, Dany gelegentlich abends auszuführen, was zur Vertiefung unserer menschlichen Kontakte beitrug, aber meiner Kasse absolut abträglich war. Immerhin, das Mädchen hielt mir die Treue, auch als ich anfangen musste, ihr das Gehalt schuldig zu bleiben.

Meine Betrachtungen wurden dadurch unterbrochen, dass mir Fräulein Weyring eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch stellte und meinen Aschenbecher leerte.

»Sie rauchen entschieden zu viel, Herr Rechtsanwalt.«

Dieser Feststellung konnte ich nicht gut widersprechen. Während ich zusah, wie das Mädchen flink herumhantierte, drängte sich mir plötzlich die Frage auf: »Sagen Sie mal, Schätzchen: Warum tun Sie das eigentlich alles für mich? Sie könnten doch überall eine prima Stellung finden...«

Daniela zog ihren Pulli stramm und sagte dann wütend: »Hören Sie, Herr Garner – ich bin viel gewöhnt. Schließlich bin ich ja nun einige Zeit bei Ihnen. Ich habe es mit Humor hingenommen, dass ich meine Nachmittage damit verbringen muss, mit Ihnen in dieser lausigen Bude Karten zu spielen...«

»Ich könnte mir eine üblere Beschäftigung vorstellen«, warf ich matt ein, aber sie ließ sich nicht beirren.

»...aber wenn Sie jetzt plötzlich anfangen, moralische Bedenken zu wälzen, dann...«

»Mein Gott, Dany!« Ich lächelte gequält. »Wirklich, ich bin allmählich verdammt schlecht bei Kasse. Und da ist noch die Sache mit Ihrem Gehalt. Ich fürchte, ich kann das nicht länger verantworten...«

In diesem Augenblick schrillte das Telefon. Seufzend sagte ich: »Wenn es der Ministerpräsident ist, um mir den Posten des Justizministers anzutragen, sagen Sie ihm, ich sei beschäftigt. Und wenn etwa der Hauswirt wegen seiner Miete...«

Während mir Daniela zuwinkte, den Mund zu halten, hob sie den Hörer ab.

»Kanzlei Rechtsanwalt Garner Junior, guten Abend!«

Wirklich, Fräulein Wey ring machte das zauberhaft. Übrigens, das mit Garner Junior war meine Erfindung. In Wirklichkeit hatte es in der hiesigen Anwaltschaft niemals einen Garner Senior gegeben. Aber ich fand, das Junior klang bedeutender. So nach Familientradition.

Daniela Weyring hörte unterdessen angestrengt zu. Offenbar doch nicht der Hauswirt. Jetzt machte das Mädchen sogar eine Notiz auf ihren Block.

»Ja, ich habe verstanden, gnädige Frau. Wie bitte? Hm – der Herr Rechtsanwalt ist eben in einer wichtigen Besprechung. Gut, ich sehe nach, ob ich ihn stören kann.«

War die Kleine verrückt geworden? Ich sprang wie von der Tarantel gestochen hoch und raste zum Telefon. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Dany die Hörmuschel zuhielt, flüsterte ich ihr zu: »Sind Sie übergeschnappt? Wer ist es denn?«

»Eine Klientin – eine Frau Dellborg. Aber Sie müssen sie einen Augenblick warten lassen. Es macht einen schlechten Eindruck auf die Kundschaft, wenn ein Anwalt sofort Zeit hat.«

Meine Sekretärin war also auch eine kleine Psychologin. Ich musste ihr zwar recht geben, hatte aber gleichzeitig höllische Angst, dass der Anruferin meine Besprechung zu lange dauern würde. Deshalb scheuchte ich Dany mit einem schrecklichen Blick zurück und riss den Hörer an mich.

»Hallo, hier Rechtsanwalt Garner. Frau Dellborg? Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?«

Ich hörte eine dunkle, klangvolle Stimme aus dem Apparat.

»Hier spricht Corinne Dellborg. Herr Garner, ich möchte Sie in Ihrem Büro aufsuchen. Es handelt sich um eine dringliche Sache.«

Krampfhaft überlegte ich, woher ich den Namen Dellborg kannte. Aber schließlich war es ja gleichgültig. Hauptsache, jemand war im Begriff, mir eine Beschäftigung zu geben. Meine Aufregung war durchaus verständlich. Dennoch zwang ich mich dazu, möglichst gleichgültig zu fragen: »Können Sie mir nicht kurz ein paar Einzelheiten mitteilen, Frau – äh – gnädige Frau?«

Die Stimme klang ungeduldig: »Ich werde Ihnen alles persönlich mitteilen, Herr Rechtsanwalt. Sie kennen doch meinen Namen? Mein Mann, Hans Dellborg, war Mitinhaber der Firma Dellborg und Schimmer – Deschi, Immobilien.«

»War?«, hüstelte ich nicht sehr geistreich, aber mir fiel nichts Besseres ein. Ich erinnerte mich nun wieder – Dellborg und Schimmer – waren Grundstücksmakler en gros – in der heutigen Zeit ein Beruf, der ebenso gewinnbringend ist wie der Handel mit purem Gold.

Frau Dellborgs Geduld schien erschöpft zu sein. Sie sagte kurz: »Allerdings – war. Mein Mann ist vor einer Stunde ermordet worden. Und deshalb benötige ich Ihre Dienste, Herr Rechtsanwalt – und zwar umgehend.«

Mir blieb die Luft weg. »Du meine Güte – jetzt verstehe ich – Sie haben...?«

Ein kurzer, ärgerlicher Ausruf unterbrach meinen verständlichen und nach der Sachlage durchaus logischen Gedankengang.

»Aber nein, was denken Sie! Die Polizei beschuldigt einen meiner Bekannten, die Tat verübt zu haben. Natürlich ist das absurd. Also, ich komme bei Ihnen vorbei. Wie war doch die Adresse?«

Ich war nahe daran loszuheulen. Da war ein sensationeller Fall zum Greifen nahe, die Witwe des schwerreichen Dellborg wollte mich aufsuchen – und nun diese Bruchbude von Büro! Das Loch sehen und verschwinden würde für Frau Dellborg eins sein! Verzweifelt stotterte ich: »Eh – gnädige Frau – mein eigentliches Büro – es trifft sich verteufelt ungünstig – dort wird gerade alles renoviert. Ich sitze augenblicklich in einem kleinen Raum im Westend, Pusterstraße 3. Eine bedauerliche Notlösung, aber Sie wissen ja, wie das heute ist. Ich kann Ihnen wirklich nicht zumuten...«

Meine Stimme muss bei dieser dummen Ausrede nicht sehr überzeugend gewirkt haben. Aber zu meiner großen Erleichterung sagte die Frau nur kurz: »Unsinn! Ich brauche Sie und nicht Ihr Büro. Also, Pusterstraße 3? Ich hoffe es zu finden und bin in etwa zwanzig Minuten bei Ihnen.«

Ich hörte ein Knacken in der Leitung und legte mit einem unbehaglichen Gefühl auf.

Daniela war natürlich schrecklich neugierig.

»Haben wir nun eine Klientin oder nicht, Herr Garner?«

Ich dachte eine Weile nach und kam dann zu der Überzeugung, dass diese Frage im derzeitigen Stadium weder mit Ja noch mit Nein beantwortet werden konnte. So brummte ich: »Es sieht so aus... Dany, dieser Rettungsanker, der da eben an der Strippe war, ist die schwerreiche Witwe von Dellborg – Immobilien en gros, kapiert?«

Fräulein Weyring schien offensichtlich unbeeindruckt. »Da kann man Ihnen ja gratulieren. Und was will die Dame ausgerechnet von Ihnen?«

Für Betonungen habe ich ein feines Gefühl. Meine berufliche Erfolglosigkeit wollte ich mir selbst von Daniela nicht vorwerfen lassen, auch wenn ich ihr das Gehalt schuldete und sie im Übrigen sehr schätzte. Deshalb sagte ich gereizt: »Das ausgerechnet will ich lieber nicht gehört haben. Sie braucht eben anwaltschaftlichen Rat. Ist das so ungewöhnlich?«

Aber Dany war nicht nur ein nettes Mädchen, sie hatte auch Verstand. Deshalb konnte ich mich der Logik ihrer nächsten Frage nicht entziehen: »Und warum kommt sie dabei ausgerechnet – es tut mir leid, Herr Rechtsanwalt, aber ich kann es nicht anders ausdrücken – auf Ihr Büro? Ich möchte doch annehmen, dass die Anwälte von Dellborg und Co. mehr in der Umgebung der Kaufingerstraße beheimatet sind?«

Fröhlich grinsend erwiderte ich: »Wie Sie gehört haben werden, habe ich Frau Dellborg weisgemacht...«

»Ja, ich bin nicht schwerhörig. Ich glaube nur nicht, dass sie diese dicke Lüge fressen wird.«

»Sie sind aber wirklich eine schreckliche Miesmacherin!«

Meine schlechte Laune kam nur daher, dass ich mir im Geist bereits dieselbe Frage gestellt hatte wie die kluge Daniela – weshalb nämlich Frau Dellborg mit ihren offenbar doch erheblichen Sorgen gerade zu mir kommen wollte!

Trotzdem – es war keine Zeit mehr zu verlieren.

»Los, Kindchen, räumen Sie auf! Legen Sie ein paar Akten auf den Tisch, das macht Eindruck.«

Ich reichte Dany die Spielkarten und die Kaffeetasse. »Lassen Sie das verschwinden – rasch!«

In kürzester Zeit hatten wir das Büro so hergerichtet, dass ein unbefangener Besucher meinen konnte, er befände sich bei einem vielbeschäftigten Anwalt. Nur wartende Klienten im Vorzimmer konnte ich leider nicht herschaffen. Nervös blickte ich auf meine Uhr.

Als endlich die Türglocke schrillte, ging Fräulein Weyring mit aufreizender Lässigkeit hinaus und brachte kurz darauf die Besucherin herein – Frau Corinne Dellborg.

Ich erhob mich und schritt auf sie zu – vielleicht eine Nuance zu langsam, um meiner beabsichtigten Rolle als gehetzter Anwalt gerecht zu werden – und bot meiner Besucherin einen Platz an. Ich war überrascht angenehm, wie ich mir eingestand. Und meine Überraschung war auch verständlich. Denn da Hans Dellborg meines Wissens – ich hatte einmal ein Bild von ihm in der Zeitung gesehen – ein guter Fünfziger sein mochte, hätte ich seine Frau günstigstenfalls für eine Enddreißigerin gehalten. Meinem ersten, flüchtigen Eindruck nach war Corinne Dellborg aber höchstens Mitte Zwanzig. Zudem hatte ich erwartet, sie in tiefer Trauer vorzufinden. Stattdessen trug sie ein weitausgeschnittenes Cocktailkleid, dem man den Tausender ansah, den es gekostet haben mochte. Mit einem Wort: Frau Dellborg sah hinreißend aus! Aber ich bemühte mich, meine Augen unter Kontrolle zu behalten. Schließlich wollte ich sie nicht heiraten, sondern ich hoffte, durch sie Geld zu verdienen.

Nachdem ich mich und Dany vorgestellt hatte, sagte Frau Dellborg mit einem eisigen Blick auf meine Sekretärin: »Könnte ich Sie wohl allein sprechen, Herr Rechtsanwalt?«

Mit einem stummen, aber bedeutungsvollen Augenaufschlag schickte ich Fräulein Weyring hinaus. Daniela erhob sich, folgsam und verschwand hüftenschwingend im Vorzimmer, während die Augen meiner Besucherin die Umgebung musterten, als ob sie mein Büro auf Abbruch erwerben wollte. Ich fühlte, dass ich meiner Klientin eine Erklärung geben sollte. Nachdem ich ihr zunächst mein Beileid ausgesprochen hatte, murmelte ich: »Es tut mir wirklich außerordentlich leid, dass ich Sie hier empfangen muss – aber wie ich schon erwähnte...«

Corinne Dellborg kreuzte lässig ihre langen, wohlgeformten Beine und zündete sich eine Zigarette an. Dann sagte sie ironisch: »Herr Garner, Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Sehen Sie, ich will Ihnen offen gestehen, dass ich unter normalen Umständen unsern Familienanwalt konsultiert hätte – Justizrat Dr. Pickmann. Vielleicht kennen Sie ihn?«

Und ob ich den alten Pickmann kannte! Er war einer der Staranwälte des Oberlandesgerichtsbezirks und pflegte seine Rechnungen mit einer goldenen Feder zu schreiben. Ich lehnte mich zurück, um die weiteren Erklärungen meiner erfrischend aufrichtigen Besucherin abzuwarten.

»Schön. Trotzdem komme ich zu Ihnen. Sie sind mir von früher her bekannt. Haben Sie nicht eine Zeitlang im Daiquiri-Club Schlagbass gespielt?«

Verlegen grinste ich. »Allerdings – eine Jugendsünde. Aber Sie sind mir damals nicht aufgefallen, gnädige Frau. Unverzeihlich, wie ich gestehen muss...«

»Damals hieß ich noch Palfers – mein Vater war...«

»Oh ja, Konsul Palfers, jetzt erinnere ich mich wieder. Sie haben sich überhaupt nicht verändert, gnädige Frau...«

»Danke«, sagte sie kühl. Offenbar war sie geschicktere Komplimente gewohnt. »Nun gut, Herr Rechtsanwalt, ich bin in einer schwierigen Lage. Ich glaube, ich muss Ihnen kurz die Vorgeschichte erzählen. Ich war knapp zwanzig Jahre alt, als ich Dellborg heiratete. Es stand damals in allen Zeitungen...«

»Ich lese keine Gesellschaftsnachrichten, nur juristische Fachliteratur«, log ich kaltschnäuzig.

Ohne meinen Einwand zu beachten, fuhr sie fort: »Meine Ehe war nicht besonders glücklich – so kann man es wohl bezeichnen. Hans war immerhin dreißig Jahre älter als ich – Sie verstehen, was ich meine?«

Mein Blick streifte sie, und ich verstand haargenau, was sie meinte.

Corinne verzog ihren rotgeschminkten Mund. »Es gibt einen Mann, der mir sehr viel bedeutet – Herr Mälzer, Roman Mälzer. Der junge Mann ist Künstler und... Na, kurz und gut, die Polizei nimmt an, mein – äh – Bekannter habe meinen Mann getötet. Hören Sie mir überhaupt zu?«

Während ich denke, muss ich anscheinend einen ziemlich geistesabwesenden Eindruck machen. Während Corinne Dellborg sprach, hatte ich nämlich versucht, ihre Worte in die nüchterne Alltagssprache zu übersetzen. Was dabei herauskam, hörte sich ungefähr so an: Corinne war eine hübsche, lebenshungrige Frau, an einen um vieles älteren Mann gefesselt, den sie wahrscheinlich nur aus finanziellen Gründen geheiratet hatte, hielt sie sich einen Geliebten – diesen Roman Mälzer. Und nun war Hans Dellborg getötet worden – nach Meinung der Polizei von Mälzer. Diese Schlussfolgerung erschien mir durchaus logisch. Ich hütete mich freilich, meine Meinung zu sagen, sondern versicherte auf Corinnes letzte Frage: »Aber natürlich höre ich zu, gnädige Frau. Wann ist es denn geschehen?«

»Vor etwa zwei Stunden – man hat meinen Mann erschossen. Ich bin ganz durcheinander. Und die Polizei hat Roman verhaftet...«

Zum ersten Mal bemerkte ich eine Regung auf ihrem Gesicht. Vermutlich war sie ziemlich in diesen Mälzer vernarrt. Die Tatsache, dass ihr Mann tot war, beeindruckte sie anscheinend nur sehr wenig. Ein verdammt kühles Luder, wenn auch ausnehmend hübsch, dachte ich mir, und fragte dann: »Wo hat man Ihren Gatten gefunden?«

»In seinem Büro in der Sonnenstraße.«

Ich notierte mir die Adresse.

»Schön – und was hat nun Herr Mälzer damit zu tun?«

Corinne Dellborg holte tief Atem. »Sehen Sie, Roman wollte mich abholen. Er vermutete mich im Büro meines Mannes – aber er schwört, dass Hans schon tot war, als er – Roman – den Raum betrat. Nähere Einzelheiten weiß ich auch nicht. Man hat mir vorhin telefonisch mitgeteilt, dass mein Gatte tot ist und Mälzer ihn getötet haben soll. Ich habe Roman nur kurz gesehen. Dann haben sie ihn abgeführt. Auch ins Büro ließ man mich nur kurz – dort ist alles abgesperrt...«

»Wo waren Sie, als Sie die Nachricht erhielten?«, forschte ich.

»In unserm Haus in Tutzing am Starnberger See, Lindenweg 2.«

Auch diese Anschrift kritzelte ich auf meinen Block. Viel mehr brauchte ich fürs erste nicht zu wissen. Ja, noch eins... 

»Hm, Frau Dellborg, soweit ist mir alles klar. Nur: Ich verstehe nicht ganz, wozu Sie einen Anwalt benötigen? Offenbar verdächtigt die Polizei doch ausschließlich Herrn Mälzer...«

»Sie sollen Roman vertreten. Ich werde alles bezahlen – aber ich wünsche nicht, dass jemand davon erfährt. Das würde nur die Klatschmäuler in Bewegung bringen. Ihr Klient ist nach außen hin Herr Mälzer. Und da sich Roman natürlich einen Anwalt wie Dr. Pickmann keinesfalls leisten könnte, bin ich auf Sie gekommen. Ich kannte Ihren Namen von früher – und bei der Anwaltskammer hat mir Herr Biller, der Sekretär, versichert, Sie seien ein tüchtiger, wenn auch – verzeihen Sie meine Offenheit – bisher nicht eben sehr erfolgreicher Anwalt.«

»Besten Dank für das Kompliment«, sagte ich säuerlich. Ich nahm mir fest vor, Billers Kopf bei nächster Gelegenheit so lange in einen gefüllten Wasserbottich zu drücken, bis er blau sein würde.

Frau Dellborg erhob sich. »Seien Sie nicht komisch.«

Ich grinste. »Nun, da Sie ja über meine Verhältnisse bestens unterrichtet sind, werden Sie wissen, dass ich es mir gar nicht leisten kann, komisch zu sein. Wohin hat man Mälzer gebracht?«

»Er sitzt im Untersuchungsgefängnis des Polizeipräsidiums.«

»Aha.« Ich stand ebenfalls auf. »Gut, ich übernehme den Fall, gnädige Frau. Als erstes werde ich versuchen, eine Sprecherlaubnis für Mälzer zu bekommen. Dann will ich mal sehen, was sich für ihn tun lässt.«

Corinne Dellborg nickte kurz. Dann öffnete sie ihre Krokodilledertasche, von deren Kaufpreis ich mindestens sechs Wochen recht anständig hätte leben können, und holte einige Scheine hervor, die sie mir in die Hand drückte.

»Sie werden Auslagen haben, Herr Garner. Nehmen Sie hier erst einmal tausend Mark als Anzahlung. Wenn Sie mehr Geld brauchen sollten, lassen Sie es mich bitte wissen. Und halten Sie mich im Übrigen ständig auf dem Laufenden. Ich bin entweder in Tutzing oder im Dixie-Club in Schwabing zu erreichen.«

Ich begleitete meine charmante Klientin zum Ausgang, Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, umarmte ich Daniela, die bis jetzt im Vorzimmer gewartet hatte.

»Mädchen, wir sind wieder flott! Ich habe ein Mandat!«

»Und noch dazu ein weibliches, was Ihren Neigungen ausgesprochen entgegenkommen dürfte. Die Dame tat ja sehr geheimnisvoll. Vermutlich eine schmutzige Scheidung, was?«

»Nein, ein schmutziger Mord.«

Der Unterton von Eifersucht in Danys Worten schmeichelte meiner Eigenliebe gewaltig. Ich erzählte ihr hastig so viel, wie sie wissen musste, und schickte sie dann nach Hause.

Nachdem ich allein war, bestellte ich mir ein Taxi – der Vorschuss hatte mich leichtsinnig gemacht – und fuhr auf dem schnellsten Weg zum Polizeipräsidium. Ich war entschlossen, meine Klientin nicht zu enttäuschen.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Die Wachstube des Präsidiums sah aus wie Tausende ähnlicher Räume überall in der Welt. Es roch nach Tabak und Lederfett. Hinter der Barriere saßen einige uniformierte Beamte und schienen momentan mit nichts beschäftigt zu sein. Niemand beachtete meinen Eintritt besonders.

Mir zunächst saß ein dicker Polizist, der seinen Kaugummi mit großem Geschick von einem Mundwinkel in den anderen rutschen ließ. Ich beobachtete ihn eine Weile, wobei ich zu der Überzeugung kam, dass er es in dieser Beschäftigung zweifellos zu einer beachtlichen Fertigkeit gebracht hatte. Da ich jedoch als Steuerzahler annahm, er würde nicht ausschließlich dafür bezahlt, seine Energien mit Zungenakrobatik zu vergeuden, räusperte ich mich kurz und fragte dann laut:

»Ist der Chef der Mordkommission zu sprechen?«

Der dicke Polizeimeister hörte auf, mit den Unterkiefern zu mahlen. Er schaute mich so entgeistert an, als ob ich den Leiter des Geheimdienstes persönlich verlangt hätte. Endlich brummte er mürrisch: »Und was wollen Sie von ihm?«

»Das werde ich ihm dann schon sagen«, erwiderte ich giftig.

Der Beamte sah wohl ein, dass ich ein hartnäckiger Fall war, denn er meinte freundlicher: »Hören Sie, Mann, ich muss Sie anmelden und dem Chef dabei sagen, was Sie von ihm wollen. Schließlich kann ihn ja nicht jeder persönlich mit seinen Wehwehchen belästigen – noch dazu um diese Zeit. Zudem ist der Boss zurzeit auch ziemlich beschäftigt. Wenn es sich also um eine Verkehrssache handeln sollte...«

»Es handelt sich um eine Mordsache – um den Fall Dellborg. Meine... Na schön, ich heiße Garner, Rechtsanwalt Garner. Und jetzt melden Sie mich rasch bei – hm, wer ist überhaupt Leiter der Mordkommission?«

»Inspektor Heffter.«

Der Name sagte mir genug. Außerdem musterte mich der Polizist andauernd von oben bis unten, sodass ich langsam nervös wurde. Gereizt knurrte ich: »Wollen Sie von mir ein Foto fürs Verbrecheralbum, oder bin ich Ihnen sonst wie verdächtig?«

Mein Tonfall hatte inzwischen auch die anderen Ordnungshüter aufgeschreckt. Alle starrten mich an. Mein Gesprächspartner seufzte: »Gott – wie die Leute heutzutage empfindlich sind! Schön, ich will Sie melden. Garner, sagten Sie? Und Anwalt sind Sie?«

Für einen Polizeibeamten arbeitete sein Verstand ziemlich langsam. Wieder traf mich sein misstrauischer Blick. Ich hatte allmählich das Gefühl, mein Äußeres müsste sehr kriminell wirken. Dann merkte ich, dass es offenbar mein Anzug war, dem seine Missbilligung galt. Er schien sich unter einem Anwalt eine Erscheinung vorzustellen, die an Eleganz zumindest mit O. W. Fischer konkurrieren konnte. Freilich, mein alter Flanellanzug sah schon ein bisschen schäbig aus. Immerhin würde ich mir nun ja wahrscheinlich einen neuen leisten können...

Nach einigen Minuten kam der Dicke zurück und führte mich in das Zimmer des Chefs.

Kriminalinspektor Heffter, amtierender Chef der Mordkommission, saß in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch. Bei meinem Eintreten hob er seinen kantigen Schädel und starrte mich aus tiefliegenden, geröteten Augen an.

»Ah, Garner! Habe eben gehört, dass Sie Mälzer vertreten. Wie ist er denn ausgerechnet auf Sie verfallen?«

Wieder dieses ausgerechnet, mit dem mich heute schon meine Dany geärgert hatte. Bei Heffter war es allerdings die reine Bosheit. Seine Feindseligkeit hatte einen ganz bestimmten Grund. Ich hatte ihn nämlich vor einiger Zeit einmal ganz zufällig getroffen. Damals – ich wusste vorher nicht, welchen Beruf er hatte – saß er mit einer sehr fidelen Gesellschaft in einem Bierkeller, und da er nach einigen Maß Bier unangenehm laut wurde, ließ ich ihn durch die Kellnerin auffordern, entweder ruhig zu sein oder woanders zu schreien. Das vergaß er mir niemals. Jetzt aber wollte ich ihn nicht unnötig reizen und sagte deshalb freundlich: »Ich würde Ihnen vorschlagen, Herrn Mälzer selbst danach zu fragen.«

Heffter grinste tückisch. »Na ja, jeder hat den Anwalt, den er verdient. Der Junge wird ja wissen, warum er Sie gewählt hat.«

»Sicher. Da er sich schon den Vorsitzenden der Mordkommission nicht aussuchen konnte, warum wollen wir ihm nicht das Vergnügen lassen, sich wenigstens seinen Anwalt selbst zu wählen?«

Mein Gesicht muss nicht eben freundlich ausgesehen haben. Da wollte ich nun herzlich sein – und dann wurde meine Geduld auf eine derart harte Probe gestellt.

Heffters Gesicht rötete sich. »Sie sind ja verdammt selbstbewusst. Schön, Sie werden eine Portion Selbstvertrauen brauchen können. Vermutlich wollen Sie in den Akten schnüffeln?«

Nachdem ich bestätigt hatte, dass eben dies mein Wunsch sei, brummte er einige Unfreundlichkeiten vor sich hin und warf mir dann unwillig eine Akte zu, die auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Da er mir keinen Stuhl anbot, zog ich mir selbst einen Sessel heran und begann, die Ermittlungsakten durchzulesen. Viel Tröstliches in Bezug auf meinen Mandanten konnte ich freilich nicht entdecken.

Nach den Ermittlungen der Polizei war die Tat etwa gegen fünf Uhr abends verübt worden. Dellborg war in seinem Büro durch einen Schuss aus nächster Entfernung niedergestreckt worden. Die Kugel musste fast augenblicklich den Tod herbeigeführt haben. Nach dem Plan, den ich bei der Akte fand, lagen die Verwaltungsbüros von Dellborg und Schimmer auf der einen Seite eines langen Ganges im 6. Stock eines modernen Hochhauses, das Dutzende von Büros und Privaträumen enthielt. Gegenüber den Büros der Immobilienfirma gab es einige Türen, die zu den Toiletten und Waschräumen sowie zu zwei kleinen Apartments führten, die von einem gewissen Andrew Nosakoff, einem russischen Emigranten, und einem Arzt namens Pulter bewohnt wurden. Nosakoff war von Beruf Tänzer.

Die Angestellten der Firma Dellborg und Schimmer waren wie an allen Freitagen bereits um drei Uhr pünktlich weggegangen. Nur Herr Dellborg war in seinem Büro zurückgeblieben, um noch zu arbeiten, wie er seiner Sekretärin angedeutet hatte. Der zweite Teilhaber der Firma, Albert Schimmer, war bereits Donnerstagabend geschäftlich nach Hamburg gefahren und wollte erst heute Abend zurückkommen. Die von Dellborgs Zimmer zum Flur führende Tür war verschlossen – wie die Sekretärin ausgesagt hatte, pflegte sie ständig versperrt zu sein. Eine Verbindungstür von Dellborgs Büro zum Vorzimmer sowie die von dort auf den Gang führende Tür waren dagegen unverschlossen. Der Täter konnte also nur auf diesem Weg in Dellborgs Büro gelangt sein. Und er musste den Tatort offensichtlich auch auf diesem Weg wieder verlassen haben.

Zu welchem Zeitpunkt Roman Mälzer das Gebäude betreten hatte, war nicht feststellbar. Der Portier gab an, nichts bemerkt zu haben, was mir durchaus glaubhaft erschien, wenn man bedenkt, dass in einem derart großen Haus ein ständiges Kommen und Gehen ist – besonders am Tag vor dem Wochenende.

Die wichtigsten – und für Mälzer am belastendsten – Aussagen waren die der Mieter der gegenüberliegenden Wohnungen. Nosakoff gab an, er sei gegen halb fünf Uhr von einer Spätprobe nach Hause gekommen. Im Vorbeigehen habe er aus dem Büro von Dellborg dessen erregte Stimme gehört und dabei die Worte verstanden: Sie brauchen gar nicht erst wiederzukommen, Sie Dreckskerl! Ich werde Sie hinausschmeißen, Sie Lump! 

Nosakoff gab an, er habe natürlich nicht weitergelauscht, weil ihm das unanständig vorgekommen wäre. Wer der Besucher des Immobilienkaufmanns war, habe er zu dieser Zeit nicht gewusst. Er sei dann in seine Wohnung gegangen. Etwa eine Viertelstunde später hatte Nosakoff einen ziemlich lauten Knall vernommen. Als er deswegen auf den Flur lief, prallte er beinahe mit Dr. Pulter zusammen, der ebenfalls aus seiner Wohnung gestürzt war. Beide sahen sodann aus der gegenüberliegenden Tür, dem Vorzimmer Dellborgs, einen Mann herauskommen. Dieser – es handelte sich um Mälzer – habe einen verstörten Eindruck gemacht. Auf die Frage, was der Knall zu bedeuten hätte, gab Mälzer nur an, das wisse er auch nicht. Er sei eben in Dellborgs Büro gegangen, um dessen Frau dort zu treffen – und habe zu seinem Entsetzen den Kaufmann tot in seinem Zimmer vorgefunden. Ehen, als er das Büro wieder verlassen wollte, habe er dann den Knall gehört – mehr könne er auch nicht sagen.

Da Nosakoff und Pulter diese Erzählung ziemlich merkwürdig vorkam – wenn ich ehrlich sein wollte, so machte sie auf mich den gleichen Eindruck hatten sie den Mann zunächst festgehalten und die Polizei verständigt.

Die Beamten stellten fest, dass Dellborgs Körper noch warm war. Nach Meinung des Polizeiarztes war der Kaufmann erst vor ganz kurzer Zeit getötet worden. Auch die Waffe fand man eine kurzläufige Pistole. Da nach Sachlage kein anderer als Mälzer für die Tat in Frage kam, hatte man ihn trotz seines heftigen Leugnens verhaftet, vor allem da man auf der Mordwaffe auch noch seine Fingerabdrücke festgestellt hatte. Der junge Künstler gab hierzu an, er habe in seiner Verwirrung die Pistole aufgehoben und auf den Schreibtisch gelegt. Da Mälzer im Übrigen hartnäckig behauptete, er habe von Herrn Dellborgs Anwesenheit im Büro keine Ahnung gehabt, vielmehr nur dessen Frau Corinne abholen wollen, hatte man Corinne Dellborg verständigt, die eine Stunde später eingetroffen war. Offenbar hatte sich Frau Dellborg gut beherrschen können, denn im Protokoll stand nichts davon zu lesen, dass sie Mälzer ziemlich gut kannte, um es milde auszudrücken. Frau Dellborg gab vielmehr an, sie fördere als Mäzenin junge Künstler, darunter auch den sehr begabten Mälzer. Zudem bestätigte sie, dass sie den jungen Mann gebeten hatte, sie im Büro ihres Mannes abzuholen. Sie behauptete allerdings, Mälzer erst gegen sieben Uhr dorthin bestellt zu haben.

Nach jenem Streit befragt, den Nosakoff aus Dellborgs Büro gehört hatte, erwiderte Frau Dellborg, sie habe keine Ahnung, mit wem ihr Mann eine Auseinandersetzung gehabt haben könnte – keinesfalls jedoch mit Herrn Mälzer, den ihr Mann überhaupt nicht gekannt habe.

Nachdem Corinne noch den Toten identifiziert hatte – wobei sie laut Protokoll einen gefassten Eindruck machte –, durfte sie sich entfernen. Kurz darauf musste sie mich angerufen haben. Mälzer hatte man trotz seines Protestes abgeführt.

Ich klappte den polizeilichen Untersuchungsbericht zu.

Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Schön, ich hatte einen Fall, sogar einen Mordfall – aber was für einen! Zwar konnte ein Mann in meiner Lage keinesfalls wählerisch sein, aber ich bezweifelte ernstlich, dass ich für Mälzer etwas tun konnte, um mir Frau Dellborgs Geld zu verdienen. Die Art, wie Corinne ihre offenbar enge Bekanntschaft mit dem Künstler verschwiegen hatte, hielt ich übrigens für völlig falsch, ja, sogar gefährlich. Sicher würde die Polizei über kurz oder lang die Wahrheit erfahren – und das konnte dann für meinen Mandanten nur umso belastender werden.

Aber ich hatte jetzt keine Zeit, mich um die betörende Frau Corinne zu kümmern. Ich musste schleunigst nach Mälzer sehen. Dabei wollte ich mir einmal einen persönlichen Eindruck von dem Jungen verschaffen und zum andern hören, was er zu der ganzen Sache zu sagen hatte. Seine Angaben gegenüber der Polizei waren schlechthin als katastrophal zu bezeichnen.

Heffter hatte aufgehört, auf den vor ihm liegenden Block zu kritzeln. Als ich ihm die Akte zurückgab, blickte er mich erwartungsvoll an, und seine Stimme klang höhnisch, als er mich fragte: »Nun, sind Sie zufrieden?«

Freilich hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als ihm den Gefallen zu tun, Nein zu sagen. Deshalb setzte ich eine hoheitsvolle Miene auf und erwiderte kühl: »Zufrieden ist nur der Narr – ein Dichterwort, ich habe leider vergessen, von wem das Zitat stammt. Hm – aber Sie scheinen recht zufrieden zu sein?«

Heffters bulligem Verstand war jedoch mit Florettstichen dieser Art nicht beizukommen, wie ich bald merkte. Denn ohne den Doppelsinn meiner Worte überhaupt zu bemerken, knurrte er nur unwirsch: »Lassen Sie mich mit Ihren verdammten Dichtersprüchen in Ruhe! Sie sehen ja nur Ihre Felle davonschwimmen, Garner. Ja, ich bin zufrieden – wir haben den richtigen Mann, wenn er auch leugnet. Und ich habe da auch so eine Vermutung über das Motiv...«

Er lachte breit. Ich konterte.

»Motiv? Na, hören Sie, offenbar kannte der Junge den Toten doch überhaupt nicht!«

Heffter grinste. »Aber seine Frau anscheinend umso besser!«

»Ihre Phantasie ist einseitig begabt, Heffter. Was Sie da andeuten, ist doch abwegig.«

Der Inspektor blinzelte mir siegesgewiss zu. »Wir werden ja sehen. Ich wette jedenfalls mit Ihnen um einen Kasten Bier, dass der Knabe in ein paar Wochen sein lebenslänglich verpasst bekommt.«

»Na, gehen Sie mal mit Ihren Biervorräten nicht so sorglos um!«, brummte ich vergnügt, obwohl mir innerlich ganz anders zumute war. »Noch ist nicht aller Tage Abend. Hm – könnte ich meinen Mandanten wohl noch sprechen?«

Heffters Miene verfinsterte sich. Er blickte auf seine Armbanduhr und polterte dann los: »Was – jetzt? Es ist schließlich nach neun Uhr! Ausgeschlossen! Ein Gefängnis ist kein Hotel. Machen Sie das gefälligst morgen. Sie brauchen ja keine Sorge zu haben, dass Ihnen der Bursche wegläuft. Das wäre Ihnen wohl

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Harry Genter/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Harry Genter.
Bildmaterialien: Zasu Menil/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Zasu Menil/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2023
ISBN: 978-3-7554-3240-1

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