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Leseprobe

 

 

 

 

ELVIRA HENNING

 

 

TAWAMAYA

3. HERMONS WEG DURCH DIE HÖLLE

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

TAWAMAYA - 3. HERMONS WEG DURCH DIE HÖLLE 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

LAKOTA-WORTE 

 

 

Das Buch

Mit ihrem außerordentlichen Gespür für Pferde und den Erfolgen in der Pferdezucht konnte Hermon sich mit viel Einsatz einen Status auf der Ranch erarbeiten, der sogar von den Männern anerkannt wird.

Aber auch Hermons Kinder, die dabei sind, erwachsen zu werden, fordern ihre Mutter auf besondere Weise.

Erin, die älteste Tochter, hat sich gegen den Willen ihres Vaters in den Kopf gesetzt, an einer Universität in Colorado in eine Männer-Domäne einzudringen, um Tiermedizin zu studieren.

Und auch ihr Sohn Jared entwickelt sich gar nicht nach den Wünschen seines Vaters.

Die Auseinandersetzungen wegen der Kinder führen zwischen Hermon und Alex erneut zu Streitigkeiten, die schwerwiegende Folgen nach sich ziehen...

 

Mit dem Roman Hermons Weg durch die Hölle setzt die deutsche Schriftstellerin Elvira Henning ihre epische Tawamaya-Serie fort. 

 

   TAWAMAYA - 3. HERMONS WEG DURCH DIE HÖLLE

 

 

 

 

 

Für meine Kinder

Monika, Susanne Christina

und Roger

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

DIE VIEHZÜCHTER-VERSAMMLUNG, April 1886

 

 

Die Sonne schien und die Luft war warm, aber seit Tagen fegte ein heftiger Wind von den Bergen her übers Land, wirbelte Staubwolken über den Ranchhof von Tawamaya und riss alles mit sich, was beweglich war. Fluchend mühte Hermon Mehegan sich damit ab, die Wäsche aufzuhängen, die der Wind ihr immer wieder aus der Hand riss.

Aus dem Haus drangen zornige Kinderstimmen. Jamie und Collin, Jam Mehegans Söhne, waren dauernd am Streiten, ihre Mutter Meghan wurde ihrer nicht Herr. Das ständige Geschrei der beiden trieb alle Hausbewohner nahezu in den Wahnsinn. Hermon hatte seit zwei Tagen Kopfschmerzen, und das Gezanke wollte kein Ende nehmen. In der Badestube konnte sie es wenigstens nicht hören. Doch hier draußen war es wie Stiche in ihren Ohren.

Endlich hatte sie es geschafft, auch den letzten Strumpf an die Leine zu klammern und hoffte, dass der Wind nichts abreißen würde. Sie wischte sich eine Locke aus den Augen und ging in die Küche, um die Mahlzeit vorzubereiten. Ella Jo, ihre zweite Tochter, legte gerade das Messer zur Seite und wischte sich die Hände ab. Sie hatte bereits die Rüben geschält und geschnitten. »Ich geh dann mal rüber zu Tante Meg, Mama.«

Eigentlich sollte sie noch Feuerholz hereinholen, doch da war sie schon hinausgehuscht. Hermon rief sie nicht zurück, denn Ella Jo war von allen Kindern auf Tawamaya diejenige, die am meisten im Haus arbeitete, und sie tat es freiwillig. Hermon nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich einen Augenblick an den Tisch. Das Geschrei hatte endlich aufgehört. Das war wohl Ella Jos Werk! Sie konnte wunderbar zwischen den Streithähnen vermitteln.

Wahrscheinlich leiden die Kinder genauso unter diesem furchtbaren Wind wie wir Großen, sagte sich Hermon, stand auf, legte ein Holzscheit nach und machte sich daran, eine Scheibe von einer Speckseite abzuschneiden und in Würfel zu zerteilen. Dann hackte sie zwei dicke Zwiebeln, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab und stellte einen Topf mit den Speckwürfeln auf den Herd. Als das ausgelassene Fett den Topfboden bedeckte, gab sie die Zwiebeln dazu und schließlich auch die Rüben.

Sie war gerade dabei, Wasser aufzugießen, als sie flinke Schritte im Salon hörte. Gleich darauf stürmte Peppa herein: »Mummy, der Postreiter war da!« Sie hielt mehrere Briefe in der Hand. »Zeig her, mein Zauberkind«, Hermon nahm ihrer Kleinsten die Briefe ab und sah sie durch.

»Diese Karte ist von Rosemarie. Dieser Brief ist für die Heesleys, und der?« Er war an Jared und James Mehegan adressiert. Sie drehte ihn um: Viehzüchter-Verband Montana. Sie legte ihn zur Seite. »Läufst du rüber zu Tante Lil und bringst ihr diesen Brief?«

»Okay, Mum.«

»Warst du schon bei Butch?«

»Ja.«

»Wie geht es ihm heute?«

»Ich glaube, besser. Er war ganz fröhlich. Aber er hustet immer noch.« Peppa nahm den Brief und rannte los.

Butch, der Pferdeknecht hatte im letzten Winter an einer üblen Lungenentzündung gelitten und die ganze Familie in Atem gehalten hatte. Hermon hatte nie herausgefunden, wie alt Butch wirklich war, aber sie schätzte, dass er wohl so an die Fünfzig sein musste, und mit dem Älterwerden wurde er immer kauziger, weigerte sich, im Winter seinen Verschlag im Pferdestall zu verlassen, bis er Frostbeulen hatte, und lief bei eisigen Temperaturen oft ohne seine Pelzjacke draußen herum. Dass er krank war, hatte Jimmy erst gemerkt, als er zwei Tage lang nicht zu den Mahlzeiten kam, und da hatte es ihn schon richtig erwischt. Er wurde trotz seines Widerstands ins Haus gebracht und in das kleine Zimmer zum Hof gelegt.

Hermon und Ella Jo hatten ihn gepflegt, und nach sechs Wochen war er über den Berg. Aber es war schwierig, ihn danach vor seiner eigenen Unvernunft zu bewahren. Mit seinem begrenzten Verstand begriff er einfach nicht, was er damit anrichtete. Im Grunde war es kein Wunder, dass er sich noch immer nicht ganz erholt hatte.

Hermon rührte das Gemüse um. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Alex und Jam hungrig wie die Wölfe von der Range nach Hause kommen würden. Sie waren schon früh am Morgen mit Chuck hinausgeritten, um die Weiden zu inspizieren. Die Herde war einigermaßen über den Winter gekommen, aber da kein Regen fiel, sondern nur der Wind über die Hügel fegte und alles austrocknete, wollte das Gras nicht wachsen, und die Tiere, die beim Roundup zusammengetrieben werden sollten, brauchten Futter.

Ihr Nachbar, der Texaner hatte im vergangenen Herbst neue Zäune aufgestellt, denn seine eigenen Tiere, viel zu viele für seine Weiden, hatten die Zäune an vielen Stellen niedergetrampelt, um Futter zu finden, was eine Menge Ärger verursacht hatte. Immerhin hatte er keinen Stacheldraht mehr benutzt.

Auf Tawamaya war die Scheune mit einem Wintervorrat gefüllt, der die Tiere über die härteste Zeit gebracht hatte. Trotzdem war Alex gereizt. Dass auf seinem Land Tiere der Lindenbergs herumliefen, war kein Problem. Charly Lindenberg war inzwischen ein Profi in der Viehzucht und arbeitete mit den Mehegans Hand in Hand, doch die meisten fremden Tiere auf ihrem Land gehörten dem Texaner, und das würde erneut Ärger geben.

Nicht nur Alex hatte Angst, dass es in einem Weidekrieg enden würde. Im vergangenen Herbst hatten haarsträubende Berichte über Schießereien unter den Cowboys im Weekley Yellowstone gestanden, und die ganze Situation spitzte sich immer weiter zu.

Hermon fiel die Post wieder ein, die sie zur Seite gelegt hatte und griff danach. Rosemarie teilte ihr mit, dass sie vor einer Woche Zwillinge zur Welt gebracht hatte, zwei kleine Jungen mit den Namen Peter und Jacob. Nun waren es also fünf kleine Lindenbergs. Die Kinder waren Rosemaries Welt, und Charly würde glücklich über zwei weitere Söhne sein.

Rosemarie war längst nicht mehr das verschüchterte junge Ding, das verstört in dieses Land gekommen war. Sie führte auf der Yellowstone Ranch ein hartes Regiment und ließ nichts auf ihren Charly kommen. Ihre Figur war durch die vielen Schwangerschaften etwas aus der Form geraten, aber das schien weder sie, noch ihren Mann zu stören, und die Kinder waren alle gut geraten. Wenn sie sich trafen, was höchstens zweimal im Jahr geschah, begrüßte Rosemarie sie stets mit einem strahlenden Lächeln.

»Weißt du«, hatte sie einmal zu Hermon gesagt, »ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich hier eines Tages wirklich zu Hause sein würde.«

Hermon legte die Karte zur Seite, als die Männer hereinstürmten. »Hunger!«, sagte Alex und küsste sie flüchtig. »Waschen!«, entgegnete Hermon und zeigte auf die Tür zur Badestube.

»Geht klar, Boss!«, bemerkte Jam ironisch und rollte mit seinem Stuhl an ihr vorbei. Während die beiden sich wuschen, erschien auch einer nach dem anderen der Rest der Familie, als erster Jamie, inzwischen zwölf, hoch aufgeschossen und spindeldürr. Das rote Haar hing ihm lang in die Stirn und er strich es ständig zur Seite. Zum Ärger seiner Mutter hatte er keine Lust auf den Einheitshaarschnitt im Bunkhaus. Auch sein kleiner Bruder Collin war gewachsen und nicht mehr gar so dick, aber sobald er etwas zu essen sah, wurden seine Augen kugelrund. Als letzte erschien auch Erin, der es stets schwer fiel, sich von ihren Büchern loszureißen.

Hermon stellte die Töpfe auf den Tisch. Dann fiel ihr die Post wieder ein.

»Übrigens, Rosi hat ihr Baby bekommen«, erzählte sie, »aber es sind gleich zwei geworden, Jungen!«

»Da wird unser guter Charly platzen vor Stolz«, bemerkte Alex.

»Und da ist außerdem ein Brief von der Viehzüchtervereinigung.«

»Gib mal her!«, Alex riss ihn sofort auf und überflog ihn, »die Viehzüchter veranstalten ein großes Treffen in Miles City, um neue Regelungen für die Probleme bei den Roundups zu finden. Es soll im Rahmen verschiedener Feierlichkeiten stattfinden. Ich denke, das könnte eine gute Sache werden. Wir sollten unbedingt daran teilnehmen, Jam!«

»Miles City ist verdammt weit weg«, gab sein Bruder zu bedenken.

»Wir könnten den Zug nehmen. Ich werde Chuck fragen, ob er ebenfalls mitkommt.«

Jam nickte: »Ich werde darüber nachdenken, Jad.«

»Was ist mit dir, Hermon, hast du auch Lust?«

»Ja, Lust schon, aber eigentlich habe ich viel zu viel Arbeit.«

»Du kannst ruhig mitfahren.«, sagte Meghan sofort. Ich werde hierbleiben, und ich denke, Lil will auch nicht mitkommen. Die Kinder sind also versorgt.«

Am Abend wurde noch lange über das Thema diskutiert, aber keine endgültige Entscheidung getroffen. Sicher war nur, dass Alex auf jeden Fall an der Versammlung teilnehmen wollte.

Am folgenden Tag sprachen Alex und Jam mit der Crew. Black Abe und Owen waren bereit, die Aufsicht auf der Ranch zu übernehmen, und so entschied sich Jam, mit Alex und Chuck nach Miles City zu fahren. Auch Monty sollte mitkommen. Der Vormann hoffte, auf diese Weise doch noch sein Interesse für die Viehzucht zu wecken, denn zu Chucks Leidwesen hatte sein Sohn bisher ganz andere Zukunftspläne, steckte seine Nase für seinen Geschmack viel zu viel in Bücher und träumte von Reisen in fremde Länder.

Hermon schlug vor, dass auch Jared mitkommen solle. Es bedurfte jedoch einer heftigen Debatte, dass Alex sein Einverständnis gab. Und Jared war begeistert, nur Jamie maulte, weil er zu Hause bleiben musste, aber Jam erklärte ihm mit Nachdruck, dass seine Mutter ihn brauchte und er zu jung für ein solches Unternehmen sei.

Die Vorbereitungen für die Reise verursachten eine Menge Unruhe. Monty und Jared waren völlig aus dem Häuschen. Ella Jo half ihrer Mutter beim Packen, und Erin versprach, nach den Pferden zu sehen. Auch Hermon war nun aufgeregt.

Doch dann kam alles ganz anders. Zwei Tage vor Antritt der Reise wurde Meghan krank. Sie hatte hohes Fieber und hustete entsetzlich, und so entschied Hermon schweren Herzens, zu Hause zu bleiben, denn nun konnte sie Meghan mit den Kindern nicht allein lassen.

Ella Jo, der nicht entging, wie enttäuscht ihre Mutter war, meinte: »Mama, ich kann das doch machen. Ich passe auf Tante Meg auf, ich komme schon zurecht. Du kannst ruhig mitfahren.«

Hermon nahm ihre Tochter in den Arm: »Du bist mein großes Mädchen, und das ist lieb von dir gemeint, aber das geht nicht. Ich werde hierbleiben.«

Auch Alex war enttäuscht, doch er sah die Notwendigkeit ein und er entschied: »Dann bleibt Jared auch hier.«

»Nein, Alex! Er wird schrecklich enttäuscht sein. Nimm ihn mit. Monty ist schließlich auch dabei.«

»Monty ist zwei Jahre älter und sehr viel vernünftiger als Jared. Man kann ihn ein paar Stunden allein lassen, aber er kann nicht auch noch auf Jared aufpassen. Er bleibt hier.«

»Dann sag ihm das aber bitte selbst«, verlangte Hermon.

Jared war außer sich, als er erfuhr, dass er nicht mitfahren durfte, und er schrie seinen Vater an. Hermon konnte seine Enttäuschung verstehen, und sie nahm sich vor, am Abend noch einmal in Ruhe mit Alex zu reden. Doch dann war Jared verschwunden, und er tauchte erst am nächsten Morgen wieder auf. Nun war auch Hermon wütend, und er hatte jede Chance verspielt. Als die Männer und Monty am nächsten Morgen aufbrachen, hockte Jared bei Butch im Stall und heulte. Und er hatte eine Stinkwut auf seinen Vater.

 

Die Bahnfahrt verlief ohne Zwischenfall. Die Strecke betrug etwa hundertdreißig Meilen. Chuck Heesley döste in dem ziemlich voll besetzten Waggon die meiste Zeit vor sich hin, rutschte auf der harten Bank ungeduldig hin und her und gab ab und zu auf seine trockene Art einen Kommentar von sich. Zwischendurch verbot er seinem Sohn, der vor Aufregung nicht still sein konnte, den Mund.

Monty fuhr zum ersten Mal in seinem sechzehnjährigen Leben mit der Eisenbahn, und er kam zum ersten Mal weiter wie bis Billings. Dabei kreisten seine Gedanken ständig um fremde Länder und die große Welt, die er sehen wollte. Kühe interessierten ihn nicht, und die Arbeiten, die sein Vater ihm auftrug, waren ihm zuwider. Er war ein miserabler Reiter, mit dem Lasso konnte er trotz aller Bemühungen seines Vaters nicht umgehen, und bei dem Versuch, dem Schmied zur Hand zu gehen, hatte er sich die Finger verbrannt. Er hatte einfach zwei linke Hände. Welche Arbeit ihm gefallen würde, wusste er jedoch nicht. Erst einmal wollte er weg von Tawamaya, wenigstens nach Billings, später vielleicht nach Denver oder St. Louis. Ihm würde schon etwas einfallen, womit er sein Geld verdienen konnte. An Durchsetzungsvermögen fehlte es ihm auf keinen Fall. Mit seinen sechzehn Jahren war er nahezu so groß wie sein Vater, hatte den gleichen grobknochigen Körperbau, struppiges Blondhaar, die große Hakennase seines Vaters und üblicherweise auch seine Gelassenheit. Heute jedoch war sie ihm abhandengekommen.

Mittags erreichten sie Miles City. Am Bahnhof herrschte reger Betrieb, und die Stadt wimmelte vor Besuchern. Monty sprang aus dem Zug und sah sich sprachlos um. Eine solche Menschenansammlung hatte er noch nie gesehen. Alex und Chuck waren erst einmal damit beschäftigt, Jam ohne viel Aufhebens aus dem Zug zu bringen. Der Weg zur Mainstreet war nicht schwer zu finden, sie brauchten einfach nur dem Strom der Leute zu folgen.

Chuck Heesley schüttelte den Kopf: »Unglaublich! Man könnte meinen, der gesamte Westen hätte sich hier versammelt.« Die breite, staubige Straße war von Menschen, Pferden und Kutschen bevölkert. Viele Rancher waren mit ihren ganzen Familien gekommen.

Für die drei Männer hatte der Trubel etwas Beängstigendes, nur Monty war völlig in seinem Element. Sie drängelten sich mit dem Gepäck durch die Straße. Jam kämpfte mit seinen Rädern und musste akzeptieren, dass Alex hin und wieder zupackte, denn der Weg war holprig und voller Fahrrinnen und Löchern.

Dann ergaben sich Schwierigkeiten, mit denen die Männer überhaupt nicht gerechnet hatten. Sie fanden kein Hotelzimmer, alle Betten schienen bereits belegt zu sein, doch für eine Übernachtung im Freien waren sie nicht ausgerüstet. Chuck fluchte, Jam schwieg und Alex steuerte einen Saloon an, vor dem auf der Straße Bänke aufgestellt waren und der Wirt draußen Getränke ausschenkte.

»Kauft euch erst mal ein Bier und wartet hier auf mich«, entschied er kurzerhand.

»Kann ich mitkommen, Onkel Jad?«, fragte Monty eifrig, doch Alex erwiderte, »du bleibst hier und passt auf das Gepäck auf!« Dann ging er mit langen Schritten davon.

Jam und Chuck ließen sich in aller Ruhe ein Bier schmecken. Monty musste sich trotz Gemaule mit einer Limonade zufrieden geben. Sie sahen dem Leben auf der Straße zu und fragten sich, wo denn nur all die Menschen herkamen. Die verschiedenen Dialekte ließen erkennen, dass die Leute keineswegs alle aus Montana waren. Der ganze Westen bis nach Texas schien sich hier versammelt zu haben. Sie merkten gar nicht, dass Alex länger als eine Stunde unterwegs war. Doch als er zurückkam, stand ein breites Grinsen in seinem Gesicht: »Auf geht’s! Ich denke, ich habe etwas besonders Gutes gefunden!«

Auf dem Weg durch das Gedränge erzählte er: »Ich habe sämtliche Hotels abgeklappert. Alle hoffnungslos überfüllt. Im letzten habe ich dem Mann an der Rezeption ein paar Dollar in die Hand gedrückt und ihn nach einem heißen Tipp gefragt. Nachdem er mich von oben bis unten gemustert hat, begann er mich etwas auszuhorchen. Ich hab ihm halt von meinem Bruder erzählt, und dass er nicht so gut zu Fuß ist. Und dann gab er mir einen Zettel mit einer Adresse und ein paar Zeilen und sagte, das sei seine Mutter. Sie hätte noch zwei freie Zimmer in ihrem Häuschen und wolle sich vielleicht ein paar Dollar verdienen. Und genau da gehen wir jetzt hin!«

Es war ein hübsches Holzhaus in einer ruhigen Seitenstraße. Mrs. Kelly, eine korpulente Dame in den Sechzigern trat ihnen voller Misstrauen entgegen. Doch als sie das Schreiben ihres Sohnes und Jam in seinem Stuhl sah, wurde sie zugänglich.

»Nun ja, wenn Sie bereit sind, einen ordentlichen Preis zu zahlen, und zwar im Voraus, und wenn Sie mir garantieren, dass Sie nicht in der Nacht besoffen und randalierend das Haus stürmen, könnte ich Ihnen zwei Zimmer vermieten.« Sie nannte einen recht stolzen Preis, fügte aber gleich hinzu: »Dafür bekommen Sie zwei blitzsaubere Zimmer und ein ordentliches Frühstück mit Eiern und Speck.«

In Anbetracht der Situation gab es da nichts zu überlegen. Alex griff in die Tasche und händigte ihr ohne zu feilschen die genannte Summe aus.

Mrs. Kelly führte sie durch einen etwas düsteren Flur und öffnete zwei Türen. Sie hatte nicht übertrieben. Die Zimmer waren mit je zwei sauber bezogenen Betten, einem Schrank und einer Waschkommode ausgestattet.

»Der Abtritt ist im Garten hinter dem Haus, durch diese Tür. Und nun möchten Sie sich sicher etwas waschen. Ich werde Ihnen Wasser bringen.«

»Ist es schon so schlimm?«, fragte Alex und schnüffelte an seinem Ärmel.

»Aber nein, Mister! Doch man fühlt sich besser nach einer langen Reise.« Sie ließ die Männer allein. Alex setzte sich erst einmal auf ein Bett. »Was denkst du, Jam, ich glaube, hier sind wir gut aufgehoben.«

»Ist bedeutend besser als eins dieser überfüllten Hotels. So schlimm habe ich mir das nicht vorgestellt.«

»Ich auch nicht. Hier ist es angenehm ruhig. Hier werden wir schlafen können.«

»Dem Himmel sei Dank. Ehrlich gesagt, ich bin fix und fertig.«

»Trotzdem, wir müssen nochmal raus. Ich habe einen Bärenhunger. Du nicht?«

»Doch.« Es klopfte. Mrs. Kelly brachte das Wasser und stellte es auf der Kommode ab.

»Alles in Ordnung, die Herrn?«

»Ja«, antworteten beide. »Sie sind Brüder!«

»Zwillinge«, entgegnete Alex. Mrs. Kellys Blick hing an Jam: »Kommen Sie von weit her?« »Billings«, antwortete Jam. »Sind Sie Rancher?«

»Ja.«

»Die Reise ist sicher nicht einfach für Sie?«

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, erklärte Jam mit einem Lächeln, »ich bin ein ziemlich guter Reiter, trotzdem.«

»Ach! – Entschuldigen Sie! Was fällt mir ein, Sie so auszufragen! Ich bin eine dumme, alte, neugierige Frau.« Sie griff in die Tasche und zog einen Schlüssel heraus: »Für die Haustür. Sie wollen bestimmt noch einmal in die Stadt.«

»Müssen wir wohl. Wo werden wir etwas Anständiges zu essen bekommen.«

»Hm, das dürfte bei diesem Betrieb ziemlich schwer sein. Nun ja, ich könnte – wenn Sie wollen, einen Rübeneintopf machen.«

»Das ist doch ein Angebot!«, sagte Jam sofort. »Und Ihre Zimmernachbarn?«

»Müssen Sie fragen, Mrs. Kelly. Ich denke, Chuck und der Junge wollen noch mal raus. Chuck ist unser Vormann und Monty sein Sohn.«

»In Ordnung«, sie schloss geräuschvoll die Tür hinter sich. Chuck Heesley war nicht scharf darauf, sich noch einmal in den Trubel zu stürzen, aber am Ende gab er dem Bitten seines Sohnes nach und zog mit ihm los.

Alex und Jam verbrachten einen geruhsamen Abend in Mrs. Kellys Küche. Der Rübeneintopf war gut und reichlich. Die alte Dame, die ihre Vorbehalte gegen die beiden Männer sehr schnell überwunden hatte, genoss die Gesellschaft. »Wissen Sie«, erklärte sie, »seit vor fünf Jahren mein Harry gestorben ist, rede ich nur noch mit meinen Hühnern und meinen Blumen. Sicher, ab und zu kommt mein Sohn auf einen Sprung vorbei, aber er hat eben immer zu tun.«

»Aber Sie leben doch mitten in der Stadt, Mrs. Kelly. Kommen Sie denn nie raus?«, fragte Jam.

»Doch, schon. Aber Gesellschaft am eigenen Tisch ist halt etwas anderes.«

»Wissen Sie, als Rancher ist man an das Leben auf dem Land gewöhnt. Uns ist der ganze Trubel hier viel zu viel.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja«, antwortete Alex, »ich habe vier Kinder und Jam hat drei.«

»Oh! Sie sind also auch verheiratet!«, entfuhr es Mrs. Kelly und sie starrte Jam an.

Er grinste: »Ja, mich hat auch eine genommen.«

»Sind Sie denn... ich meine, haben Sie das schon immer?«

»Nein. Bis ich achtzehn wurde, war ich ziemlich schnell auf meinen Beinen.«

Zu einer weiteren Erklärung war Jam nicht bereit.

»Wir bedanken uns für die gute Bewirtung, Mrs. Kelly«, Alex stand auf, »ich denke, es ist Zeit zum Schlafen.« Sie zogen sich in ihr Zimmer zurück. »Ziehst du mir die Stiefel aus, Jad? Mir tut alles weh. Ich frage mich gerade, wann wir zuletzt zusammen in einem Zimmer geschlafen haben.« Als sie in ihren Betten lagen, dauerte es keine zehn Minuten, bis sie um die Wette schnarchten.

 

Im Gegensatz zu Chuck, der einen turbulenten Abend hinter sich hatte, waren Alex und Jam am nächsten Morgen ausgeschlafen. Alle vier frühstückten in Mrs. Kellys behaglicher Küche. Monty redete wie ein Buch, bis sein Vater sagte: »So, Junge! Jetzt war’s das! Jetzt hältst du deine Klappe!« Und dann berichtete er, was er am Abend erfahren hatte.

»Um zehn findet auf der Main Street die große Eröffnungsparade statt. Eine Militärkapelle aus dem nahen Fort Keogh wird die Parade anführen, und dann folgen in ihren Kutschen die Verbandsfunktionäre mit ihren Damen. Dazu gehörst du auch, Jad.«

Alex verzog das Gesicht: »Ich glaube, darauf kann ich verzichten. Es genügt, wenn wir uns alles ansehen.«

»Dad hat mir für das Fest ein neues Jackett gekauft«, meldete Monty sich erneut zu Wort, »beim Herrenausstatter Orschel Brothers. Perlgrau! Das ist die allerneuste Mode!«

Chuck warf seinem Sohn einen warnenden Blick zu.

»Am Nachmittag findet dann die Geschäftssitzung im neuen Bürgerzentrum statt.«

»Dort gibt es eine Eisbahn und eine Rollschuhbahn!«, warf Monty ein, »Dad, ob ich wohl...« »Willst du jetzt endlich mal deinen Mund halten! – Ich habe Conrad Kohrs getroffen. Er hat sich nach euch erkundigt. Schätze, sämtliche Rinderbarone von Montana sind hier versammelt, Granville Steward, Pierre Wibaux und ein gewisser Marquis de Mores. Muss ein wichtiger Mann sein, sagt mir aber nichts. Tja, und am Abend soll im Macqeen House ein Ball stattfinden.«

»Sicher werden wir heute keine Langeweile haben«, bemerkte Alex sarkastisch und schob den letzten Bissen in seinen Mund. Danach rüsteten sie zum Aufbruch und zogen ihre Jacketts über. Alex trug zur Feier des Tages einen grauen Westernhut. Monty plusterte sich in seiner neuen Jacke auf wie ein Gockel. Jam und Alex mussten sich das Lachen verbeißen.

Dann zogen sie in den Kampf. Auf der Main Street herrschte ein einziges Gedränge und sie kamen nur mühsam voran zu dem Platz, an dem die Parade Aufstellung nahm. Jams Miene zeigte keine Begeisterung. Heute fühlte er sich in seinem Stuhl völlig ausgeliefert, obwohl Alex an seiner Seite war.

»Hallo Jad! Jad Mehegan!« Alex blickte sich nach dem Rufer um. Es war Conrad Kohrs, der sich durch die Menge drängelte und ihm die Hand schüttelte. Erst dann sah er Jam, der mit seinem Stuhl in der Menge verschwand. Er reichte auch ihm die Hand: »Donnerwetter! Sie haben sich auch in die Höhle des Löwen gewagt! Das nenne ich Schneid!«

Dann begrüßte er auch Chuck und Monty. »Und wo habt ihr die Lady mit dem festen Händedruck und den Pferden gelassen?«

»Sie ist zu Hause geblieben, denn Jams Frau ist krank geworden.«

»Schade! Ich bewundere die Lady. In ganz Montana gibt es keine besseren Pferde als auf Tawamaya. Wie steht es, Jad, nehmen Sie an der Parade Teil? Sie können in meiner Kutsche mitfahren, die dort drüben steht. Meine Lady wartet schon.« Er wies auf eine schwere Prachtkarosse. »Danke für das Angebot, Conrad, aber ich ziehe es vor, mit meinem Bruder unter den Zuschauern zu bleiben.«

»Nun gut, dann bis heute Nachmittag im neuen Bürgerzentrum.«

Er wandte sich um: »Ha, sehen Sie nur, dort, das ist die Karosse von Granville Steward, dem Rancher der DHS Ranch. Hat eine ganze Kutsche voller Frauen mitgebracht, der alte Sack. Kennen Sie ihn?«

»Ja«, antwortet Alex, »er ist einmal bei einer Versammlung in Billings dabei gewesen. Diese Frauen, gehören sie zu seiner Familie? Sie sehen indianisch aus.«

»Ja, seine Frau Awbonnie ist eine Shoshone. Sie war erst zwölf, als er sie geheiratet hat. Sie haben eine ganze Schar Kinder, mindestens zehn. Drei seiner Töchter sind dabei. Und auf dem Bock neben Granville, das ist sein ältester Sohn Tom. Und sehen Sie die Kutsche, die sich da drüben durch die Menge schiebt? Das ist der schöne Marquis de Mores, dieser Geck«, erklärte Conrad in abfälligem Ton, »er ist Franzose. Aber nun muss ich wohl meinen Platz einnehmen! Jad, Jam, wir sehen uns bei der Versammlung.« Er tippte an den Hut und ging davon. Alex betrachtete den Franzosen. Er war wahrhaftig ein auffallend gut aussehender, junger Mann, sicher noch keine dreißig. Sein dunkles Haar war sorgsam geschnitten und sein Schnurrbart gepflegt, der graue Anzug mit Sicherheit maßgeschneidert. Seine Haltung ließ auf eine militärische Ausbildung schließen. Die rothaarige Schönheit an seiner Seite, in französischer Mode gekleidet, entsprach seinem Stil.

Auf der Straßenmitte formierte sich nun die Militärkapelle. Dann setzte mit Pauken und Trompeten die Musik ein. Monty, der noch nie so etwas erlebt hatte, war außer Rand und Band. Die Musikanten setzten sich im Gleichschritt in Bewegung. Ihnen folgten die Kutschen mit den Verbandsfunktionären. Die Menschen am Straßenrand jubelten und winkten. Hinter den Kutschen folgten von einer Staubwolke eingehüllt die Cowboys der verschiedenen Ranches in ihrem Sonntagsstaat. Es mussten wohl mehr als hundert sein. Die ganze Stadt schäumte über vor Leben. Überall auf der Straße schenkten die Wirte Bier aus, und an improvisierten Ständen wurde Essen verkauft. Vor den Bordellen standen die Mädchen in ihren grellbunten Kleidern auf der Straße und jubelten den Männern zu. An einem Stand wurden Lose verkauft, und die Taschendiebe machten ihr Geschäft.

Die Festlaune hatte die ganze Stadt erfasst. Überall wurde gefeiert. Die Klänge der Militärkapelle waren noch immer zu hören. Cowboys schossen übermütig in die Luft. Der Sheriff und seine Horde für dieses Ereignis angestellter Hilfssheriffs bemühten sich vergebens, die Schießerei zu unterbinden. Alex und Jam verloren Chuck aus den Augen, der seinen Sohn im Gedränge wieder einfangen musste. Sie trödelten eine Weile durch die Main Street und sahen sich das Leben an. Dann machten sie sich auf den Weg zum Bürgerzentrum, wo das Eröffnungsessen der Tagung stattfinden sollte. Als sie eintrafen, war der Saal, in dem mehrere große Tafeln aufgebaut waren, schon mit Menschen gefüllt. Sie fanden Plätze neben Kohrs und seiner Gattin.

Conrad begann sofort ein Gespräch mit Jam, der bisher noch bei keiner Viehzüchterversammlung dabei gewesen war, und keinen der Leute kannte, und klärte ihn über die Anwesenden auf. Kohrs kannte die meisten von ihnen, denn er war eines der Gründungsmitglieder des Viehzüchterverbands, der sich stock growers association nannte.

»Dort drüben an der Tischecke neben der korpulenten Dame das ist John Murphy und neben ihm Bielenberg und die Brüder Niedringhaus.«

Alex wurde von Kohrs Erklärungen abgelenkt, als neben ihm der Franzose mit seiner rotblonden Gattin Platz nahm. Er grüßte mit einer leichten Verbeugung: »Marquis de Mores, meine Gattin, die Marquise Medora!«

»Angenehm!«, erwiderte Alex, »Jared Mehegan. Einen Titel habe ich allerdings nicht aufzuweisen«, fügte er etwas ironisch hinzu. Die Marquise schenkte ihm ein Lächeln.

De Mores jedoch zog eine Braue hoch. Sein Blick hatte etwas Geringschätziges. Schnösel!, dachte Alex und wandte sich wieder Kohrs und Jam zu.

Das Essen wurde serviert. Es bestand aus mehreren Gängen und schmeckte fantastisch. Die Stimmung im Saal war grandios. Es wurden hitzige Debatten geführt oder einfach nur Witze gerissen. Hier und da war Gelächter zu hören. Medora de Mores legte das Besteck nieder und widmete ihre Aufmerksamkeit ihrem Tischnachbarn: »Aus welcher Gegend kommen Sie, Mister... wie war noch ihr Name?«

»Jad Mehegan. Ich komme aus der Umgebung von Billings.«

»Magic City! So wird Billings doch genannt!« Sie musterte Alex ungeniert. Und er sah die Bewunderung in ihrem Blick. Er war sich durchaus bewusst, dass er mit seinem drahtigen Körper, dem tadellos geschnittenen Rock und seinem markanten Gesicht zwischen den allgemein eher grobschlächtigen Männern eine gute Figur machte.

»Ganz recht«, entgegnete er mit einem charmanten Lächeln und erwischte einen giftigen Blick des Marquis. »Und der Herr an Ihrer Seite ist ihr Bruder?«, fragte sie unbeeindruckt weiter.

»Mein Zwillingsbruder.« Sie bedachte Jam mit einem langen Blick, schluckte jedoch die Frage, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, herunter. Stattdessen fragte sie: »Sie sind nicht verheiratet?«

Alex sah aus dem Augenwinkel, wie der Marquis rot anlief und nach dem Arm seiner Gemahlin schnappte. »Oh doch, ich bin verheiratet«, entgegnete Alex, »ich habe eine wunderbare Frau und vier Kinder.«

»Oh«, hauchte Medora. Der nächste Gang wurde aufgetragen, und der Marquis gewann die Aufmerksamkeit seiner Gemahlin mit einer etwas abfälligen Bemerkung über die Speisen.

Das Essen zog sich hin. Die Versammlung, die für drei Uhr angesetzt war, wurde um eine Stunde verschoben. Erst als das Geschirr der Süßspeisen abgeräumt war, erhoben sich die ersten Gäste. Die Marquise schenkte Alex noch ein Lächeln, als ihr Gatte sich erhob.

Conrad wischte sich mit der liegengebliebenen Serviette noch einmal den Bart ab und stand ebenfalls auf: »Gehen wir also in den Versammlungsraum.«

»Und was ist mit dem Damen«, wollte Jam wissen.

»Für die Damen ist ein Raum mit Getränken vorbereitet. Sie werden sich wohl nicht langweilen«, erklärte Kohrs, »aber Sie sollten sich vor diesem Marquis in Acht nehmen.«

Alex lachte: »Keine Sorge, die Dame ist zu jung, und ich bin verheiratet.«

»Das ist dem Marquis gleichgültig. Er hat schon einige Männer im Duell getötet, und die Mordprozesse, die er danach am Hals hatte, hat er alle gewonnen. Es hilft, wenn man das nötige Kleingeld hat.«

»Ich wüsste nicht, was ich dem Herrn getan habe«, zuckte Alex die Schultern.

»Diesem Gecken ist es schon ein Grund, nach der Waffe zu greifen, wenn ihm eine Nase nicht gefällt. Er ist eingebildet und jähzornig.«

Sie betraten den Saal, der für die Versammlung vorbereitet war. Alex und Jam fanden in der Reihe der Gründungsmitglieder ihren Platz. Vor den Stuhlreihen standen ein Podium und ein Tisch. Mister Bryan, der Präsident der Stockgrowers und Mister Potts, der Vizepräsident nahmen dort ihre Plätze ein, dann folgte der Sekretär Russel Harrington, legte eine Ledermappe auf den Tisch und packte Schriftstücke und Schreibutensilien aus. Er fledderte eine Weile in seinen Papieren herum, dann nahm auch er Platz und machte viel Lärm mit seinem Stuhl. Im Saal verstummte das letzte Gespräch. Jam knirschte mit den Zähnen und bemühte sich, die neugierigen Blicke zu ignorieren.

Endlich eröffnete der Präsident die Versammlung. Er begrüßte die Anwesenden und drückte seine Zufriedenheit darüber aus, dass mehr als hundertsiebzig Mitglieder erschienen waren. Dann sprach er über die Entwicklung der Viehzucht Montanas in den letzten Jahren, über die zunehmenden Probleme durch die wachsenden Herden und die daraus resultierende Überweidung. Dazu kamen die Schäden durch Viehdiebe, die sich in den immer dichter werdenden Viehbeständen unbemerkt bereichern konnten. Und schließlich wetterte er über den immer noch üblichen Gebrauch und die verheerenden Auswirkungen des Stacheldrahts.

Es war still im Saal. Man konnte fast eine Nadel fallen hören. Nur hin und wieder hörte man ein Räuspern.

Dann endlich kam Bryan zum Kernpunkt der Probleme, der Neuorganisation des Roundups. Damit übergab er das Wort an Mister Potts, den Vizepräsidenten, der sofort mit energischer Stimme zu reden begann: »Meine sehr verehrten Herrn – und Damen«, fügte er schnell hinzu, da zwei Ranchbesitzerinnen anwesend waren, »das erste, das wir angehen müssen, ist eine Organisation der Roundups im gesamten Territorium. Das unüberschaubare Chaos der durcheinanderlaufenden Tiere der verschiedenen Ranches hat in den vergangenen Jahren immer häufiger zu Weidekriegen und Schießereien geführt. Jeder Rancher hat selbst bestimmt, wann der richtige Zeitpunkt für das Roundup ist, und es gibt leider eine Menge Leute, die mein und dein nicht auseinanderhalten können. Um nun das Ganze in eine vernünftige Bahn zu lenken, habe ich mich mit einigen Mitgliedern, unter anderem mit unserem Senator Conrad Kohrs zusammengesetzt, um ein Konzept für die künftige Handhabung des Roundups zu entwerfen.

Um eine Ordnung herzustellen, haben wir etwa ein Drittel des Territoriums, also das Gebiet, das vorwiegend für die Viehzucht genutzt wird, in sieben Distrikte eingeteilt. Es handelt sich um das Gebiet zwischen dem Missouri und dem Yellowstone River und dem Gebiet östlich des Big Horn Rivers und des Powder Rivers bis zum Grenzgebiet des Dakota Territoriums.«

Während Potts sprach, nestelte Harrison in seinen Papieren und brachte schließlich eine selbstgezeichnete Karte zum Vorschein, die er an eine dafür vorgesehene Wand pinnte.

Potts wandte sich um: »Hier sehen Sie also, Ladys und Gentlemen, wie das zu verstehen ist. Zukünftig werden alle Roundups zur gleichen Zeit stattfinden. Die einzelnen Distrikte sind nummeriert und überschaubar. Für jeden Distrikt wird vor dem Roundup ein Vormann gewählt, der die Arbeit überwacht, für Ruhe und Ordnung sorgt und in Streitfällen die Vollmacht hat, Entscheidungen zu treffen. Mit einer vernünftigen Zusammenarbeit dürfte allen Ranchern eine Menge Ärger und Mühe erspart werden.«

Nachdem Potts geendet hatte, entbrannte eine heftige Diskussion. Eine Reihe Alternativvorschläge wurden gemacht und alle Vor- und Nachteile diskutiert. Die Debatte zog sich mehr als zwei Stunden hin. Als die ersten Männer zu gähnen begannen, drängte Mister Bryan auf eine Abstimmung. Potts Vorschlag wurde am Ende mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen. Dann wurde es im Saal erst einmal still. Das Kratzen von Harrisons Feder war zu hören. Danach kam es zur Wahl der Distriktvormänner nach der Reihe der Nummern.

Inzwischen hatten Leute aus der ersten Reihe Flugblätter zum Verteilen entgegengenommen, die den Plan der siebzehn Distrikte enthielten. Das Gebiet um Billings hatte die Nummer zwölf. Die Wahl verlief schnell und reibungslos.

Mister Harrison rief zur Wahl für Distrikt Nummer zwölf auf. Es war Charly Lindenberg, der sich zu Wort meldete: »Ich schlage Jared Mehegan von der Tawamaya Ranch vor. Die Ranch ist die älteste im weiten Umkreis, und er kennt das Land, die Leute und die Gegebenheiten wie seine Westentasche. Ich habe ihn als besonnenen Mann kennengelernt. Ich bin der Meinung, er ist der richtige für diesen Job!«

Als kein weiterer Vorschlag gemacht wurde, fragte Mister Harrison: »Mister Mehegan, sind Sie bereit, das zu übernehmen?« Alex kratzte sich hinterm Ohr, dachte einen Augenblick nach und warf Jam einen fragenden Blick zu. Dann stand er auf: »Ja, ich bin dazu bereit.«

»Ist ja schön und gut, dass die Mehegans vor den anderen da waren!«

Alex sah sich um. Es war der Texaner, der ebenfalls aufstand. »Texas war ein Rinderland lange bevor in Montana eine einzige Kuh auf der Weide stand! Ich komme aus einer Familie, die seit vielen Generationen Rinder züchtet und ich denke, ich würde den Job genauso gut machen, wie Mehegan.« Harrison zog die Brauen etwas hoch: »In Ordnung Mister...?«

»William Talmond!«

»Sie werden ebenfalls als Kandidat aufgestellt.«

Alex bemerkte: »Ich reiße mich nicht um diesen Job, Mister Talmond. Aber auch mein Urgroßvater hat in Texas Rinder gezüchtet.« Dann setzte er sich.

»Der Texaner als Roundup-Vormann! Das hätte uns gerade noch gefehlt«, flüsterte Jam seinem Bruder zu und knirschte mit den Zähnen. Harrison ließ die Rancher aus Distrikt zwölf abstimmen. Talmond bekam eine einzige Stimme, alle anderen gingen an Alex. Er drehte sich nicht mehr nach dem Texaner um.

Nachdem endlich die Wahlen erledigt waren, wurden weitere Themen besprochen.

Die Sitzung zog sich bis zum Abend hin. Draußen vor der Tür bildeten sich dann kleine Gruppen, und es wurde weiterdiskutiert. Alex und Jam gesellten sich zu den Ranchern aus Distrikt zwölf. Einige klopften ihm zufrieden auf die Schulter. Der Texaner war wortlos verschwunden. Schließlich tauchte auch Conrad Kohrs in der Runde auf und wandte sich an die Mehegans: »Sehen wir uns zum Festessen im großen Saal des Macqueen Hauses?«

»Wir wollten uns eigentlich zurückziehen«, entgegnete Alex, »Jam ist ziemlich erledigt und ich...«

»Kommt gar nicht in Frage, Jad! Als Roundup-Vormann musst du dabei sein, zumal es noch so einiges zu bereden gibt.«, beharrte Conrad. »Das ist in Ordnung, Jad, du gehst da hin«, sagte Jam sofort, »ich werde bei Mrs. Kelly sicher etwas zu essen bekommen, und bin froh, wenn ich dann schlafen gehen kann.«

Kohrs nahm die Brüder in seiner Kutsche mit, brachte Jam zu seiner Unterkunft, und Alex fuhr mit ihm zum Macqueen Haus. Nach dem Abendessen fand im Speisesaal ein Ball statt. Außer den Viehzüchtern erschienen Offiziere in Galauniform, und es wurde zu den Klängen einer Sechs Mann Kapelle getanzt bis Mitternacht.

Alex sah sich vergebens nach Charly Lindenberg um. Er kam sich in dem ganzen aufwendigen Rummel etwas verloren vor. Als der Tanz begann, beobachtete er etwas neidisch die Männer, die in Begleitung ihrer Frauen waren.

Zu fortgeschrittener Stunde, als die meisten Gäste dem Alkohol reichlich zugesprochen hatten und kaum noch ernsthafte Gespräche geführt wurden, wollte Alex unbemerkt verschwinden. Doch bevor er den Ausgang erreichte, lief er Granville Steward in die Arme und wurde von ihm in ein Gespräch verwickelt. Er fragte ihn über die Situation in Distrikt zwölf und über diesen Texaner aus. Dabei musterte er Alex immer wieder mit einem eigenartigen Blick. Und dann sagte er: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Mister Mehegan, aber ich erinnere mich, in Montana vor Jahren einen Steckbrief mit einem Bild gesehen zu haben, das Ihnen verdammt ähnlich sah.«

»Ich kann Ihnen versichern, Mister Steward, Sie haben ein verdammt gutes Gedächtnis«, entgegnete Alex gelassen. »Allerdings! Das habe ich. Es muss in den Sechzigern gewesen sein. Ich erinnere mich jedoch nicht an den Namen. Nun sagen Sie, waren Sie das?«

Stewards Unverfrorenheit amüsierte Alex: »Ja!«

Wie kommt es dann, dass Sie hier sind? Mord verjährt nicht.«

»Ganz einfach, ich war es nicht. Das Mordopfer war der Mann, der meinen Bruder zum Krüppel geschossen hat, in den Rücken. Ich habe ihn zwar windelweich geprügelt, aber nicht umgebracht. Sein eigener Bruder war es gewesen. Es hat allerdings fast zehn Jahre gedauert, bis die Wahrheit ans Licht kam.« Granville strich sich über den Bart und nickte: »Das ist bitter. – Aber sagten Sie nicht, dass Ihre Vorfahren aus Texas kamen?«

»Ja, richtig.«

»Sind Sie in Texas gewesen?«

»Ja, ich bin ein bisschen in den Staaten herumgekommen.«

»Das ist kein Fehler. Man sollte ab und zu etwas anderes sehen als Kühe. Was glauben Sie wohl, was ich in meinem Leben schon alles ausprobiert habe und wo ich überall herumgekommen bin. Geboren bin ich in Virginia, aufgewachsen in Illinois. Später habe ich an verschiedenen Orten Gold geschürft, habe als Kaufmann mein Geld verdient, mich in der Politik betätigt, und so nebenbei betreibe ich eine Ranch drüben im Beaverhead Tal.«

Angeber! dachte Alex, während er höflich zuhörte. Und plötzlich sah er sich umringt von vier Frauen. »Meine Familie«, erklärte Steward, »oder besser gesagt, ein Teil davon. Meine Gemahlin Ellen Awboony Steward, meine Töchter Kate, Maria und Elisabeth.«

Alex verneigte sich vor den Damen. Ellen Awboony war trotz ihrer amerikanischen Kleidung offensichtlich eine Indianerin. Sie mochte zwischen dreißig und vierzig sein. Ihr Haar war bereits grau, ihre Figur vermutlich von vielen Geburten ruiniert. Ihre drei Töchter waren hübsch, und drei Augenpaare hingen an Alex.

Die Musik begann wieder zu spielen, und bevor er begriff, wie ihm geschah, war er auf der Tanzfläche und hielt die zierliche Maria im Arm, die ihn mit ihren schwarzen Augen anhimmelte. Sie bemühte sich, ein Gespräch anzufangen, aber Alex wollte sich nicht schon wieder ausfragen lassen. So sah sie ihn nur fortwährend an, während er bemüht war, nicht auf ihre kleinen Füße zu treten. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, schenkte ihm ein betörendes Lächeln und schob ihren Körper etwas dichter an Alex.

Du kleines, aufdringliches Biest, dachte er, lass bloß deinen Vater nicht sehen, was du treibst! Und dann trat er ihr auf den Fuß, mit Absicht.

»Entschuldigung«, sagte er ohne Bedauern, »ich bin wohl etwas aus der Übung.«

»Oh, das macht nichts. Wir könnten uns einen Augenblick ausruhen. Die Luft hier ist so stickig. Wir könnten nach draußen gehen.« Alex ging nicht darauf ein. »Ich habe selten Gelegenheit zum Tanzen. Meine Frau beschäftigt sich lieber mit Pferden.«

»Sie sind verheiratet?«, fragte sie enttäuscht. »Ja! Und Sie könnten meine Tochter sein.«

Und dann würde ich dich kräftig übers Knie legen, fügte er in Gedanken hinzu.

Maria hörte nicht auf, ihn anzuschmachten: »Ich mag ältere Männer. Die jungen sind mir zu unbeständig.«

Verdammt! Jetzt reicht es, sagte sich Alex. Er fühlte sich mit fünfundvierzig noch nicht als alter Mann, aber die Situation war grotesk.

Als der Tanz beendet war, nahm Alex Marias Arm und brachte sie mit einer energischen Geste zu ihrer Familie zurück. Er verbeugte sich elegant, dann nickte er Steward zu und machte sich hastig davon. Auf dem Weg vorbei an den Tischreihen entdeckte er Charly und winkte ihm kurz zu, dann stand er aufatmend auf der Straße. Er war todmüde. Also doch ein alter Mann! Und nun musste er den Weg zur Unterkunft finden.

Obwohl bald Mitternacht sein musste, war die Straße noch belebt. Gruppen von laut redenden Männern standen herum. Aus den zahlreichen Saloons drang das Grölen Betrunkener.

Alex mochte nicht zu Fuß durch die brodelnde Stadt gehen. Er nahm eine der am Straßenrand wartenden Droschken und ließ sich zum Haus von Mrs. Kelly bringen. Vor der Haustür suchte er sämtliche Taschen in seiner Kleidung ab, bis er endlich auf den Hausschlüssel stieß.

Er tastete sich in der Dunkelheit zum Zimmer, wo Jam den Schlaf des Gerechten schlief. Aus dem Nebenraum drang lautes Schnarchen. Chuck war also auch zurück.

Alex warf seine Sachen achtlos auf einen Stuhl, dann kroch er unter die Decke und streckte sich genüsslich aus. Das Bett knarrte. Alex dachte an Hermon. Wie schön wäre es gewesen, mit ihr den Abend zu verbringen. Mit dem Lächeln ihrer grünen Augen schlief er ein.

 

Am nächsten Tag wurde es etwas ruhiger in der Stadt. Die ersten Gäste reisten ab, vor allem die Viehtreiber, die ohnehin nur aus Neugier gekommen waren und um sich vor den harten Wochen des Roundups noch einmal richtig zu betrinken. Die meisten Rancher dagegen blieben noch, sie wollten an der Besprechung der Distriktvormänner teilnehmen, um sich mit den neuen Regeln vertraut zu machen. Das Treffen sollte um zwei Uhr nachmittags im Bürgerzentrum stattfinden.

Alex und Jam waren an diesem Morgen lange im Bett geblieben und hatten über die Ereignisse des vergangenen Abends geredet. Jam lachte, als Alex ihm von der aufdringlichen Miss Steward erzählte. »Und die Marquise hat dir auch schon schöne Augen gemacht! Ihr Mann, dieser Schnösel ist fast geplatzt vor Wut! Und das kleine Indianermädchen hätte dir wohl gerne einen Kuss gestohlen!«, foppte Jam seinen Bruder.

»Und du hättest mich dann bei meiner Frau verpetzt!«, konterte Alex, »nein, danke, solchen Unfug habe ich hinter mir. Keine Lust, mich mit Hermon wegen solcherlei Verfehlungen anzulegen.« Sie lachten beide. Dann stieg Alex aus dem Bett: »Jetzt habe ich Hunger!«

»Keinen Brummschädel?«, wollte Jam noch wissen. Aber Alex hatte während des Abends kaum etwas getrunken. Der Einzige, der einen mächtigen Kater hatte, war Monty. Er hatte es genossen, sich im Saloon, in den ihn sein Vater mitgenommen hatte, wie ein Mann aufzuführen. Und Chuck hatte ihn gelassen. Um neun Uhr servierte Mrs. Kelly für die vier Gäste ein opulentes Frühstück, das keine Wünsche offen ließ.

Monty würgte bleich gegen die Übelkeit kämpfend ein paar Bissen hinunter. Er wäre lieber im Bett geblieben. Doch als er sich die Decke noch einmal über den Kopf zog, hatte Chuck bemerkt: »Wer saufen kann, der kann auch aufstehen!« Widerspruch duldete er nicht, das wusste Monty nur zu genau.

Später, als sein Sohn wieder halbwegs geradeausgucken konnte, ging Chuck noch einmal mit ihm durch die Stadt, um Einkäufe zu tätigen, während Alex und Jam an der Versammlung teilnahmen, die in eine lange und anstrengende Diskussion ausartete, bis alle Fakten geklärt waren.

Für die Abendmahlzeit hielt Mrs. Kelly einen Eintopf mit Hammelfleisch bereit. Die Männer jubelten nicht vor Begeisterung, aber am Ende mussten sie sich eingestehen, dass weder gegen Mrs. Kellys Kochkünste, noch gegen das Hammelfleisch etwas einzuwenden war.

Nach dem Essen wurde gepackt. Doch Jam warf den Plan über den Haufen. Er brauchte einen Ruhetag, bevor er einen ganzen Tag im Zug sitzen musste. Chuck war nicht begeistert, er wollte nach Hause zu seiner Frau und zu seinen Rindviechern. Alex ließ jedoch keine Diskussion aufkommen und entschied: »Wir bleiben bis übermorgen.«

 

Hermon war etwas beunruhigt. Eigentlich hatte sie die Männer schon vor zwei Tagen zurück erwartet. Aber sie rief sich selbst zur Ordnung und sagte zu Meghan, die auf dem Weg der Besserung war, das sei kein Grund, sich Sorgen zu machen. Im Übrigen blieb ihr nicht viel Zeit zum Grübeln, denn da Meghan noch immer das Bett hütete und Ella Jo sich das Handgelenk verstaucht hatte und nicht recht zupacken konnte, blieb alle Arbeit an ihr hängen. Sie musste den gesamten Haushalt bewältigen, Meghan versorgen, sich um die Auslieferung der bestellten Pferde zum Roundup kümmern, und in diesem verflixten Garten stand das Unkraut schon wieder kniehoch! Peppa tat zwar ihr Bestes, aber ohne die Hilfe der Mutter schaffte sie es nicht. Dazu kam noch ein Korb voller dringender Näharbeiten. Peppa war seit dem letzten Sommer so stark gewachsen, dass sie in kein Kleid mehr hineinpasste. Die abgelegten Kleider von Ella Jo waren ihr zu eng, weil sie nicht die elfenhafte Figur ihrer großen Schwester hatte.

Es war später Nachmittag, als einer der Wrangler zwei junge Pferde in die Koppel an den Hemlocktannen brachte, die Hermon ausgewählt hatte, um mit ihnen zu arbeiten. Sie erwartete den Mann schon, und unterhielt sich eine Weile mit ihm über die Tiere. Hermon konnte sich etwas Zeit lassen, denn Ella Jo hatte sich bereit erklärt, sich um das Abendessen zu kümmern. Sie mochte es, wenn ihre Mutter ihr das Kochen überließ. Bevor sie mit der Vorbereitung begann, ging sie hinaus in den Küchengarten und warf einen Blick hinüber zur Koppel, wo ihre Mutter mit dem Arbeiter redete.

Neugierig ging sie zum Zaun und betrachtete den jungen Mann. Ella Jo kannte die Leute der Crew kaum, sah Arbeiter nur von weitem, da sie nie mit ihrer Mutter zu den Pferden hinausritt. Sie blieb am Zaun stehen, bis der junge Mann ihren Blicken entschwand, kehrte mit einem verträumten Lächeln in die Küche zurück, holte den Schmalztiegel aus dem Schrank und begann eine Zwiebel zu schälen. Eines Tages wollte sie ein eigenes Haus und Kinder haben. Und ihr Mann sollte jung sein und gut aussehen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, die von den Zwiebeln tränten und begann mit der Zubereitung der Mahlzeit.

Als ihre Mutter von der Weide nach Hause kam, stand ein duftender Eintopf auf dem Herd und Peppa hatte den Tisch gedeckt. Hermon lobte ihre Kinder, schrubbte ihre Hände und warf einen grimmigen Blick auf ihre zersplitterten Nägel. Dann brachte sie Meghan ihr Essen ans Bett. Als sie zurückkam, saßen auch die Jungen am Tisch.

»Du hast wunderbar gekocht, Ella Jo!«, stellte Hermon zufrieden fest, »du wirst mal eine gute Hausfrau.« Ella Jo strahlte. Es kam nur zu selten vor, dass ihre Mutter sie lobte.

Nach der Mahlzeit nutzte Hermon das letzte Tageslicht, um dem Unkraut zu Leibe zu rücken. Die Mädchen erledigten den Abwasch, die Jungen dagegen waren im Nu verschwunden.

Hermon drosch verdrossen mit der Hacke auf das Beet ein, als sie plötzlich von hinten gepackt wurde, mit Armen wie Eisenklammern.

Sie stieß einen wütenden Schrei aus, ließ die Hacke fallen und begann zu zappeln. Doch als sie eine Wange an ihrem Ohr spürte und er zu lachen begann, ließ sie sich in seine Arme fallen. »Alex! Du alter Esel! Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken!«

Er drehte sie zu sich um und küsste sie. »Du hast mir gefehlt, Micante! Ich war neidisch auf all die Männer, die ihre Frauen dabei hatten.«

»Ich hab dich auch vermisst, obwohl es nur ein paar Tage waren. Es ist ein Unterschied, ob du nur draußen auf der Range arbeitest, oder ob du weit weg in eine fremde Stadt fährst. Komm rein. Es gibt noch etwas zu essen.«

»Das ist gut, ich bin hungrig wie ein Wolf. Und Jam auch.«

»Ella Jo hat einen Eintopf gekocht.«

Sie gingen in die Küche. Alex zog zuerst seinen Rock aus und legte ihn samt Hut ordentlich auf einen Hocker. Dann kam auch Jam herein, der seine Meghan begrüßt hatte. Hermon küsste ihn auf beide Wangen: »Schön, dass ihr wieder da seid. Ihr wart lange fort gewesen. Ich habe euch schon vorgestern erwartet.«

»Ach, weißt du, Jad hatte da noch wichtige Verabredungen mit jungen Damen, die ihn umlagerten wie die Fliegen. Da war eine Marquise und...«

»Du Mistkerl! Willst du wohl aufhören, so herumzulügen! Bist du schon mal plötzlich mit deinem Stuhl umgefallen!«

Jam lachte: »Was heißt hier Lügen! Kohrs hat bestätigt, dass sie dich mit Blicken verschlungen hat! Und dann die kleine Maria...«

Hermon musterte ihren Mann: »Sollen sie dich ruhig angaffen! Du gehörst mir!« Sie schlang die Arme besitzergreifend um seinen Hals: »Hab ich dir je gesagt, dass du der schönste Mann bist, der mir in meinem Leben begegnet ist, abgesehen von Jam natürlich?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Außerdem, der Marquis de Mores ist schöner als ich, glaubt er jedenfalls. Alle, die ihn in den Schatten stellen konnten, forderte er nämlich. Man sagt, er habe schon einige Männer ins Jenseits befördert.«

»Jetzt hör auf, Unfug zu reden, und setz dich endlich hin. Ich mache den Eintopf warm, und dann erzählt ihr, was wirklich in Miles City los war.«

Sie schenkte ihnen Bier ein, und sie begannen abwechselnd zu erzählen. Alex berichtete von der Planung des großen Roundups. »Und wer ist der Vormann von unserem Distrikt geworden?«, wollte Hermon sofort wissen. Alex räusperte sich: »Der Texaner.«

»Nein! Das glaub ich nicht! Das ist nicht dein Ernst, Alex!«, entgegnete sie empört.

»Nein, ist es nicht«, antwortete Jam.

»Und wer ist es?« Sie musste auf die Antwort warten. »Ich«, sagte Alex endlich. Hermon schwieg erst einmal. »Da hast du dir was aufgehalst.«

»Ich weiß, aber einer musste es ja machen, Chey. Und da wir unseren Rinderbestand in den letzten zwei Jahren enorm verringert haben, werde ich das recht gut schaffen. Oder wäre dir der Texaner doch lieber?«

»Nein, natürlich nicht.«

Sie stellte den aufgewärmten Eintopf auf den Tisch, schnitt Brot ab und setzte sich zu ihren beiden Männern, glücklich, dass sie wieder zu Hause waren.

 

 

 

 

FORT COLLINS, April 1886

 

 

Hermon, gerade von den Pferdeweiden zurück, hängte den Strick ein, der die Koppel verschloss und strich sich die lockige Haarsträhne aus dem Gesicht, die der Wind aus ihrer Frisur gezerrt hatte. An ihren Stiefeln hingen dicke Matschklumpen, und ihre Hose war schmutzig.

Sie war müde. Die Arbeit wuchs ihr wieder einmal über den Kopf. Die Tage waren zu lang, die Nächte zu kurz. Wenn sie vor der Morgendämmerung aufstand, wusste sie nicht, wo beginnen. Und wenn sie völlig erschöpft spät abends ins Bett fiel, saß ihr all das im Nacken, was sie nicht geschafft hatte.

Wären das all ihre Sorgen gewesen, hätte sie damit schlafen können. Doch es gab ganz andere Probleme. Meghan hatte noch immer Fieber und der Husten wollte nicht wirklich besser werden. Und es gab jetzt so viel Arbeit draußen bei den Pferden, denn Alex hatte eine große Bestellung von Conrad Kohrs mitgebracht. Aber Hermon musste sich um alles kümmern, das Haus, den Garten, die Kinder und die Pferde. Und sie wusste genau, dass ohne sie die Jungpferde nicht mit der entsprechenden Sorgfalt ausgebildet wurden. Es war ihr Job, den Männern auf die Finger zu sehen und ihre Arbeit zu überwachen.

Sie hatten zu wenige Wrangler, die zureiten konnten, und sie waren von Hermons sanften Methoden, die zu viel Zeit in Anspruch nahmen, nicht wirklich zu überzeugen.

Hermon war zwar seit Wochen auf der Suche nach neuen Leuten, doch sie war wählerisch, und die drei Männer, die sich bisher gemeldet hatten, mussten nach wenigen Tagen wieder gehen. Und von Alex konnte sie keine Unterstützung erwarten. Das Roundup stand bevor, und der Posten als Distriktvormann saß ihm nun doch mächtig im Nacken, denn er trug eine große Verantwortung.

Und die Leute des Texaners machten wieder Ärger. Es kam an den Grenzen ständig zu Zwischenfällen und war kein Wunder, dass Alex die meiste Zeit schlecht gelaunt war und Hermon mit sarkastischen Bemerkungen reizte, was häufig zu Streitereien führte.

Die Kinder mussten nun mehr mithelfen als üblich. Ella Jo kümmerte sich um die nötigsten Flickarbeiten und half an den Waschtagen und beim Brotbacken. Erin jedoch, die mit ihren fast siebzehn Jahren gut hätte im Haus mit zupacken können, verbrachte die meiste Zeit des Tages mit ihren Lehrbüchern, um sich auf das Studium vorzubereiten. Bereitwillig half sie nur, wenn es kranke Pferde zu versorgen gab. Vor der Hausarbeit drückte sie sich jedoch mit großem Erfolg, weshalb es zwischen ihr und ihrer Mutter immer wieder zu heftigen Debatten kam, obwohl sie die Zukunftspläne ihrer Ältesten unterstützte.

Jared war nun die meiste Zeit mit der Crew draußen bei der Herde, alt genug, um zu lernen, wie ein Cowboy im Sattel zu sitzen und mit dem Lasso umzugehen. Alex war ein harter Lehrmeister. Da er es selbst als Junge nicht anders erlebt hatte, verschwendete er keinen Gedanken daran, dass Jared die Gene seiner Mutter hatte und diese Methoden als Demütigung empfand. Jared begehrte gegen den Vater auf, noch immer wütend darüber, weil er nicht mit nach Miles City fahren durfte. Deshalb stellte er sich absichtlich dumm an, um ihn mit seiner vermeintlichen Unfähigkeit vor den Männern zu blamieren. Er kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, wie sehr er ihn damit traf.

Er wehrte sich entschieden gegen jeden Zwang. Wenn Alex ihn mit der Crew hinausschickte, war er widerborstig und verweigerte gar die Arbeit, was zur Folge hatte, dass er bald bei der ganzen Crew unbeliebt war, weil er nichts als Ärger machte. Und da der Boss mit Jared ganz offensichtlich auf Kriegsfuß stand, wagte niemand, ihm zu sagen, dass sein Sohn frech und stinkfaul war. Der einzige, bei dem Jared sich zusammennahm, weil er einen Heidenrespekt vor ihm hatte, war Chuck Heesley. Er fackelte nicht lange und hatte ihm in einem unbeobachteten Moment auch schon mal das Lasso übergezogen.

Dann erwischte Black Abe ihn einmal dabei, wie er mit dem Lasso übte, als er sich völlig unbeobachtet fühlte, und er traute seinen Augen nicht. Als Jared ihn sah, ließ er es sofort fallen. Abe fragte ihn: »Warum tust du das?«

»Was?«, entgegnete Jared. »Du weißt schon, was ich meine«, entgegnete Abe, »deinem Vater weismachen, dass du zwei linke Hände hast und zu blöd bist, eine Kuh zu treiben.«

Jared zuckte die Achseln und entgegnete: »Wenn du petzt, sage ich, dass du lügst!«

Abe wandte sich schweigend ab, fragte ihn nicht, wem sein Vater wohl eher glauben würde.

Als Alex wieder einmal tobte und kein gutes Haar an seinem Jungen ließ, legte Abe ihm die Hand auf die Schulter, ging ein Stück mit ihm, bis sie allein waren, und sagte: »Vielleicht braucht er einfach nur mal Anerkennung. Du schreist ihn ja immer nur an.«

»Anerkennung! Wofür denn? Er ist doch für die einfachsten Arbeiten zu dämlich, dafür aber frech und faul!«, tobte Alex erneut, »wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass er mein Sohn ist, dann...«

»Ich bin der Meinung, Alex, du solltest dich einmal fragen, was du falsch machst. Ich glaube nicht, dass er so unfähig ist.«

Doch nun spie Alex Feuer: »Hör zu, Abraham Schwarzhaut, du musst mir nichts von Kindererziehung erzählen, du hast selbst keine großgezogen! Und du musst dich nicht in meine Angelegenheiten mischen! Sie gehen dich einen Dreck an, also halte dein schwarzes Maul!«

Im selben Moment, da er es ausgesprochen hatte, erschrak er über sich selbst. Er begann zu zittern und brachte kein Wort mehr hervor. Doch der inzwischen weißhaarige Abe blieb ganz ruhig und sagte: »Jared Mehegan, wenn du nicht der Sohn deines Vaters wärest und ich dich nicht lange genug kennen würde, um zu wissen, dass du das eben nicht warst, würde ich Tawamaya heute noch verlassen.« Dann drehte er sich um und ging.

Alex blieb zurück wie ein geprügelter Schuljunge und konnte nicht fassen, was über ihn gekommen war. Plötzlich dachte er an den Jared, der ihm auf der Flucht vor den Crow das Leben gerettet hatte. Den Crow war es gelungen, ihm in wenigen Wochen mehr beizubringen, als Alex in seinem ganzen Leben, und sie hatten es mit Gewalt getan! Damals waren sie Kameraden gewesen, nur so konnten sie beide überleben. Er hatte es vergessen. Jared war nun zwölf, groß, schlaksig, ungelenk und – unfähig.

Alex entschuldigte sich bei Abe. Er schämte sich unendlich für die Beleidigungen, die in seiner Wut über seine Lippen gekommen waren. Abe nahm die Entschuldigung gelassen an. Doch Alex hatte das Gefühl, dass etwas zerbrochen war. So etwas hätte ihm nie passieren dürfen. Und am Ende war er wütend auf Jared, der ihn so weit gebracht hatte.

Hermon erzählte er nichts davon, trug nur eine grimmige Miene zur Schau. Für freundliche Worte oder gar Zärtlichkeiten war im Augenblick kein Platz. Jeder war in seinen eigenen Problemen gefangen. Ella Jo zog sich in der gespannten Atmosphäre wieder in ihr altes, sicheres Schneckenhaus zurück, und Peppa hielt sich an ihre große Schwester.

Auch Lil, nur ein paar Steinwürfe weit entfernt, blieb nicht vom Kummer verschont. Chuck, inzwischen in den Fünfzigern und vom Rheuma geplagt, brachte Lil mit seiner Sturheit zur Verzweiflung. Ohne Einsehen, dass die Zeit nun einmal die Welt verändert, geriet er sich immer wieder mit Alex in die Haare, der befürchtete, dass sein Vormann eines Tages die Flinte nehmen, in den Sattel steigen und losreiten würde, um den Texaner und seine ganze Brut einfach abzuknallen. Und was Chucks Sohn Montgomery betraf, inzwischen vierzehn, so geriet er auch nicht nach den Wünschen seines Vaters. Er zeigte auch nach Miles City keinerlei Neigung für Leben und Arbeit im Freien, sondern träumte von großen Städten, prächtigen Bauwerken und der weiten Welt. Und Erin versorgte ihn mit Büchern.

Mit den Kindern war es überhaupt ein Kreuz. Jams Sohn Jamie interessierte sich für alles, was irgendwie mechanisch funktionierte und baute und bastelte mit Leidenschaft. Keiner der Jungen zeigte bisher die Neigung, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Collin, inzwischen neun Jahre alt, glänzte mit besonderer Faulheit, liebte nichts so sehr, wie das Essen, kannte alle Tricks, um an die sorgsam gehüteten Süßigkeiten heranzukommen und war kugelrund. Aber seine Eltern hatten im Augenblick andere Sorgen als ein dickes Kind.

Doch es war Alex, der die Hauptverantwortung für die Viehzucht trug und sich Sorgen um die Zukunft der Ranch machte. Er fragte sich, wozu er all seine Kraft verschwendete, wenn sie am Ende keiner haben wollte. Und ein Teil seiner Wut und Enttäuschung entlud sich immer wieder über Hermons Haupt. Die Fronten verhärteten sich wieder einmal, weil sie es nicht schafften, zu reden. Es kam nur selten vor, dass ihre Aggressionen sich in einem wilden, oft brutalen Geschlechtsakt entluden, in dem sich ihre Seelen nicht zu begegnen vermochten.

Die einzige ungetrübte Freude, die Hermon in dieser Zeit blieb, Ironie des Schicksals, war ihr Kuckuckskind. Peppa war auch in schweren Zeiten glücklich in diesem Haus und der Familie, die sie bedingungslos angenommen hatte und ihr Wärme und Sicherheit gab.

Es war Peppas Lächeln, das für Hermon immer wieder die Gewitterwolken zu vertreiben vermochte. Und ganz gleich, wie unerfreulich der Tag gewesen war, wenn sie Peppa am Abend zu Bett brachte, war es ein Augenblick des Friedens, wie eine Insel im Chaos des Geschehens. Peppa konnte gut singen, und sie sangen oft vor dem Schlafen zusammen ein Abendlied. Sie hüllte das Kind liebevoll in Louisas Decke, dann ging sie mit einem guten Gefühl hinaus.

An einem dieser Abende, als Hermon besonders bedrückt war, sagte Peppa: »Mummy, ich hab mir ein Lied für dich ausgedacht, hör zu: Sonne, Mond und Sterne, die habe ich so gerne, doch das allerschönste Licht für mich ist Mummys Gesicht.«

Hermon kamen beinahe die Tränen, und sie nahm ihre Kleine fest in den Arm: »Das hast du wunderschön gemacht, mein Zauberkind! Weißt du eigentlich, dass ich dich sehr lieb habe? Und deine Mama Louisa schaut vom Himmel herunter und ist sehr glücklich.«

Als sie die Tür geschlossen hatte, liefen die Tränen. Für nichts in der Welt wollte sie Peppa wieder hergeben. Im Grunde musste sie Alex für seine Dummheit noch dankbar sein. Peppa hatte längst alle Herzen erobert. Sie schaffte es sogar, Jared um den Finger zu wickeln. Und sie gab sich alle Mühe, ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Früh am Morgen war sie stets die erste von den Kindern, die in der Küche auftauchte, und dann lief sie mit dem Korb hinaus in den Hühnerstall und sammelte die Eier ein. Die Hühner zu versorgen und den Stall sauber zu halten, war inzwischen Peppas Aufgabe, und sie machte es sehr gewissenhaft, Hermon musste sie nie daran erinnern. Und da sie vom Erzählen die Horrorgeschichten von Jared und den Hühnern kannte, war sie immer auf der Hut, wenn er in den Garten kam. Obwohl er ihnen schon lange nichts mehr tat, sagte Peppa: »Lass bloß meine Hühner in Ruhe!«

 

Hermon ging mit großen Schritten zurück zum Haus, klopfte vor der Tür die Stiefel ab, zog sie aus und stellte sie zur Seite. Sie musste sich auf die Knie legen, um ihre Filzpantoffel unter dem Schrank zu finden. Dann holte sie ein paar dicke Kartoffeln aus der Holzkiste in der Speisekammer und machte sich mit fliegenden Händen daran, das Essen vorzubereiten, denn die Kinder würden bald vom Unterricht kommen.

»Verdammt! Das Feuer!« Hermon legte eilig zwei Scheite auf und blies in die bereits verlöschende Glut, bis es wieder emporloderte.

Meghan hatte schon wieder hohes Fieber, es war zum Verrücktwerden. Ungeduldig öffnete sie die Brotkiste. Es gab nur noch ein kleines Stück, und das war der letzte Leib. Es musste wieder Brot gebacken werden. Die Kinder hatten keine saubere Wäsche mehr, und im Garten wucherte das Unkraut. Aber nach der Mahlzeit musste sie hinaus zu den Pferden.

Alex würde nicht nach Hause kommen. Wenigstens musste sie seine schlechte Laune nicht ertragen. Doch Hermon erschrak, als sie den Gedanken in Worte fasste. Warum musste er auch noch diesen verflixten Job als Roundup-Vormann annehmen. Die Stimmung zwischen ihnen war wieder einmal zum Zerreißen gespannt. Warum konnten sie ihre Sorgen nicht teilen, waren stattdessen über all dem Kummer stumm geworden?

Hermon legte noch einmal Holz nach und fluchte, weil der Korb schon wieder leer war. Hatte sie nicht Jared gestern aufgetragen Holz hereinzuholen! Sie schnappte den Korb und lief zum Holzschuppen. Als sie zurückkam, war das Essen dabei, überzukochen. Fluchend zog sie den Topf zur Seite und versuchte mit einem feuchten Lappen die Schweinerei von der Herdplatte zu wischen, dabei verbrannte sie sich die Finger und warf den Lappen wütend an die Wand. Dann nahm sie einen Stapel Teller vom Regal und verteilte sie auf dem Tisch, dabei glitt ihr einer durch die Finger und zerschellte am Boden. Fluchend wie ein Viehtreiber kehrte sie die Scherben zusammen und warf sie in den Abfalleimer. Da hörte sie die Haustür und die Stimmen der Kinder, schloss einen Moment die Augen und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Die Kinder hatten unter der gespannten Atmosphäre schon genug zu leiden.

Peppa stürmte zuerst herein und umarmte die Mutter. Hermon hielt sie einen Augenblick fest, dann stellte sie den Kartoffeleintopf und die Schüssel mit dem Apfelmus auf den Tisch.

Die Kinder verschwanden in der Badestube zum Händewaschen. Nur der dicke Collin kletterte auf die Bank und tauchte seine dreckigen Finger in das Apfelmus.

Das war für diesen Tag zu viel! Hermon schnappte seinen Arm und schlug ihm auf die Finger.

»Du gefräßiges kleines Dreckferkel, irgendwann wirst du platzen!« Collin war so erschrocken, dass er zu schreien vergaß. Sie zerrte ihn unsanft von der Bank und schubste ihn zur Badestube.

Als die Kinder den Tisch stürmten, ging Peppa unaufgefordert nach oben, um Erin zu holen.

Hermon füllte die Teller, dann brachte sie eine Schüssel voll Eintopf hinüber zu Jam und Meghan. Sie fragte nicht nach ihrem Befinden, denn sie kannte die Antwort. Meghan würde jammern und Jam schweigen. Dann setzte sie sich zu den Kindern und aß hastig den Teller leer. Es war ruhig am Tisch, denn Jared, der sich gewöhnlich mit Jamie oder Erin stritt, war mit Alex draußen auf der Range.

Sollte der sich doch mit Jared herumärgern, dachte Hermon etwas gehässig. Und dann erschrak sie über ihre gemeinen Gedanken. Was war nur los mit ihr?

»Hilfst du mir beim Abwasch?«, fragte sie Ella Jo, weil sie nicht wieder mit ihrer Großen diskutieren wollte. Zu ihrem Erstaunen sagte Erin jedoch: »Ich mache das!«

Die beiden kleinen Mädchen gingen nach oben. Jamie verschwand nach draußen und Collin angelte nach der leeren Apfelmusschüssel, um sie auszuschlecken. Erin entriss sie ihm: »Finger weg, Mopps!«

Collin verzog sich beleidigt aus der Küche. Hermon räumte mit fahrigen Bewegungen den Tisch ab und ließ Besteck zu Boden fallen. »Wenn du nur rumstehst, Erin, hilft mir das nicht!«

»Mummy, sei doch nicht so gereizt!«

»Verdammt nochmal, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, und du sitzt den ganzen Tag in deinem Zimmer rum!«

»Ich sitze nicht rum, ich lerne! Aber ich will jetzt nicht mit dir streiten.« Erin räumte die letzten Teile vom Tisch und wischte ihn sauber. Und dann trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen. »Mummy!«

Was hatte dieser Ton zu bedeuten? Ihre Mutter sah sich ungeduldig nach ihr um. Erin zog einen Brief aus der Schürzentasche und legte ihn auf den Tisch. Hermon sah mit einem einzigen Blick, dass er vom College in Colorado kam.

»Nein, Erin, nicht jetzt!«

»Mum, ich bin zur Aufnahmeprüfung zugelassen! Im Mai! Ich muss nach Colorado!«

»Und wie zum Teufel willst du nach Colorado kommen? Dort hin gibt es noch keine öffentliche Verkehrsverbindung.«

»Das weiß ich noch nicht. Zuerst brauche ich eure Erlaubnis.«

»Erin! Einen dümmeren Zeitpunkt konntest du dir nicht aussuchen!«

»Ich hab ihn mir nicht ausgesucht! Ich habe vier Jahre gebüffelt. Jetzt bin ich alt genug! Und die Prüfung ist nun mal im Mai.«

»Wenn du jetzt deinen Vater darauf ansprichst, kannst du auch gleich das Haus anzünden! Darauf würde er nicht anders reagieren! Warte bis nächstes Jahr.«

»Nein! – Dann ist auch wieder nicht der richtige Zeitpunkt! Wenn ich die Erlaubnis nicht bekomme, gehe ich trotzdem! Ich komme schon irgendwie hin, auch ohne eure Hilfe!«

»Red keinen Unsinn, Erin! Außerdem brauchst du Dads Unterschrift!«

»Die ist das kleinste Problem. Ich kenne sie. Die vom College nicht!«

»Du würdest doch nicht...«

»Doch, ich würde. Mum, das ist mein Leben, und mein starrsinniger Vater hat kein Recht, darüber zu bestimmen! Und du hast mir versprochen, dass du auf meiner Seite bist! Hast du das vergessen?«

»Nein, das habe ich nicht. Merkst du nicht, dass im Moment alles schief läuft. Er wird toben wie ein Stier, aber er wird nicht einwilligen.«

»Es geht nicht anders, Mum, einer von uns beiden muss es versuchen, muss eben das Streichholz anzünden, um das Feuer zu legen. Die Frage ist nur, du oder ich.«

Hermon setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände, während Erin mit dem Abwasch begann. »Mach du es, Mum.«

»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.« Erin klapperte mit dem Geschirr herum, während Hermon sich nicht von der Stelle rührte. Das, genau das hatte ihr gerade noch gefehlt!

»Ich werde nicht heute mit ihm reden, Erin. Ich will erst einmal darüber schlafen. Und dann muss ich den richtigen Moment abpassen.«

»Mum, denk dran, im Mai! Die Prüfung ist am zehnten Mai. Schieb es nicht so lange vor dir her, dass es am Ende zu spät ist. Ich werde nicht so lange untätig herumsitzen. Ich werde am 10. Mai in Colorado sein, ganz egal, wie!«

»Ich denke dran, Erin.« Hermon stand auf, ging nach draußen in den Garten und starrte ins Nichts. Sie hatte es Erin versprochen, doch so wie die Dinge lagen, hatte sie keine Ahnung, wie sie Alex sein Einverständnis abringen sollte, so gereizt und grantig, wie er im Moment war.

Als Hermon in die Küche zurückkam, war sie blitzsauber und Erin verschwunden. Sie ließ ihren Frust an der Tür aus, warf sie krachend ins Schloss, rannte die Treppe hinauf und zog Hosen an.

Als Hermon auf Sinaskas Rücken durch duftendes Frühlingsgras jagte, gelang es ihr endlich, sich ein wenig zu beruhigen. Die Arbeit mit den Pferden ließ ihre Sorgen erst einmal in das Später verschwinden.

Als sie dann am späten Nachmittag müde und erschöpft zur Ranch zurückkam, den Gedanken im Kopf, wie sie am schnellsten ein Essen auf den Tisch bringen konnte, kam ein junger Mann, ein Mexikaner mit nachtschwarzen Locken und einer Narbe quer über der rechten Wange auf sie zu. »Hallo! Sind Sie Mrs. Mehegan?«

»Ja«, Hermon blieb stehen, und er reichte ihr höflich die Hand: »Ich bin Carlos Salinas. Sie suchen einen Zureiter?«

»Ja.«

»Ich suche einen Job. Man sagte mir in Billings, dass man hier wohl sehr wählerisch bei der Auswahl der Arbeiter sei. Können Sie mir sagen, wie es mit einer Anstellung steht?«

»Ja, das kann ich Ihnen sagen. Die Pferdezucht auf Tawamaya ist mein Job. Ich entscheide das. Wie alt sind sie, Carlos?«

»Achtzehn.«

»Haben Sie Erfahrung im Zureiten?«

»Ja. Ich bin mit Pferden groß geworden.«

Sie bat ihn nicht ins Haus, wie sie das üblicherweise tat, sondern fertigte ihn im Hof ab.

»Sie können drei Tage auf Probe arbeiten. Ich sehe mir das an. Suchen Sie sich eine Pritsche im Bunkhaus.« Dann wurde sie auf die Fuchsstute aufmerksam, die am Stall stand.

»Das ist Ihr Pferd!« Sie sah sich die Stute näher an, die einen gepflegten, gesunden Eindruck machte und ein glänzendes Fell hatte. Auch mit einem Blick auf Maul und Hufe konnte sie nichts Negatives entdecken. Carlos war abwartend stehen geblieben. Dann fragte er: »Was hat Tela Ihnen erzählt?«

»Gehen Sie mit allen Pferden so um, oder nur mit ihrem eigenen?«, antwortete Hermon mit einer Gegenfrage. »Ich mag keine Tierquälerei«, erwiderte er, »und ich habe gehört, dass Tawamaya die besten Pferde in Montana verkauft.«

»Wir werden sehen, ob Sie ins Team passen.« Damit wandte sie sich ab und ging ins Haus zurück. Auf den ersten Blick gefiel ihr der junge Mexikaner, doch ihr Kopf war zu voll mit all den Sorgen. Erst einmal musste ein Essen auf den Tisch kommen.

Irgendwie bewältigte Hermon am Ende auch diesen Tag. Alex war schweigsam und mürrisch. Es war sinnlos, ihn jetzt auf das leidige Thema anzusprechen. Während er im Bett schnarchend neben ihr lag, zermarterte sie sich die halbe Nacht den Kopf, ohne auch nur die Idee einer Lösung zu finden. Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Alex war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, um es zu bemerkte.

Erin verfolgte ihre Mutter auf Schritt und Tritt mit mahnenden Blicken. Auf diese Weise verstrichen drei Tage. Hermon wusste nicht, wie sie es anfangen sollte und fühlte sich entsetzlich hilflos.

Draußen bei den Pferden beobachtete sie Carlos Salinas, und was sie sah, gefiel ihr. Er sprach mit den Tieren und behandelte sie gut. Seine Hände waren sanft und seine Stimme freundlich. Unter normalen Umständen wäre Hermon begeistert gewesen.

Als sie von der Range zurückkam, fiel Erin erneut über ihre Mutter her.

»Mum, die Zeit läuft uns davon! Tu endlich was, du hast es versprochen!«

»Ich weiß. Aber glaube mir, im Moment ist es sinnlos. Ich kann genauso gut mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen.«

Erin wurde wütend: »Ich verstehe einfach nicht, wieso Dad so verdammt stur ist! Wenn ich dran denke, was du früher getrieben hast. Du bist mit sieb zehn aus Richmond abgehauen, und du hattest keine Ahnung von der Welt. Bist allein durch den ganzen Westen gezogen. Und Dad hat dich so akzeptiert. Aber bei mir stellt er sich an wie eine Glucke!«

»Erin, damals das war etwas anderes. Das war eine andere Zeit.«

»Nein, das war nicht anders, das war viel gefährlicher. Doch das ist wohl die Ausrede aller Eltern. Wenn du nicht mit Dad redest, tue ich es!«

Erin raste wütend aus dem Stall, wo sie ihre Mutter allein erwischt hatte.

Hermon war verzweifelt. Mit müdem Schritt folgte sie Erin ins Haus, ging in die Küche und warf eine Tasse gegen die Wand, die in der Spüle stand. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.

 

Hermon schreckte hoch, als die Haustür heftig zugeschlagen wurde. Sie wischte mit dem Ärmel die Tränen ab und lief in den Salon. Alex war schon nach Hause gekommen. Seine Miene war ungewöhnlich verkniffen, und dann sah Hermon, dass er sein Halstuch um die rechte Hand gewickelt hatte.

»Alex, was ist passiert?«

»Hand gequetscht«, antwortete er einsilbig.

»Komm in die Küche, ich will es mir ansehen.«

Alex folgte ihr, ließ sich auf einen Stuhl fallen, und Hermon wickelte das durchgeblutete Halstuch ab. Die Hand sah übel aus, denn die Wunde ging quer über die Handfläche. Sie goss heißes Wasser in eine Schüssel und holte den Kasten mit dem Verbandszeug hervor.

Alex hatte die Augen geschlossen, Hermon sah, wie erschöpft er war. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Er presste die Lippen zusammen und stieß ein paar Mal die Luft heftig durch die Nase aus, als sie die Wunde reinigte. Dann griff sie nach der Whiskeyflasche im Regal und übergoss die Wunde mit dem Alkohol.

Alex, der die Augen noch immer geschlossen hatte und es nicht kommen sah, schrie auf und fluchte unflätig.

»Hör auf!«, sagte Hermon, »sonst schicke ich dich rüber zu Black Abe, der brennt dir die Wunde aus. Da wirst du noch mehr Spaß haben.« Alex knirschte mit den Zähnen, nahm das Glas mit Whiskey, das sie ihm reichte und trank es mit einem Zug leer, während sie die Hand sorgfältig verband.

Als sie damit fertig war, blieb er am Tisch sitzen, müde, nahe daran, einzuschlafen.

Es ist gemein und unfair, sagte sich Hermon, trotzdem muss ich es tun, jetzt! Vielleicht ist das der Augenblick, da er keine Kraft hat, Widerstand zu leisten.

Sie ließ ihm noch einen Augenblick Zeit, bis sie sagte: »Alex, ich weiß, es ist ein verdammt ungünstiger Moment, aber ich muss mit dir reden.«

»Nein.« Er blickte nicht auf.

»Doch, Alex, es hilft nichts! Erin hat vom Colorado State College einen Bescheid bekommen, dass sie an der Aufnahmeprüfung teilnehmen darf. Die Prüfung ist am 10. Mai.«

Alex’ Gesicht erstarrte zu einer Maske, in seine Augen trat dieses metallische Glitzern, und er hieb mit der gesunden Hand auf den Tisch: »Nein!! – Ich habe mich dazu doch wohl klar und deutlich ausgedrückt! Erin geht nicht nach Colorado!«

Hermon stellte enttäuscht fest, dass noch genug Energie in ihm war, um wütend zu werden.

»Das ist Jahre her, Alex! Erin hat die ganze Zeit gelernt wie eine Besessene, und sie ist entschlossen, diese Prüfung zu machen!«

»Das ist ihr Problem! Meine Tochter geht nicht allein nach Colorado auf dieses vermaledeite College! Ich bin ihr Vater und verantwortlich für sie!«

»Trotzdem hast du nicht das Recht, über ihre Zukunft zu bestimmen! Es ist ihr Leben!«

»Ich werde ihr die Flausen schon austreiben!«

»Gar nichts wirst du ihr austreiben! Das sind keine Flausen! Du kannst ihr aber die Zukunft versauen, wenn du sie gewaltsam hier festhältst! Früher oder später wird sie studieren! Wenn sie erwachsen ist, kannst du sie nicht mehr daran hindern! Nicht Erin!«

»Und wie zum Teufel sollte sie nach Colorado kommen? In wenigen Tagen beginnt das Roundup! Da brauche ich jeden Mann! Du siehst, also schon das ist eine Illusion. Sie kriegt meine Erlaubnis nicht, jahrelang in diesem Nest voller geiler Kerle zu leben!«

»Ach, daher also weht der Wind! Was denkst du von deiner Tochter! Ich habe jahrelang in einer Männerwelt gelebt und habe mich behauptet! Alex, merkst du nicht, dass du sie gewaltsam dazu bringst, einfach von zu Hause wegzulaufen!«

Alex sprang auf und packte sie hart am Arm: »Jetzt hör genau zu, Hermon! Wenn sie das tut, wirst du mir dafür geradestehen, weil ich genau weiß, dass du mit ihr unter einer Decke steckst! Und ich sage dir, du wirst keine ruhige Stunde mehr haben!«

Hermons Augen wurden giftgrün vor Wut. Alex’ Hand an ihrem Arm tat ihr weh. Sie holte aus und schlug ihm gegen sein Brustbein. Er schnappte nach Luft, ließ sie jedoch los und stürmte hinaus. Hinter sich schlug er die Tür so fest zu, dass das ganze Haus erzitterte.

»Mistkerl!«, schrie sie hinter ihm her, dann setzte sie sich an den Tisch, und wieder kamen die Tränen.

Es dauerte lange, bis Hermon sich aufraffen konnte, um das Essen zu machen. Sie knallte den Topf auf den Herd, dass das Wasser nur so spritzte und auf der Herdplatte zischte.

Alles was sie tat, war fahrig und unkonzentriert. Sie ließ Sachen fallen und sagte zu sich selbst: »Mach so weiter, Hermon, dann haben wir bald kein heiles Geschirr mehr.«

Der schnell zusammengerührte Eintopf schmeckte nicht, aber es war ihr egal. Dann kamen die Kinder, eins nach dem anderen herein. Erin war die letzte. Sie sah ihre Mutter an und erschrak. Hermon sagte nur: »Ich habe es gewusst, Erin!«

Ihre Tochter blieb mitten in der Küche stehen. Hermon sah den Zorn in ihren Augen und hatte Angst, dass gleich noch mehr Geschirr zu Bruch gehen würde, doch Erin beherrschte sich. Sie sagte nur: »Mum, ich kann jetzt nichts essen, schon gar nicht, wenn Dad am Tisch sitzt.«

Hermon verstand sie. »Ich denke, er wird drüben im Bunkhaus essen. Hier, bring die Schüssel zu Jam und Meghan, und sieh nach, wie es ihr heute geht. Und lass dir Zeit.«

Hermon hatte sich getäuscht. Alex kam, setzte sich schweigend an den Tisch und aß. Seine Miene jedoch sprach für sich. Die Kinder waren still, sogar Jared hielt den Mund. Die Spannung, die in der Luft lag, war unerträglich. Hermon sah, dass Peppa eine Träne übers Gesicht rollte, und es zerriss ihr das Herz. Doch sie konnte nichts tun, um sie zu trösten.

Erin kam zurück, als die Mahlzeit fast zu Ende war. Als sie ihren Vater sah, wollte sie wieder verschwinden. Hermon warf ihr einen mahnenden Blick zu, so setzte sie sich und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Alex warf ihr einen kurzen Blick zu und aß weiter.

Als die Mahlzeit zu Ende war, stand Erin wortlos auf und wollte hastig nach oben in ihr Zimmer verschwinden.

»Erin!« Alex` Stimme war schneidend. Sie drehte sich provokativ langsam zu ihm um. Er forderte seine Tochter mit einer knappen Kopfbewegung auf, ihm ins Arbeitszimmer zu folgen und hielt ihr die Tür auf. Erin stiefelte hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei. Hermon ließ um ein Haar den nächsten Teller fallen, als die Tür hinter ihnen zuschlug.

Die Mädchen räumten schweigend den Tisch ab. Jared und Jamie gingen kommentarlos Holz holen.

Indessen stand Alex drohend vor seiner Tochter. Einen Augenblick maßen sie sich wie Feinde. Nun gut, kreuzen wir die Klingen, sagte sich Erin.

Alex holte einmal tief Luft: »Nun hör mir genau zu, Erin Mehegan! Das Colorado State College ist kein Ort für anständige junge Mädchen! Du wirst nicht dorthin gehen! Und das habe ich von Anfang an gesagt!«

»Aber Dad, ich...«

»Halt den Mund, jetzt rede ich! Und du hörst zu!« Sein Blick war kalt wie Eis, wie sie es nie gesehen hatte. »Und ich sage dir, wenn du dich heimlich aus dem Staub machst...«

»Aber Mum ist auch allein von zu Hause fort, als sie gerade siebzehn war und....«

»Verdammt noch mal, du sollst den Mund halten! Ich diskutiere nicht! Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst...«

»Das will ich ja gerade ändern!« schrie sie.

Einen Moment hatte sie Angst, ihr Vater würde sie schlagen. Er tat es nicht, aber er knurrte wie ein Wolf: »Wenn du dich heimlich davonschleichst, wird mir deine Mutter dafür geradestehen, und ich garantiere dir, sie wird keine ruhige Minute mehr in diesem Haus haben!«

Nun war es Erin, die am liebsten mit Fäusten auf ihren Vater losgegangen wäre. Doch sie wusste, sie würde sich nur lächerlich machen.

»Das ist unfair!«, schrie sie, »das ist Erpressung! Du machst mir mein Leben kaputt! Du...du... Ich hasse dich!«

»Raus!«

Diesmal war es Erin, die die Tür zuknallte. Ella Jo und Peppa sahen sich verängstigt an. Hermon hörte, wie Erin die Treppe hinaufrannte und folgte ihr. Sie hockte heulend auf ihrem Bett. Hermon nahm ihre Tochter fest in den Arm, während sie Flüche und Beschimpfungen gegen ihren Vater ausstieß. »Jetzt ist gut, Erin«, sagte sie schließlich.

»Nichts ist gut! Was soll ich denn jetzt machen? Er benutzt dich, um mich zu erpressen! Ich habe die Wahl zwischen Pest und Cholera! Entweder lasse ich die Prüfung sausen, oder ich mache eure Ehe kaputt! Ich weiß doch, was hier vorgeht, wenn ich fort bin! Die ganze Familie mache ich kaputt. Ella Jo und Peppa werden nur noch heulen, Jared wird sich aufführen wie die Axt im Wald, und Dad und du werden zu Todfeinden. Und keiner von euch beiden wird zu Kreuz kriechen.«

Die Anwesenheit ihre beiden Schwestern, die sich auf Peppas Bett erschrocken zusammendrängten, hatte Erin vergessen, und Hermon vermochte ihren Ausbruch nicht zu stoppen.

»Habe ich denn jetzt die ganzen Jahre umsonst gebüffelt? Ist mein Vater wirklich so ein bescheuerter Idiot!«

»Erin, es ist genug, hör auf, so zu schreien, das nutzt nichts! Noch ist nicht aller Tage Abend!«

»Was willst du denn machen, Mum?«

»Ich weiß es noch nicht, aber mir wird schon etwas einfallen.«

»Glaubst du das wirklich, Mum?«

»Du weißt doch, dass es Wunder gibt.«

»Die sind ziemlich selten.«

»Wir schaffen das, Erin, irgendwie, ich verspreche es dir.«

Erin beruhigte sich tatsächlich, und nun nahm sie auch wahr, dass ihre Schwestern die ganze Szene mitbekommen hatten.

»Jetzt gehst du erst einmal schlafen, morgen sieht die Welt wieder anders aus«, versuchte Hermon sie zu trösten. Dann nahm sie auch ihre beiden Kleinen in den Arm: »Keine Sorge, alles wird gut. Und jetzt ins Bett mit euch.«

Dann ließ sie die Mädchen allein und ging nach unten. Die Küche war verlassen, aber aufgeräumt.

Ich habe es versprochen. Was mache ich nur? Hermon ging in den Garten und lief durch die Dunkelheit zur Koppel. Die schmale Mondsichel spendete wenig Licht, Wolken verdeckten die Sterne. Geisterhaft ragten die Hemlocktannen in den Himmel. Von der Koppel war das Kauen der Pferde zu hören.

Hermon lehnte den Kopf auf den Balken und dann kamen wieder die Tränen. Über ihr rauschte der Wind in den Hemlocks. Sie hob den Blick zum Himmel und sah in die Wolken: »Gott, wenn du da bist, dann hör mir zu! Ich weiß wohl, dass ich ziemlich unverschämt bin, doch ich brauche wieder ein Wunder. Ich habe zwar keine Ahnung, wie das aussehen soll, aber du hast ja Fantasie, dir wird schon was einfallen! Ich will es ja nicht für mich, sondern für Erin. Ich will, dass meine Erin glücklich ist, das verstehst du doch. Also bitte, du weißt schon, der 10. Mai.«

Eine heftige Böe fuhr in die Hemlocks, schüttelte ihre Zweige und strich ihr durchs Haar wie eine sanfte Hand.

»Du hast mich gehört? Ich verlass mich auf dich! Bitte, Gott!«

 

Als Hermon zurückging, war sie ein bisschen getröstet. Aber was sollte nun werden? Hinauf in die Dachkammer flüchten? Nein, das war keine gute Idee! Ihr offener Widerstand würde Alex nur noch mehr reizen. Also ging sie in die Schlafkammer. Er lag im Bett, doch er war noch wach. Hermon wusste, er erwartete, dass sie erneut über ihn herfallen würde.

Schweigend kleidete sie sich aus, kroch ins Bett und kämpfte mit sich, ihm den Rücken zuzudrehen. Hermon wusste genau, er beobachtete sie und entschied sich dagegen, drehte sich auf seine Seite – und schwieg. Minutenlang. Er raschelte mit dem Bettzeug. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine Schulter. Er rührte sich nicht. Beide sagten kein Wort. Hermon hörte seinen Atem. Dann legte Alex seine Hand auf ihre. Waffenstillstand! Nicht das Ende der Schlacht, das wussten beide. Es gab ihnen wenigstens die Möglichkeit, zu schlafen und ruhiger zu werden. Das war viel, wenigstens für den Augenblick.

 

Am nächsten Morgen hatten sich die Gemüter etwas beruhigt, doch der Kampf hatte seine Spuren hinterlassen. Erins Augen erzählten, dass sie die halbe Nacht geweint hatte. Peppa war verstört und Ella Jo in ihrem Schneckenhaus verschwunden. Jared machte sich aus dem Staub und war stundenlang nicht zu finden.

Hermon und Alex gingen höflich, aber kühl miteinander um. Über die Collegeprüfung wurde nicht mehr geredet, denn Hermon wusste, dass es sinnlos war. Wenigstens Alex’ Hand machte keinen Ärger und heilte ab.

Der neue Zureiter arbeitete gut, Hermon verschwendete jedoch kaum einen Gedanken an ihn. Sie konnte an nichts anderes denken als an diese verflixte Prüfung, und ein Tag nach dem anderen verstrich. Nichts geschah. Keine Lösung, kein Wunder.

Erin hatte in ihrem ganzen Leben nicht so viel geweint, doch Alex schien es nicht zu bemerken.

Hermon spielte mit dem Gedanken, mit Jam zu reden. Er hatte sich nie zu Erins Plänen geäußert. Doch wenn er sich auf ihre Seite stellte, würde es nur noch mehr Streit geben. Nein, es ging nicht! Es wäre unfair, Jam mit hineinzuziehen. Hermon hatte sich schon lange nicht mehr so allein gefühlt, im Stich gelassen von Alex.

Es blieb nun nicht mehr viel Zeit bis zu dem Tag, an dem Erin abreisen musste, um pünktlich in Colorado zu sein, und sie dachte nun doch darüber nach, noch einmal mit Alex zu reden. Aber ihr fiel einfach nichts ein, womit man ihn ködern konnte. Den ganzen Nachmittag bei der Arbeit mit den Pferden konnte sie an nichts anderes denken. Es fiel sogar den Männern auf, dass sie völlig abwesend war.

Als Hermon nach Hause kam und Sinaska zur Koppel brachte, hob sie verzweifelt und vorwurfsvoll die Augen zum Himmel: »Auf dich ist auch kein Verlass, Gott! Diesmal lässt du mich ganz schön hängen. Ich habe es Erin versprochen!«

Sie trat wütend mit dem Stiefel gegen den Pfosten. »Vielleicht gibt es dich ja gar nicht. Vielleicht bist du doch nur ein Hirngespinst, Gott! Das Wunder kann ich mir wohl aus dem Kopf schlagen! Mist, verdammter, was mache ich nur?«

Schon auf dem Weg zum Garten fiel ihr ein, dass sie mittags die Küchentür verriegelt hatte, weil das Schloss kaputt war und die Tür bei starkem Wind aufflog, deshalb ging sie über den Hof, sah einen Wagen heranrollen und blieb verwundert stehen. Es kam nicht oft vor, dass sich Besucher einfanden. Auf dem Bock saß ein älteres Paar. Hermon ging dem Wagen entgegen. Da hob der Mann den Kopf. Nun konnte sie sein Gesicht sehen, und obwohl die Jahre nur noch wenige rote Strähnen hinterlassen hatten, erkannte sie ihn sofort, John Fraser, der Schotte, und kein Zweifel, neben ihm, das war seine Frau Kate.

Hermon stieß einen Schrei aus und rannte ihnen entgegen. Vor dem Stall kam das Gefährt zum Stehen. Kate kletterte etwas mühsam herunter, und dann lagen die beiden Frauen sich in den Armen und begrüßten sich lachend und weinend.

Die kleine, etwas rundliche Kate hielt Hermon ein Stück von sich weg: »Lass dich anschauen! Abgesehen von deiner lang gewordenen Haarpracht hast du dich nicht wirklich verändert. Immer noch dieser aufsässige Zug um den Mund! Alex und du habt es also tatsächlich so lange miteinander ausgehalten, ohne euch zu erschlagen!«

Ein winziges Lächeln glitt über Hermons Gesicht, das erste seit Tagen.

»Manchmal hat nicht viel gefehlt!« Die Fortsetzung des Satzes: Und jetzt sind wir gerade wieder dabei! verkniff sie sich.

Auch John war inzwischen vom Wagen gestiegen: »Darf ich jetzt auch mal, aye!« Und auch er umarmte Hermon stürmisch. »Am Ende ist aus dir doch noch eine richtige Frau geworden! Ich weiß noch genau, wie Kate damals auf dem Treck zu mir gesagt hat: John, unser Hermon ist glaube ich ein Mädchen. Und ich entgegnete: Kate, du spinnst!«

Sie lachten. »Nun kommt erst einmal herein. Ihr seid sicher hungrig und durstig!«

Hermon ging zur Stalltür und brüllte: »Henry! Ausspannen!« Statt Henry kam Butch heraus: »Ich mach das, Hermon.«

»In Ordnung, Butch.« Dann begleitete sie Kate und John ins Haus.

»Nun erzähl, Hermon. Wo ist Alex? Habt ihr noch Kinder bekommen? Wie ist es euch all die Jahre ergangen? Dreizehn müssten es sein seit eurer Hochzeit.«

»Langsam, Kate, eins nach dem anderen. Also Alex ist irgendwo draußen. Er kommt heute Abend sicher zurück. Und wir haben vier Kinder. Erin habt ihr ja kennengelernt. Sie ist jetzt fast siebzehn. Jared ist dreizehn und legt sich dauernd mit seinem Vater an, weil er genauso schlimm ist, wie Alex als Junge. Ella Jo ist dreizehn, und dann ist da noch Peppa, Alex‘ Kuckuckskind.«

Bei Kate und John brauchte sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

»Oh«, sagte Kate nur. Hermon fügte hinzu: »Ich muss zugeben, dass ich nicht unschuldig daran bin. Es ist in Ordnung.

»Und ihre Mutter?«, fragte Kate sofort. »Ist tot, deshalb ist sie bei uns.«

Hermon ging voraus in die Küche: »Setzt euch erst mal.«

Sie machte Feuer und stellte Kaffee auf. Immerhin war der Brennholzkorb gefüllt. Dann schnitt sie Brot und Schinken ab, und John griff sofort zu. Kate wollte wissen: »Wo sind deine Kinder?«

»Irgendwo draußen. Nur Erin ist sicher in ihrem Zimmer. Sie ist ein Bücherwurm.«

»Deine Tochter?«, fragte John verwundert. Hermon ging nicht darauf ein.

»Jetzt erzählt von euch. Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin? Und sagt, habt ihr eigentlich Kinder? Ich entsinne mich nicht, dass wir je darüber geredet haben.«

Es war John, der antwortete: »Wir haben eine Tochter. Sie lebt am anderen Ende der Welt. Eines Tages lernte sie einen Mann aus dem fernen Australien kennen, und wir mussten sie schweren Herzens ziehen lassen, mit dem Wissen, dass wir sie in diesem Leben wohl nicht wiedersehen werden. Und unsere Enkelkinder werden wir nie kennenlernen. Es sind inzwischen drei.«

Hermon hatte Kate niemals weinen sehen. Jetzt schwammen ihre Augen in Tränen. John wechselte das Thema: »Wir sind viel herumgekommen. Die letzten zwei Jahre haben wir in Minnesota verbracht. Jetzt sind wir auf dem Weg nach Denver in Colorado. Dort hat sich ein alter Freund von uns niedergelassen. Er handelt mit alkoholischen Getränken, will das ganz groß aufziehen. Und da wir ohnehin aus Minnesota weg wollten, dachte ich mir, ich sage ihm mal hallo. Könnte sein, dass wir Partner werden.«

»Das heißt, ihr werdet euch in Denver niederlassen?«

»Aye, das ist durchaus möglich«, bestätigte John, und da fuhr ein Gedanke wie ein Blitz durch ihren Kopf: Das Wunder, lieber Gott! Du hast mich doch nicht vergessen! – Wenn es irgendeinen Menschen gab, der Alex umstimmen konnte, dann John! Die beiden hatte wirklich der Himmel geschickt. Hermon entschied sich, den Stier sofort bei den Hörnern zu packen. »Kann es sein, dass ihr in der Nähe von Fort Collins vorbeikommt?«

»Wir werden eine Nacht in Fort Collins verbringen«, entgegnete John, »es liegt direkt auf unserem Weg.«

»Es gibt dort eine Universität für Landwirtschaft«, begann Hermon und Kate entgegnete, »ich habe gehört, dort dürften sogar Frauen studieren.«

»Ja, das ist richtig! Erin will dort Tiermedizin studieren.«

»Das ist fantastisch, aber es wundert mich nicht, schließlich ist sie deine Tochter«, bemerkte John und Kate fragte: »Hat Erin je eine öffentliche Schule besucht?«

»Nein. Alex’ Cousine Lil unterrichtet die Kinder in den fundamentalen Dingen. Erin hat sich die nötige Literatur besorgt und lernt seit Jahren auf eigene Faust. Am 10. Mai kann sie die Aufnahmeprüfung machen. Könnt ihr sie nach Colorado mitnehmen, John?«

»Natürlich, keine Frage!«, stimmte John sofort zu.

»Du findest es nicht ungehörig, Erin studieren zu lassen?«

»Nein! Im Gegenteil! Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde platzen vor Stolz.«

Hermon lächelte zufrieden. Genau so hatte sie John eingeschätzt.

»Alex sieht das allerdings anders. Er will Erin seine Einwilligung nicht geben. Wir hatten deshalb schon den größten Krach.«

»So ein Esel«, bemerkte John, »ich fürchte, ich muss ihn mir mal vorknöpfen. Das passt nicht zu ihm.«

»Aber ein bisschen diplomatisch bitte!«, bemerkte Kate. Sie machten sofort einen Schlachtplan. Dann half Kate Hermon bei der Zubereitung der Mahlzeit, während John ein Bier trank und ein wenig vor sich hindöste.

»Wie geht es Alex’ Zwilling?«, wollte Kate wissen.

»Im Augenblick nicht so gut, sein Rücken macht ihm zu schaffen. Du weißt ja, er hat diese Verletzung. Und dazu kommt, dass seine Frau...«

»Jam ist verheiratet?«

»Ja. Richtig, das könnt ihr ja gar nicht wissen. Erinnerst du dich an meine Freundin Meghan, das Mädchen mit den rotblonden Haaren, das zu meiner Hochzeit gekommen war.«

»Ja, ich erinnere mich. Sie hat eine ganze Weile bei Jam gesessen«, entgegnete Kate.

»Sie sind verheiratet und haben zwei Söhne. Doch Meghan geht es nicht gut. Sie hat seit ein paar Wochen einen schlimmen Husten, dazu immer wieder Fieberschübe, und es will einfach nicht besser werden.«

»Vielleicht kann ich ja etwas für sie tun«, bot Kate sofort an.

Geräusche aus dem Salon verkündeten, dass die Kinder kamen. Peppa riss die Küchentür auf und blieb erschrocken stehen, als sie die fremden Leute sah.

»Komm nur herein, Peppa«, forderte Hermon sie auf, »Kate und John sind gute Freunde.«

Etwas zögernd kamen Peppa und Ella Jo näher und gaben den Frasers artig die Hand. Jamie und Collin folgten ihrem Beispiel. Dann verschwanden sie erst einmal in die Badestube.

»Die Kleine ist Alex ja wie aus dem Gesicht geschnitten«, bemerkte Kate, »ich erinnere mich, dass deine Erin genauso aussah.« Sie redeten über die Hochzeitsfeier. Dann kamen die Kinder lärmend zurück und Ella Jo half beim Tischdecken. Während Kate das Essen umrührte und John mit den beiden Jungen redete, ging Hermon hinüber zu Jam und Meghan und erzählte ihnen von ihrem Besuch. Beide erinnerten sich an den großen Schotten und seine Frau, und da Meghan sich einigermaßen gut fühlte, kamen sie zum Essen in die Küche.

Es gab eine fröhliche Begrüßung und Meghan wurde wieder einmal lebendig.

Als letzte erschien auch Erin und sah sich verwundert über die heitere Stimmung um. Hermon traf ein vorwurfsvoller Blick. Bleich und verweint wollte sie sich einfach schweigend auf ihren Platz setzen, doch Kate kam sofort auf sie zu und begrüßte sie: »Hallo Erin, schön dich wiederzusehen. Beim letzten Mal warst du noch ein ganz kleines Mädchen. Ich bin Kate Fraser und das ist John. Sicher erinnerst du dich nicht mehr an uns.«

»Nein. Aber manchmal hat Mum von euch erzählt, wenn sie über den Oregon Trail sprach.«

Kate verwickelte Erin in ein unverfängliches Gespräch, denn sie hatte mit Hermon vereinbart, ihr nichts von dem Plan zu erzählen, damit sie nicht aufs Neue enttäuscht wurde, wenn er misslang. Trotzdem schaffte es Kate, Erin eine Weile von ihrem Kummer abzulenken.

Die Mahlzeit verlief entspannt. John unterhielt sich mit Jam. Die Kinder trauten sich, zu reden und zu lachen, und Kate stellte viele Fragen.

Nach dem Abwasch holte John das Gepäck aus dem Wagen, und Hermon brachte die beiden hinauf in die Dachkammer. Kate hatte das Bedürfnis, sich umzukleiden. Danach machte sie mit Hermon einen Rundgang, und sie erzählten über die Ereignisse der vergangenen Jahre. Kate und John hörten aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen. Am Ende bemerkte Kate: »Und nun ist einmal mehr Krieg angesagt!«

»Ja, so kann man es nennen«, entgegnete Hermon.

Es gab so viel zu erzählen, die Zeit verging wie im Flug. Als Hermon wieder in die Küche verschwand, um das Abendessen vorzubereiten und John eines seiner Zugpferde hinüber zum Schmied brachte, weil es ein Hufeisen verloren hatte, setzte Kate sich zu Jam und Meghan, hörte sich ihren Kummer an, gab Meghan ein paar Ratschläge, was sie gegen ihren Husten und das Fieber tun konnte, und versprach, ihr eine Medizin zu brauen.

Hermon hatte inzwischen ein ordentliches Essen gekocht und dann brachten die Kinder wieder Leben ins Haus.

John kam eben mit dem Pferd zurück, als Alex und Jared mit der Crew nach Hause kamen.

Alex traute seinen Augen nicht, als er John sah. Mit einem Satz war er aus dem Sattel und sie begrüßten sich lautstark.

Die Abendmahlzeit wurde turbulent. Alex ließ sich von der guten Laune anstecken. So fröhlich ging es im Hause Mehegan lange nicht zu. Als einzige blieb Erin still und verschlossen.

John unterhielt sich mit Jared, der so ganz und gar auf seine Mutter herauskam. Hermon beobachtete, wie er offen und sehr vernünftig mit John redete, wie sie es kaum von ihm kannte. Sie kam sehr schnell hinter das Geheimnis. John sprach mit ihm wie mit einem erwachsenen Mann, Jared fühlte sich ernst genommen. Warum zum Teufel konnte Alex nicht so mit ihm umgehen?

Zum Nachtisch gab es eingekochte Pflaumen, und Jam hatte noch irgendwo eine Flasche Wein aufgetrieben. Sie saßen lange beieinander. Erin war schließlich die erste, die aufstand, sich kurz angebunden verabschiedete und verschwand.

Hermon begann nervös zu werden. Sie stand auf, schickte die Kinder energisch zu Bett und räumte mit Meghan den Tisch ab. Die Männer zogen sich in die Sessel am Kamin zurück.

Während Meghan ihre Söhne ins Bett scheuchte, flüsterten Hermon und Kate über die Sache mit dem College.

Nachdem der Abwasch erledigt war und sie zurück in den Salon kamen, waren Alex und John allein. Auf dem Tisch standen die Whiskeyflasche und mehrere Gläser. Die Männer hatten offensichtlich schon einiges getrunken. Die Frauen setzten sich zu ihnen und hörten eine Weile dem Gespräch über die Entwicklung der Viehzucht in Montana und der Viehzüchterversammlung in Miles City zu, doch dann bedachte Kate Hermon mit einem auffordernden Blick. Alex schenkte Whiskey nach und bot auch den Frauen ein Glas an. Hermon räusperte sich, nahm einen Schluck und fiel Alex ins Wort: »Übrigens, es gibt eine gute Nachricht! Kate und John sind auf dem Weg nach Denver. Sie können Erin mit nach Colorado nehmen.«

Alex setzte zu einer heftigen Erwiderung an, aber John kam ihm zuvor: »Ich finde das ganz fantastisch, Alex, dass deine Tochter studieren will. Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde platzen vor Stolz! Du hast überhaupt ganz wunderbare Kinder! Ich habe mich vorhin eine ganze Weile mit deinem Sohn unterhalten. Er ist ein intelligenter Bursche.

Was deine Tochter betrifft, das College in Fort Collins ist eine fortschrittliche Universität und ich bin sicher, man kann eine Tochter ohne Bedenken dorthin schicken...«

John redete wie ein Wasserfall und ließ Alex einfach nicht zu Wort kommen, der schließlich irgendwie sprachlos wirkte.

»Wir nehmen das Mädchen mit, liefern es an der Universität ab, machen ein paar Tage Pause, und wenn Erin die Prüfung bestanden hat, werden wir ihr helfen, eine ordentliche Bleibe zu finden.«

Stille! Hermon hielt die Luft an. Alex brüllte nicht los.

»John, ich habe noch gar nicht entschieden, ob....«

»Alex! Das ist nicht dein Ernst, dass du Erin diese Möglichkeit verwehren willst. Weißt du, wie schwer es für ein Mädchen ist, einen Platz an einer Universität zu ergattern! Es gibt nur wenige Mädchen in unserem Land, die überhaupt den Mut dazu haben, sich auf diese Weise zu bilden.«

Alex schnappte nach Luft, und Hermon musste sich nun ein Grinsen verbeißen, wie John ihn an die Wand gespielt hatte. Der schüttelte den Kopf: »Du gehörst doch nicht etwa zu der egoistischen Sorte Mann, die glaubt, Töchter müssten dumm bleiben! Nicht du, Alex! Das glaube ich einfach nicht, aye!«, setzte John noch eins drauf.

Alex senkte irgendwie beschämt den Kopf und Hermon konnte sehen, wie die Gedanken hinter seiner Stirn Purzelbäume schlugen.

»Nein, ich... ich...«

Hermon konnte sich nicht erinnern, Alex je so in Verlegenheit gesehen zu haben. Kate bedachte ihn mit einem zuckersüßen Lächeln: »Also abgemacht, wir nehmen Erin mit.«

Und zu Hermons Erstaunen nickte Alex: »Ja, in Ordnung.«

Sie traute ihren Ohren nicht, er hatte es wirklich gesagt.

»Gut!«, John lächelte zufrieden und warf Hermon einen schnellen verschmitzten Blick zu. Sie sprang auf und umarmte Alex. »Satansweib, hinterhältiges!«, flüsterte er und seine Haltung war Abwehr, doch das war ihr in diesem Moment egal. Er hatte ja gesagt, das war alles, was zählte. Und dann umarmte sie auch Kate und John. Alex hatte ohnehin durchschaut, was sich da hinter seinem Rücken abgespielt hatte. Er warf ihr einen giftigen Blick zu und nahm sich noch einen Whiskey.

»Ich werde jetzt nach oben gehen und Erin sagen, dass sie packen soll!« Sie warf Alex einen kurzen Blick zu. Er sagte nichts dazu.

Erin schlief noch nicht, stattdessen hockte sie bei Kerzenlicht auf ihrem Bett und starrte Löcher in die Luft. Hermon war leise, um die beiden Kleinen nicht zu wecken. Sie legte den Arm um ihre Tochter: »Du kannst deine Sachen packen.«

»Was?«, Erin sprang auf, »ich darf nach Colorado?«

»Psst, sei leise.«

»Ist das wahr, Mum? Hat Dad es erlaubt?«

»Ja!« Erin umarmte ihre Mutter: »Wie hast du das geschafft?«

»Ich habe es nicht geschafft. Das war John.«

»Das war also ein Komplott! Warum hast du mir nichts gesagt, Mum?«

»Weil ich nicht wollte, dass du enttäuscht bist, wenn es in die Hose geht.«

»Vielleicht hat Dad es nicht ernst gemeint, vielleicht sagt er morgen, dass ich dableiben muss.«

»Wird er nicht. John und Kate werden dich mitnehmen. Sie haben versprochen, auf dich aufzupassen und dafür zu sorgen, dass du gut unterkommst. Dein Dad vertraut John, und der hat ihm erklärt, wie fantastisch es ist, dass du studieren kannst.«

»Okay!« Erin rannte aus dem Zimmer die Treppe hinunter und flog ihrem Vater um den Hals: »Danke, Dad! Du bist der beste Vater auf der ganzen Welt! Auch wenn du manchmal ein bisschen bockig bist!«

»Ach, seit wann denn das«, bemerkte Alex säuerlich. »Ach Dad!«

Als Erin ihn mit ihren samtbraunen Augen anstrahlte, konnte sie ihm doch ein kleines Lächeln entlocken, das die Situation etwas entschärfte. Und dann umarmte sie auch Kate und John: »Danke! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Schon gut, Erin. Wir reisen übermorgen und nehmen dich mit nach Colorado. Wir werden in Fort Collins bleiben, bis du die Prüfung hinter dir hast, und weißt, dass du aufgenommen wirst. Das heißt, wenn du einverstanden bist.«

Erin strahlte: »Und ob ich einverstanden bin! Ich glaube, jetzt brauche ich einen Whiskey!«

Oh Gott, Erin, überspann den Bogen nicht, dein Vater hat gerade einen dicken Brocken zu verdauen! dachte Hermon.

Doch Alex schien nun nichts mehr zu schockieren. Gelassen griff er nach der Whiskeyflasche und goss etwas in sein Glas mit der Bemerkung: »Wenn du alt genug bist, um allein in die Welt zu ziehen, kannst du auch einen Whiskey vertragen! Deine Mutter muss wohl so in deinem Alter gewesen sein, als sie mit der Sauferei angefangen hat.«

Er gab ihr das Glas. Hermon, die am Inhalt der Flasche erkannte, dass Alex schon eine Menge getrunken hatte, fragte sich nun doch, wie er reagieren würde, wenn er wieder nüchtern war.

Erin nahm einen kräftigen Schluck, verzog das Gesicht und schnappte nach Luft. Dann trank sie noch ein zweites Mal und merkte, wie sich eine angenehme Wärme in ihrem Magen ausbreitete und sich die Spannung der letzten Tage langsam löste. Sie zog sich einen Hocker heran und strich sich das offene Haar aus dem Gesicht. Als sie sich setzte, merkte sie, dass ihr Rock Flecken hatte. Sie war nie eitel gewesen, ihre Kleidung eher nachlässig. Genau wie ihre Mutter hasste sie enge Kleider, und in den letzten Tagen war es ihr völlig egal gewesen, wie sie aussah. Nun war es ihr peinlich, doch niemand schien es zu bemerken.

»Was denkst du, Erin, wirst du es schaffen, in einem Tag alles zur Abreise vorzubereiten?«, fragte Kate. »Na klar, ich brauche nicht viel. Mum ist jahrelang mit einer Bettrolle und zwei Satteltaschen durch die Welt gezogen«, entgegnete Erin.

»Ein bisschen mehr wirst du für das College schon brauchen«, bemerkte Hermon, »schließlich kannst du da nicht wie ein Viehtreiber herumlaufen.«

»Ja, ich weiß!«, tat Erin das Thema ab, dann fragte sie Kate und John, »wie war das damals auf dem Oregon Trail? Habt ihr wirklich nicht gemerkt, dass euer Saddleboy Hermon ein Mädchen war? Ich kann mir das gar nicht vorstellen.«

»Wir haben es lange nicht gemerkt. Deine Mum war groß und furchtbar dünn. Sie hatte kurz geschorene Haare, starke Arme und große Hände. Und niemand, der sah, wie sie sich bewegte, wie sie im Sattel saß und wie sie mit Pferden und Werkzeugen umgehen konnte, kam auch nur auf die Idee, daran zu zweifeln, dass sie ein Mann ist.«

Kate erzählte noch von der einen oder anderen Begebenheit. Dann stand Erin auf: »Ich glaube, ich bin betrunken, ich muss ins Bett.« Kate gähnte: »Das ist eine gute Idee.«

Hermon holte noch eine Kanne warmes Wasser aus der Küche, begleitete die Frasers in die Dachkammer und versorgte sie mit Handtüchern und Seife. Dann umarmte sie John noch einmal: »Der Himmel hat euch geschickt! Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll. Ihr habt ja keine Ahnung, wie...«

»Doch, ich glaube schon!«, John grinste, »ich habe Alex genau beobachtet. Zwischendurch war er kurz davor, auf mich loszugehen.«

Hermon lachte nun ebenfalls: »Er hat es nicht gewagt!« Sie wünschte eine gute Nacht.

Bevor sie sich in die Höhle des Löwen wagte, ging sie noch einmal zu Erin, die schon im Nachthemd war, und in ihrem Bücherberg herumwühlte. Sie sprang sofort auf: »Mum, ich bin ja so froh! Ich habe nicht mehr daran geglaubt, nachdem Dad mich so gemein erpresst hat.«

»Ich habe es dir versprochen.«

»Aber ich weiß, dass du auch nicht zaubern kannst.«

»Der liebe Gott hat offensichtlich eine Menge Tricks auf Lager. Ich habe mich einfach mal auf ihn verlassen.«

»Du bist unglaublich, Mum!«

Hermon lächelte zufrieden: »Jetzt geh schlafen, mein Sonnenkind.«

»So hast du mich lange nicht genannt, Mum.«

Hermon warf ihren beiden Kleinen, die fest schliefen, noch einen liebevollen Blick zu, bevor sie leise hinausging. Vor der Tür zu den eigenen Räumen blieb sie stehen und holte tief Luft, gefasst auf eine Auseinandersetzung mit Alex. Schließlich hatte sie ihn ziemlich hinterlistig aufs Kreuz gelegt. Sie fand ihn bereits im Bett, aber noch hellwach. Im Licht der Stehlampe warf sie ihm einen prüfenden Blick zu. Er lag nackt unter der Decke. Seine Miene war undurchdringlich. Schweigend begann sie sich auszukleiden und warf die Sachen auf den Hocker, während Alex sie beobachtete, und griff nach ihrem Nachthemd.

»Lass es aus und komm her!«, sagte er in dem Ton, in dem er mit seinen Männern redete.

Sie machte einen Schritt rückwärts, doch er richtete sich auf, packte sie am Handgelenk und zog sie mit einer rüden Bewegung ins Bett.

»Eigentlich sollte ich dich für deine linke Art, mir das Messer in den Rücken zu rammen, verprügeln! Aber das nützt bei dir sowieso nichts. Ich werde dich durchvögeln, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

»Alex! Lass mich los! Du bist betrunken!«

Im Bett fand eine wilde Balgerei statt, von der Hermon nicht ganz genau wusste, ob es Spaß oder Ernst war. Dann lag Alex auf ihr, hatte sie im Griff. Hermon war zornig und machte sich auf einen brutalen Geschlechtsakt gefasst. Doch wenn das der Preis für Erins Studium war, musste sie es eben aushalten. Er küsste sie, zuerst grob, doch dann begann er sie zu streicheln und zärtlich an ihrem Hals zu knabbern. Sie ließ ihn gewähren. Dann richtete er sich auf und sah sie an: »Willst du es, Chey?«

»Wenn nicht?«

»Dann tue ich es nicht.«

»Jetzt komm schon!« Sie schlang die Arme um seinen Hals. Und dann liebten sie sich.

Am Ende blieb er einfach auf ihr liegen und war nahe daran, einzuschlafen. Doch Hermon wehrte sich: »Geh runter von mir, Alex! Du bist schwer.«

Er rollte sich zur Seite und dann schlief er ein.

 

Als Hermon aufwachte, war sie voller Tatendrang. Sie zog die Vorhänge auf und schlüpfte in ihr Kleid. Alex schlief noch fest. Er lag auf der Seite, sein muskulöser Arm auf ihrem Kissen. Das Morgenlicht lag auf seinem Gesicht. Sie blieb stehen und betrachtete ihn, die dunklen Brauen über den geschlossenen Augen, die gerade Nase, der schön geschwungene Mund. Sein Gesicht war entspannt, die Linien weich. Das sanfte Licht ließ ihn jung aussehen.

Sie streckte die Hand aus, berührte nur eine Haarsträhne. Sie wollte ihn nicht wecken, gönnte sich jedoch ein paar Minuten, ihn einfach nur anzusehen, bevor sie ihre Haare flocht und dann nach unten ging, um das Feuer anzuzünden. Dabei summte sie Shermans Marschlied vor sich hin, setzte den Kaffee auf und deckte den Tisch.

Langsam stieg die Sonne über den Horizont. Hermon ging hinaus in den Garten. Die Luft war noch kalt, doch der Morgen war strahlend hell, und die Hemlocktannen wiegten sich im Wind.

Als sie zurück in die Küche kam, duftete es nach Kaffee, und der Herd verströmte wohlige Wärme. Sie hörte die Schritte, dann kam Alex herein. Groß, breitschultrig, das Haar im Nacken zusammengebunden stand er in der Tür. Hermon schenkte ihm wortlos Kaffee ein. Er nahm die Tasse schweigend und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht knarrte. Hermon setzte sich zögernd zu ihm: »Alex, ich...«

»Nein! Wir reden jetzt nicht darüber! Du hast mich überlistet. Ja, ich werde sie gehen lassen. Doch das heißt nicht, dass ich glücklich darüber bin. Mehr sage ich dazu jetzt nicht!«

Schritte im Salon machten dem Gespräch ein Ende. Kate und John kamen herein, und wenig später auch Jam, Meghan und die Kinder. Ella Jo und Peppa, Hand in Hand, blieben erst einmal an der Tür stehen, um zu prüfen, wie die Stimmung war. Doch John unterhielt sich mit Alex und alles schien in Ordnung. Dann kamen auch die drei Jungen hereingestürmt, und es wurde laut.

Erin erschien als letzte, auffallend ordentlich gekämmt und gekleidet und warf ihrem Vater sofort einen misstrauischen Blick zu. Auch sie wusste, dass er am Abend ziemlich betrunken war. »Setz dich«, sagte er, mehr nicht.

Nach der Mahlzeit ritt John mit Alex hinaus. Die Kinder gingen zum Unterricht und Erin hatte noch eine Menge vorzubereiten. Hermon überließ Kate, die mehrere Kräuterbeutel aus ihrem Gepäck geholt hatte, um Medizin herzustellen, die Küche. Indessen suchte sie die Reisetasche aus der Abstellkammer und half Erin beim Packen, wobei es heftige Diskussionen über Sinn oder Unsinn darüber gab, was sie mitnehmen wollte, wie zum Beispiel über ihren geliebten roten Hut, der ihr längst nicht mehr passte. Über Alex sprachen sie nicht.

Als Kate ihre Mixturen fertiggestellt und Meghan erklärt hatte, wie sie zu verwenden seien, sah sie sich Jams Rücken an und bemerkte schließlich: »Kein Wunder, dass du vor Schmerzen umkommst, Jam. Es gibt keinen Muskel in deinem Rücken, der nicht steinhart ist. Und die verhärteten Muskeln drücken auf die Wirbelsäule.«

»Kann man etwas dagegen tun?«, fragte er. »Natürlich kann man das.« Sie kramte ein Kräuteröl aus ihrer Medizintasche, erwärmte es in der Küche, und dann massierte sie Jams Rücken mit viel Geduld. Danach deckte sie ihn mit heißen Tüchern zu und riet Meghan, das jeden Tag zu tun. Außerdem zeigte sie ihr, wie sie ihn massieren konnte und ließ ihr von dem Öl da. »Und du glaubst, das wird helfen?«, fragte Jam pessimistisch.

»Es wird helfen«, versicherte Kate, aber morgen wird dir wahrscheinlich erst mal jeder Muskel wehtun. Die Massage war ziemlich hart.«

Der Tag verging wie im Flug. Erin war mit dem Packen fertig. Zwei prall gefüllte Reisetaschen standen nun mitten im Zimmer, und Erin zermarterte sich den Kopf, ob sie nicht doch etwas vergessen hatte. Und dann sagte sie fast verlegen zu ihrer Mutter: »Mum, es gibt noch ein Problem. Ich werde Geld brauchen in Fort Collins. Ich muss eine Unterkunft bezahlen, ich muss essen, und das College... Ein bisschen habe ich gespart, aber das wird nicht lange reichen.«

»Ich weiß, Erin. Ich habe auch etwas für dich zurückgelegt.« Sie ging mit ihr in die kleine Wohnstube und nahm ein Bündel Dollarnoten aus einer Schublade.

»Damit wirst du das erste Jahr über die Runden kommen. Pass gut darauf acht.«

»Danke Mum! Du bist die beste Mutter der Welt.«

An diesem Abend gab es ein Festmahl. Auch die Heesleys kamen herüber, und es wurde Abschied gefeiert. Alex und Hermon gingen sehr vorsichtig miteinander um. Die Kinder durften länger aufbleiben, und Hermon entschied, dass sie am nächsten Morgen nicht zum Unterricht mussten. Doch sie atmete auf, als sie schließlich zu Bett gingen und endlich Ruhe einkehrte. Als auch Erin schlafen gehen wollte, rief Alex sie noch einmal ins Arbeitszimmer.

Was will er noch von mir? fragte sie sich ein wenig erschrocken. Alex schloss hinter ihr die Tür, ging zum Sekretär, nahm ein Bündel Geldscheine heraus und reichte es ihr: »Du kannst nicht ohne Geld fahren.«

»Dad, ich... Mum hat mir schon Geld gegeben. Damit komme ich erst einmal aus. Und ich werde versuchen, eine Arbeit zu finden. Ich will euch nicht auf der Tasche liegen.«

Alex zog die Brauen hoch und legte das Geld zurück: »Ich sehe schon, meine Damen brauchen mich nicht.«

»Das ist nicht wahr, Dad!«

»Du bist meine Tochter, aber du lässt mich nicht für dich sorgen«, sagte er etwas bitter, »mach mir keine Schande, Erin.«

»Nein, mach ich nicht. – Bitte, Dad, ich weiß, dass du stinksauer bist, führt nicht wieder Krieg. Ich verspreche dir, ich werde fleißig sein. Ich will, dass du stolz auf mich bist.«

»Geh schlafen, Erin.«

»Was ist mit Mum?«

»Du weißt, dass ich sie liebe. Doch manchmal könnte ich ihr den Hals umdrehen.«

»Dad!« Sie ging zu ihm und küsste ihn auf die Wange. Er hielt sie einen Moment fest: »Wenn du doch mal in Not gerätst, du weißt, wo du zu Hause bist.«

»Okay, danke

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elvira Henning/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2310-2

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