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Leseprobe

 

 

 

 

VICTOR GUNN

 

 

Im Nebel verschwunden

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

IM NEBEL VERSCHWUNDEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Lapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

Suchend geht Peter Fell die einsame Straße im Londoner Norden entlang. Plötzlich – ein Schrei! Verzweifelte Hilferufe – aus dem Haus gegenüber. 

Peter läuft hin... in der Diele liegt eine Frau. Erstochen... 

Als er mit einem Polizisten an den Tatort zurückkehrt, finden sie – nichts! Keine Spur von einem Mord. Oder...? 

 

Der Roman Im Nebel verschwunden von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1952. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  IM NEBEL VERSCHWUNDEN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Peter Fell beobachtete die Regentropfen, die langsam an den beschlagenen Fenstern des heißen, stickigen Gerichtssaales herunterliefen. Es war ein hässlicher Novembertag, und vom bleiern-grauen Himmel nieselte ein feiner Regen auf ganz London hernieder. Der Nachmittag war dunkel, sodass alle Lampen bereits brannten.

Peter rutschte auf seinem harten, unbequemen Stuhl herum. Er war ein ruheloser junger Mann, und es fiel ihm schwer, länger als fünf Minuten stillzusitzen. Ich hätte doch nicht herkommen sollen, dachte er im Stillen. Als Zeuge wurde er nicht benötigt. Ein Zuschauer war er, sonst nichts. Aber der Chef hatte gesagt, dass er gehen könne, wenn er wolle, und da saß er nun. Der alte Mackenzie bedeutete ihm nichts. Kaum zehn Worte hatte er mit dem betagten Schotten, einem der vielen Klienten seines Chefs, gewechselt. Er musste sicherlich fünfundachtzig gewesen sein, wenn nicht älter, und so ein alter Knabe hätte wirklich nicht ganz allein nach London kommen sollen. Natürlich hatte der starke Verkehr ihn verwirrt.

Der nächste Zeuge wurde soeben aufgerufen. Gregory Simon Maddox. Peter runzelte die Brauen. Er mochte Maddox nicht – hauptsächlich, weil er wusste, dass Maddox ihn nicht leiden konnte. So ein Blödsinn! Was hatte er dem Burschen denn getan? Nichts als Eifersucht konnte es sein!

Jetzt vernahm er die Stimme des Richters.

»Sie heißen Gregory Simon Maddox und sind Bürovorsteher bei der Anwaltsfirma Courtney, Pritchard und Allington in der Mount Street?«

»Jawohl, Sir.«

Maddox hatte ein hageres, glattrasiertes Gesicht, das auch im Zeugenstand den gewohnten unangenehmen Ausdruck trug. Die ebenfalls hagere, hochgewachsene Gestalt war noch gebeugter als sonst, und eine knochige Hand spielte unruhig mit der randlosen Brille. Plötzlich fiel sein Blick auf Peter, und der junge Mann fühlte die Bosheit in den kalten, blass-blauen Augen.

Den soll doch der Teufel holen, dachte Peter erbittert. Was hat er mich so anzustarren? 

»Es ist mir bewusst, Mr, Maddox, dass dies eine schmerzliche Pflicht für Sie bedeutet«, sagte der Richter, »aber soviel ich weiß, waren Sie dabei, als der Verstorbene den tragischen Unfall hatte. Ich möchte Sie daher bitten, dem Gerichtshof jetzt mit Ihren eigenen Worten zu schildern, was geschah.«

»Mr. Mackenzie hatte sich zu einer Rücksprache mit Mr. Allington verabredet«, berichtete Maddox mit nervöser, abgehackter Stimme. »Er war ein alter Mann – fast neunzig, glaube ich und meiner Ansicht nach hätte er niemals allein nach London kommen dürfen...«

»Ich glaube nicht«, unterbrach ihn der Richter freundlich, »dass Ihre Ansicht über diese Angelegenheit von Bedeutung ist.«

»Sicherlich ist sie das«, beharrte Maddox. »Sie ist einfach entscheidend. Der alte Mann war viel zu unsicher auf den Beinen, um ohne Begleitung auf den nassen Straßen herumzulaufen.«

»Aber Sie haben ihn doch wohl begleitet?«

»In gewissem Sinne ja.«

»Wieso in gewissem Sinne?«

»Ich begleitete Mr. Mackenzie lediglich bis zur Park Lane, um ihm einen Wagen zu beschaffen«, erklärte Maddox schroff. »Mr. Allington bat mich, ihn in ein Taxi zu setzen. Es war schon beinahe dunkel, und es regnete. Ein scheußliches Wetter – genau wie heute«, fügte er mit einem Blick zu den regennassen Fenstern hinzu. »Mr. Mackenzie war aufgeregt und ungeduldig und lief trotz seines Alters vor mir her.«

»Kennen Sie den Grund für seine Aufregung?«

»Es gab überhaupt keinen Grund. Er war eben ein aufgeregter alter Mann und hatte Reisefieber. Völlig überflüssigerweise übrigens, denn er hatte noch reichlich Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges. Als wir an der Ecke ankamen und in die Park Lane einbogen, befand er sich ein oder zwei Schritte vor mir. Ich rief ihm zu, dass er sich nicht so beeilen solle, und versuchte ihn einzuholen, denn die Straße war voll von Autobussen, und der alte Mann stand direkt an der Bordsteinkante. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich gehört hat, denn die Busse machen zu viel Lärm. Und dann geschah alles ganz plötzlich. Ich kann gar nicht daran denken.«

»Ich fürchte, Sie werden jetzt daran denken müssen, Mr. Maddox«, sagte der Richter. »Der Verstorbene war Ihnen also um einige Schritte voraus. Er stand direkt am Bordstein. Und dann?«

»Dann stolperte er.«

»Worüber?«

»Wie soll ich das wissen?«, sagte Maddox in dem gereizten, mürrischen Ton, den Peter so gut vom Büro her kannte. »Er stolperte eben, blieb vielleicht mit dem Fuß an einer Unebenheit des Pflasters hängen – oder eines seiner alten Beine trug ihn in diesem Augenblick nicht mehr. Ich versuchte noch, ihn zu erreichen und am Arm zurückzureißen, als es geschah! Er fiel vornüber auf die Straße, und dann kam der Autobus! Er ist direkt vor den Bus gefallen, der ihn mitriss, ehe ich auch nur einen Schrei ausstoßen konnte. In weniger als einer Sekunde war alles vorüber.«

»Sie haben ihn also tatsächlich nicht berührt, ehe er stürzte?«

»Nein.«

»Sind Sie dessen sicher?«

Maddox nahm die Brille ab, säuberte mit seinem Taschentuch die Gläser, starrte einen Augenblick zu Peter hinüber und wandte sich mit feindseligem Blick wieder dem Richter zu.

»Sie wollen doch nicht andeuten, Sir, dass ich in irgendeiner Form an diesem entsetzlichen Unfall mitschuldig bin?«, fragte er aufgebracht. »Wenn Sie meinen, dass ich Mr. Mackenzie am Arm ergriff und ihn so versehentlich aus dem Gleichgewicht brachte, irren Sie sich vollständig. Ich war mindestens einen Meter hinter ihm, als er stolperte und fiel.«

»Aber Sie hatten ihn gerade angerufen!«

»Ja.«

»Hat er sich umgesehen?«

»Ich habe Ihnen doch schon erklärt, dass ich nicht glaube, dass er mich gehört hat.«

»Es ist ganz überflüssig, einen so beleidigenden Ton anzuschlagen, Mr. Maddox«, sagte der Richter. »Ich versuche lediglich, die Ursache zu diesem Unfall zu ergründen. Wäre es nicht möglich, dass der Verstorbene Sie tatsächlich hörte und stolperte, weil er sich nach Ihnen umwandte?«

»Es ist möglich, dass er mich hörte, aber ich kann Ihnen versichern, dass er sich nicht umwandte«, erwiderte Maddox. »Während er stürzte, sprang ich vor, um ihn zurückzureißen, aber ich kam zu spät. Ich sagte ja schon, es geschah alles in Sekundenschnelle. Derartige Dinge geschehen immer so plötzlich.«

»Das ist richtig«, sagte der Richter. »Es muss wirklich sehr schmerzlich für Sie sein, und...«

»Es ist schmerzlich, weil ich mich in gewissem Sinn doch verantwortlich fühle«, unterbrach ihn Maddox voller Selbstmitleid. »Nein, ich will damit nicht sagen, dass ich irgendetwas mit dem Unfall zu tun habe. Es gehört eigentlich nicht zu meinen Pflichten als Bürovorsteher der Firma Courtney, Pritchard und Allington, klapprigen alten Männern zu einem Taxi zu verhelfen. Aber diesmal habe ich ihn nun einmal begleitet und werde jetzt das Gefühl nicht los, dass ich nicht gut genug auf ihn aufgepasst habe. Das ist alles. Ein jüngerer Mann wäre vielleicht schnell genug gewesen, um Mr. Mackenzie vor dem Sturz zu Hilfe zu eilen.«

Und wieder wandte Maddox seine blassen, feindseligen Augen Peter Fell zu, der sich ärgerlich aufrichtete und den Blick zurückgab. Er wusste, dass der Hieb ihm galt, und die Ungerechtigkeit der Anschuldigung versetzte ihn in Wut.

»Sie sollten sich wirklich keine Vorwürfe machen, Mr. Maddox«, sagte der Richter. »Sie haben alles versucht, um den Verstorbenen zurückzuhalten, und Sie konnten nicht voraussehen, dass er stolpern würde. Ich glaube nicht, dass Sie uns noch mehr sagen können.«

Als nächster Zeuge kam der Arzt an die Reihe. Er beschrieb die Verletzungen: gebrochene Rippen, zahllose Abschürfungen und Kopfwunden. Der Autobus habe den alten Mann nicht direkt überfahren, da die Geschwindigkeit zu gering gewesen sei und der Fahrer sehr schnell reagierte. »Der Bus fuhr ihn an, und er ist einfach hingestürzt«, berichtete der Arzt. »Ein jüngerer Mann wäre diesen Verletzungen sicherlich nicht erlegen. Er hatte keine schweren Knochenbrüche davongetragen, und die Kopfwunden waren nicht ernster Natur, aber für einen Mann in Mr. Mackenzies Alter wird der Schock allein zum Verhängnis. Er war tot, ehe der Krankenwagen die Klinik erreichte.«

»Und ist auch nicht mehr zur Besinnung gekommen?«

»Nein.«

Peter auf seinem harten Stuhl bemerkte kaum, dass als nächster Zeuge der Autobusfahrer aufgerufen wurde und seine Aussage machte. Es war alles so ermüdend und langweilig, ein Haufen Lärm um nichts. Der alte Mackenzie war gestolpert und vor einen Autobus gestürzt. Schluss – aus! Wozu noch die viele Fragerei?

Es war ärgerlicher denn je, überhaupt erschienen zu sein. Ganz besonders missfielen ihm die rachsüchtigen Blicke von Maddox. Dieser unangenehme alte Kerl! Gleich von Anfang an, seit Peters Eintritt in die Firma vor zwei Jahren, hatte ihn Maddox aufs Korn genommen.

Bei diesen Überlegungen angekommen und durch die Verhandlungen angeödet, begann Peter mit seinem Schicksal zu hadern. Was war er schon? Ein lächerlicher kleiner Angestellter in einem Anwaltsbüro. Eine feine Stellung für einen jungen Mann, der in Oxford mit einer Eins in Geschichte abgeschlossen hatte! Und was hatte ihm sein glänzendes Examen schon genützt?

Dabei hatten seine Eltern für das Studium in Oxford gespart und gedarbt. Sein Vater erwartete, dass er Theologie studieren würde, aber ihn hatte es schon immer zum Journalismus gezogen, und er war auch heute noch überzeugt davon, dass er das Zeug zum Schriftsteller hätte. Nur – die Schriftstellerei war eine brotlose Kunst, und essen musste man schließlich. Die Arbeit in der Kanzlei hatte er seinem Vater, dessen Anwalt Mr. Allington war, zu verdanken. Er betrachtete sie nicht als Dauerstellung. Zwei oder drei Artikel aus seiner Feder waren bereits erschienen und – vor allen Dingen – auch bezahlt worden, und außerdem hatte er auch einen Roman geschrieben. Der befand sich allerdings zurzeit in den Händen des vierten Verlegers, drei andere hatten ihn ohne Kommentar zurückgeschickt, und Peter kam langsam und widerwillig zu dem Schluss, dass das Kind seiner Muse nicht lebensfähig sei.

Je nun, das bedeutete also noch ein oder zwei Jahre Anwaltskanzlei. Allington war ja in Ordnung – ein sehr anständiger alter Knabe, aber leider hatte er wenig mit Allington selbst zu tun. Sein Schreibtisch stand im Vorzimmer, unmittelbar unter den Augen von Gregory Maddox, und das waren – nichts konnte Peter in dieser Überzeugung erschüttern – die missgünstigsten und scheelsten Sehwerkzeuge in ganz London. Von der ersten Woche seiner Tätigkeit an hatte Maddox ihm unverhüllt zu verstehen gegeben, dass er unerwünscht sei.

Bei der Firma Courtney, Pritchard und Allington handelte es sich um eine solide, alte Anwaltskanzlei, die seit Jahrhunderten bestand, und die meisten Klienten des jetzigen Mr. Allington waren Söhne, Enkel und Urenkel der Klienten von Mr. Allingtons eigenen Vorvätern. Jahrelang hatte Maddox die ganze Arbeit im Vorzimmer mit Hilfe eines Laufjungen, der außerdem mit leichten Büroarbeiten beschäftigt wurde, allein erledigt. Aber sobald es ans Maschinenschreiben ging, war mit Maddox nicht viel los. Peter hingegen schrieb hervorragend. Der Chef war altmodisch genug, keine Frauen in seinem Büro zu dulden, und Peter fand seine Arbeitsstunden bemerkenswert langweilig. Es wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, wenn die Firma wenigstens einige weibliche Klienten gehabt hätte, vorzugsweise junge natürlich. Aber Frauen, gleichgültig, ob alt oder jung, überschritten fast niemals die alte Türschwelle.

Peter trommelte gelangweilt mit den Fingerspitzen auf die Stuhllehne und überlegte, was aus Courtney und Pritchard geworden sein könne. Soviel er wusste, hatte die Firma seit einem Jahrhundert keinen Partner besessen, der so hieß. Walter Allington war der Nachfolger seines Vaters, genau wie dieser wiederum seinem Vater gefolgt war.

Wenn jemals ein junger Mann die Überzeugung gehabt hatte, fehl am Platz zu sein, so war es Peter. Aber das Geld reichte aus, um davon zu leben, und er war optimistisch und jung und widmete die meisten Abende mit eisernem Fleiß seiner Schriftstellerei.

Was für ein Idiot er doch gewesen war, zu dieser elenden Verhandlung zu gehen! Er fühlte sich erhitzt und ungemütlich, denn der Raum war überheizt und schlecht gelüftet. Er konnte natürlich nicht ahnen, dass Mr. Duncan Mackenzies tragisches Ende der Beginn einer Veränderung in seinem Leben werden sollte.

Er fuhr aus seinen Gedanken auf und stellte fest, dass die Verhandlung mehr oder weniger zu Ende ging. Das Urteil – Tod durch Unfall – hatte von Anfang an festgestanden. Peter verließ mit einer Anzahl anderer Zuschauer den Raum. Als er auf dem kalten, zugigen Korridor dem Ausgang zuschritt, packte ihn jemand am Arm.

»Einen Augenblick, Fell«, ertönte eine kalte Stimme.

»Oh, Sie sind das«, sagte Peter gedehnt, Gregory Maddox mit Widerwillen betrachtend.

»Was machen Sie hier?«, erkundigte sich der Bürovorsteher. »Wer hat Ihnen erlaubt, der Verhandlung beizuwohnen? Bilden Sie sich ein, dass die Arbeit sich von selbst erledigt? Wirklich, von allen faulen, indolenten jungen...«

»Sie können sich Ihren Atem sparen«, unterbrach ihn Peter. »Der Chef persönlich hat es mir angeboten, und darum bin ich hier. Sie kommen mir so nervös vor, Mr. Maddox. Was ist los? Was hatte dieser Basiliskenblick zu bedeuten, den Sie während Ihrer Aussage dauernd auf mich hefteten?«

Maddox verzog den Mund zu einem harten Strich. »Es ist Ihre Schuld, dass der arme alte Mackenzie umkam«, zischte er giftig, »Ihre Schuld, Fell, und Sie wissen es!«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Peter Fell war so erstaunt, dass er einen Augenblick lang Maddox nur empört anstarren konnte. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Über den Hass und die Wut in Maddox’ ausgeblichenen Augen hinter den randlosen Brillengläsern konnte es keinen Zweifel geben.

Auch bei wohlwollendster Beurteilung konnte man Maddox’ Gesicht nicht freundlich nennen. Nach Peters Meinung war Maddox ein sauertöpfischer alter Junggeselle, dessen Gesichtszüge in jeder Beziehung der niedrigen Natur seines Charakters entsprachen. Er hatte eine hohe Stirn, die von eisgrauen, an den Ohren abstehenden Haaren eingerahmt war. Die Nase war dünn und lang und sah verkniffen aus, ebenso wie der harte, schmale Mund mit den unangenehmen Lippen. Ein solches Gesicht konnte zwar lächeln, und Peter hatte dies in den zwei Jahren seiner Tätigkeit in der Kanzlei mindestens viermal erlebt, aber jedes Mal war es ein bitteres, ironisches Lächeln gewesen.

»Meine Schuld?«, stieß Peter hervor, nachdem er endlich die Sprache wiedergefunden hatte. »Was, zum Teufel...«

Maddox nahm weiter keine Notiz von ihm und ging geradewegs auf den Ausgang zu. Ehe Peter ihm, kochend vor Empörung, folgen konnte, schlug ihm irgendein Störenfried, der von hinten herangetreten war, kräftig auf die Schulter und begann mit einer so fröhlichen Stimme zu schwatzen, dass der im Augenblick durchaus nicht zum Scherzen aufgelegte Peter sich innerlich wand vor Wut.

»Ja, das ist aber eine Überraschung«, sagte die Stimme. »Das ist ja Fell, Peter Fell! Menschenskind, wie kommst du hierher und wie geht’s dir, alter Knabe? Hab’ dich ja jahrelang nicht gesehen!«

Peter fuhr wütend herum und sah sich einem großen, sportlichen jungen Mann gegenüber, der ihn mit offener Freude aus seinen freundlichen, gutmütigen Zügen anstrahlte. Fast augenblicklich erkannte er ihn, und seine Wut legte sich. »Johnny!«, rief er und streckte die Hand aus. »Johnny... so was Dummes... mir fällt einfach dein Nachname nicht ein. Verzeih! Halt! Einen Augenblick... Lester?«

»Beinahe«, meinte der andere lächelnd. »Lister heiße ich. Nicht sehr schmeichelhaft für mich, alter Junge, wenn man bedenkt, dass ich zwei Jahre mit dir in Oxford zusammen war und wir außerdem ein ganzes hektisches Sommersemester lang im selben Achter ruderten. Eigentlich solltest du meinen Namen noch nicht vergessen haben.« Der fröhliche junge Mann hielt ein und betrachtete Peter genauer. »Vielleicht verlange ich auch etwas zu viel im Augenblick. Du siehst bedrückt aus.«

»Ach, nicht der Rede wert«, sagte Peter. »Dieser Mann da behauptete eben, dass ich an Mackenzies Tod schuld bin! Er muss verrückt sein. Ich war Gott weiß wo, als das Unglück passierte.«

»Scheint kein Freund von dir zu sein.«

»Freund!« Peters Stimme klang bitter. »Er ist Bürovorsteher in Allingtons Kanzlei, und ich bin ein kleiner Angestellter dort. Seit meinem Eintritt hackt der alte Teufel auf mir rum. Der Himmel mag wissen, weshalb.« Peters fröhliche Natur kam jetzt wieder zum Vorschein, und an das Lächeln, das in seinem jungen, frischen Gesicht endlich aufstrahlte, konnte sich Johnny noch gut von Oxford her erinnern. »Nicht böse sein, Johnny. Es ist wahrhaftig eine große Freude, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Wieviel Jahre sind’s denn überhaupt?«

»Mensch, frag bloß nicht. Man fühlt sich steinalt, wenn man darüber nachdenkt«, meinte der andere. »Also Angestellter in Allingtons Kanzlei bist du? Wieso denn das? Ich dachte, du hättest Oxford derart mit Titeln und glänzenden Examensnoten beladen verlassen, dass du sie kaum tragen konntest. Und habe ich nicht auch irgendeine blendende Arbeit von dir in einer Zeitschrift gelesen? In der Isis, wenn ich mich nicht irre.«

Peter zog ein Gesicht. »Der Fehler von akademischen Titeln und Ehren, Johnny, ist, dass sie dir eine falsche Vorstellung deiner eigenen Wichtigkeit geben«, meinte er. »Als ich von Oxford kam, bildete ich mir ein, ein ziemlich toller Hecht zu sein. Aber du kriegst schnell raus, dass man Titel und Diplome nicht essen kann. Und wie, frag’ ich dich, soll ein Mensch leben, ohne zu essen? Ich bin ein kleiner Angestellter bei Allington, und ich werde satt.«

»Elefant im Porzellanladen – war immer schon meine beste Rolle«, sagte Johnny reuevoll. »Verzeih, ich wollte wirklich keinen wunden Punkt berühren.«

»Lass gut sein. So wund ist der Punkt nun wieder nicht. Diese Stellung ist nur vorübergehend. Habe einen phantastischen Roman geschrieben, und wenn die Verleger auch nur einen Funken Verstand hätten, würden sie kapieren, dass sie einen todsicheren Bestseller vor sich haben, einen richtigen Schlager, sag’ ich dir. Aber ich bin langsam zu der Überzeugung gekommen, dass Verleger eine besondere Sorte Menschen sind. Drei Verleger haben mein Buch bereits, ohne auch nur Dankeschön zu sagen, zurückgeschickt. Jetzt habe ich es einem vierten anvertraut, leider ohne viel Hoffnung.«

»Wäre es unter Umständen denkbar, dass mit dem Buch was nicht in Ordnung ist?«, erkundigte sich Johnny vorsichtig.

Peter lachte. »Du hast mein schamvoll gehütetes Geheimnis aufgedeckt, Johnny«, sagte er kläglich. »Das ist nämlich so ungefähr die einzig mögliche Erklärung. Aber komisch bleibt es trotzdem. Ich besitze nämlich noch einen Durchschlag von dem Machwerk und habe es in den letzten drei Monaten mindestens ein dutzendmal wiedergelesen. Mir kommt es ganz in Ordnung vor. Vermutlich bin ich voreingenommen. Wie dem auch sei, im Augenblick schreibe ich an einem neuen Meisterwerk – auf der Maschine! Ziemlich schwierig, weißt du, weil ich dabei gleichzeitig die Daumen drücken muss – zur Beschwörung aller guten Geister.«

»Fein, Peter«, grinste Johnny. »So kenne ich dich wieder. Du wirst’s schon schaffen.«

»Und was treibst du, um von was anderem zu reden?«, erkundigte sich Peter. »Du siehst ganz wohlhabend aus. Ach so, ich vergaß... Du bist doch einer von den kapitalistischen Müßiggängern. Eigenes Vermögen, privates Einkommen oder so ähnlich. Beneidenswert.«

»Liebe Zeit, in welchem Mustopf hast du bloß die ganze Zeit gesteckt«, rief Johnny. »Du solltest wirklich wissen, dass es die Gattung kapitalistische Müßiggänger nicht mehr gibt. Kann schon sein, dass ich ein privates Einkommen habe, aber wenn das Finanzamt damit durch ist, sieht es verdammt nach überzogenem Konto aus. Und müßig! Dass ich nicht lache! Ich bin ein schwer arbeitender Mensch, Peter. Jeden Morgen Punkt neun am Arbeitsplatz – und nichts zu machen mit Feierabend um fünf Uhr. Manchmal muss ich die halbe Nacht noch arbeiten.«

»Muss ein merkwürdiger Beruf sein«, bemerkte Peter. »Mir schwebte immer vor, dass du, als du von Oxford kamst, in den diplomatischen Dienst gegangen bist.«

»Ach, längst vorbei«, erklärte Johnny. »War viel zu langweilig und abgestanden. Ich brauche etwas mehr Aktivität. Darum bin ich bei Scotland Yard gelandet.«

»Alle Wetter! Kriminalbeamter oder so?«

»Und was für einer«, prahlte Johnny. »Hast du jemals von einem von den Großen Fünf gehört, der Chefinspektor Bill Cromwell heißt?«

»Und wie! Sie nennen ihn doch Ironsides! Ist es der?«

»Das ist er. Mein Assistent, weißt du«, verkündete Johnny und warf sich in die Brust. »Offiziell bin ich natürlich seiner, aber du weißt ja, wie es geht. Immer die Falschen kommen nach oben. Ich bin übrigens hier, um mit dem Richter über einen anderen Fall zu sprechen, und, beim alten Zeus, wenn ich mich nicht sehr beeile, ist er auf und davon, ehe ich ihn erwischen kann.«

»Du, Johnny, stimmt das denn auch alles?«, fragte Peter und betrachtete seinen alten Freund mit neuem Interesse. »Ich kann mich dunkel erinnern, dass du die Leute immer gern auf den Arm genommen hast. Bist du wirklich beim Yard?«

»Gestatten: Sergeant Lister von Scotland Yard«, gab Johnny würdevoll zurück. »Das nächste Mal, wenn du von einem blutigen und fürchterlich geheimnisvollen Mordfall lesen solltest, bei dem kein Mensch auch nur den Schatten einer Spur entdecken kann, dann such nach meinem Namen, denn Ironsides und ich bearbeiten gewöhnlich nur die schwersten Fälle.« Und er wurde wieder ernst: »Wie ist denn deine Adresse, Peter? Wir sollten uns nicht wieder aus den Augen verlieren.«

»Ich lebe bei meiner Tante in Streatham. Kann mir keine eigene Wohnung leisten«, gab Peter zurück. »Blaydon Croft, Streatham Park. Und deine?«

Johnny notierte sich die Anschrift. »Ironsides und ich wohnen zusammen in der Victoria Street – und du kannst mir’s ruhig glauben, mit diesem Mann tagaus, tagein zu leben sieht einem Aufenthalt bei Trappisten verflucht ähnlich.«

»Schweigt also immer, wie?«

»Beileibe nicht. Nicht das Schweigegelübde meine ich«, sagte Johnny, »ich meine mehr das Asketenleben. Schweigsam, pah! Du solltest den alten Knaben mal hören, wenn er in Fahrt kommt. Die geübtesten Müllkutscher der Gegend kommen bescheiden zu Scotland Yard, um bei ihm zu lernen.« Er grinste. »Aber Spaß beiseite, Peter. Er und ich, wir kommen glänzend miteinander aus.«

Nachdem sie sich gegenseitig versprochen hatten, in der nächsten Zeit etwas zu verabreden, trennten sie sich. Peter fühlte sich, als er in die Mount Street zurückging, durch diese Begegnung sehr erfrischt. Aber schon beim Betreten des alten Gebäudes – die Anwaltskanzlei nahm das Erdgeschoss eines schönen Hauses aus dem achtzehnten Jahrhundert ein – verdüsterte sich sein fröhliches Gesicht wieder.

Im Haus war es dunkel, und er hätte beinahe einen großen, elegant gekleideten Mann von ungefähr vierzig Jahren umgerannt, der dem Ausgang zustrebte.

»Verzeihung, Sir Reginald«, entschuldigte sich Peter, als er den anderen erkannte. »Konnte Sie in dieser Finsternis einfach nicht sehen. Wie oft habe ich den Chef gebeten, hier eine Lampe anbringen zu lassen, aber er will nichts davon wissen.«

Sir Reginald Bliss, ein langjähriger Klient der Firma, lachte. »Wenn Allington sich entschließen könnte, hier Licht anbringen zu lassen, würde es wahrscheinlich eine Ölfunzel sein müssen«, meinte er. »Er ist wirklich einer der sechs letzten altmodischen Anwälte, die es in London noch gibt. Mir persönlich gefällt das. Ich habe immer das angenehme Gefühl, eine friedliche Insel zu betreten, wenn ich in dieses Haus komme. Allerdings – heute Nachmittag ist nicht viel von Frieden und Ruhe zu spüren. Ich sprach eben mit Maddox. Er nimmt den Tod des alten Manns doch sehr schwer.«

»Das tut er«, stimmte Peter verbissen zu, »und wenn Sie mich entschuldigen wollen, Sir, möchte ich jetzt hineingehen und mich mit ihm darüber unterhalten.«

Ohne eine weitere Erklärung stürmte Peter an dem erstaunten Bliss vorbei und riss die Schwingtür zum Vorzimmer auf. Gregory Maddox saß an seinem Schreibtisch und sah böse auf, als er den Eintretenden bemerkte. Die Kanzlei war groß und geräumig, mit soliden, alten Möbeln ausgestattet, und machte einen ehrwürdigen Eindruck.

»Wollen Sie mir bitte sagen, was Sie gemeint haben, Mr. Maddox«, begann Peter ohne Umschweife, »als Sie mir mitteilten, dass ich schuld an Mr. Mackenzies Tod sei?«

»Dass Sie schuld sind!«, gab Maddox gehässig zurück.

»Wie können Sie so etwas Idiotisches behaupten?«, fragte Peter aufgebracht. »Ich war an jenem Nachmittag überhaupt nicht hier. Der Chef hatte mich nach Ealing geschickt, um eine Auskunft einzuholen...«

»Und wie gewöhnlich haben Sie gebummelt«, unterbrach ihn der Bürovorsteher. »Sie trödeln und bummeln ja immer. Sie hätten lange, ehe Mr. Mackenzie das Büro verließ, zurück sein müssen.«

Peter hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren. »Ich habe weder getrödelt noch gebummelt, und Ihre diesbezüglichen Anspielungen fallen mir langsam auf die Nerven, Mr. Maddox«, sagte er in drohendem Ton. »Aber abgesehen davon: Was hätte es wohl für einen Unterschied gemacht, wenn ich wirklich eher zurückgewesen wäre?«

»Den größten Unterschied, den man sich denken kann«, sagte Maddox mit erregt erhobener Stimme. »Wenn Sie hier gewesen wären – wie Sie es hätten sein sollen –, hätten Sie Mr. Mackenzie zum Taxi begleitet. Sie sind jung. Sie haben bessere Augen als ich. Es regnete, und der Regen schlug an meine Brillengläser...«

»Was, zum Teufel...«

»Lassen Sie gefälligst das Fluchen sein!«, brüllte Maddox. »Wenn Sie den alten Mackenzie zum Taxi gebracht hätten, würden Sie schnell genug gewesen sein, um ihn rechtzeitig vor seinem Sturz zu erwischen. Sie sind gewandter und schneller als ich.«

Peter starrte Maddox verblüfft an. »Hol mich der Kuckuck!«, rief er aus, und eine heiße Welle schoss ihm ins Gesicht. »Von allen an den Haaren herbeigezogenen Gründen, einen Streit vom Zaun zu brechen, ist dies der Gipfel! In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gehört. Sie sind nicht zu schlagen! Sie haben mich niemals leiden können...«

»Die Frage, ob ich Sie leiden oder nicht leiden kann, ist im vorliegenden Fall völlig belanglos«, unterbrach Maddox steif. »Sie hätten hier sein sollen – im Büro, wo Sie gebraucht wurden. Aber nein! Sie vertrödeln Ihre Arbeitszeit, und als unmittelbare Folge davon wird der arme alte Mann von einem Autobus getötet.«

Peter hatte eine plötzliche Erleuchtung. »Mein Gott, ich weiß jetzt wenigstens, was mit Ihnen los ist!«, rief er aus. »Es ist Ihr Gewissen, Maddox!«

»Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten! Und ich möchte ganz entschieden bitten, dass Sie mich Mr. Maddox nennen.«

»Warum plötzlich so formell?«, bemerkte Peter verächtlich. »Wir sind ohnehin dabei, uns von unserer wahren Seite zu zeigen, da spielen solche Kleinigkeiten keine Rolle. Ich habe übrigens nicht geahnt, dass Sie ein Gewissen haben. Aber Sie fühlen wohl ganz tief in Ihrem Innern, dass Sie besser auf den alten Mackenzie hätten aufpassen sollen, und das Bewusstsein Ihrer Fahrlässigkeit bohrt in Ihnen. Darum versuchen Sie jetzt, alles auf mich abzuschieben...«

Die Tür zum Hauptbüro öffnete sich, und Peter brach ab. Mr. Walter Allington stand auf der Schwelle. Er war mittelgroß, etwas füllig und trug einen formellen schwarzen Anzug mit gestreiften Hosen. Sein breites, freundliches Gesicht zeigte ärgerliches Erstaunen. Er hatte eine Glatze, die von einem Kranz weißer Haare umrahmt war, was außerordentlich wohlwollend und vertrauenerweckend aussah und sich als ein großes Plus erwies, wenn er mit ältlichen weiblichen Kunden aus der Provinz zu tun hatte. Mr. Allington nahm seine Verantwortung als Rechtsanwalt sehr ernst. Das Wohlergehen und die Interessen seiner Klienten hatten überall und immer Vorrang, und ihr Vermögen, so versicherte er unermüdlich, war ihm ebenso heilig, als wäre es sein eigenes.

»Aber meine Herren!«, sagte er jetzt mit vorwurfsvoller und gleichzeitig strenger Stimme. »Was hat diese – hm – Zänkerei – zu bedeuten? Mr. Maddox, ich bin außerordentlich erstaunt. Fell, ein solcher Ton gehört sich wirklich nicht.«

»Ich bedauere meinen Ton, Sir«, gab Peter temperamentvoll zurück, »aber Mr. Maddox beschuldigt mich, Mr. Mackenzies Tod verursacht zu haben, und ich lasse mir das nicht gefallen.«

»Mr. Maddox ist nervös«, sagte der Anwalt begütigend. »Wir sind alle etwas nervös im Augenblick. Die Beschuldigung ist so offensichtlich abwegig, da Sie ja zum Zeitpunkt des Unglücks überhaupt nicht hier waren, dass Ihr eigener Verstand Ihnen sagen sollte, wie sehr sie jeder vernünftigen Begründung entbehrt.«

»Er sagte, ich hätte früher aus Ealing zurück sein sollen, dann hätte ich Mr. Mackenzie zum Taxi begleitet, und das Unglück wäre nicht geschehen. Er faselte etwas davon, dass ich jünger sei und bessere Augen habe...«

»Der Ausdruck faseln missfällt mir, Fell«, unterbrach Mr. Allington vorwurfsvoll. »Seien Sie doch nicht kindisch! Mr. Maddox, ich fürchte, dass ich Sie in diesen Tadel einbeziehen muss. Ein Glück, dass Albert nicht hier ist, um das anzuhören.«

»Wenn der Laufjunge hier gewesen wäre, Sir, hätte ich Fell nicht gestattet, die Angelegenheit aufzugreifen«, sagte Maddox, der heftig errötet war. »Aber wenn er hier hereinstürzt und mich anschreit, muss ich ihn auf seinen Platz verweisen. Es tut mir leid, Sir.«

»Es war Mr. Maddox, der geschrien hat, Sir«, protestierte Peter. »Er beschuldigt mich...«

»Fell!« Mr. Allingtons Stimme klang jetzt scharf. »Diese Angelegenheit wird jetzt fallengelassen – und zwar endgültig. Wenn ich nicht wüsste, dass wir alle im Augenblick nervös sind, würde ich sehr ärgerlich sein. Das Ganze war ein außerordentlich tragischer Unglücksfall, an dem niemand schuld hat. Mr. Maddox macht sich Vorwürfe, weil er glaubt, dass er hätte schneller sein müssen. Sehr verständlich, dass ihm hierbei der Gedanke kommt, diese Tragödie hätte eventuell durch Ihre Anwesenheit vermieden werden können. Mr. Maddox, es ist völlig unsinnig, dass Sie sich in irgendeiner Weise verantwortlich fühlen. Es war einer jener traurigen Unfälle, die jeden Tag passieren. Es ist auch ungerecht, Fell Vorwürfe zu machen, der nicht einmal anwesend war. Also bitte, meine Herren, Schluss mit dieser unvernünftigen Auseinandersetzung.«

Der Anwalt hatte mit zunehmender Freundlichkeit und Eindringlichkeit gesprochen, und seine Worte glätteten die hochgehenden Wogen wenigstens so weit, dass Gregory Maddox Peter ansah und widerwillig eine Entschuldigung brummte. Peter nahm diese mit seiner üblichen Gutmütigkeit sofort an, und der unangenehme Zwischenfall war erledigt.

Immer noch konnte Peter nicht ahnen, dass der tragische Tod des alten Schotten einen unbeschreiblichen Aufruhr in die stille und mitunter stumpfsinnige Routine seines Daseins bringen sollte.

 

Es geschah drei Tage später, als die Mackenzie-Tragödie fast vergessen, die Kanzlei zum stillen, normalen Alltag zurückgekehrt war, dass eine junge Frau in einem Nerzmantel das Vorzimmer von Courtney, Pritchard und Allington betrat. Peter, der von seinem Schreibtisch aufsah, als sich die Tür öffnete, betrachtete das Mädchen zunächst mit einem gleichgültigen Blick. Dann fing er an zu blinzeln, denn mit einem Male schien es ihm, als ob der unfreundliche, düstere Raum in strahlendstes Sonnenlicht getaucht worden sei.

Er sprang auf und ging ihr entgegen. Bei näherer Betrachtung war sie noch bezaubernder, als er zunächst angenommen hatte. Sein Herz schlug so heftig, dass er einen Augenblick lang dachte, irgendwo in seinem Innern sei ein Presslufthammer in Betrieb. Niemals vorher hatte er ähnliches erlebt, und ganz tief im Unterbewusstsein fühlte er sich beunruhigt. Er starrte die junge Frau mit einer unbeirrten und intensiven Bewunderung an.

Wenn man gerecht sein will, kann man Peter keinen Vorwurf machen. Er war jung, und kaum ein Mädchen hatte seinem Herzen bis jetzt mehr als ein leichtes Flattern abgerungen. So erscheint es nur natürlich, dass er – als die Richtige plötzlich wie vom trüben Novemberhimmel gefallen vor ihm stand – mehr oder weniger erledigt war. Und dieses Mädchen war wirklich hinreißend. Klein und zierlich – genau die richtige Größe, die ihm von dem Mädchen seiner Träume vorgeschwebt hatte. Ihre Figur war sogar im Pelzmantel sehr graziös. Eine wundervolle, klare Haut hatte sie, mit entzückenden rosigen Stellen auf den Wangen, dazu ein schmales, ovales Gesicht mit einem Grübchen im Kinn und einer niedlichen Nase. Das Ganze war umrahmt von einem glänzenden Kranz dunkler, lockiger Haare, die das kecke Hütchen keineswegs verdecken konnte.

Obwohl Peters Innenleben vollständig durcheinandergeraten war, fand er Zeit, sich zu freuen, da Maddox sich in Mr. Allingtons Zimmer befand. Und der Laufjunge hatte Briefe zur Post tragen müssen. In diesem unwiederbringlich kostbaren Augenblick war Peter allein mit seiner unerwarteten himmlischen Vision.

»Guten Morgen«, stotterte Peter, während er gleichzeitig feststellte, dass sie vollendet regelmäßige Zähne hatte.

»Guten Morgen!«

Seine Stimme klang leicht belegt. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich bin gekommen, um mit Mr. Allington zu sprechen.«

»Natürlich – selbstverständlich.« Dann hatte er einen glücklichen Einfall. »Leider ist es nicht sofort möglich. Er ist noch beschäftigt.«

»Ich bin auch etwas eher gekommen als verabredet«, sagte das Mädchen. »Ich werde warten. Darf ich mich setzen?«

Sie lächelte – und Peter fühlte sich deutlich beunruhigter. Der Versuch, sich wie ein vernünftiges menschliches Wesen und nicht wie ein Halbidiot zu benehmen, kostete ihn einige Anstrengung. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«

»Mackenzie – Eva Mackenzie.«

»Miss Mackenzie?«

»Jawohl.«

»Danke. Aber großer Gott! Hatten Sie Mackenzie gesagt? Dann sind Sie eine Verwandte von...«

»Ja, er war mein Großvater«, bestätigte das Mädchen mit leiser und trauriger Stimme. »Darum bin ich hier. Mr. Allington war Großvaters Anwalt. Aber das wissen Sie natürlich. Was für ein schreckliches Unglück. Er hätte niemals allein von Schottland herunterkommen dürfen. Wenn er mir nur geschrieben hätte! Ich hätte ihn am Bahnhof abgeholt und hierherbegleitet.«

Peter, der eben schon einen beängstigenden Gedanken gehabt hatte, wurde durch ihre Worte beruhigt. »Dann leben Sie also nicht in Schottland«, stellte er erfreut fest.

»Nein. Das heißt, bis vor drei Jahren schon. Da lebte ich mit Großvater zusammen.«

»Ich verstehe – und weil Ihre Eltern in London wohnen...«

»Nein, meine Eltern sind tot. Ich lebte bei meinem Großvater bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr, dann bin ich nach London gegangen, um eine Arbeit anzunehmen«, gab Eva geduldig Auskunft. »Ich habe mit einer Freundin zusammen eine Wohnung in Hampstead. Gibt es noch etwas, was Sie gern wissen möchten?«

Peter wurde feuerrot. »Oh, Verzeihung! Bitte... Sie müssen nicht glauben, dass ich neugierig bin«, sagte er vollständig verwirrt. »Ich wollte wirklich nicht taktlos sein. Eine Arbeit in London sagten Sie?« Die stumme und erstaunlich schnelle Lösung einer komplizierten Rechenaufgabe ergab für ihn, dass sie zweiundzwanzig war, was selbstverständlich das schlechthin ideale Alter für ein Mädchen darstellte. »Und so weit her, direkt von Schottland«, fuhr er etwas zusammenhanglos fort. »Man hört es aber gar nicht oder nur ein ganz klein wenig, und das ist schrecklich – oh, nein – ich will sagen... ich meine«, verhaspelte er sich hoffnungslos. »Ich habe es immer so gern gehabt, wenn jemand mit schottischem Akzent spricht«, brachte er endlich heraus.

»Sie machen mich glücklich«, sagte Eva, und betrachtete ihn dabei mit großer Belustigung und beginnendem Interesse. »Wollen Sie vielleicht auch etwas über meine Arbeit wissen?«, schlug sie vor, um die Unterhaltung in Gang zu halten. »Ich bin Redaktions-Assistentin bei einer Monats-Zeitschrift, die sich Die neuen Moden nennt. Sie haben sicherlich noch nie davon gehört.«

»Du lieber Gott, Redakteurin!«

»Assistentin, bitte.«

»Praktisch genau dasselbe«, erklärte Peter kategorisch und sah sie mit gesteigerter Bewunderung an. »Ich habe noch niemals einen richtigen Redakteur kennengelernt. Habe es mir immer gewünscht.« Er brach ab, da ihn ein anderer, noch beängstigenderer Gedanke plötzlich überfallen hatte. »Bitte – dass Sie jetzt hier sind – soll das heißen, dass Ihr Großvater Ihnen ein Vermögen hinterlassen hat?«

Er schien die Dreistigkeit seiner Frage nicht zu erfassen, und Eva hatte sofort verstanden, dass sie ihre eigene Schönheit für seinen scheinbaren Schwachsinn verantwortlich machen musste. Sie war ein kluges Mädchen und hätte tatsächlich kindisch sein müssen, um über ihr Aussehen nicht im Klaren zu sein. Es war nicht das erste Mal, dass ein junger Mann in ihrer Gegenwart restlos dahinschmolz. Und da sie von Natur einen menschenfreundlichen Charakter besaß, behandelte sie auch Peter jetzt mit Nachsicht.

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, erwiderte sie lächelnd. »Mr. Allington schrieb mir und bat mich hierherzukommen, und so bin ich denn hier. Ich glaube nicht, dass Großvater sehr reich war...«

Peter fuhr auf, denn die Tür zu Mr. Allingtons Büro hatte sich geöffnet, und Gregory Maddox erschien. Trotzdem beruhigten Evas letzte Worte ihn ein wenig. Er wandte sein gerötetes Gesicht dem Bürovorsteher zu. »Miss Mackenzie möchte den Chef sprechen.«

»Meine liebe Miss Mackenzie, ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht warten mussten?«, fragte Maddox, während sein unsympathisches Gesicht in einem Willkommenslächeln erstrahlte. Er ging auf Eva zu und streckte ihr die Hand hin. »Fell, Sie hätten Mr. Allington mitteilen müssen, dass Miss Mackenzie hier ist.«

»Das macht gar nichts«, sagte Eva. »Ich bin zu früh gekommen, und Mister – Fell – sagte mir, dass Mr. Allington noch beschäftigt sei.«

»Aber das stimmt ja gar nicht«, beteuerte Maddox, Peter wütend anstarrend. »Warum in aller Welt haben Sie so etwas behauptet? Mr. Allington sprach doch nur mit mir. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss Mackenzie...«

Und mit diesen Worten begleitete er sie in Mr. Allingtons Zimmer. Als er zurückkehrte, saß Peter, weit im Stuhl zurückgelehnt, untätig da. Er hatte die Füße auf der Schreibtischkante, und ein Ausdruck sanfter Geistesverwirrung lag auf seinen frischen Zügen.

»Fell«, schnauzte Maddox ihn außer sich an.

»Eh?«, japste Peter, ließ seine Füße vom Tisch sinken und setzte sich auf. »Ach, Sie sind’s. Sie sollten nicht so brüllen, Mr. Maddox. Sie haben mich erschreckt.«

»Wie können Sie es wagen zu behaupten, dass ich gebrüllt habe?«, zeterte Maddox. »Machen Sie gefälligst mit Ihrer Arbeit weiter, junger Mann. Was glauben Sie eigentlich, wozu Sie hier sind? Sind die Briefe fertig?«

Peter ließ sich auf keinen Streit ein. Seit der Gerichtsverhandlung hatten Maddox und er nur das Allernotwendigste miteinander gesprochen. Er nahm seine Arbeit wieder auf – behielt aber ununterbrochen die Tür zum Chefbüro im Auge.

Als sie sich endlich öffnete – etwa eine halbe Stunde später sprang er plötzlich auf, dass er den Korb mit der ausgehenden Post zu Boden fegte und eine Anzahl soeben getippter Briefe sich im ganzen Raum verstreute.

»Oh, Verzeihung!«, stieß er hervor, während Eva sich zur Tür wandte. »Kann ich Ihnen ein Taxi besorgen oder sonst etwas für Sie tun, Miss Mackenzie?«

 

 

 

 

  Drittes Lapitel

 

 

Die folgenden zwei Tage gaben Peter reichlich Gelegenheit, sich über sein tölpelhaftes Benehmen bei Eva Mackenzies erstem Besuch klarzuwerden, aber seine Gefühle für sie hatten sich in keiner Weise gewandelt. Sie war tatsächlich zum Inhalt seines Lebens geworden, und er brannte darauf, sie wiederzusehen. Er wusste, dass sie an diesem Morgen eine Verabredung mit Mr. Allington hatte.

Mit einem Wort, Peter war verliebt wie ein Primaner. Sogar seine Tante hatte die Veränderung in seinem Wesen bemerkt.

Das Schicksal schien wahrlich gut gelaunt zu sein, denn es hatte den Ablauf der Ereignisse so gefügt, dass Maddox, als Eva ankam, abwesend war. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.

Aber seine Betäubung löste sich wie durch geheimen Zauber in nichts auf, was sich leicht durch die Geschicklichkeit beweisen lässt, mit der er einen Stapel Briefe ergriff und dem Laufjungen Albert in die Hand drückte.

»Guten Morgen, Miss Mackenzie«, begrüßte er Eva strahlend. »Albert, mach dass du fortkommst und bring diese Briefe zur Post.«

»Aber ich nehme sie sonst immer in der Mittagszeit mit, Mr. Fell...«

»Widersprich nicht, Kleiner, geh!«

Albert war beleidigt, aber er ging.

»Schön, Sie wiederzusehen, Miss Mackenzie«, fuhr Peter jetzt fort, ihre Hand ergreifend. »Ekelhaftes Wetter haben wir. Scheußlich neblig. Aber was kann man schon erwarten, jetzt im November?« Die nächsten Sätze sprach er mit großer Sorgfalt und Geläufigkeit, denn er hatte sie unzählige Male in Gedanken geübt. »Ich lebe in Streatham, und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Victor Gunn/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Irene von Berg (OT: The Body Vanishes).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 21.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2105-4

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