Cover

Leseprobe

 

 

 

 

JOHN R. L. ANDERSON

 

 

Der Tod in der Nordsee

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

TOD IN DER NORDSEE 

1. Ein Frachter aus Holland 

2. Fragmente eines Uhrwerks 

3. Seekarten 

4. Die Ocean Toreador 

5. Der Cheftaucher 

6. Der Bootshändler 

7. Spurlos verschwunden 

8. Nachtfahrt 

9. Der Botter 

10. Ein seltsames Duell 

11. Wieder auf See 

 

 

Das Buch

Ein holländischer Frachter entdeckt auf der Fahrt nach Scarborough ein dahintreibendes Boot mit einem Toten. Bei genauerer Inspektion explodiert eine Bombe und tötet zwei Besatzungsmitglieder.

Aber wem galt die Zeitzünderbombe?

 

»Spannende Handlung und gute Milieu-Schilderungen, die auch Landratten interessieren dürften.«

- Halifax Evening Courier

 

»Ein explosiver Fall.«

- Sunday Times

 

Der Roman Der Tod in der Nordsee von John R. L. Anderson (* 17. Juni 1911 in British Guyana; † 21. August 1981 in Wantage) erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

  TOD IN DER NORDSEE

 

 

 

 

 

 

  1. Ein Frachter aus Holland

 

 

Ungefähr eine Stunde vor der Morgendämmerung war es über der Nordsee noch stockfinster, und die gedrungene Gestalt des Schiffers im Steuerhaus war im schwachen Schein der Kompassbeleuchtung nur als Schatten erkennbar. Ein ganzes Leben auf See hatte den alten Jan van Mieuwkerke gelehrt, während einer nächtlichen Schiffswache kein Licht zu machen, denn schon das kurze Aufflackern eines Streichholzes konnte die Sehschärfe im Dunkeln beeinträchtigen. Aus diesem Grund würde er seine geliebte Meerschaumpfeife erst nach seiner Ablösung durch Piet wieder anzünden.

Die Mevrouw Letja hob und senkte sich gleichmäßig in der schweren Dünung der Nordsee, aber den alten Jan konnte kein Wetter aus der Ruhe bringen. Er kannte die Tücken dieses verhältnismäßig flachen und unberechenbaren Meeres und kehrte immer wieder gern in sein Heimatgewässer Wester Scheld zurück. Die Seefahrt hatte in der Familie Mieuwkerke seit dem siebzehnten Jahrhundert Tradition, und die Mevrouw Letja war vermutlich vorerst das letzte Schiff mit einem Eigner dieses Namens. Der alte Jan fragte sich jetzt immer häufiger, wie lange seine Mevrouw Letja noch fahren würde, wenn er sie einmal nicht mehr halten konnte. Trotz der immer noch scharfen Augen und seiner ruhigen Hand war er mit seinen siebzig Jahren schließlich nicht mehr der Jüngste. Aber eigentlich machte er sich mehr Sorgen um Frieda, seine Frau, als um sich. Seit ihrer Hochzeit vor fünfzig Jahren war sie mit ihm zur See gefahren und beherrschte jeden Handgriff an Bord genauso gut wie er. Frieda hatte sich nie beklagt, aber Jan fühlte, dass sie sich nach all den Jahren auf See nach einem gemütlichen Heim an Land sehnte.

Dabei gab es keinen Mieuwkerke, der die Familientradition fortgesetzt hätte, denn Jans Sohn hatte studiert und lebte mit seiner englischen Frau als Geschäftsmann in Amsterdam.

Deshalb war Jan froh, dass er wenigstens seine Enkel Hendrik und Piet als Hilfen auf dem Schiff hatte. Die Söhne seiner Tochter trugen zwar nicht den Namen van Mieuwkerke, waren jedoch tüchtige Jungen im Alter von achtzehn und zwanzig Jahren. Es war Jans größte Sorge, ob er den beiden einmal genügend Geld hinterlassen konnte, um die alte Mevrouw Letja gegen einen größeren und moderneren Küstenfrachter einzutauschen, denn nur so würden sie konkurrenzfähig bleiben... Jan verwarf seine grüblerischen Gedanken. Im Augenblick war er immer noch in der Lage, sein Schiff selbst zu fahren, und für den Notfall blieb ihm die Farm in Süd- Beveland, die er von seinen Ersparnissen gekauft hatte und die seine Tochter und ihr Mann für ihn bewirtschafteten.

Vielleicht würde am Ende auch für Hendrik und Piet ein neues Schiff herausspringen.

 

Die Mevrouw Letja war mit einer Ladung holländischem Käse und Butter auf dem Weg nach Scarborough. Schon Jans Vater und Großvater waren diese Tour gefahren, und Jan freute sich jedes Mal, die alte Fährstadt an der Küste Yorkshires wiederzusehen.

Jan sah auf die Uhr. Sie hatten noch neunzig Seemeilen vor sich und würden am Nachmittag Scarborough erreichen. Im Osten wurde der graue wolkenverhangene Himmel schon etwas heller.

Pünktlich um sechs Uhr kam Piet mit einer Kanne voll dampfendem Kaffee ins Steuerhaus. Der Alte Jan übergab ihm das Ruder, zündete seine Pfeife an, trank eine Tasse Kaffee und genoß noch ein paar Minuten die morgendliche Stimmung auf See. Er wollte gerade unter Deck gehen, als er plötzlich steuerbords vor dem Bug der Mevrouw Letja in einiger Entfernung einen dunklen Punkt entdeckte. Jan griff nach dem Fernglas und erkannte ein offenbar herrenloses, treibendes Ruderboot mit niederen Bordwänden und flachem Heck. Es war eines dieser kleineren Dingis, die man für Fahrten am Strand oder zum Baden benutzte, und Jan fragte sich sofort, wie es allein auf offene See geraten sein konnte. Der alte Schiffer stellte das Fernglas schärfer ein und glaubte, hinter dem Dollbord ein Bündel auf den Planken zu sehen.

Jan befahl Piet kurz entschlossen, Kurs auf das Ruderboot zu nehmen. Piet drosselte sofort die Fahrt der Mevrouw Letja und hielt auf den immer größer werdenden Punkt im Wasser zu. Frieda und Hendrik hatten unter Deck die Kursänderung des Schiffes gemerkt und kamen nach oben. Die Mevrouw Letja war noch ungefähr dreißig Meter von dem herrenlosen Ruderboot entfernt, als Jan die leblose Gestalt darin entdeckte.

Jan übernahm das Ruder, während Piet und Hendrik sofort zu den Davits des Frachters rannten, wo das Dingi hing. Hendrik stieg in das Boot, und Piet ließ ihn vorsichtig mit der Handwinde zu Wasser. Jan stoppte die Maschinen seines Schiffes, und Hendrik ruderte mit kräftigen Schlägen auf das Boot zu, warf einen kurzen Blick hinein und rief seinem Großvater zu: »Der Mann ist entweder schwerkrank oder tot!« Ohne weitere Anweisungen abzuwarten, band er das Ruderboot an seinem Dingi fest und schleppte es zur Mevrouw Letja.

Hendrik vertäute das fremde Ruderboot fest in den Seilen, die ihm sein Bruder zugeworfen hatte, wartete, bis Piet es mit einem der Ladekräne sicher über die Bordwand gehievt hatte, und ruderte dann zum Bootskran für das Dingi. Das ganze Manöver hatte kaum eine Viertelstunde gedauert, und als Hendrik mit dem Dingi wieder an Bord war, war es halb sieben.

Jan van Mieuwkerke trug sofort Zeit und Ort des seltsamen Fundes in das Logbuch ein. Kurz darauf nahm die Mevrouw Letja wieder Kurs auf Scarborough. Während Hendrik noch damit beschäftigt war, das Dingi in seiner Aufhängung zu befestigen, liefen Piet und Frieda bereits auf das Vordeck, um zu sehen, ob sie dem Mann im Ruderboot helfen konnten. Piet beugte sich über die Bootswand, legte die Arme um die Schultern der leblosen Gestalt und wollte sie gerade hochheben, als eine Detonation den Küstenfrachter erschütterte.

 

Piet war auf der Stelle tot und Frieda durch einen Metallsplitter am Kopf schwer verletzt. Hendrik trug sie in ihre Koje unter Deck und rannte wieder hinauf, um Jan am Ruder abzulösen. Frieda starb kurz darauf in Jans Armen.

Die Mevrouw Letja war kaum beschädigt worden, da die Explosion nicht in einem geschlossenen Raum, sondern auf dem offenen Vordeck stattgefunden hatte. Jan beschloss, den Hafen von Grimsby anzulaufen, da sie ihn im Gegensatz zu Scarborough bereits um die Mittagszeit erreichen konnten.

Jan, vom Schmerz über Friedas Tod wie betäubt, tat automatisch, was die Situation von ihm als Kapitän des Schiffes verlangte. Er überließ Hendrik das Steuer und rief über Funk den Hafenmeister von Grimsby an, berichtete ihm, was passiert war, und bat ihn, alle notwendigen Vorbereitungen für die Ankunft der Mevrouw Letja zu treffen. Dann benachrichtigte er die Charterfirma, damit sie inzwischen veranlassen konnte, dass die Ladung des Frachters bereits in Grimsby gelöscht wurde.

Nachdem Jan alles erledigt hatte, übernahm er von Hendrik wieder das Ruder und schickte seinen Enkel auf das Vordeck, um eine Plane über die Unglücksstelle zu legen.

 

Obwohl die Mevrouw Letja nur noch zwei Besatzungsmitglieder hatte, gelang es Jan, sein Schiff sicher und ohne fremde Hilfe an den Hafenkai von Grimsby zu manövrieren, wo der Hafenmeister und vier Männer bereits seine Ankunft erwarteten.

Kaum hatte der Küstenfrachter festgemacht, sprang der Hafenmeister, gefolgt von Dr. Johnson, den beiden Zollbeamten, Inspektor Colin Chilton von der Kriminalpolizei von North Lincolnshire und einem Constable in Uniform an Bord. Hendrik führte den Arzt unter Deck zu Frieda und entfernte zusammen mit dem Constable die Plane von der Unglücksstelle. Nachdem Dr. Johnson die drei Toten gründlich untersucht hatte, nahm er Inspektor Chilton beiseite.

»Die Frau und der Junge sind zweifellos bei der Explosion ums Leben gekommen, Inspektor«, begann der Pathologe, »aber der Mann aus dem Ruderboot wurde durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet. Mehr möchte ich allerdings erst nach der Obduktion der Leichen sagen. Kann ich sie gleich mitnehmen?«

Der Inspektor dachte kurz nach. »Warten Sie noch ein paar Minuten, Doktor«, bat er ihn dann. »Major Griffiths, der Sprengstoffexperte des Bezirks muss jeden Augenblick hier sein, und ich möchte, dass er die Unglücksstelle unverändert vorfindet.«

Dr. Johnson nickte verständnisvoll. »Ich sehe inzwischen mal nach, ob ich für den alten Mann etwas tun kann.«

Die Formalitäten für die Hafenbehörden waren schnell erledigt, und schließlich blieben nur noch Inspektor Chilton und Dr. Johnson an Bord. »Mr. van Mieuwkerke«, wandte sich der Inspektor an den Kapitän, »wären Sie trotz allem bereit, eine Aussage zu machen?«

»Ja, natürlich«, antwortete der alte Jan und berichtete dem Inspektor in einwandfreiem Englisch, was seit den frühen Morgenstunden auf der Mevrouw Letja geschehen war.

»Ist Ihnen in der Nähe des Ruderbootes kein anderes Schiff begegnet?«, erkundigte sich der Inspektor, als Jan geendet hatte.

»Nein.«

»Wird die Strecke von Rotterdam zur englischen Ostküste so wenig befahren?«, fragte Chilton erstaunt.

»Eigentlich nicht, aber die Nordsee ist groß.« Jan zuckte mit den Schultern. »Es kommt oft vor, dass ein Schiff streckenweise ganz allein fährt.«

»Wussten Sie, dass der Mann, den Sie an Bord genommen haben, erschossen worden ist?«

Jan strich sich müde mit der Hand über die Stirn. »Nein. Die Jungs haben zwar vermutet, dass er nicht mehr lebte, aber bevor Frieda und Piet ihn sich genauer ansehen konnten, kamen sie ums Leben. Hendrik und ich haben alles so gelassen, wie es war, und nur eine Plane über die Toten gedeckt. Wir mussten uns um das Schiff kümmern.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer der Tote aus dem Ruderboot sein könnte?«, wollte der Inspektor wissen.

»Nein. Ich habe nur meine Pflicht getan und das Boot gerettet, aber dadurch meine Frau und meinen Enkel verloren. Mehr kann ich nicht sagen.«

In diesem Augenblick kam Hendrik mit Major Griffiths, dem Sprengstoffexperten, in die Kajüte, und Chilton stellte den Major vor.

»Ich bin noch gar nicht auf dem Laufenden«, erklärte der Major offen. »Haben Sie hier eine Bombe für mich zum Entschärfen, Inspektor, oder was ist los?«

Chilton schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Major. Die Bombe ist leider schon explodiert und hat zwei Menschen getötet. Ich halte es für das Beste, wenn Sie sich die Unglücksstelle sofort ansehen. Wir haben alles so gelassen, wie es war, aber Dr. Johnson wartet darauf, dass wir die Toten zur Obduktion freigeben.«

Major Griffiths nickte. »Es wird nicht lange dauern. Die eigentliche Arbeit fängt für mich erst im Labor an.«

Der Inspektor führte den Major an Deck. Dr. Johnson und der alte Jan blieben allein zurück. »Ich glaube, nach diesem Schock haben Sie eine ärztliche Behandlung dringend nötig«, sagte der Pathologe und legte eine Hand auf Jans Schulter. »Ich nehme Sie mit ins Krankenhaus.«

»Nein, danke Doktor«, wehrte der alte Seemann ab. »Mit mir ist alles in Ordnung. Auf der Mevrouw Letja gibt es jetzt viel zu tun. Ich will Frieda und Piet so schnell wie möglich nach Hause bringen. Wann kann ich wieder auslaufen?«

»Das hängt hauptsächlich von der Polizei ab, Käpt’n«, erwiderte Johnson, »aber ich glaube nicht, dass es länger als ein, zwei Tage dauern wird, bis ich Ihnen für Ihre Familienangehörigen einen Totenschein ausstellen kann. Sind Sie sicher, dass Sie jetzt keinen Arzt brauchen?«

Der alte Mann nickte schweigend.

 

Die Mevrouw Letja war einer der kleineren Küstenfrachter, bei denen Kajüten und Aufbauten achtern und die beiden großen Stauräume unter dem langgestreckten Vordeck liegen, das häufig auch noch als Ladefläche genutzt wird. Zum Zeitpunkt der Explosion hatte das Ruderboot genau zwischen den beiden Bodenluken der Laderäume gestanden. Griffiths erfasste die Unglücksstelle mit einem Blick und stellte sofort fest, dass das Boot ungefähr dreieinhalb Meter lang gewesen war und an Heck und Bug jeweils einen verschließbaren Stauraum gehabt hatte. Die Sprengladung musste im Heckspint angebracht gewesen sein, denn der hintere Teil des Dingis war fast vollständig zerstört, während der Bug verhältnismäßig unbeschädigt geblieben war. Der Matrose Piet hatte mit seinem Körper die größte Wucht der Explosion abgefangen, als er sich über den Toten gebeugt hatte, und war tödlich verletzt gegen die Reling geschleudert worden. Dadurch war der Oberkörper des Toten fast unversehrt, das Gesicht jedoch durch Metallsplitter entstellt. An Nacken und Hinterkopf hatte er Brandwunden. Die Einschussstelle der Kugel war allerdings immer noch deutlich sichtbar. Der Tote hatte ziemlich langes und dichtes braunes Haar, in dem sich verschiedene Metallsplitter verfangen hatten.

Major Griffiths kniete nieder und durchsuchte mit einer Pinzette die Überreste des Glasfiberbootes nach winzigen Metallteilchen und steckte diese zusammen mit einem zwei Zentimeter langen, verbogenen Messingband und anderen Messingsplittern, die er aus dem Haar des Toten entfernt hatte, in eine Plastiktüte. Nachdem er noch einige Stücke Glasfiber aufgesammelt hatte, stand er auf. »Das wäre im Augenblick alles, Inspektor. Sobald ich die Sachen genauer analysiert habe, schicke ich Ihnen meinen Bericht. Ich hoffe, dass ich Ihnen dann mehr über Art und Wirkungsweise des Sprengkörpers sagen kann.«

Inspektor Chilton war inzwischen nicht untätig gewesen und hatte an Teilen der Bordwände und des Hecks die Vorrichtungen für Ruder und einen Außenbordmotor gefunden, jedoch weder von dem einen noch von dem anderen Überreste unter den Trümmern entdeckt.

Als er allerdings den Bug des Bootes genauer untersuchte, fiel ihm auf der Spinttür ein kleines Firmenschild des Bootsbauers auf. Demnach musste das Glasfiberboot aus der Vanity Marine Werft in Southsea stammen und trug die Seriennummer 1038. Chilton schraubte das Metallschild ab, beschriftete einen Briefumschlag und steckte es hinein.

»Soll ich das Wrack in Ihr Labor bringen lassen?«, fragte Chilton den Major zum Schluss.

»Nicht nötig, Inspektor. Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche. Der vordere Bootsteil ist für mich ziemlich uninteressant, da die Sprengladung im Heck angebracht war.«

»Gut, darin soll sich unser Labor damit amüsieren. Kann ich die Toten jetzt Dr. Johnson überlassen?«

»Selbstverständlich, Inspektor. Es genügt, wenn Sie mir die medizinischen Gutachten schicken.«

 

Nachdem sich Major Griffiths verabschiedet hatte, sagte der Inspektor Dr. Johnson Bescheid und unterhielt sich dann mit Hendrik. Der Junge bestätigte die Aussage seines Großvaters, fügte jedoch hinzu, dass der Fremde auf dem Rücken gelegen hatte. Das erklärte, warum niemand von der Besatzung des Frachters die Einschussstelle am Hinterkopf des Mannes gesehen hatte. »Ich vermutete zwar, dass er tot war, war aber nicht sicher. Meine Großmutter hat immer alle an Bord verarztet, und ich wollte ihn möglichst schnell zu ihr bringen und habe ihn, so wie er war, mitsamt seinem Boot zur Mevrouw Letja geschleppt.

Auf die weiteren Fragen des Inspektors antwortete Hendrik, dass das Glasfiberboot weder einen Außenbordmotor noch Ruder gehabt habe. Letzteres konnte er allerdings nicht beschwören, er war jedoch sicher, keine Blutspritzer auf dem Boden oder an den Bordwänden des Dingis gesehen zu haben.

 

Inspektor Chilton fuhr mit einem sehr unguten Gefühl zum Präsidium zurück. Drei Menschen waren ums Leben gekommen, und er tappte völlig im Dunkeln. Wer war der Unbekannte, und wie kam er in einem Boot ohne Motor und Ruder fast fünfzig Seemeilen auf das offene Meer hinaus, und warum hatte sich sein Mörder die Mühe gemacht, den Toten dann auch noch in die Luft zu sprengen? Der einzige Anhaltspunkt für eine mögliche Identifizierung des Mannes war das Firmenschild der Werft, die das Boot hergestellt hatte. Aber Southsea lag mehrere hundert Kilometer von Grimsby entfernt an der Kanalküste, und es erschien Chilton höchst unwahrscheinlich, dass das kleine Dingi von dort aus mitten in die Nordsee getrieben sein sollte. Allerdings musste zwischen Grimsby und dem Toten nicht unbedingt ein Zusammenhang bestehen, denn es war schließlich reiner Zufall, dass der Kapitän der Mevrouw Letja diesen Hafen nach dem Unglück angelaufen hatte. Das Firmenschild deutete zwar darauf hin, dass der Unbekannte Engländer war, aber sicher war es nicht.

Der Inspektor beschloss, den Fall mit seinem Vorgesetzten zu besprechen und ließ sich melden. Als Chilton kurze Zeit später dem Superintendent alles berichtet hatte, sagte dieser nachdenklich: »Abgesehen von den Aussagen des Kapitäns und seines Enkels haben wir keinen Beweis dafür, dass die Mevrouw Letja den Toten tatsächlich auf hoher See aufgenommen hat.«

»Da haben Sie natürlich recht, Sir«, warf Chilton ein. »Auf der anderen Seite gibt es für uns keinen Grund, misstrauisch zu sein. Im Logbuch des Frachters ist der Vorfall folgerichtig eingetragen. Danach erhielt der Hafenmeister von Grimsby fünfzehn Minuten nach der Explosion den Funkspruch von der Mevrouw Letja. Wenn man bedenkt, welcher Schock der Tod seiner Angehörigen für den alten Mann gewesen sein muss, ist das ein durchaus angemessener Zeitraum. Und eine Sprengladung ist auf dem Schiff zweifellos detoniert.«

»Na, gut, Chilton! Was wissen wir eigentlich über die Familie van Mieuwkerke?«

»Ich habe zwar noch nicht mit der holländischen Polizei gesprochen, aber ich glaube, das wird gar nicht nötig sein. Der alte Mieuwkerke ist an der ganzen Ostküste gut bekannt, und es gibt kaum einen Kapitän der einen besseren Leumund hat als er. Er läuft seit Jahrzehnten englische Häfen an und hat im Krieg auf einem englischen Minensuchboot gedient. Jan van Mieuwkerke möchte seine Frau und den Enkel so schnell wie möglich nach Holland zurückbringen, und ich habe keinen Grund, ihn länger als unbedingt erforderlich hier festzuhalten.«

»Wann bekommen wir den Obduktionsbefund und den Bericht des Sprengstoffexperten?«, fragte der Superintendent.

»Voraussichtlich morgen Nachmittag, aber in dieser kurzen Zeit können wir kaum mit endgültigen Ergebnissen rechnen«, gab Chilton zu bedenken.

»Tja, Chilton, im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob wir in Grimsby für diesen Fall zuständig wären. Rufen Sie unsere Kollegen in Southsea an! Vielleicht können die Leute bei der Bootswerft mehr über den unbekannten Toten herausfinden. Wenn das allerdings nicht gelingt, werde ich dem Polizeipräsidenten vorschlagen, den Fall nach London abzugeben.«

Inspektor Chilton nickte. »Das wäre sicher am besten.«

 

Major David Griffiths gehörte zu den modernen Technologen unter den Soldaten und hatte seine militärischen Auszeichnungen bei der gefährlichen Arbeit der Entschärfung von Sprengkörpern erworben. Griffiths hatte ursprünglich Chemie studiert, war nach seinem Diplom zu den britischen Pionieren gegangen und später zu einer Einheit für Bombenexperten versetzt worden. Seine ungewöhnliche Nervenstärke, seine Ruhe und sein schöpferischer Einfallsreichtum hatten ihn bald zu einem unentbehrlichen Fachmann auf diesem Gebiet gemacht. Nach jahrelangem nervenaufreibendem Einsatz zur Bekämpfung von Bombenanschlägen in Nordirland war er auf einen ruhigeren Verbindungsposten zwischen den Streitkräften und der Polizei von Lincolnshire versetzt worden. Die Arbeit war vielleicht nicht so gefährlich, aber sicher nicht weniger mühsam und verlangte viel Geduld und Kombinationsgabe.

Die Bombe von der Mevrouw Letja stellte für Major Griffiths eine Neuigkeit dar, denn ihr Zweck war offensichtlich nicht, jemanden zu töten, sondern sie sollte lediglich eine Leiche auf offener See beseitigen. Dabei ging Griffiths von zwei Möglichkeiten aus: Die Bombe musste entweder so konstruiert gewesen sein, dass sie durch eine heftige Bewegung des Toten oder mit Hilfe eines Zeitzünders ausgelöst werden konnte. Im ersten Fall hätte der Bombenleger beabsichtigt, etwaige Retter, wie die beiden Holländer, zu töten. Diese Möglichkeit erschien Griffiths sehr unwahrscheinlich. Er glaubte vielmehr an einen eingebauten Zündmechanismus, der die Bombe in den Nachtstunden zur Explosion bringen und dem Täter genügend Zeit geben sollte, aus der Gefahrenzone verschwinden zu können. Ausgerechnet dieser Mechanismus hatte offensichtlich fehlerhaft gearbeitet. Griffiths suchte also unter den Metallteilchen, die er in dem Bootswrack gefunden hatte, nach Überresten eines Zeitzünders.

Viel Auswahl hatte er nicht, aber als alles auf einem weißen Blatt Papier ausgebreitet vor ihm lag, sah er sofort, dass einige der Messingteilchen zu einem kleinen Uhrwerk gehört haben könnten. Ein einfacher Wecker war schließlich immer noch der beliebteste Zeitzünder bei Bombenbastlern. Unter dem Mikroskop entdeckte Griffiths dann, dass drei Messingstückchen Teil des Zahnrads eines Uhrwerks gewesen sein mussten. Auf einem Zacken des Rads fiel ihm ein winzig kleiner Tropfen Lötmetall auf, der vermutlich beim unsachgemäßen Anlöten der elektrischen Leitung, die zum Läutwerk des Weckers führte, darauf gefallen war und möglicherweise die Ursache dafür sein könnte, dass die Bombe zum falschen Zeitpunkt explodiert war.

Griffiths war sicher, den Zeitzünder der Bombe gefunden zu haben, und untersuchte weiter, welchen Sprengstoff der Täter verwendet hatte. Die Tatsache, dass bei der Explosion praktisch eine chemische Verbindung des Sprengmaterials mit dem Glasfiber des Bootes entstanden war, war ihm dabei eine große Hilfe. Nach einer gründlichen chemischen Analyse der Glasfibersplitter des Bootswracks kam Griffiths zu dem Ergebnis, dass die Bombe aus Sprenggelatine bestanden hatte.

Ein Sprengkörper aus einem Zeitzünder, Sprenggelatine und einer elektrischen Zündkapsel war ein sehr einfaches und tödliches Instrument, das auf kein allzu großes handwerkliches Geschick des Täters schließen ließ und von fast allen Terroristenbanden der Welt verwendet wurde.

Griffiths steckte die einzelnen Beweisstücke zufrieden in die ordentlich etikettierten Plastiktüten zurück und schrieb seinen Bericht für Inspektor Chilton.

 

Als die von Superintendent Morrison geforderte Konferenz über den Unglücksfall auf der Mevrouw Letja stattfand, waren die Berichte von Major Griffiths und Dr. Johnson bereits allen Teilnehmern bekannt.

Dr. Johnson hatte in seinem Gutachten eindeutig festgestellt, dass Frieda und Piet bei der Explosion der Bombe starben, während der Unbekannte aus dem Dingi durch einen Schuss aus einem Revolver oder einer Pistole getötet worden war. Die Kugel vom Kaliber achtunddreißig war aus nächster Nähe abgefeuert worden, in den Hinterkopf eingedrungen und im Stirnbein steckengeblieben. Die Kugel konnte sichergestellt werden.

Da die Leiche die ganze Zeit über im Freien gelegen hatte, war der genaue Eintritt des Todes für den Pathologen sehr schwer zu bestimmen gewesen. Er nahm jedoch an, dass der Unbekannte ungefähr vierundzwanzig Stunden tot gewesen sein musste, als er von der Besatzung der Mevrouw Letja gefunden worden war.

»Sie glauben also«, begann der Polizeipräsident Myles, »dass wir in Lincolnshire gar nicht zuständig sind?«

»Selbstverständlich sind wir als Polizeibeamte verpflichtet, jedem Verbrechen nachzugehen, Sir«, entgegnete Morrison. »Aber die verhältnismäßig bescheidenen Mittel einer Distriktspolizei werden in diesem Fall kaum ausreichen.«

Myles nickte zustimmend. »Haben wir schon Nachricht von unseren Kollegen aus Southsea?«

»Ja«, antwortete diesmal Inspektor Chilton. »Einer ihrer Beamten hat mit dem geschäftsführenden Direktor der Vanity-Marine-Werft, einem gewissen Mr. Edward Vanity, gesprochen. Das Glas- fiber-Dingi gehört nach Aussage von Mr. Vanity zu den Verkaufsschlagern der Werft und wird in großen Mengen hergestellt. Die Nummer auf dem Firmenschild, das wir bei unserem Bootswrack sicherstellen konnten, ist keine Einzelnummer, sondern gibt die Fertigungsserie an, in der das Dingi produziert wurde. Die Boote einer Serie gehen allerdings meistens an mehrere verschiedene Abnehmer, und deshalb ist es verhältnismäßig schwierig festzustellen, welchem Sportgeschäft oder Freizeitzentrum ein bestimmtes Produkt geliefert wurde. Mr. Vanity hat jedoch versprochen, alles Notwendige zu veranlassen und uns dann so schnell wie möglich zu benachrichtigen.«

»Die einzigen brauchbaren Anhaltspunkte wären damit, dass die Bombe aus Sprenggelatine und dem Uhrwerk eines Weckers bestand«, überlegte der Polizeipräsident laut.

»Tja, aber damit können wir auch nicht viel anfangen«, entgegnete Morrison. »In den letzten Monaten ist in unserem Bezirk kein einziger Sprengstoffdiebstahl vorgekommen, und ich halte es für Zeitverschwendung, alle einschlägigen Geschäfte nach diesem Wecker zu überprüfen. Er muss schließlich nicht neu gewesen sein.«

»Hm«, brummte Myles. »Dann wird mir nichts anderes übrig bleiben, als London einzuschalten. Ich nehme sicher an, dass einer der Beamten aus London noch heute Abend hier eintreffen wird. Mit Ihrem Feierabend sieht es also heute schlecht aus, Chilton.«

 

 

 

 

  2. Fragmente eines Uhrwerks

 

 

Ich war zufällig in Sir Edmund Puseys Büro, als der Anruf kam. Sir Pusey hörte schweigend zu und sagte dann: »In Ordnung, wir werden uns darum kümmern. Ich schicke sofort einen Mann an die Ostküste.«

Sir Edmund

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: John R. L. Anderson/Signum-Verlag/The Estate of John R. l. Anderson.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Christine Frauendorf (OT: Death In The North Sea).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2315-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /