Cover

Leseprobe

 

 

 

 

GEORGE H. COXE

 

 

Die abgebrochene Nadel

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE ABGEBROCHENE NADEL 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Das Buch

Kent Murdocks langjährige Erfahrungen hatten ihn für fast jede denkbare Situation und ihre Behandlung gewappnet, doch dies hier war ihm noch neu. Es lag nicht nur an dem Auftrag oder dem Erlebnis mit der Werkpolizei und dem Pförtner, sondern es war ein Gefühl, das ihn gleich beim Eintreten in das Haus überfallen hatte: die riesige Weite des Vestibüls und der Flure, die große Stille und die kalte sachliche Art, wie man ihn empfangen und herumgeführt hatte. Noch nie hatte er in einem so großen und so hübschen Schlafzimmer logiert, und obwohl er nur infolge des Unwetters über Nacht hier Gast war und gar nicht erwartete, im Kreise der Familie begrüßt zu werden, spürte er dieses Unbehagen, für das er keinen Grund hätte angeben können...

 

»George H. Coxe ist ein Stern erster Größe auf dem Gebiet des Kriminalromans. Seine Bücher sind stets unterhaltend, packend und spannend. Er versteht es, ein schnelles Tempo anzuschlagen, das er von Kapitel zu Kapitel und von Buch zu Buch beibehält.« (Original-Werbetext, 1959) 

 

Der Roman Die abgebrochene Nadel des US-amerikanischen Schriftstellers George H. Coxe (* 1901 in Olean, Cattaraugus County, New York; † 31. Januar 1984) erschien erstmals im Jahr 1948; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1959.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

  DIE ABGEBROCHENE NADEL

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Kent Murdock fotographierte schon zu viele Jahre, um sich noch durch Ereignisse, Umgebung oder menschliche Verschrobenheit imponieren zu lassen. Als bester Bildreporter des Courier-Herald und Leiter des gesamten Bilddienstes der Zeitung, kam er fortwährend in engste Berührung mit arm und reich und hielt mit seiner Kamera die Ereignisse fest, wie sie fielen, alltägliche und sensationelle.

Dass er seinen jetzigen Auftrag allein und exklusiv für die gesamte Bostoner Presse und die großen Bilderdienste des Landes ausführen sollte, ließ ihn persönlich ganz kühl, bis er vor dem Pförtnerhaus am Besitztum der Caldwells eintraf. Erst dann fiel ihm ein, dass er der erste Pressefotograph war, dem es gestattet wurde, diesen geheiligten Boden zu betreten, weil er am nächsten Morgen seit neun Jahren die erste Aufnahme von Caldwell senior machen sollte. Dabei imponierte ihm weniger die Tatsache, dass man ihm hier Logis anbot, als die Szenerie und das ganze Gebaren bei seiner Ankunft.

Zu dieser Szenerie hatten die Elemente erheblich beigetragen. Die Wettervoraussage, die Wind und Regen ankündigte, war allzu bescheiden in der Formulierung gewesen, denn der Wind hatte fast Orkanstärke und die Sturmflut wütete so, dass nach zwei Regentagen ganze Küstenstriche südlich der Stadt vom Festland abgeschnitten wurden. Den größten Schaden hatten die Kraftwerke und Telefongesellschaften, da abgebrochene Äste und entwurzelte Bäume auf die Leitungen gestürzt waren. Infolgedessen war das Herrenhaus Caldwell schon seit mehreren Stunden ohne Kraftstrom, Licht und Telefon.

Jetzt – am Spätnachmittag – hatte der Regen aufgehört und der Sturm nachgelassen, doch in einer Vertiefung der Straße kurz vor dem Pförtnerhaus dehnte sich noch eine fünfzehn Meter breite Wasserlache. Vorher war der Weg hier unpassierbar gewesen und man hatte Murdock frühzeitig aus der Stadt her zitiert, weil man befürchtete, dass bei weiteren Regenschauern das Grundstück nicht mehr erreichbar sein würde.

Eine kleine Limousine parkte kurz vor dem Teich am Straßenrand, und als Murdock mit seiner Limousine dort anhielt, stiegen drei Männer aus dem anderen Wagen. Einer trat neben ihn ans vordere Fenster, zwei gingen zum Fenster an der anderen Seite. Nach einem prüfenden Blick über sein Gerät und das kleine Gepäck fragten sie ihn: »Wollen Sie zum Herrenhaus, Mister? Geschäftlich?«

Sie machten durchaus keine bedrohlichen Mienen, studierten ihn aber, als er den Zweck seines Kommens erklärte, so aufmerksam, dass er überzeugt war, ohne ihre Erlaubnis könne niemand auch nur bis zum Pförtnerhaus vordringen.

»Wir sind von der Gewerkschaft«, sagte der Sprecher der drei. »Haben gehört, dass hier eine ganz dicke Sache steigen soll, deshalb sind wir als Vertreter gekommen, um mit einzugreifen, wenn’s nötig wird.«

Murdock verstand zwar nicht ganz, wie Leute eingreifen wollten, wenn sie nicht einmal das Grundstück betreten durften, aber er äußerte sich dazu nicht, sondern sagte: »Ich weiß nur, dass John Caldwell morgen früh über den Rundfunk sprechen und fotographiert werden will. Bleiben Sie die ganze Nacht hier?«

»Wir machen Schichtdienst.« Mit einem Wink gaben sie ihm den Weg frei. »Durch das Wasser da kommen Sie ganz gut, wenn Sie vorsichtig fahren.«

Murdock schaltete den zweiten Gang ein und ließ seinen Wagen langsam durch die Überschwemmung rollen. Jenseits des Wassers, gleich hinter der kleinen Bodenwelle, lag das zweistöckige, massiv gebaute Pförtnerhaus, von dem parallel zur Straße eine hohe Mauer, unterbrochen von dem schweren eisernen Tor – mit breiter Durchfahrt für Wagen und einem schmalen Eingang für die seltenen Fußgänger – sich weithin erstreckte, in der Ferne von Bäumen verborgen.

Zwei Männer in der Uniform der Werkpolizei kamen – wie vorher die drei von der Gewerkschaft – sofort an den Wagen, als Murdock anhielt. Sie baten ihn um seine Papiere, prüften seinen Presseausweis, erklärten ihm, dass er seinen Wagen draußen lassen müsse, und zeigten ihm, wo er abgestellt werden sollte. Dann gingen sie mit ihm an ein offenes Fenster des Pförtnerhauses und gaben dem innen stehenden Pförtner ein paar Auskünfte über ihn.

Dass nun erst noch offiziell mit dem Herrenhaus um endgültige Genehmigung für ihn telefoniert wurde, amüsierte Murdock, machte ihm aber gleichzeitig noch einmal klar, wie schwierig es sein musste, ohne Erlaubnis auf dieses Grundstück zu gelangen. Dass es genauso schwer war, herauszukommen, sollte er erst später erfahren.

Der Pförtner hängte den Hörer ein und griff nach einem Hebel neben dem Telefon. »Geht in Ordnung, Sir«, sagte er. »Geradeaus die Anfahrt hinauf. Beim Hause nimmt Sie jemand in Empfang.«

Das kleine Tor öffnete sich, Murdock schritt hindurch. Hinter ihm schlug es mit metallischem Klingen zu. Er ging auf einem gewundenen Fahrweg weiter, der so säuberlich glattgewalzt war, dass er sich versucht fühlte, lieber auf der Rasenkante zu gehen, als die perfekt getrimmte Kiesschicht durch Fußspuren zu verunstalten.

Das Herrenhaus lag ungefähr hundert Meter vom Tor entfernt: ein prächtiger dreistöckiger Bau aus grauem Granit mit weißem Holzwerk, im Stil der Kolonialzeit. Murdock hatte gehört, dass der Ballsaal einen ganzen Flügel des Hauses einnehme, und wusste, dass hinter dem Gebäude ein von Bäumen umgebenes Schwimmbassin lag, ferner ein Tennisplatz und eine Garage für zwölf Wagen nebst Wohnungen für die Chauffeure und deren Familien. Während er noch über diese und andere Besonderheiten der Anlage nachdachte, bemerkte er zwei Männer, die ihn im beginnenden Abenddämmern an der Freitreppe erwarteten; er steuerte mit seinem Fotokoffer und der Handtasche auf sie zu.

Die Haltung dieser beiden Männer erinnerte ihn an Fotos von Geheimpolizisten, die den Präsidenten bewachen. Sie standen mit leicht gespreizten Beinen da, die Hände im Rücken, und beobachteten ihn ganz intensiv. Der eine, der einen schwarzen Anzug aus leichtem Stoff trug, war stämmig und hatte dicke schwarze Augenbrauen, der andere, jünger und größer, hatte kurzgeschnittenes welliges Haar, ein breites starkes Kinn und einen Anzug, der nach Murdocks Erfahrungen von einem teuren Schneider der Fifth Avenue in New York stammen musste.

Der Anblick, den sie boten, reizte seinen Sinn für Humor und er fragte sich, während er verwundert über das ganze Zeremoniell zu seinem Empfang auf sie zuschritt, ob so viele Umstände gemacht wurden, weil Caldwell Fotographen nicht leiden konnte, oder ob man um das Familiensilber besorgt sei oder ob es im Herrenhaus Caldwell einfach so üblich war?

Der in dem eleganten Anzug sprach ihn ganz liebenswürdig an: »Hier bitte, Mr. Murdock.« Und indem er auf seinen Kollegen wies: »Er wird Ihre Sachen tragen.«

Murdock überließ dem Mann im schwarzen Anzug sein Gepäck. Sie gingen die Freitreppe hinauf, über die Terrasse und unter einem prächtigen antiken Oberlichtfenster durch die Haustür, die so breit war, dass sie bequem nebeneinander in das große Vestibül eintreten konnten, dessen Täfelung im Lauf vieler Jahre dunkel geworden war. Im Schein flimmernder Kerzen wirkten die Winkel ganz düster. Auch als sie die feingeschwungene, kreisförmige Treppe hinaufstiegen, flackerten ringsum Schatten. Im matten Licht des offenen Salons zur Rechten hatte Murdock mit raschem Blick altamerikanische Möbel erkannt, wie sie John Caldwell schon seit langer Zeit leidenschaftlich sammelte.

Der Mann, der sie im Vorflur des ersten Stocks empfing, hätte sich, so wie er da stand, gut als Modell für ein Reklamebild vom vornehmen älteren Herrn geeignet. Er hatte ein schmales, markantes Gesicht, sein graubraunes Haar war straff von der Stirn zurückgekämmt, der dunkle Anzug mit weißem Oberhemd und dunkelblauer Krawatte war feinste Maßarbeit. Seine braunen Augen musterten Murdock etwas nervös; sein Lächeln war reserviert.

»Mr. Murdock?«, sagte er höflich. »Ich bin Donald Caldwell. Nett, dass Sie gekommen sind.« Er machte eine Pause, ohne jedoch Murdock die Hand zu bieten. »Hatten Sie unterwegs Schwierigkeiten?«

Murdock erinnerte sich, dass Donald Caldwell der einzige noch lebende Sohn von Old John war, schätzte ihn auf über fünfzig und stellte fest, dass er zwar einen Kopf kleiner war als sein berühmter Vater, aber dieselbe sehnige und straffe Figur hatte.

»Nein, Sir«, erwiderte er. Beinah hätte er erklärt, dass der schwierigste Teil seiner Fahrt die vor dem Betreten des Grundstücks gemachten Umstände gewesen seien, spürte aber, dass er damit Anstoß erregt hätte. »Ein paar Bäume waren umgefallen«, setzte er hinzu, »doch die Straßenbaubehörde hatte schon ganz gut aufgeräumt. Draußen vor dem Pförtnerhaus steht allerdings noch ein ganz schöner Sumpf.«

»Deshalb wollten wir Sie ja schon heute Abend hier haben. Nach dem Wetterbericht soll es zwar besser werden und das Kraftwerk hat uns versprochen, dass wir noch vor morgen früh wieder Strom haben, aber wir wollten es nicht erst darauf ankommen lassen, vielleicht wieder von der Umwelt abgeschlossen zu werden. Ich hoffe, Sie werden mit Ihrer Unterbringung zufrieden sein.«

Mit einer angedeuteten Verbeugung wandte Caldwell sich ab. Als er fortging, spürte Murdock eine leichte Berührung am Arm. Die zwei Männer geleiteten ihn durch den Treppenflur und um die Ecke in einen Korridor, der noch dunkler war, bis zu einer Tür an der rechten Seite.

Der mit dem welligen Haar öffnete sie und forderte Murdock auf, einzutreten. »Da wären wir«, sagte er, nahm seinem Kollegen, den er draußen ließ, das Gepäck ab und schloss die Tür.

Das Licht einer altmodischen Petroleumlampe mit Fuß und Schirm aus Porzellan kämpfte, so gut es ging, gegen die zunehmende Dunkelheit und warf einen gemütlichen Schimmer durch das Zimmer mit den polierten Möbeln aus Ahornholz. Handgewebte Teppiche bedeckten fast den ganzen Fußboden, die Tapete hatte heitere Farben und Murdock, wenn auch kein großer Kenner, war sofort begeistert von dem breiten Bett mit den kunstvoll gedrechselten Pfosten, der dazu passenden Spiegelkommode, dem flachen Schreibtisch und etlichen anderen Tischen.

»Ich denke, hier werden Sie alles finden, was Sie brauchen«, sagte sein Begleiter. »Abendessen wird Ihnen gleich serviert und ich schaue später noch mal herein, um zu sehen, wie’s Ihnen geht.« Als er schon an der Tür war, drehte er sich wieder um. »Ich bin Nick Taylor«, sagte er. »Unsere Haustelefone sind zum Glück, für Notfälle, auf Batterien geschaltet, also können Sie mich anrufen, wenn Sie irgendetwas brauchen.«

Murdock zog, sobald Taylor die Tür hinter sich geschlossen hatte, seinen Rock aus, spazierte gemächlich durch das Zimmer und blickte in den anschließenden Baderaum, der allein schon größer als die meisten Hotelzimmer, aber jetzt von einer einzelnen Kerze nur schwach beleuchtet war. Vor den beiden Fenstern am Ende des Zimmers, das an der Rückseite des Hauses lag, blieb er stehen. Er war groß und schlank, hatte ein klar ausgeprägtes Gesicht, dichtes schwarzes Haar und eine gute Haltung. Eine ganze Weile stand er da und betrachtete aufmerksam die von Kunstgärtnern gepflegte Landschaft und die Nebengebäude, deren Konturen jetzt schnell in der Dunkelheit undeutlich wurden. Als er sich endlich abwandte, empfand er ein leichtes Unbehagen, ohne zu wissen, warum.

Seine langjährigen Erfahrungen hatten ihn für fast jede denkbare Situation und ihre Behandlung gewappnet, doch dies hier war ihm noch neu. Es lag nicht nur an dem Auftrag oder dem Erlebnis mit der Werkpolizei und dem Pförtner, sondern es war ein Gefühl, das ihn gleich beim Eintreten in das Haus überfallen hatte: die riesige Weite des Vestibüls und der Flure, die große Stille und die kalte sachliche Art, wie man ihn empfangen und herumgeführt hatte. Noch nie hatte er in einem so großen und so hübschen Schlafzimmer logiert, und obwohl er nur infolge des Unwetters über Nacht hier Gast war und gar nicht erwartete, im Kreise der Familie begrüßt zu werden, spürte er dieses Unbehagen, für das er keinen Grund hätte angeben können.

Doch es war nur ein flüchtiges, unklares Empfinden, das bald verging; denn als er sich wieder umdrehte und das Zimmer genauer betrachtete, vermochte er seine Situation mit Humor zu nehmen und fand auch eine Erklärung für seine sonderbare Unruhe.

Dein ganzes Malheur liegt darin, dass du solchen Luxus nicht gewohnt bist, redete er sich ein und musste nun lächeln. Hast du etwa Veranlassung, verlegen oder schüchtern zu sein? Er ging an das Bett, setzte sich darauf und wippte tüchtig, um festzustellen, ob es auch so bequem war, wie es aussah. Dann ging er wieder umher, blieb stehen, um die Tapete zu studieren, die ein Muster von Rauten hatte, deren jede der Rahmen für das Bild eines farbigen Segelschiffes war. Er trat zu seinem Handkoffer, machte ihn auf und nahm eine flache Whiskeyflasche heraus. Noch lächelnd, blickte er zum Telefon und überlegte, wie es wohl wäre, wenn er telefonisch um Eis und Sodawasser bäte? Nicht, weil ihm viel daran lag, sondern bloß, um zu sehen, was dann vor sich ging.

Nur mit Mühe unterdrückte er diese Regung, als ihm einfiel, dass sein Abendessen im Zimmer serviert werden sollte. Er ging in den Baderaum, wo er ein Glas fand. Seinen Scotch verdünnte er mit Leitungswasser. Nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte, zog er auch sein Hemd aus und wusch sich Gesicht und Hals. Was für einen mächtigen Wassertank müssen die in so einem Haus haben, dachte er. Und was sie wohl machen, wenn der elektrische Strom für längere Zeit ausfällt?

Nachdem er so gegrübelt und inzwischen sein dunkles Haar gekämmt hatte, nahm er Flasche und Glas mit ins Schlafzimmer, wo er sich dicht bei der Lampe in dem Bostoner Schaukelstuhl niederließ. Ein bisschen behaglicher – dank dem Whiskey – saß er noch da, als jemand leicht an die Tür klopfte und ein Diener im weißen Jackett einen Servierwagen ins Zimmer rollte.

Der Mann sagte freundlich: »Guten Abend, Sir«, und fragte, wo er das Essen servieren dürfe. Als Murdock erwiderte, das sei ihm einerlei, schlug er vor: »Vielleicht hier an der Lampe, Sir?«, und schob einen antiken Stuhl an den Tisch neben Murdock.

Leise hob er die silbernen Deckel von den Schüsseln, legte mit geübter Hand dem Gast die Speisen vor, trat zurück, deutete auf einen Knopf beim Bett und erklärte, das sei die Klingel zur Küche, die Murdock benutzen könne, wenn er fertig sei oder noch nachserviert haben wolle.

Murdock dankte ihm und nahm Platz zu einem Essen, das die fehlende Herzlichkeit bei seinem Empfang zum Teil ausglich.

Es gab eine köstliche leichte Suppe, die schön wärmte, zwei dicke, zarte Hammelkoteletts, außen gebräunt und innen saftig rosa. Die riesige gebackene Kartoffel war heiß und mehlig, der gemischte grüne Salat ganz frisch. In einer Serviette fand er warme Brötchen, eine in Eisstückchen gebettete silberne Schale enthielt Eiskrem und der Kaffeetopf gut drei Tassen Mokka.

Er verzehrte alles mit Appetit und fand nachher das Zimmer viel gemütlicher. Seine letzte Tasse Kaffee trank er, eine Zigarette rauchend, im Schaukelstuhl und fing an, über seinen Gastgeber und den Auftrag, der ihn hierhergeführt hatte, nachzudenken.

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Um die Jahrhundertwende schon hatte John Caldwell, als gelernter Maschinist mit erfinderischem Kopf, viel Vertrauen zu seinen eigenen Fähigkeiten gehabt und als einer der Ersten die Zukunft des Dieselmotors erkannt. Er experimentierte mit den ersten Typen dieser Maschine und begann, eigene zu bauen, hartnäckig und unbekümmert, wenn man ihn lächerlich machte und er eine Enttäuschung nach der andern erleben musste, bis er auch die Skeptiker von der Richtigkeit seines Urteils überzeugt hatte.

Indem er seine ganze Arbeitszeit und Erfindungsgabe nur der Verbesserung seiner ersten Konstruktionen widmete, wurde er bald der führende Mann in dieser noch jungen Industrie. Seine Erfolge hielten Schritt mit der allgemeinen Entwicklung auf diesem Gebiet der Technik, und schließlich hatte er ein industrielles Empire geschaffen, in dem schon seit Jahren die Motoren für rund die Hälfte sämtlicher Diesellokomotiven im Lande und ein volles Drittel der Motoren für schwere Lastwagen produziert wurden.

Noch bis vor kurzem, ehe die Altersschwäche ihn zum Aufhören zwang, hatte er jeden Tag mehrere Stunden in seiner privaten Werkstatt gearbeitet. Er hatte seine Söhne und wenigstens einen seiner Enkel für die Leitung seiner Werke vorbereitet, um Zeit zur Arbeit an seinen geliebten Experimenten zu gewinnen. Mit einer stattlichen Reihe patentierter Erfindungen hatte er viel zur Hebung des allgemeinen Lebensstandards und zum industriellen Fortschritt im Lande beigetragen. So war es wie Ironie, dass er sich am Abend vor seinem achtzigsten Geburtstag gezwungen sah, im eigenen Hause auf die arbeitssparenden Einrichtungen verzichten zu müssen, die man zum Teil seinem Erfindungsgeist zuschrieb. An diesem Abend jedenfalls musste er wie vor fünfzig Jahren bei der Petroleumlampe sitzen, ohne telefonisch Hilfe herbeirufen zu können, wenn sie nötig wäre, und ohne elektrischen Strom für Radio, Beleuchtung und Heizung.

Als Murdock sich das jetzt durch den Kopf gehen ließ, überlegte er auch, was wohl geschehen wäre, wenn der Sturm noch zugenommen hätte. Gerüchtweise hatte er etwas vom Inhalt der Rede erfahren, die John Caldwell am nächsten Morgen über alle Sender halten wollte und für die er seine alten Grundsätze umzuwerfen und einen Pressefotographen in sein Haus einzulassen bereit war. Wieviel größer noch wäre die Ironie der Situation gewesen, dachte Murdock, wenn der Sturm die Rundfunksendung unmöglich gemacht hätte.

Denn John Caldwell war – bei aller Genialität – stets ein raubeiniger Einzelgänger gewesen und mit wachsendem Alter immer gröber geworden. Jeden Persönlichkeitskult durch Reklame lehnte er scharf ab und sorgte beharrlich für sein vollkommen gesichertes Privatleben. Schon früher war er mit allem Bedacht jedem geplanten Interview aus dem Wege gegangen und hatte sich so gut wie niemals in der Öffentlichkeit fotographieren lassen. Nach alter Gewohnheit sprach er zur Weihnachtszeit – in der sogenannten Caldwell-Diesel-Stunde – ein paar Worte im Rundfunk, hielt aber darüber hinaus keinerlei Kontakt mit Presse und Rundfunk, sondern überließ das ganz ein paar Repräsentanten seines Konzerns. Dass er sich jetzt förmlich umkrempelte, deutete auf die Wichtigkeit seiner Rundfunkrede und Murdock fragte sich, was passieren mochte, wenn es vor 9 Uhr 30 am nächsten Morgen noch keinen Strom gab. Er legte diese Frage Nick Taylor vor, als der, nachdem der Servierwagen hinausgerollt worden war, zu ihm kam.

Taylor schien jetzt zugänglicher zu sein. Als Murdock ihn bat, Platz zu nehmen, folgte er der Aufforderung.

»Die Rundfunkrede wird pünktlich steigen«, sagte er, sich eine Zigarette anzündend. »Der Radiotechniker ist kurz nach Ihnen mit dem Langwellen-Sendegerät eingetroffen. Hinten auf dem Grundstück ist auch viel Platz für einen Hubschrauber. Wenn der Strom nicht bis morgens wieder da ist, wird man auf diesem Wege einen Kurzwellensender herbringen.«

»Als Mensch, der alle Reklame hasst, macht sich Mr. Caldwell ja sehr viel Mühe, um auf jeden Fall zu seiner Reklame zu kommen«, sagte Murdock.

»Ja...«

»Bei uns auf der Redaktion hieß es, dass er eine neue Sozialpolitik für die Arbeiter oder ein gewerkschaftliches Programm bekanntgeben will.«

Taylors blassblaue Augen waren ausdruckslos, doch in seinen Mundwinkeln meinte Murdock die Spur eines Lächelns zu entdecken. »Nicht, dass ich wüsste«, sagte er. Sein Ton ließ erkennen, dass er’s auch nicht sagen würde, wenn er es wüsste. »Bei welcher Zeitung sind Sie?«

Murdock gab ihm Auskunft und sollte nun erklären, wie es gekommen sei, dass gerade er ausgesucht worden war, die Bostoner Zeitungen und die Bilderdienste zu vertreten.

»Mr. Caldwell hatte sich für nur einen Fotographen entschieden und da wurde ich ausgewählt«, sagte er einfach.

Taylor nickte. Er betrachtete den Stummel seiner Zigarette und drückte ihn in einem Aschenbecher aus. Nach einer Weile stieß er sich, die Hände auf den Knien, aus dem Sessel ab. Murdock merkte an seinem ganzen Gebaren wohl, dass er sich gern länger mit ihm unterhalten hätte, es jedoch nicht für opportun hielt.

»Alles okay?«, fragte Taylor. »War das Essen gut?«

»Wunderbar.«

»Kann ich Ihnen sonst irgendetwas besorgen?«

Murdock studierte in dem Moment, bevor er antwortete, Taylor genauer. Vorher hatte er ihn eigentlich nur oberflächlich betrachtet, doch jetzt, da er seine Gedanken auf ihn konzentrieren konnte, überlegte er, welche Position der Mann in diesem Hause haben mochte. Von einem Diener im herkömmlichen Sinn hatte er gar nichts an sich und war – seiner Kleidung nach – bestimmt keiner. Er war noch jung, wirkte aggressiv, aber auch so beherrscht, dass man ihn als Typ nur schwer definieren konnte. Unwahrscheinlich, dass er zur Familie gehörte. Vielleicht, dachte Murdock, ist er Gesellschafter von jemandem aus der Familie und hat jetzt den besonderen Auftrag, den zu Besuch weilenden Fotographen im Auge zu behalten und für dessen Behaglichkeit zu sorgen?

Auf seine Fragen fand er noch keine Antwort, doch eins war ihm klar: dass man ihm selbst keine Bewegungsfreiheit im Hause einräume. Kein Mensch hatte ihm nahegelegt, etwas anderes zu tun, als in seinem Zimmer zu bleiben, was, wie er meinte, wohl nur auf Gedankenlosigkeit zurückzuführen war. Jetzt sagte er, da er sich die fünf, sechs Bücher auf dem Bord über dem Tisch schon angesehen und darunter keins gefunden hatte, das ihn interessierte: »Ja, etwas könnten Sie für mich tun. Ich hätte gern ein Buch, sofern welche außer denen da erreichbar sind.«

»Klar, massenhaft«, erwiderte Taylor. »Ich werde Sie nach unten in die Bibliothek führen. Wenn Sie da Interessantes zum Lesen finden, dürfen Sie es hierher mitnehmen.«

Er öffnete die Tür und erklärte, als verlangten seine letzten Worte genauere Ausführungen, in gemütlichem Ton: »Das Haus ist ja sehr groß. Hier kann einer sich glatt verlaufen, wenn er nicht Bescheid weiß. Besonders bei der kümmerlichen Beleuchtung, die wir heute Abend haben.«

Sie gingen durch den leeren Korridor zum breiten Treppenflur in der Mitte der Etage. Auf den dicken Teppichen waren ihre Schritte ganz geräuschlos. Die Flammen der auf Tischen an strategischen Punkten' stehenden Kerzen flackerten und tanzten, als sie vorbeigingen, und beleuchteten die Treppe hinab ihren Weg zum Vestibül. Hier wandte sich Taylor, unter einem enorm großen, jetzt dunklen Kronleuchter, zum Hintergrund des Hauses, wo die große Halle schmaler wurde und anscheinend in eine Terrasse an der Rückseite auslief. Sie bogen vorher links in einen Korridor ab und gingen bis zu einer offenen Tür an der rechten Seite.

Als sie eintraten, hörte Murdock Stimmen und sah in einem Sessel bei einer Stehlampe ein junges Mädchen sitzen. Sie sprach mit einem in der Nähe der Tür stehenden Herrn, der sich eben umdrehte: ein großer, gutgebauter Mensch von etwa vierzig Jahren mit sandgelbem Haar und glattem sonnengebräuntem Gesicht.

»Hallo, Nick«, sagte er, »was höre ich da – Sie wollen uns verlassen?«

Taylor blickte erst die junge Dame an, bevor er antwortete: »Sie haben richtig gehört, Mr. Prentice! Wahrscheinlich Ende der Woche.«

Prentice murmelte so etwas wie sehr schade und ging hinaus. Taylor und das junge Mädchen lächelten sich zu. »Das ist Mr. Murdock«, sagte er. »Vom Courier. Er soll hier morgen früh Aufnahmen machen. – Miss Kenyon.«

Sie sagte Murdock guten Tag, und er sah, dass sie noch sehr jung war, goldenes Haar und ein keckes interessantes Gesicht hatte.

Taylor sagte mit einer Handbewegung nach den Bücherreihen: »Bedienen Sie sich«, und ging zu Miss Kenyon, die sich aus dem Sessel erhob.

Kent Murdock betrachtete jetzt den Raum, ein hohes Zimmer, doppelt so groß wie sein Schlafzimmer. Bücherregale bedeckten drei Wände fast ganz, für die obersten Fächer war eine Trittleiter vorhanden. Links eine Tür, an einem Ende eine hohe Doppeltür, die auf eine Terrasse führte, und rechts ein Kamin. Der Teppich war kastanienbraun, ebenso das Leder der Sessel und das Clubsofa.

Das Lampenlicht war zu schwach für einen Raum dieser Größe, daher musste Murdock sich, um die Titel zu erkennen, dicht vor die Bücher stellen, die ihn größtenteils nicht interessierten. Da standen in Lederbänden die kompletten Werke von Dickens, Shakespeare, Mark Twain und O’Henry, andere Abteilungen enthielten Essays sowie biographische und historische Werke. Er entdeckte auch mehrere Reihen bekannter Romane, aber keinen aus neuester Zeit, und konnte nicht umhin, während er die Titel studierte, etwas von Taylors Gespräch mit Miss Kenyon zu hören. Das junge Mädchen sprach zu leise, doch von Taylor konnte er manche Worte verstehen. »Hinausgeworfen«, sagte er einmal. »Heute Nachmittag... behauptet, ich sei nicht geeignet...« Er schien jedoch, während Miss Kenyon ganz ernst sprach, nicht beunruhigt zu sein, lachte ab und zu und sprach dann undeutlich, aber dem Ton nach geringschätzig.

»Na, was gefunden?«, fragte er schließlich.

Murdock nahm einen Band Conrad aus dem Regal, vor allem, weil er die beiden allein lassen wollte und es besser fand, noch einmal etwas von Conrad zu lesen anstelle eines neuen Buches, das ihm vielleicht nachher nicht gefiel.

Er hielt den Band hoch, sagte »Ja« und merkte, dass Taylor keine rechte Lust hatte, ihn wieder zu begleiten. So setzte er hinzu: »Ich kann meinen Weg zum Zimmer gut allein finden.«

»Fein«, gab Taylor sichtlich erleichtert zurück.

Wieder in seinem Zimmer, zog Murdock Jackett und Schuhe aus, lockerte seinen Kragen und stellte die Lampe auf den

Nachttisch. Streckte sich auf dem Bett aus und vergaß für eine Weile Haus und Familie Caldwell, ganz vertieft in eine Geschichte mit dem Titel Der Grobian, die er zwar auch schon kannte, aber so weit wieder vergessen hatte, dass ein nochmaliges Lesen sich lohnte.

So lag er eine ganze Zeit, innerlich ruhig und gefangen von der Schilderung des Dichters; doch auf einmal sah er sich wieder in die Wirklichkeit versetzt und dachte über die legendäre Lebensgeschichte Caldwells nach. Wer mochte diese Miss Kenyon sein und welche Tätigkeit hatte sie hier? Er musste wieder an den braungebrannten Mr. Prentice denken und meinte sich dunkel zu erinnern, dessen Namen in den Gesellschaftsberichten seiner Zeitung gelesen zu haben. Vielleicht war Prentice der jetzige, also dritte Ehemann von Evelyn, geborene Caldwell?

Da ihn das Buch nicht mehr sonderlich fesselte, stand er auf, legte es beiseite und reckte sich träge. Gähnend griff er nach einer Zigarette, zündete sie an und trat wieder an das Fenster. Sofort spürte er die gleiche Unrast wie vorher. Er öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um tief die frische Luft einzuatmen und den Himmel zu betrachten, der jetzt sternenklar über den kaum sichtbaren Hofgebäuden stand.

Als er das Fenster wieder halb zugeschoben hatte und sich ins Zimmer umdrehte, sah er, dass es ein Viertel vor zwölf war. Er bekam Lust auf einen Whiskey, einen möglichst kalten, jedenfalls aber einen Schlaftrunk, bevor er sich hinlegte. Einen Moment blickte er auf den Knopf der Klingel zur Küche, fand aber nicht den Mut, ihn zu betätigen. Stattdessen zog er seine Schuhe an, nahm das Buch und ging in der bescheidenen Hoffnung ins Vestibül, Nick Taylor vielleicht noch in der Bibliothek zu finden oder – wenn nicht – zufällig einem Diener oder Koch zu begegnen, dem er seinen Wunsch nach einem kalten Erfrischungstrunk anvertrauen konnte.

Der Seitenflur, aus dem er kam, war auch jetzt ganz still. Nur eine Kerze beleuchtete diesen langen Korridor und er bewegte sich in fast völliger Finsternis, bis er das Treppenhaus erreichte. Hier war der Flur breit und umschloss geräumig die im Kreis nach unten verlaufende Treppe. Gegenüber dem Korridor, aus dem er kam, befand sich ein zweiter Gang. Beiderseits des Treppengeländers im ersten Stock führte je eine Tür zur Vorderseite des Hauses. Neben jeder dieser Türen stand eine Kommode aus Ahornholz. Auf diesen Möbeln brannten dicke Kerzen und auf der Kommode rechts bemerkte Murdock, als er die Treppe hinabging, eine grüne Thermosflasche und ein Tablett.

Im Vestibül brannten jetzt weniger Kerzen als bei seiner Ankunft und das bisschen Beleuchtung wurde durch die nachgedunkelte Holztäfelung fast unwirksam gemacht. Am Fuß der Treppe angelangt, sah er, dass die offenen Räume beiderseits dunkel waren. Er vernahm keinerlei Geräusch, als er nach hinten in den schmaleren Teil des Vestibüls ging, doch als er in den zur Bibliothek führenden Korridor einbog, sah er aus der offenen Tür einen Lichtschimmer fallen und schöpfte neue Hoffnung.

Der Läufer dämpfte seine Schritte bis zur Türschwelle und als er, ohne langsamer zu gehen, eintrat, sah er neben der Flügeltür einen Mann und eine Frau auseinanderfahren, so jäh und ungeschickt, als hätten sie sich eben noch in den Armen gelegen.

Verlegen stutzte er. In dem Mann erkannte er Mr. Prentice, die Frau war ihm fremd und er sah nur, dass sie brünett, auffallend groß und schön gewachsen war.

»Oh, verzeihen Sie«, sagte er, »ich hatte nur ein Buch zurückbringen wollen.«

Keiner antwortete ihm. So ging er, da er sich jetzt schlecht zurückziehen konnte, an das ihm bekannte Regal, während das Schweigen drückender wurde, Prentice sich dem Fenster zuwandte und die Frau an den Diplomatenschreibtisch trat. Als er das Buch zurückstellen wollte, sah er aus dem Augenwinkel, dass sie aus einem Lederkästchen eine Zigarette nahm. Er spürte, dass sie ihn beobachte, ließ sich jedoch nicht beirren, stellte das Buch ruhig an seinen Platz und entfernte sich dann möglichst schnell. Seine Absicht, einen Bedienten und durch ihn ein kaltes Getränk zu finden, hatte er ganz vergessen.

Auf der halben Treppe angekommen, hörte er jemanden sprechen und blieb stehen, eine Hand am Geländer. Einige Sekunden lauschte er noch und merkte, dass diese Stimme aus dem Zimmer im ersten Stock rechts von der Treppe kam, vor dem die Kommode mit der Thermosflasche stand.

Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Tür zu John Caldwells Räumen führe, ohne zu wissen, woraus er das schloss; denn die Worte waren nur als schwaches Gemurmel zu hören, und dass es zwei Stimmen waren, ließ sich nur daran erkennen, dass die eine spitz und schrill klang wie die einer zornigen Frau.

Während er weiter die Treppe hinaufstieg und den Seitenflur betrat, drehten sich seine Gedanken wieder um das, was er an seinem Auftrag hier so sonderbar fand. Er dachte wieder an den Mann, auf den dabei alles ankam, denn irgendwo in diesem Hause befand sich der achtzigjährige Multimillionär mit dem fruchtbaren Erfindergeist, der durch Elemente, die sich nicht dienstbar machen ließen, gezwungen war, sein Herrenhaus von vierzig Zimmern mit Kerzen zu beleuchten. Vorübergehend jedenfalls war er den besonderen Umständen hilflos ausgeliefert und – soweit Murdock aus dem Ton der zwei Stimmen schließen konnte – nicht gerade glücklich über diese Bescherung.

Und das war Murdock auch nicht. Er war froh, seinen Scotch mit Wasser trinken zu können, auch ohne Eis, und überlegte beim Entkleiden, wieviel froher er erst sein würde, wenn er seinen Job erledigt hätte und von hier verschwinden könnte, obwohl er sich nicht erklären konnte, weshalb. Als er sein Glas ausgetrunken hatte und sich eine letzte Zigarette anzündete, blickte er rasch um sich, denn er hörte ein Klopfen.

Da er nicht sicher war, ob jemand bei ihm oder an einem Nebenzimmer geklopft habe, ging er zur Tür, drehte leise den Knopf und öffnete vorsichtig. So ungern er den Eindruck erwecken wollte, dass er jemand belausche, brachte er es aber auch nicht fertig, das Geräusch einfach zu überhören. Und sogleich wurde ihm klar, dass nicht an seine Tür, sondern an die des Zimmers gegenüber geklopft worden war, die jetzt ein wenig offenstand. Er sah goldenes Haar – und ein Stück von einem blauen Negligé schimmern. Die weibliche Gestalt hielt er für Miss Kenyon, konnte aber ihr Gesicht nicht sehen, wie sie vermutlich auch ihn nicht sah; denn dicht vor ihr stand, ihr den Ausblick verdeckend, ein großer Mann mit gebeugtem Rücken, völlig kahlem Schädel und langen Armen. Er hatte Murdock nicht bemerkt und sprach mit leiser tiefer Stimme.

Murdock machte behutsam seine Tür wieder zu. Er wusste nicht, wer der Mann war und was er von dem jungen Mädchen wollte – und hatte auch nicht gehorcht. Von diesem Hause und seinen Bewohnern hatte er bald mehr als genug. Nach ein paar Minuten schloss er ganz gedankenlos seine Tür zu und ging zu Bett.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Um 8 Uhr früh wurde Kent Murdock durch das Telefon auf seinem Nachttisch geweckt und als er sich meldete, sagte eine heitere Stimme: »Guten Morgen, Mr. Murdock! Was hätten Sie gern zum Frühstück und wann darf ich es servieren?«

»Grapefruit, wenn vorhanden«, antwortete Murdock, »zwei Dreiminuten-Eier und Brötchen oder Semmeltoast, was Sie dahaben. Und Kaffee. Wäre fein, wenn ich’s in einer halben Stunde haben könnte.«

Draußen strahlte die Sonne. Sein erster Griff, als er den Hörer aufgelegt hatte, galt dem Schalter der Nachttischlampe, um festzustellen, ob der Strom noch unterbrochen war. Die Lampe brannte. Gut.

Er warf seinen Schlafanzug ab und ging in den Baderaum. Dort nahm er sich viel Zeit zum Rasieren, rasierte das Kinn zweimal scharf aus und duschte dann gemächlich. Als er sich tüchtig frottiert hatte, sah sein hagerer muskulöser. Körper gesund und straff aus. Nackt ging er ans offene Fenster und atmete dreimal ganz tief, indem er jedes Mal die Luft mehrere Sekunden anhielt.

Kaum hatte er sich angezogen, da klopfte auch bereits der Diener an, der das Frühstück brachte. Er rief: »Herein«, der Türknopf knarrte – und nun fiel Murdock ein, dass er ja zugeschlossen hatte. Er ging öffnen. Sein Lächeln, als er den Mann vor sich sah, der ihn schon am Abend bedient hatte, kam ihm selber ein bisschen blöde vor.

Dann aß er am Fenster und studierte dabei in Ruhe das Gelände hinter dem Hause. Von seinem Platz aus konnte er ein Stück des kunstvoll angelegten Gartens sehen, den Tennisplatz, die lange zweistöckige Garage mit den betonierten Rampen, ein Gebäude mit einer Glaskuppel, die sich wahrscheinlich über einem Schwimmbassin wölbte, sowie ein kleines Haus, in dem vermutlich der Badewärter mit seiner Familie wohnte. Dahinter lagen Rasenflächen und Stallungen. Als er dieses Panorama überschaute, wurde ihm klar, wie wenig die Leute im Allgemeinen von der Familie Caldwell wussten.

Trotz des großen Reichtums, den Old John erarbeitet hatte, spielte sich das gesellschaftliche Leben der Familie relativ bescheiden ab. Die Öffentlichkeit hörte nichts von protzigen Partys, in den Spalten der Zeitungen Aus der Gesellschaft wurden die Caldwells nur selten erwähnt. Sie alle machten offenbar einen Bogen um die bekannten Nachtlokale und sensationellen Premieren, und wenn sie reisten oder ein Modebad aufsuchten, sorgten sie schon vorher dafür, dass sie ihr Privatleben möglichst unbehelligt führen konnten. Sie hatten zu Hause jeden denkbaren Komfort und jede Gelegenheit zum Sport auf dem eigenen großen Besitz, auf den sie sich im Allgemeinen beschränkten, weil Old John es so wünschte. Er hatte auf jede mögliche Weise vorgesorgt, sein Leben nach eigenem Geschmack führen zu können. Früher war mehr als einmal gemunkelt worden, dass er ein Double engagiert habe, wenn sein Erscheinen bei einer öffentlichen Veranstaltung unbedingt notwendig gewesen war.

Doch das lag alles vor Murdocks Zeit. Er selbst hatte John Caldwell nur einmal gesehen und nur aus großer Entfernung. Und jetzt, da er mehr von der Familiengeschichte kannte, war er recht gespannt auf die Begegnung mit dem fast sagenhaften Mann und zum ersten Mal auch froh darüber, dass man ihn ausgewählt hatte, von Caldwell die vielleicht letzte Aufnahme seines Lebens zu machen.

In seinen Grübeleien fiel ihm plötzlich ein, dass die Zeit knapp wurde. Die Rundfunkansprache sollte um 9 Uhr 30 stattfinden. Als er sah, dass es schon kurz vor neun war, erhob er sich vom Tisch, ging ans Telefon und fragte nach Nick Taylor. Fünf Minuten später erschien Taylor bei ihm.

Er trug auch jetzt seinen noblen Anzug, wirkte aber auf Murdock nicht so wie beim abendlichen Gang in die Bibliothek, sondern jetzt gewissermaßen amtlicher, wie er ihm zuerst vor der Terrasse begegnet war. Das Gesicht mit dem kantigen Kinn und den blassblauen Augen war ausdruckslos.

»Ich habe mit Mr. Donald Caldwell gesprochen«, sagte er, nachdem er Murdocks Gutenmorgengruß erwidert hatte. »Er wünscht, dass Sie hier warten und will in ein paar Minuten mit Ihnen reden.« Damit ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Murdock war auf dem Fleck stehengeblieben, ganz erstaunt über Taylors verändertes Benehmen. Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Sollst du dir das gefallen lassen? fragte er sich, und sogleich begann er wieder über den Auftrag zu grübeln, der ihn hierhergeführt hatte.

Caldwells besonderem Wunsch entsprechend, war er schon am Abend vorher gekommen, um auf jeden Fall und ohne Rücksicht auf die Witterung morgens für die Fotos verfügbar zu sein. Als Reporter für alle großen Zeitungen nahm er die

Verantwortung ernst. Er wollte ein erstklassiges Bild machen und das hieß für ihn: fünf bis sechs Aufnahmen zur Auswahl der allerbesten; es hieß, frühzeitig am Objekt zu sein, um seine Geräte klarzumachen, und hieß, die Umgebung und ihre Eigenarten studieren.

Als er an John Caldwells schrulliges Verhalten gegenüber Pressefotographen erinnert worden war, hatte er gleich vermutet, dass seine Aufgabe sich als schwierig erweisen könnte. Aber er hatte ja schon mit den merkwürdigsten Leuten zu tun gehabt und glaubte bei seiner Erfahrung und seinem Selbstvertrauen auch mit Caldwell gut arbeiten zu können, wenn ihm Zeit genug blieb, den Mann zu beurteilen und mit ihm auf die richtige Art ins Gespräch zu kommen. Als er jetzt unruhig im Zimmer hin und her wanderte und eine Minute nach der andern verstrich, riss ihm die Geduld.

Rasch schritt er zur Tür und öffnete. Ebenso jäh blieb er stehen.

Der finstere Kerl mit den schwarzen Augenbrauen, der ihn abends bei der Ankunft von der Terrassentreppe her fixiert hatte, lehnte an der Wand gegenüber im Flur. Im Nu hatte er sich aufgerichtet. Gleichzeitig trat Taylor, der neben Murdocks Tür gestanden hatte, in die Öffnung. Murdock runzelte die Stirn, Taylor musterte ihn scharf.

»Mr. Caldwell wird Ihnen Bescheid sagen lassen, wenn er bereit ist«, sagte er.

Der Ton war nicht misszuverstehen, ebenso wenig war zweifelhaft, wozu die beiden Männer hier standen. Doch Murdock wurde im ersten Moment, als er sich das klarmachte, nicht zornig – das Ganze schien ihm nur unglaublich. Er fand die Situation absurd und hätte am liebsten laut gelacht.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Hat Mr. Caldwell etwa Angst, ich könnte mich mit der Kamera hinter Türen verstecken und intime Familienbilder knipsen?«

»Kann ich nicht wissen«, entgegnete Taylor trocken.

»Wir wissen nur eins«, fügte sein Kollege mit bedrohlicher Betonung hinzu, »nämlich: dass Sie hierzubleiben haben, bis Mr. Caldwell es anders bestimmt.«

Er kam beim Sprechen näher und blockierte den Ausgang. Murdock sah jetzt bei genauer Betrachtung, dass er ein ganz anderer Typ war als Taylor. Abends bei dem schlechten Licht hatte er das breite Gesicht mit den über der dicken Nase fast zusammengewachsenen Brauen nicht genau betrachtet. Die Braue über dem rechten Auge war verzerrt wie von einer alten Narbe; aber charakteristisch waren die Augen für ihn.

In Taylors Blick lag die Entschlossenheit eines Mannes, der gern mal hart, aber fair boxt und bestimmt nicht kneift, wenn’s gefährlich wird. Dieser Blick konnte herausfordernd wirken, aber nicht gemein. Sein Genosse war von anderem Schlag. Nicht allein, weil seine Augen kleiner und düster waren, auch nicht, weil sie so misstrauisch blickten, nein, es war ein anderer Zug in seinem Gesicht, den Murdock schon öfter bei zweifelhaften Gestalten und bei Gewaltverbrechern gesehen hatte: ein tückisches Funkeln, das von erbarmungsloser Grausamkeit ohne jede menschliche Regung sprach.

Er wunderte sich, dass so ein Kerl hier beschäftigt wurde. Aber jetzt gewann der Zorn in ihm die Oberhand. Er wandte sich wieder Taylor zu. Sie waren von etwa gleicher Größe; Taylor hatte nicht die straffe, beherrschte Haltung des Fotographen, aber einen breiteren Brustkasten. Als Murdock ihm jetzt in die kampflustigen Augen blickte, wusste er, dass er ohne eine sehr unpassende Schlägerei hier nicht aus der Tür kommen werde. Schon wollte er’s im ersten Aufflackern seiner »Wut mit den beiden Männern versuchen, doch die kühle Vernunft siegte, und er trat einen Schritt ins Zimmer zurück. Er brüllte auch nicht, so gern er’s getan hätte. Seine Stimme klang ganz gelassen, allenfalls bei dem Zwang, den er sich antat, etwas ärgerlich.

»Sie sind bei Mr. Caldwell angestellt?«

»Allerdings«, gab Taylor zurück.

»Ich aber nicht«, erwiderte Murdock. »Also könnten Sie ihm vielleicht ausrichten, dass er, wenn er nicht in fünf Minuten bereit ist, sich seine Fotos gefälligst selber machen soll!«

Murdock war, als er weiter zurückging und die Tür schloss, auf sich selber wütend, weil er die Beherrschung verloren und fast kindisches Zeug geredet hatte; denn er war hier, um die Aufnahme zu machen, auch wenn Mr. Caldwell dabei das Kommando führte. Und da er sich schon so oft unvernünftigen Wünschen fügen und sonderbaren Leuten hatte nachgeben müssen, konnte er es wohl auch jetzt. Während dieser Bemühungen, sich selbst zu beschwichtigen, wuchs ein seltsames Unbehagen in ihm, das ihn so nervös machte, wie er sich sonst nicht kannte.

Gewisse Beobachtungen, die er seit seiner Ankunft angestellt hatte, gingen ihm wieder durch den Kopf. Im Einzelnen hatten sie kaum Bedeutung, doch alles in allem beunruhigten sie ihn und erzeugten in ihm das Gefühl, in diesem Hause müsse etwas aus den Fugen sein.

Bis zu einem gewissen Grade hatte er dieses Gefühl schon am Abend gehabt, ohne freilich recht darüber nachzudenken. Nun, da er wusste, dass sein Zimmer – wahrscheinlich schon seit dem frühen Morgen – überwacht wurde, erhielten die bisher unbeachteten Eindrücke mehr Gewicht; nicht, weil man ihn zeitweilig wie einen Gefangenen behandelte, vielmehr, weil er merkte, dass hier jeder Fremde, wenn der Herr des Hauses es wünschte, beliebig lange festgehalten werden konnte.

Er dachte an die hohe Mauer und an das sich automatisch öffnende Tor. Wie leicht musste es sein, einen Menschen hier zu isolieren, wenn ein paar vom Personal mitmachten und nichts verrieten. Er hatte gewiss keine ausschweifende Phantasie, aber wenn er jetzt über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, wurde er

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: George Harmon Coxe/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Dr. Arno Dohm (OT: The Hollow Needle).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2349-2

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /