THOMAS ZIEGLER
Der Tod im Dom
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER TOD IM DOM
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Das Buch
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Harry Hendriks, Bonvivant und Taschendieb, sieht sich nach einem miserablen Tag einer männlichen Leiche gegenüber, just in dem Moment, als er den vermeintlich Schlafenden bestehlen will - und wird selbst des Mordes beschuldigt. Und er trifft die Kunststudentin Anja aus Leipzig, die sich auf den ersten Blick in Harry verliebt. Beide heften sich gemeinsam an die Fersen der Täter - und werden nun selbst verfolgt. Eine Liste von Namen und Adressen, ein paar Handgranaten, eine Pistole Marke Makarov und Kleidung aus ostdeutscher Produktion geben die Route einer irrwitzigen Hetzjagd durch ganz Deutschland vor. Diese Spur führt zu illegalen Geschäften und gefährlichen Umtrieben ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, bei denen es auch um sehr viel Geld geht...
Der Tod im Dom, der erste Köln-Krimi von Bestseller-Autor Thomas Ziegler, erscheint als durchgesehene Neuausgabe im Signum-Verlag.
DER TOD IM DOM
Erstes Kapitel
Eigentlich hatte ich geplant, spätestens mit Dreißig reich, seriös und gesetzestreu zu sein, doch die Umstände waren eindeutig gegen mich. Gute Vorsätze sind eine Sache, Geldmangel und ein diebischer Charakter eine andere. Und dann noch diese verrückte Ossi mit ihrem rosaroten Trabbi - das konnte nur ins Unglück führen.
Ich will nicht behaupten, dass Anja Behrens ganz allein für das Desaster verantwortlich war, das im Kölner Dom begann und nach einer Irrfahrt durch die ganze Republik in den Trümmern eines 30-Tonner-Diesels endete, aber sie hatte mindestens ebenso viel Schuld an meinem Kamikaze-Trip wie dieser verteufelte Gipsarm, Erich Honecker oder die Leiche im Dom.
Von meinem Hang zur Kriminalität ganz zu schweigen.
Aber ich will mich nicht beklagen.
Als Krimineller muss man Tag für Tag mit dem Schlimmsten rechnen und das Beste daraus machen, auch wenn das wenig genug ist. Wer sich seinen Lebensunterhalt als Taschendieb verdient, der weiß, dass praktisch jeder Griff in fremde Börsen der letzte sein kann.
So gesehen, trifft die Hauptschuld meine Mutter.
Nichts gegen meine Mutter, doch dass ich Taschendieb geworden bin, hat allein sie zu verantworten.
Harry Hendriks, lern’ was Anständiges, pflegte sie immer zu sagen, wenn ihr die Männer etwas Zeit für ihren missratenen Sohn ließen, was selten genug der Fall war. Werd’ Bankier. Oder irgendwas anderes, was viel Geld bringt. Börsianer vielleicht. Deine arme alte kranke Mutter hat schon immer von einem erfolgreichen Börsianer geträumt.
Die Vorstellung, ein erfolgreicher Börsianer zu werden, gefiel mir.
Börsen hatten mich schon im zarten Vorschulalter tief beeindruckt. Als Kind konnte ich es kaum erwarten, dass meine Mutter im Schlafzimmer verschwand, mit einem ihrer Männer im Schlepptau, die sie so oft wechselte, als würde sie dafür bezahlt werden. Kaum drang jenes Gequietsche und Gekeuche durch die Schlafzimmertür, das mich schon früh faszinierte, dessen tieferer Sinn mir aber erst sehr viel später aufgehen sollte, schlich ich heimlich hinterher und stöberte in den abgelegten Sachen des Freiers nach der Geldbörse, um ein paar Groschen für den Kaugummiautomaten an der Ecke zu organisieren.
Ich hielt mich für einen sehr erfolgreichen Börsianer.
Ich wurde nie erwischt.
Hätte ich damals geahnt, dass meine Mutter nicht diese Börse meinte, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.
Heute ist es zu spät, um noch etwas daran zu ändern.
Auf meine alten Tage könnte ich mich höchstens noch zum Denkmal umschulen lassen, aber dieser Job wird lausig bezahlt - und ich würde ohnehin für keine Firma arbeiten, die jemand wie mich einstellt. Außerdem habe ich mich inzwischen zu sehr daran gewöhnt, mit den Fingern zu arbeiten. Geschickte Finger sind eine großartige Sache, wenn man sie richtig einzusetzen weiß. Immerhin habe ich es nur ihnen zu verdanken, dass eine so reizende Nervensäge wie Anja Behrens bei mir geblieben ist und ich dieses ganze Desaster mit heiler Haut überstanden habe.
Was man von einigen anderen nicht sagen kann.
Und damit meine ich nicht nur die Leiche im Dom.
Das Desaster begann an einem frostigen, diesigen Freitagmorgen im Dezember, kurz nachdem ich allen Diebereien für immer entsagt hatte. Nicht aus Überzeugung, sondern unter Druck - in den vergangenen Monaten hatten auswärtige Profis in Köln abgeräumt, reisende Banden aus Kroatien und Italien, und die Stadt zu einem gefährlichen Pflaster für jeden gemacht, der sich seine Brötchen mit dem Inhalt fremder Taschen verdienen wollte. Empörte Bürger drohten in den Leserbriefspalten der Zeitungen mit Lynchjustiz, die Polizei setzte rund um die Uhr Zivilstreifen ein, und ein halbes Dutzend meiner Kollegen wurde auf frischer Tat ertappt und gnadenlos verknastet.
So etwas schreckt ab.
So etwas schafft gute Vorsätze.
Und gute Vorsätze schaffen Probleme.
Kaum zum ehrbaren Bürger geworden, erwachte ich ohne einen Pfennig Geld in der Tasche und ohne die blässeste Ahnung, wie ich meine finanziellen Schwierigkeiten auf legale Weise lösen sollte. Die Miete war längst überfällig, Strom musste ich mir schon von meinem schwulen Nachbarn borgen, und urlaubsreif war ich auch. Irgendetwas musste geschehen, und am besten sofort. Vage spielte ich mit dem Gedanken, zum Sozialamt zu gehen, bekam aber sofort moralische Bedenken. Schließlich war ich nicht bedürftig, sondern -Gott sei’s geklagt - bloß arbeitsscheu. Davon ganz abgesehen hatte ich ernste Zweifel, ob die Stadt Köln sich dazu durchringen würde, ausgerechnet mir einen Weihnachtsurlaub an den warmen Stränden des Südens zu finanzieren.
Deprimiert blieb ich im Bett liegen und wartete auf Erleuchtung, doch die Erleuchtung blieb irgendwo im Nebel meiner bösen Ahnungen hängen. Dafür begannen meine Finger zu zucken, was meine bösen Ahnungen nur bestätigte. Ich kannte dieses Zucken. Es war eine Art Pawlow'scher Reflex, ausgelöst durch nackte Existenzangst, die mich dazu brachte, meine guten Vorsätze spontan zu überdenken. So wie die Dinge lagen, hatte ich mir ohnehin den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt für gute Vorsätze ausgesucht.
Ich musste ja nicht gleich die ganze Stadt ausplündern.
Es genügte, wenn ich das Lebensnotwendigste zusammenraffte und wieder in die Legalität abtauchte, ehe jemand etwas merkte.
Harry, sagte ich zu mir, Harry, oh, Harry, du hast keine andere Wahl - das Schicksal will es so.
Also brühte ich mir den letzten Rest Kaffee auf, machte auf dem Balkon mit Blick auf den Volksgarten einige Lockerungsübungen und holte den Gipsarm aus dem Schrank.
Die meisten Taschendiebe arbeiten zu zweit; der eine lenkt das Opfer ab, während der andere zugreift und blitzschnell mit dem Diebesgut verschwindet. Teamwork senkt das Risiko, kostet aber die Hälfte der Beute, und wenn ich mir etwas nicht leisten konnte, dann 50 Prozent Verlust von einem Gewinn, den ich mir erst noch erstehlen musste.
Da lobte ich mir meinen guten alten Gipspartner.
Alles, was er von mir verlangte, war gelegentlich eine frische Lage Gips, und Gips gab’s in jedem Heimwerkermarkt zu klauen.
Ich zog meinen Spezialpullover an - den mit dem straffen Gummibund und dem Schlitz in Brusthöhe - und griff nach meinem Mantel. Ich schlüpfte mit dem linken Arm in den linken Ärmel, steckte den Gipsarm in den rechten Ärmel, sicherte ihn mit einer Schlinge, die ich mir um den Hals legte, und knöpfte den Mantel zu. Mein echter rechter Arm blieb unter dem Mantel verborgen; problemlos konnte ich mit der Hand zwischen den Knöpfen nach draußen greifen, mir nehmen, was mir nicht gehörte, und die Beute durch den Brustschlitz unter den Pullover schieben und dort sicher deponieren.
Die ganze Konstruktion war einfach, aber genial.
Ich warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel - er zeigte einen teuflisch gutaussehenden blonden jungen Mann mit einem vertrauenerweckenden Lächeln, das einzustudieren mich Monate gekostet hatte - und stellte befriedigt fest, dass meine Berufskleidung wie angegossen saß.
Man musste schon ziemlich böswillig sein, um in mir einen skrupellosen Taschendieb zu vermuten.
Gut gelaunt machte ich mich auf den Weg zum Chlodwigplatz und fuhr mit der Linie 16 zum Neumarkt. Der Himmel war grau bewölkt, der Tag nur vom Glanz der Adventsbeleuchtung und der festlich dekorierten Schaufenster erhellt, und die Gesichter der anderen Fahrgäste wirkten so düster und unerfreulich wie in einem von meinen besseren Alpträumen.
Aber ich war schließlich nicht zu meinem Vergnügen unterwegs.
Als ich am Neumarkt aus der U-Bahn stieg, die völlig überfüllte Passage durchquerte und mich von der Rolltreppe zur Schildergasse hinauftragen ließ, hatte eisiger Nieselregen eingesetzt, aber weder die Kälte noch der Regen schien die Kauflustigen zu schrecken, die zu Tausenden über das Einkaufszentrum im Dreieck zwischen Neumarkt, Heumarkt und Dom hergefallen waren. Dick vermummt und unter aufgespannte Regenschirme geduckt, finstere Entschlossenheit im Blick und vorweihnachtliche Gier im Herzen, plünderten sie die Kaufhäuser, Boutiquen und Läden, als gälte es, einen neuen Weltrekord im Geldausgeben aufzustellen. Auf dem Weihnachtsmarkt am Neumarkt drängten sie sich so dicht, dass man um ihr Leben fürchten musste, und die Schildergasse war eine einzige brodelnde Menschenmasse.
Bessere Voraussetzungen konnte man sich als Taschendieb gar nicht wünschen.
Ich ließ mich von der Menge mittragen, fort vom Weihnachtsmarkt mit seinen glühweinseligen Zechern, der Hohen Straße entgegen, bis mich ein Seitenarm des mächtigen Käuferstroms in den Kaufhof spülte.
Natürlich geht kein halbwegs normaler Taschendieb ausgerechnet in einem Kaufhaus seinem kriminellen Gewerbe nach. Es wimmelt dort von Detektiven, die nur auf eine Gelegenheit warten, jemand bei einer bösen Tat zu ertappen und sich ihr Kopfgeld zu verdienen; alle Ecken und Winkel, sogar die Umkleidekabinen und Damenklos, werden von Videokameras überwacht; und hinter jedem zweiten Spiegel hockt ein hochbezahlter Spitzel und späht Personal und Kunden aus.
Aber zum Sondieren sind Kaufhäuser hervorragend geeignet.
Ich steuerte zielstrebig die Schmuckabteilung an und lungerte unauffällig in der Nähe der Kasse herum, voller Gottvertrauen, dass ein passendes Opfer nicht lange auf sich warten lassen würde.
Die Auswahl des Opfers gehört zu den heikelsten Entscheidungen in meinem Beruf. Manche Kollegen sind ja skrupellos genug, selbst kranke Omas, kleine Kinder und hübsche Mädchen um ihr Geld zu bringen, aber das lehne ich aus ethischen Gründen strikt ab. Die kranken Omas überlasse ich den Jungs von der Straßenräuberfraktion, die es sowieso schon schwer genug haben; kleine Kinder sind schon deshalb tabu, weil der Ertrag die Mühe nicht lohnt; und nur Idioten greifen hübschen Mädchen in die Taschen, statt sich mit den lohnenderen Dingen zu beschäftigen.
Ich bin auf wohlhabende, elegant gekleidete und bösartig wirkende Männer und Frauen mittleren Alters spezialisiert, die ihr Geld entweder in den Manteltaschen oder ihren Handtaschen aufbewahren, und je bösartiger sie wirken, desto besser.
Das macht das Stehlen einfach - moralisch gesehen.
Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.
Das Glitzern und Funkeln der ausgestellten Pretiosen begann mir bereits die Sinne zu verwirren, die Verkäuferinnen warfen mir immer öfter misstrauische Blicke zu, und die hochbezahlten Spitzel hinter den Spiegeln telefonierten wahrscheinlich schon mit der Geschäftsleitung, um mich vorbeugend verhaften zu lassen, da erschien es endlich - das ideale Opfer.
Ende Dreißig, ganz in Boss gekleidet, die edlen Füße von Schlangenlederschuhen umschmiegt, das Gesicht eine Maske aus Hass und latenter Gewaltbereitschaft, Typ Juniorchef einer Firma, die auf den Import von Tropenhölzern oder aussterbenden Tierarten spezialisiert war, unglücklich mit der frigiden Tochter des Seniorchefs verheiratet, Vater zweier missratener Kinder, die er ausgiebig tyrannisierte, und mit der eigenen Sekretärin liiert, die er früher oder später in den Selbstmord treiben würde.
Und vermögend genug, um das flotte Leben zu führen, das mir ein blindes Schicksal bisher verwehrt hatte.
Dass er bei seiner Vermögenslage ausgerechnet in der auf Massengeschmack getrimmten Schmuckabteilung des Kaufhofs aufkreuzte, statt bei einem der vornehmen Juweliere, die sich ihre Exklusivität teuer bezahlen ließen, konnte nur bedeuten, dass das Geschenk für seine Frau und nicht für seine Sekretärin bestimmt war.
Unauffällig rückte ich ein wenig näher und fand meine Vermutung bestätigt. Der Juniorchef erstand für schlappe 900 Mark eine besonders hässliche Perlenkette, Marke Ehefrauenglück, und bezahlte sie mit einem druckfrischen Tausender, den er aus einer prallgefüllten Schlangenlederbrieftasche zog.
Er steckte das Wechselgeld ins schicke Portemonnaie.
Ich hielt den Atem an - dies war der entscheidende Moment.
Der Juniorchef enttäuschte mich nicht. Ganz Weltmann, dem Geld nichts bedeutet, weil er sowieso genug davon hatte, ließ er die Schlangenlederbörse locker-lässig in die rechte Manteltasche gleiten und machte sich auf seinen Schlangenledertretern davon.
Ich heftete mich sofort an seine Fersen.
Soviel Leichtsinn musste bestraft werden. Allein der Inhalt dieses gottverdammten Reptilienportemonnaies würde mich auf einen Schlag von den drängendsten finanziellen Sorgen befreien! Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass sein Bedarf an Kaufhofgeschenken gedeckt war und er sich sofort wieder ins Getümmel auf der Schildergasse stürzte.
Meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht.
Er steuerte direkt auf den Ausgang zu.
Ich sputete mich und holte ihn auf dem Warmluftrost an den Türen ein. Im gleichen Moment drängte von draußen eine Horde übergewichtiger Hausfrauen ins Einkaufsparadies, und mit einem schnellen Schritt sorgte ich dafür, dass ich zwischen ihnen und dem Juniorchef eingequetscht wurde.
Ihm dabei meinen Gipsarm in die Seite zu drücken, mit meinem versteckten Greifarm die Schlangenlederbörse aus der Tasche zu fischen und unter meinem Pullover verschwinden zu lassen, war die Sache eines Augenblicks.
Der Juniorchef drehte den Kopf und funkelte mich wütend an. Offenbar hatte ich mit dem Gipsarm etwas zu fest zugedrückt.
»Au!«, sagte ich laut, um sein aufkeimendes Misstrauen durch geschickt eingeflößte Schuldgefühle sofort zu zerstreuen. »Mein Arm!«
»Können Sie nicht auf passen, Sie Armleuchter?«, raunzte er unbeeindruckt. »Bleiben Sie mir gefälligst mit Ihrem gottverdammten Gips vom Leib!«
Er stapfte davon und war Sekunden später in der wogenden Menge verschwunden. Ich entfernte mich in die entgegengesetzte Richtung und gratulierte mir ausgiebig zu meinem unverschämten Glück. Das Glück war mir auch weiterhin hold - vor McDonald’s auf der Hohen Straße erspähte ich mein zweites Opfer.
Diesmal war es eine Frau um die Vierzig, für deren Mantel eine Menge wehrloser Nerze massakriert worden war, mit Lippen dünn und scharf wie Rasierklingen, grausamen Raubvogelaugen und einer zentimeterdicken Make-up-Schicht auf dem angewelkten Gesicht, Typ gelangweilte Direktorengattin, verwöhnt und nie zufrieden, die die Leere in ihrem Leben ausfüllte, indem sie einmal wöchentlich zum Kaninchenvergiften in den Stadtwald fuhr. An ihrer Hand die hochneurotische Tochter, knapp fünf Jahre alt, schon seit der Geburt in psychotherapeutischer Behandlung und der Schrecken jedes Kindergartens, derzeit Rotz und Wasser heulend, weil ihr das Schoßtier der Mutter, ein adrett frisierter Bonsai-Pudel mit tückischem Blick, auf die neuen weißen Stiefel gepinkelt hatte.
Das Positivste an diesem Trio war noch die offene Krokodillederhandtasche, die an der Schulter der Mutter baumelte. Auf einem Berg von Make-up-Utensilien lag ein silberfädendurchwirktes Portemonnaie und glitzerte verführerisch zu mir herüber.
Ich pirschte mich an die Beute heran.
Vom Geplärre der Kleinen sichtlich genervt, holte die fürsorgliche Frau Mama mit der flachen Hand aus und knallte ihr eine; die reizende Kleine revanchierte sich mit einem Tritt gegen den tückischen Bonsai-Pudel, der jaulend einen Meter in die Höhe sprang und sich mit seiner Leine fast selbst strangulierte.
Ich nutzte die günstige Gelegenheit, angelte das Portemonnaie aus der Handtasche und suchte das Weite, bis Mutter, Tochter und Bonsai-Pudel nur noch eine böse Erinnerung irgendwo in der Menge waren.
Pfeifend setzte ich meine Diebestour fort.
Nach einer knappen halben Stunde hatte ich sechs Portemonnaies, zwei Kreditkarten, ein Scheckheft und schätzungsweise zwanzig lose Banknoten in unbekannter Höhe abgegriffen und unter meinem Pullover deponiert. Es wurde höchste Zeit, die Beute zu sichten und die verräterischen Börsen unauffällig verschwinden zu lassen. Vielleicht hatte ich ja schon genug Bargeld zusammengerafft, um den nächsten Flieger in den Süden zu nehmen und Weihnachten am Strand von Ibiza zu feiern! Die Kreditkarten und das Scheckheft würden mir zusätzlich ein hübsches Sümmchen bescheren, auch wenn ich sie nicht persönlich missbrauchte, sondern an meinen schwulen Nachbarn verkaufte, der seit Jahren von Kreditkarten- und Scheckbetrügereien lebte.
In der Ferne leuchtete ein prächtiger Weihnachtsstern zwischen den Tannengirlanden und Plastikchristbäumen hervor, wie eine große Verheißung auf eine wunderbare Zukunft, und voller Vertrauen folgte ich seinem Licht.
Selten war mir so festlich zumute gewesen wie in diesem Moment.
Kaum war ich unter dem Stern angekommen, teilte sich vor mir die wogende Menge wie sich einst vor Moses das Rote Meer geteilt hatte, und eine langbeinige Brünette stöckelte auf hohen Absätzen direkt auf mich zu. Sie wurde von mindestens hundert lüsternen Blicken und einem liebestrunkenen Weihnachtsmann verfolgt und war so schön, dass das Schicksal sie eigentlich nur für mich bestimmt haben konnte. Fasziniert blieb ich stehen, aber sie spazierte ungerührt an mir vorbei, ohne sich von meinem teuflisch guten Aussehen beeindrucken zu lassen, was auf einen ernsten Fall von Kurzsichtigkeit hindeutete, und verschwand wie ein flüchtiger Traum in der Menge.
Frustriert sah ich ihr nach.
Im nächsten Moment prallte der liebestrunkene Weihnachtsmann gegen mich. Offenbar war er ebenso kurzsichtig wie mein brünetter Traum. Der Weihnachtsmann griff nach meinem Gipsarm und riss ihn ab.
»Au!«, sagte ich vor Schreck.
Der Weihnachtsmann starrte den Gipsarm in seiner Hand an, dann den leer an meiner Seite schlotternden Ärmel, dann mich. Er wurde unter dem Rauschebart käsebleich und gurgelte.
»Keine Panik«, sagte ich beruhigend. »Ich wollte ihn sowieso amputieren lassen.«
Der Weihnachtsmann ließ entnervt den Gipsarm fallen; der Arm landete auf dem harten Pflaster, zerbrach aber nicht, was eindeutig für mein handwerkliches Können als Amateurgipser sprach. Als ich mich nach ihm bückte, tauchte hinter dem Weihnachtsmann die neurotische Kleine mit dem tückischen Bonsai-Pudel auf.
Ihre blauen Kulleraugen wurden riesengroß. Sie drehte sich um und krähte. »Mami, Mami, der Mann hat seinen Arm verloren!«
Der Pudel fletschte die Zähne und knurrte den Arm an.
Es wurde höchste Zeit, dass ich von der Bildfläche verschwand.
Ich griff nach dem Gipsarm, aber der tückische Pudel war schneller. Wie wahnsinnig kläffend stürzte er sich auf ihn, schnappte ihn sich und wollte zwischen den Beinen des Weihnachtsmanns verschwinden. Im letzten Augenblick erwischte ich ihn an der Leine, doch ich hatte die Kräfte des Köters unterschätzt. Ich strauchelte, kippte vornüber und riss den Weihnachtsmann zu Boden. Als ich mich wieder aufrappelte, verrutschte mein Spezialpullover und meine ganze Beute fiel heraus.
Das silberfädendurchwirkte Portemonnaie landete direkt vor den Füßen der Direktorengattin.
Sie schnappte hörbar nach Luft. Für einen Moment fehlten ihr die Worte, doch dann schrie sie umso schriller. »Mein Portemonnaie! Das ist ja mein Portemonnaie! Wie kommen Sie an mein Portemonnaie? Zu Hilfe! Der Kerl hat mir mein Portemonnaie geklaut! Warum tut denn keiner was? Warum holt denn niemand die Polizei?«
Von dem mörderischen Geschrei angelockt, blieben die ersten Passanten stehen, und in ihren Gesichtern war keine Freundlichkeit zu erkennen. Zu allem Überfluss entdeckte ich in der Ferne zwei uniformierte Polizisten auf Streife. Sie reckten bereits die Köpfe. Mir blieben nur noch Sekunden, um einen Teil der Beute zusammenzuraffen und mich aus dem Staub zu machen.
Blitzschnell bückte ich mich nach dem wertvollsten Stück, der Schlangenlederbrieftasche, aber kaum hatte ich sie ergriffen, packte mich eine Hand an der Schulter und zerrte mich brutal herum. Es war der Juniorchef. Er wirkte nicht erfreut, mich ohne Gipsarm zu sehen, mit einer Börse in der Hand, die eindeutig ihm gehörte. Seine latente Gewaltbereitschaft schlug in offene Mordlust um.
»Meine Brieftasche!«, knirschte er und entriss mir die Börse. »Hab’ ich mir’s doch gleich gedacht! Na warte, du Kröte! Ich werd’ dir das Klauen schon austreiben! Dich mach ich fertig'.«
Er holte mit der Faust aus.
Ich trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß. Er heulte auf, ließ mich los und begann wie ein Derwisch herumzuhüpfen.
»Der bringt ihn ja um!«, kreischte die Direktorengattin jetzt. »Der Kerl bringt ihn ja um! Warum tut denn keiner was!«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die beiden Polizisten durch die Menge drängten. Zum Teufel mit dem Geld; jetzt ging es um meine Freiheit! Ich wirbelte herum, stieß die Schaulustigen zur Seite und stürzte davon. Hinter mir gellten weitere Schreie, untermalt vom wahnsinnigen Gekläffe des Pudels.
»Hinterher! Lasst ihn nicht entwischen!«
»Ja, warum tut denn keiner was?«
»Sie da, bleiben Sie sofort stehen! Polizei!«
Ich blieb nicht stehen; ich brach durch die Menge, von blankem Entsetzen und hilfloser Wut erfüllt, vom Geheul der rasenden Menge verfolgt, sieben Jahre Knast oder Schlimmeres vor Augen. Ich strauchelte, fing mich wieder, rannte ein junges Pärchen über den Haufen, stieß mit einem Rentner zusammen, erntete wilde Flüche, einen Stockhieb in den Rücken, strauchelte erneut und rannte weiter. Die Schreie der Verfolger hinter mir wurden leiser, aber das beruhigte mich nur wenig. Ohne mein Tempo zu verringern, passierte ich die Budengasse, hetzte über den Wallraffplatz, am Blaugoldhaus von 4711 vorbei, dann über die Domplatte, die vom Regen wie leergefegt war, und vor mir, majestätisch, düster, ungeheuerlich in seiner steinernen Größe, lag der Dom.
Ich warf einen Blick über die Schulter.
Nichts.
Keine Spur von den beiden Polizisten, dem gewalttätigen Juniorchef oder dem tückischen Pudel. Aber sie konnten jede Sekunde auftauchen. Ich musste von der Domplatte verschwinden. Sofort.
Ich drehte mich wieder zum Dom um.
Eine Gruppe amerikanischer Touristen strömte durch das offene Westportal in die Kathedrale. Spontan schloss ich mich ihnen an.
Und das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Zweites Kapitel
Wenn es etwas gibt, das ich an mir hasse, dann meinen unglückseligen Hang zu spontanen Entscheidungen, und als Frühgeburt weiß ich, wovon ich rede. Statt die vollen neun Monate sicher und geborgen im Bauch meiner Mutter zu verbringen, wie es jedes halbwegs normale Baby getan hätte, kam ich spontan sieben Wochen zu früh zur Welt, und ich bereute es sofort. Sensibel wie ich war, erschien mir die Welt als böser, feindlicher Ort, hässlich und von fragwürdigen Leuten bewohnt und - wie ich später feststellen musste - auch noch ziemlich teuer. Ich schrie wie am Spieß, aber meine Reue kam zu spät.
Als ich mit der amerikanischen Touristengruppe in den Dom schlüpfte, hielt ich dies für einen genialen Einfall. Meine Lage war nicht unbedingt rosig, und mir dämmerte inzwischen, dass ich in größeren Schwierigkeiten steckte als je zuvor. Mit meinem Gipsarm hatte ich nicht nur einen guten alten Freund und Partner verloren, sondern auch jede Hoffnung auf ein Weiterleben in der Legalität.
Schließlich hatte ich ihn eigenhändig modelliert und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Thomas Ziegler/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Thomas Ziegler.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2023
ISBN: 978-3-7554-3182-4
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