DAY KEENE
Die nackte Wut
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE NACKTE WUT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Das Buch
Seltsame Dinge ereignen sich am Vorabend einer erregenden Bürgermeisterwahl in Phelpsburg: Da werden ein merkwürdiger Zeitungshändler, ein aus Polen eingewanderter Schneider, ein Polizeibeamter und eine Prostituierte ermordet. In der stickigen Armseligkeit und dem heißen Atem der Slums stellt sich eine Welt schweigsamer Feindseligkeit der Aufklärung dieser scheußlichen Verbrechen entgegen...
Der Roman Die nackte Wut des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Day Keene (eigtl. Gunard R. Hjertstedt - * 28. März 1904 in Chicago; † 09. Januar 1969 in Los Angeles) erschien erstmals im Jahr 1952; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
DIE NACKTE WUT
Erstes Kapitel
Die paar Leute, die das Auto gesehen hatten, bezeichneten es hinterher als groß, schwarz und wie ein Behördenfahrzeug aussehend. Es parkte am Siebzehnten, fünf Minuten nach zwei Uhr, vor dem Haus River Street 421. Drei Männer stiegen aus und gingen in das Gebäude.
»Er wohnt im dritten Stock«, sagte einer von ihnen. »In der Wohnung nach hinten hinaus.«
Das Treppenhaus war alt und roch nach abgestandenem Fett. Die Farbe blätterte von den Wänden. Auf den Treppenstufen lagen keine Läufer. Die drei Männer stiegen schweigend die Treppe hinauf. Dann klopfte der eine sachte an eine Tür.
Stan Kozak schreckte nervös aus dem Schlaf hoch. Schon mehr Hände hatten an seine Tür gepocht. Immer in den frühen Morgenstunden. Dann erinnerte er sich und lächelte. Er war ja nicht mehr in seinem alten Heimatland. Er war in Phelpsburg, USA. Hier würden er und Viola für alle Zeiten sicher sein. Hier konnte man ruhig schlafen in dem Bewusstsein, dass ein Klopfen um Mitternacht schlimmstenfalls von einem Betrunkenen oder einem Gerichtsvollzieher herrührte. Und er schuldete niemandem Geld. Kozak drehte sich um und versuchte zu schlafen. Aber das Klopfen dauerte beharrlich an.
Rappeti - tap - tap - tap.
Viola, Kozaks Frau, erwachte und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »An unserer Tür klopft jemand«, sagte sie.
Kozak brummte unwillig. »Ja. Weiß schon. Wahrscheinlich der besoffene Kerl von droben. Keinen roten Heller fürs Notwendigste, aber für ’n Fusel reicht’s allemal.«
Er schubste sich sein Kissen zurecht, aber der Schlaf war verflogen. Es war heiß in der kleinen Wohnung. Kozak lag da, roch den Fluss unten und horchte auf das von gelegentlichem Gelächter unterbrochene Musik-Geplärre vom Kai her. So, als ob er sich plötzlich ihrer Nähe bewusst würde, legte Kozak die Hand auf den Arm seiner Frau.
Viola nahm sie in ihre eigene und drückte sie. Dann schob sie sie wieder zurück und lachte leise. Kehlig. Stolz. »Du bist lieb, Papa. Aber nun geh schon und sieh nach, wer an der Tür ist.«
Kozak küsste sie aufs Ohrläppchen. Dann schwang er seine dünnen Beine auf den Boden und tastete im Dunkeln nach dem Stuhl, auf dem seine Hose lag. Er war ein kleiner Mann Mitte Vierzig.
»Ja, ist vielleicht besser, wenn ich nachsehe. Könnt ’n Telegramm von Stan sein. Vielleicht kriegt er Urlaub.«
Er fand seine Hose und zog sie an. Dann tappte er barfuß in das andere Zimmer hinüber, öffnete die Wohnungstür und sah in den dunklen Flur hinaus.
»Wer ist da, bitte?«
Der Führer des Trios stieß ihn beiseite und trat ein. Alle drei Männer waren groß. Sie füllten das kleine Wohnzimmer völlig aus. Der letzte der Eintretenden schloss die Tür und lehnte sich dagegen.
»Sie heißen Kozak?«, fragte der Führer.
»Ja«, sagte Kozak.
Es war zu dunkel, als dass er die Gesichter der Männer hätte erkennen können. Einen Augenblick lang vergaß er wieder, dass er in Amerika war. Einen Augenblick lang kehrte die alte Furcht zurück. Schweißperlen begannen über seine Brust zu laufen. Dann wurde ihm wieder klar, um wen es sich handeln musste. Natürlich. Die Männer waren von der Polizei. Sie wollten ohne Zweifel Näheres über den Unfall wissen.
»Ich will Licht machen«, schlug er vor.
Einer der Männer fuhr schnell mit dem Arm dazwischen und hielt ihn zurück. »Nicht nötig. Sie waren heute Abend, auf Ihrem Heimweg von der Arbeit, Zeuge eines Unfalls Ecke Front und Gale Street?«
Kozak war erleichtert. Er hatte also recht gehabt. Die drei Männer waren von der Polizei. In den kleinen Schneider kam Bewegung. »Ob ich Zeuge bei ’nem Unfall war? Hoffentlich seh’ ich in meinem Leben nie mehr so ’ne rücksichtslose Fahrerei. Der Kerl muss entweder betrunken oder verrückt gewesen sein. Mit hundert Sachen ist der die Gale Street entlanggerast.«
Ein Augenblick tiefer Stille folgte. Ein heißer Windhauch bewegte die weißen Vorhänge am offenen Fenster. Der Lärm am Kai verstärkte sich. Weit draußen auf dem Fluss gellte das Horn eines Schiffes, das in die Schleuse wollte. Eine Frau lachte in der Nähe. Ein Klavierspieler in einer der Ufer-Bars begann Star Dust zu spielen.
»Sie haben also gesehen, was passiert ist, ja?«, fragte einer der Männer. »Sie haben gesehen, wie das Kind umkam?«
Kozak nickte. »Ja, Sir. Er ist direkt in Marty reingefahren. Auf der falschen Straßenseite. War ’n kleiner Krüppel, der ’n Bein nachzieht, Marty. Kinderlähmung! So ’n netter Junge. Lächelte immer, wenn ich meine Zeitung kaufte. Guten Morgen, Mr. Kozak.« Kozak war entrüstet. »Und der Kerl hielt noch nicht mal an.«
Der Führer des Trios tippte Kozak mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Keine Sorge. Wir wissen, was passiert ist. Sie waren der einzige Zeuge, ja?«
»Ja, Sir. Ich mach’ Überstunden, wissen Sie? Drei am Tag. Komm’ spät heim. Da ist kaum mehr wer auf der Straße.«
»Beschreiben Sie den Wagen.«
»Blau. Hellblau, ’n großer Wagen.«
»Was für eine Marke?«
»Kann ich nicht sagen. Aber ’n großer Wagen. So groß wie ’n Cadillac. Vielleicht noch größer. Und der Motor so leise wie ’n Segelboot.« Kozaks Entrüstung flammte wieder auf. »Mit hundert Sachen. Ohne Licht.«
»Ein importierter Wagen?«
»Weiß ich nicht.«
»Aber Sie haben den Fahrer gut sehen können?«
Kozak war mit Eifer zu jeder Hilfe bereit. »Ja, Sir. Ich habe direkt an der Kreuzung gestanden. So nah, dass ich ihn mit der Hand hätte berühren können.«
»Beschreiben Sie den Fahrer.«
Kozak rieb seine nackten Füße aneinander. »So um die Vierzig herum, würd’ ich sagen. Groß. Gut angezogen. Gut aussehend. Helle Haare.«
»War es dunkel an der Ecke?«
»Ja, Sir.«
»Wie haben Sie dann die Farbe seiner Haare erkennen können?«
»Ich habe unter der Verkehrsampel gestanden, verstehen Sie, Sir? Wartete, dass das Licht grün wird. Und er hatte keinen Hut auf.«
»Würden Sie den Fahrer wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen würden?«
»Ja, Sir. Ganz sicher.«
Der Mann, der an der Tür lehnte, machte zum ersten Mal den Mund auf. »Wie steht’s mit der Wagennummer? Haben Sie die auch?«
Kozak nickte wieder. »Ja, Sir. Hab’ sie schnell aufgeschrieben - vier - W - elf-eins-dreiundfünfzig.«
»Allerhand für einen Polacken, nicht?«, sagte der Mann. Kozak kratzte sich mit der großen Zeh eines Fußes am Rist des anderen. Er fühlte sich verletzt. Der Beamte hätte ihn. nicht einen Polacken nennen dürfen. Er war kein Pole mehr. Nicht einmal ein Polnisch-Amerikaner. Er war jetzt richtiger Amerikaner. Mit einem Gewerkschaftsausweis und Stan junior, der in Korea gekämpft hatte und sogar Sergeant geworden war. Seine eigenen Einbürgerungspapiere mussten jeden Tag kommen.
Kozak versuchte, sich verständlich zu machen. »Ich hab’ den kleinen Marty gern gemocht, wissen Sie? Deshalb geb’ ich mir besondere Mühe, mich an alles zu erinnern.« Er spreizte seine Hände im Dunkeln. »Aber das hab’ ich doch schon Mr. Murphy erzählt, gleich nach- dem’s passiert war. Und er hat’s in sein Buch reingeschrieben.«
»Ja, das wissen wir«, sagte der Mann, der an der Tür lehnte.
Der Anführer tippte erneut auf Kozaks Brust. »Beschreiben Sie noch mal den Wagen.«
Kozak holte tief Luft und fing wieder an. »’n großer blauer Wagen mit...«
»Hm, hm«, unterbrach ihn der andere. »Da haben Sie aber nicht richtig hingeschaut, Kozak. Verstehen Sie? Es war kein großer blauer Wagen. Es war ein kleines rotes Coupé. Ein Ford. Eine Frau saß am Steuer. Und die Wagennummer fing nicht mit einer Eins an. Es war eine Fünf oder Sechs. Sie wissen das nicht mehr genau.«
Kozak war empört. »Aber das stimmt nicht, Sir. Ich hab’s mit eigenen Augen...«
Eine Hand schlug ihm schwer über den Mund. »Nimm Vernunft an, du blöder Polack. Nimm deinen Verstand zusammen. Es war kein großer blauer Wagen. Es war ein kleines rotes Coupé.«
Der Schmerz trieb Kozak die Tränen in die Augen. Mit der Polizei, so schien ihm, war es in den Vereinigten Staaten genauso wie in jedem anderen Land. Manche waren gut, manche waren böse. Und alle waren ungeduldig und schnell bei der Hand, wenn es ums Zuschlagen ging. Aber irgendjemand hatte diese Beamten hier belogen. Irgendjemand hatte sie falsch informiert. Wenn sie nach einem kleinen roten Coupé, das von einer Frau gefahren wurde, suchten, würden sie den Mann, der den Jungen getötet hatte und danach geflüchtet war, niemals finden.
»Bitte, Sir«, sagte Kozak schüchtern. »Verzeihen Sie. Aber es war ein großer blauer...«
Ein zweiter Schlag, diesmal mit geballter Faust, ließ ihm das Wort auf den Lippen ersterben. Kozak fiel in die Knie. Kaum war er wieder auf den Füßen, als der nächste der Männer auf ihn einschlug.
»Ein rotes Coupé, du blöder Polack.«
Kozak wollte schreien. Aber er konnte nicht. Er war zu erschreckt. Es tat zu weh. Die Bettfedern im Schlafzimmer knarrten, als sich Viola aufrichtete.
Ihre Stimme klang besorgt. »Ist irgendwas nicht in Ordnung, Stan?«, rief sie.
Kozak, keuchend auf dem Boden ausgestreckt, bekam Angst, Angst um sie. Er wusste jetzt, was die drei Männer von ihm wollten. Vielleicht waren es Polizeibeamte, vielleicht aber auch nicht. Aber sie hatten ihn nicht gefragt, um die Wahrheit zu ermitteln. Die Wahrheit interessierte sie gar nicht. Es handelte sich um das, was man in diesem Land ein »fix« nannte, die Schaffung eines Tatbestandes auf Grund falscher Aussagen.
Kozak zwang sich, normal zu sprechen. »Nein. Ist alles in Ordnung«, rief er. »Geh wieder schlafen. Sind nur ’n paar Leute aus dem Betrieb. Wegen ’ner Gewerkschaftssache.«
»Oh«, sagte Viola beruhigt. Die Drahtfedermatratze knarrte wieder, als sie sich zurücklegte.
Der Führer zerrte Kozak auf die Füße. »Langsam wirst du schlau, Bursche. Du lernst ganz schön schnell.«
»Danke«, sagte Kozak verschüchtert.
Der Führer versetzte ihm, ihn an einem Arm festhaltend, einen leichten Schlag. »Um wieder zum Thema zu kommen: Hast du mit deiner Frau über den Unfall gesprochen?«
»Nein, Sir«, log Kozak mit tonloser Stimme. »Kein Wort hab’ ich zu Viola darüber gesagt.«
»Was meinst du?«, fragte der Führer einen der anderen Männer.
»Ich weiß nicht«, sagte der. »Wahrscheinlich lügt er. Aber wenn schon - du hast sie ja eben gehört. Sie kann nicht mal richtig Englisch. Wer glaubt ihr also schon.«
»Ja«, sagte der Mann, der an der Tür lehnte. »Stimmt. Andrerseits können wir kein Risiko eingehen.«
»Ich habe es auch nicht vor«, sagte der Führer. Während er noch immer Kozak mit einem Arm festhielt, verpasste er ihm einen brutalen Schlag in die Leistengegend. »Das kriegst du gratis, verstehst du? Das ist der Vorgeschmack von dem, was ihr beide, du und deine Frau, zu erwarten habt, wenn ihr nicht spurt. Kapiert?«
»Ja, Sir«, keuchte der kleine Schneider in Todesangst.
Der Mann zwang ihn, aufrecht stehenzubleiben. »Wir wollen die Sache noch einmal durchgehen. Wie war die Farbe des Wagens, den du gesehen hast?«
»Rot.«
»Was für ein Typ war es?«
»Eine Limousine. Ein rotes Ford-Coupé.«
»Von wem wurde sie gefahren?«
»Von einer Frau.«
»Und die Wagennummer?«
»Weiß ich nicht«, japste Kozak.
Der Mann, der ihn festhielt, versetzte ihm wieder eins in die Leistengegend. »Noch mal. Die Wagennummer?«
Kozak hatte solche Herzschmerzen, dass er kaum atmen konnte. Er hatte das Gefühl, als ob ein Riese seine Lungen zusammenquetschte. Er rang nach Luft. »Fing mit ’ner Fünf oder Sechs an. Weiß es nicht mehr ganz genau.«
»Glaubst du, dass du dir’s jetzt merken kannst, Kozak?«, fragte der Mann, der an der Tür lehnte.
»Ja, Sir. Bestimmt, Sir«, sagte Kozak.
Er hoffte, seine Feigheit würde ihm verziehen werden. Wenn es nicht wegen Viola gewesen wäre, hätten sie ihn ruhig zu Brei schlagen können, so wie damals im Konzentrationslager, ehe er eine solche Lüge von sich gab. Aber er wollte nicht, dass sie wieder misshandelt würde. Sie hatte genug durchgemacht. Er hatte ihr versprochen, dass nun alles anders würde.
Der Anführer ließ ihn los. »Sieh zu, dass du dir’s jetzt merkst. Andernfalls kommen wir wieder. Und das nächste Mal werden wir dich fertigmachen. Kapiert?«
Kozak, unfähig zu stehen, sank in die Knie, beide Hände in die Leisten gepresst. Dann, wie er so im Dunkeln kniete und das Geklimper des fernen Klaviers in sein Ohr drang, wusste er plötzlich, was er tun würde. Am Morgen, noch bevor er zur Arbeit ging, würde er alles Dan Malloy erzählen.
Big Dan würde die Sache in Ordnung bringen. Big Dan würde ihn beschützen. Wenn man zu seinen Leuten gehörte, so gab es nichts, was Big Dan nicht für einen tat. Dan war es egal, ob man Pole, Jude oder Ire war. Wenn man im Valley wohnte, dort wo sich zwischen Phelpsburg und dem Kai alte Mietshäuser und verkommene Hütten dicht aneinanderreihten, so gehörte man zu Big Dans Leuten. Wenn man ins Gefängnis kam, brachte er einen wieder heraus. Wenn man keinen Job fand - er verschaffte seinen Leuten einen Job. Wenn man krank war und nicht arbeiten und die Miete zahlen konnte - Big Dan lieh das Geld her und verlangte nie Zinsen dafür. Wenn man Kohlen brauchte, schickte er welche. Und immer an Thanksgiving und Weihnachten gab es große Körbe mit Nahrungsmitteln für die Armen. Ganz gleich, mit welchen Sorgen man zu ihm kam, Big Dan half. Alles, was als Gegenleistung gefordert wurde, war, dass man bei der Wahl seine Stimme den guten Leuten gab, die zu wählen Big Dan einen hieß.
Hoffnung erfüllte erneut Kozaks zerschlagenen Körper. Big Dan würde dies hier nicht dulden. Nicht eine Minute lang. Wenn diese Leute von der Polizei waren, würde Big Dan dafür sorgen, dass sie aus dem Polizeidienst entlassen wurden. Schneller, als die Burschen bis drei würden zählen können. Und wenn sie nicht von der Polizei waren, würde sich Big Dan der Sache ebenfalls annehmen.
Einer der Männer schien Kozaks Gedanken zu erraten. »Falls du auf die Idee kommen solltest, dich bei Big Dan zu beklagen, schlag dir’s aus dem Kopf. Big Dan hat uns hergeschickt. Kapiert?«
»Nein«, protestierte Kozak.
»Aber ja.« Der Mann zog sein Bein und trat Kozak in den Magen. Mit aller Kraft, deren er fähig war. Dann stieß er noch einmal zu. Diesmal in die Brust. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Nimm Vernunft an, du Blödian. Nimm deinen Grips zusammen.«
Die drei Männer verließen die Wohnung und schlossen leise die Tür hinter sich.
Kozak blieb, wo er war - auf dem Boden. Seine Stirn berührte den Teppich. Er sah aus wie ein ins Gebet versunkener Mohammedaner. Alle Wünsche und Sorgen hatte er hinter sich gelassen. Für ihn spielte es keine Rolle mehr, ob der Wagen rot oder blau, groß oder klein gewesen war. Er konnte nichts mehr daran ändern.
»Stan!«, rief Viola aus dem Schlafzimmer.
Kozak antwortete nicht.
Mrs. Kozak, eine große, schöngewachsene Frau mit großen, festen Brüsten, tappte heraus ins Wohnzimmer und knipste das Oberlicht an.
»Stan«, fragte sie erschreckt. »Warum kommst du nicht ins Bett? Wieso liegst du auf dem Boden?«
Der heiße Luftzug bewegte wieder die Vorhänge. In der Bar am Kai begleiteten Trompete und Schlagzeug Klavier und Tenorsaxophon in einem herzerweichenden Arrangement von Dinah.
Ein Schweißtropfen lief Viola Kozaks Kehle entlang und rollte über eine ihrer Brüste.
»Stan«, wiederholte sie flüsternd.
Sie kniete neben ihrem Mann nieder und schüttelte ihn. Dann sah sie das Blut und schrie auf. Ihre Schreie weckten das ganze Haus. Zwei Funkstreifenbeamte waren die ersten, die eintrafen. Dann zwei Polizisten vom Valley-Revier. Und zuletzt ein ernster junger Coroner aus Phelpsburg. In dem von ihm verfassten amtlichen Protokoll hieß es:
Stanislaus Kozak, 46 Jahre alt, wohnhaft River Street 421, starb ungefähr um zwei Uhr fünfzehn morgens an einem Verschluss der Coronar-Gefäße und inneren Blutungen, die durch schwere Schläge einer oder mehrerer unbekannter Personen verursacht wurden.
Zweites Kapitel
Der Morgen war heiß. Big Dan Malloy lag eine Weile auf dem Rücken, horchte auf das vertraute weibliche Geplätscher im Badezimmer und fragte sich, warum er jemals angefangen hatte, Champagner zu warmem Hummer zu trinken. Im Grunde mochte er weder das eine noch das andere. Beides verursachte ihm Magenbeschwerden. Aber ganz egal, wohin er ging oder was er tat, wie die Motte zum Licht kehrte er immer zu Katie zurück.
Draußen, vom schwarzen, fernen Fluss her gellte das Signalhorn eines Schleppers, der mit seinen Schleppkähnen in die Schleuse wollte. Ein schwerer Lastwagen rumpelte unten auf der gepflasterten Front Street vorbei. Auf dem Bürgersteig drunten stritt eine Schar kleiner Mädchen mit schrillen Stimmen über ihr Himmel-und-Hölle-Spiel.
Malloy zündete sich die erste Zigarre des Tages an. Zum Teufel mit Charles A. Reardon. Ganz gleich, ob er aus einer der besten Familien von Phelpsburg stammte oder nicht, der Bürgermeisterkandidat der Reformpartei war ein so energieloser Schwächling, wie man ihn schlimmer sich nicht wünschen konnte. Aber das, so überlegte sich Malloy, war in gewisser Beziehung ganz gut so. Er zweifelte daran, dass Reardon auch nur über sein eigenes Kinn hätte wegspucken können, wenn er eins gehabt hätte.
Diese letzte Nacht war das Ergebnis reinsten Wohlwollens. Wenn die Wahl einmal vorbei war und sie den Bürgermeisterposten im Sack hatten, gönnte er den anderen Jungen ihren Sekt und Hummer. Er blieb da, wo er hingehörte, im Valley - dem neuen Valley. Ihn zog es zu Schweinshaxen und Bier. Ein Abend in der hinteren Nische bei Katie war seine Ausschweifung. Malloy strich über das zerdrückte Kissen. Lächelnd, voller Zuneigung. Er sollte Katie heiraten. Es war wirklich an der Zeit. Keiner von beiden wurde schließlich jünger.
Malloy schwang seine nackten Füße auf den Boden. Er war ein großer Mann mit mächtigem Brustkasten, der, ohne fett zu sein, beinahe seine zweihundert Pfund wog. Er tappte durch das Zimmer und betrachtete sich in dem hohen Spiegel von Katies Toilettetisch.
Er war fünfundvierzig Jahre alt, und man sah sie ihm auch an. Sein Haar war mehr grau als schwarz. Die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer. Das Kinn hatte nicht mehr die Festigkeit von früher. Der rötliche Schimmer auf seinen Wangen bedeutete nicht mehr Gesundheit. Er war das Ergebnis des Umgangs mit fünftausend Installateuren und ihren Gesellen.
»Trink noch einen mit mir, Dan. Bitte.«
»Danke. Hab’ nichts dagegen.«
Malloy zog seinen Bauch ein. Nein, weder er noch Katie wurden jünger. Aber Katie wurde jedes Jahr hübscher. Und sein Bauch war selbst mit fünfundvierzig noch immer straff. Seine Muskeln waren noch hart. Wenn es darauf ankam, stellte er bei einer Schlägerei noch immer seinen Mann.
Und was noch mehr bedeutete, Frauen fanden ihn noch immer anziehend. Malloy lächelte, als ihm Jane Reardon einfiel. Das war weiß der Himmel eine schöne Frau. Und er konnte sie haben. Malloy schnippte mit den Fingern.
Kleinigkeit. Er spürte es an den schweren Blicken, mit denen sie ihn betrachtete. An der Art, wie ihr Atem stockte, wenn sich ihre Hände berührten. Jane mochte ihn. Jane wollte ihn haben. Nicht, dass er es ihr verübelte. Mit Charles A. Reardon verheiratet zu sein war sicher genauso erregend wie die Ehe mit einem aufgeweichten Brötchen.
Die roten Haare hochgesteckt, die Wangen schimmernd vom Wasser und ein weißes Frotteetuch wie einen Sarong um sich geschlungen, kam Katie aus dem Badezimmer.
»Sieh da, Mr. Malloy, wenn ich mich nicht irre.«
Malloy verbeugte sich. »Miss Bishop?«
Dann breitete er die Arme aus.
Katie beäugte ihn misstrauisch. »Aber nicht so wild, bitte.«
»Nein, ganz sanft«, versicherte er.
Katie ließ sich in seine Arme fallen und lachte. »Du großer, nichtsnutziger, betrunkener Strolch. Weißt du was?«
»Was?«
»Du bist reizend.«
»Du bist selbst ganz nett.«
Das kräftige rothaarige Mädchen schmiegte ihr Gesicht an seines. »Sag mal«, sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar, »wie geht’s dir denn heute Morgen, Liebling?«
Malloy küsste sie. »Na, so mittelprächtig. Du weißt schon, Katie - wenn ich je wieder zu einer Sauferei...«
»Ja, ich weiß. Ich hab’s so oft gehört, dass ich schon daran gedacht habe, es vertonen zu lassen und als Schlager in meinem Programm zu verwenden. Wenn du je wieder Champagner und Hummer herunterschlingst, hoffe ich, lässt du dich auf deinen Geisteszustand untersuchen. Wie war denn euer Palaver?«
Malloy kratzte sich am Bauch. »Soso lala.«
Katie begann sich zu pudern. »Aber wenigstens erträglich durch die Anwesenheit der schönen Mrs. Reardon.«
»Jaa«, sagte Malloy. Er sah in den Spiegel, und als er dort auf Katies Blick traf, vertiefte sich die Röte seines Gesichts. »Nun hör aber mal, Liebling...«, begann er.
Das rothaarige Mädchen klappte den Deckel wieder auf die Puderschachtel und setzte sich auf den Hocker vor dem Toilettetisch.
»Ich weiß«, wiederholte sie. »Jane Reardon bedeutet dir nichts.«
Sie löste ihr Haar und begann es durchzukämmen. »Das hast du mir vergangene Nacht zwei Stunden lang auseinandergesetzt - besser gesagt, heute Morgen.«
Malloy grinste etwas einfältig.
Katie fuhr fort, ihr Haar zu kämmen. »Wir sind nicht verheiratet. Ich bin nicht dein Kindermädchen. Wahrscheinlich sollte ich überhaupt zufrieden sein, solange du letzten Endes noch immer zu mir nach Hause kommst. Aber in diesem Fall liegt die Sache ein bisschen anders. Sieh dich vor, Dan. Es würde sich nicht um dich allein handeln. Es wäre das ganze Valley, mit dem sie sich einlassen würde. Mit zweihundertfünfzigtausend Wählern sozusagen.« Katies Haar hatte sich verfilzt. Sie kämmte die Stelle gereizt. »Wenn ich Frauen richtig einschätze - und ich glaube, ich tu’s -, dann sage ich dir, dass dieses schwarzhaarige kleine Mistvieh sich mit dem Teufel einlassen würde, um ihrem Mann den Bürgermeisterposten zu sichern.«
Malloy nahm seine erloschene Zigarre aus dem Mund. Erregt wollte er anfangen zu sagen: »Blödes Geschwätz, was du da von dir gibst«, besann sich aber eines Besseren.
Es war nicht Katies Schuld, dass sie nicht verheiratet waren, sondern seine eigene. In ihrem Leben gab es außer ihm keinen Mann, und es hatte auch nie einen gegeben. Katie war geduldig und verständnisvoll. Es gab wirklich keinen Grund, warum sie nicht heiraten sollten. Es war nur einfach irgendwie nie dazu gekommen.
»Tut mir leid, Liebling«, sagte er.
»Das hoffe ich«, antwortete das rothaarige Mädchen.
Malloy ging zum Fenster und schaute auf die enge belebte Front Street hinab. Sie hatte sich nicht verändert. Es gab mehr Verkehr, mehr Fabriken, die den Fluss mit ihren Abwässern verschmutzten, mehr Rauch und mehr Dreck. Aber davon abgesehen sah sie beinahe noch so aus wie damals, als er ein Junge gewesen war.
Hier war der Fluss. Da der Kai. Dort auf dem Steilufer lag Phelpsburg. Und zwischen Fluss und Steilufer lag das Valley, unverändert schmierig und schmutzig und übervölkerter denn je.
Malloy blickte auf die kleinen Mädchen hinunter, die »Himmel und Hölle« spielten. Es war schon eine elende Sache, wenn Kinder in diesem Alter auf dem Bürgersteig vor einer Bar am Kai spielen mussten. Selbst wenn es Katie Bishops Bar war. Er hatte sich ursprünglich so viel vorgenommen gehabt. Er hatte sich so große Mühe gegeben. Aber die Zeit war so schnell vergangen. Und er war so oft enttäuscht worden.
Schon vor Jahren hatte er all dies ändern wollen. Aber zuerst war die Wirtschaftskrise gewesen. Dann der Zweite Weltkrieg mit seinen Rationierungen und Einschränkungen. Malloys Gesicht hellte sich auf. Nun würde es nicht mehr lange dauern. Er konnte zwar nicht die Welt verbessern und hatte es auch nicht vor. Aber er konnte das Valley neu aufbauen. Die Idee einer Mustersiedlung war einer der wichtigsten Programmpunkte in Charles A. Reardons Wahlkampf. Endlich hatte er jemand aus der Strumpf-Dynastie in Phelpsburg gefunden, der mit ihm übereinstimmte, dass das gesamte Mietskasernen- und Bruchbudenviertel abgerissen und durch moderne Musterhäuser, die sich um Parks mit großzügigen Spiel- und Baseballplätzen und Schwimmbassins gruppierten, ersetzt wurde.
Malloy lächelte bei dem Gedanken. Dann fiel ihm Marty Shane ein. Marty würde nun nie in einem der neuen Häuser wohnen. Marty würde nun nie sein verkrüppeltes Bein in einem der neuen Schwimmbecken trainieren können. Marty war tot. Irgendein besoffenes Schwein hatte ihn über den Haufen gefahren. Und es noch nicht einmal für nötig befunden, deshalb anzuhalten.
Malloy nahm den Hörer von der Gabel des Telefons, das auf dem Nachttisch stand, und setzte sich auf das Bett.
»Wo brennt’s?«, fragte Katie.
Malloy wählte die Nummer des Polizeireviers vom Valley.
»Malloy hier«, sagte er in die Muschel des Hörers. »Ich möchte Kramer sprechen.« Während er wartete, blickte er zu Katie hinüber. »Jack müsste inzwischen eigentlich etwas über die Fahrerfluchtsache herausgebracht haben.«
Katie hatte ihr Haar fertig gekämmt und öffnete eine Schublade, um darin nach Strümpfen zu suchen. »Das ist eine ganz üble, elende Geschichte. Der Fahrer sollte ordentlich was aufgebrummt bekommen.«
»Ich werde dafür sorgen«, sagte Malloy. »Diesmal gibt’s kein Pardon, ganz gleich, um wen es sich handelt.« Er sprach wieder ins Telefon, als Polizeichef Kramer an den Apparat kam. »Hier spricht Dan, Jack... Wie?« Malloy lachte. »Oh, du hast noch immer einen Brummschädel? Nie mehr Champagner? Ich auch nicht. Hab’ ’nen Mund, wie wenn ich ’nen Sack voll Watte verschluckt hätte.« Sein Lächeln verschwand. »Aber hör zu, Jack. Ich rufe wegen dieser Fahrerfluchtgeschichte Ecke Front und Gale Street heute Nacht an... Ja. Stimmt. Dieser verkrüppelte kleine Zeitungsjunge. Marty Shane.«
Katie kam herüber und setzte sich auf das Bett, um ihre Strümpfe anzuziehen. »Weiß Jack schon irgendwas?«
»Er sucht nach dem Bericht«, sagte Malloy. Ihre Nähe erregte ihn leicht. Während er darauf wartete, dass Kramer wieder an den Apparat kam, küsste er sie auf die Schulter. »Hab’ ich dir je gesagt, dass du hübsch bist, Liebling?«
Katie reagierte sachlich. Sie blickte auf die Uhr. »Seit ungefähr drei Stunden nicht mehr. Vielleicht solltest du öfter Champagner trinken.« Sie befestigte den einen Strumpf und beugte sich vor, um den anderen überzuziehen.
Malloy wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Telefon zu. »Ja? Ich höre. Ein kleines rotes Coupé. Ein Ford. Eine Frau am Steuer. Hm. Und der Zeuge meint, die Wagennummer finge mit einer Fünf oder Sechs an.«
Katie richtete sich auf dem Bett auf. »Könnte mein Wagen sein.«
»Pst«, sagte Malloy. »Also, was hast du herausgefunden?« Kramers Antwort missfiel ihm offensichtlich. Die Röte in seinem Gesicht nahm zu. »Ach zum Teufel, Jack. Du warst schon blau, bevor wir zum Bankett gingen. Steh von deinem fetten Hintern auf und mach dich an die Arbeit. Keiner fährt ungestraft einen meiner Leute über den Haufen.«
Kramer schien eine ganze Weile ernsthaft auf ihn einzureden. Malloy unterbrach ihn schließlich mit einem Fluch. »Ich gebe einen Dreck auf dieses ganze Geschwätz. Und es ist mir auch wurscht, auf wie viele Wagen in Phelpsburg die Beschreibung passt. Setz dich mit der Zulassungsstelle ins Benehmen. Verhafte den, der’s getan hat. Wer Marty auch getötet hat, ich will den Kerl. Und ich gebe mich nicht mit fahrlässiger Tötung zufrieden. Dran glauben wird das Schwein, und wenn es das letzte ist, wofür ich sorge.«
Malloy schmiss den Telefonhörer auf die Gabel.
Katie legte die Hand auf seinen Arm. »Reg dich nicht auf, Liebling. Bitte.«
Malloy schüttelte die Hand von seinem Arm. Die machen mich fuchsteufelswild. Diese Selbstzufriedenheit! Vielleicht ist es besser, dass er tot ist, sagt Jack. Der Kleine war doch bloß ein Krüppel. Hat vielleicht irgendjemand Marty gefragt, ob er sterben möchte? Nein. Und wie er am Leben hing! Trotz lahmem Bein und allem übrigen. Ich weiß es. Der kleine Bursche hatte allerhand Spaß an seinem Dasein. Konnte er was dafür, dass er sich die Kinderlähmung holte, weil er in diesem Drecksviertel wohnen und das verseuchte Flusswasser trinken musste und keinen anständigen Platz zum Spielen hatte?«
Katie legte wieder ihre Hand auf seinen Arm, fest diesmal. »Bitte, Dan. Du weißt, was der Doktor wegen deines Blutdrucks gesagt hat.«
»Zum Teufel mit dem Doktor«, sagte Malloy. »War es vielleicht die Stadt Phelpsburg, die Marty rettete, als er die Kinderlähmung bekam? Nein. Die Kinderlähmungsstiftung war’s.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Gunard R. Hjertstedt/Signum-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Gunard R. Hjertstedt.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Georg und Rosmarie Kahn-Ackermann und Christian Dörge (OT: Naked Fury).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2428-4
Alle Rechte vorbehalten