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Leseprobe

 

 

 

 

HARRY CARMICHAEL

 

 

Der Köder mit Haken

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DER KÖDER MIT HAKEN 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

Mrs. Chandler ist verschwunden. Und Quinn, Reporter bei der Morning Post in London, hat sich bereiterklärt, seinem Freund Chandler bei der Suche zu helfen.

Zu dieser Zeit konnte Quinn noch nicht ahnen, dass es schon bald so aussieht, als hätte Chandler selbst seine Frau umgebracht...

 

Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.

Der Roman Der Köder mit Haken um den Londoner Privatdetektiv John Piper erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1972. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

  DER KÖDER MIT HAKEN

 

 

 

 

 

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

John Piper: Privatdetektiv. 

Leslie Chandler: Literatur-Agent. 

Clare Chandler: seine Frau. 

Judith Harlow: Chandlers Freundin. 

Diane Elliott: Sekretärin. 

Quinn: Reporter. 

Grady: Erpresser. 

Flo Stillwell: Erpresser. 

Inspektor Verbe: Kriminalbeamter. 

Inspektor Badmington: Kriminalbeamter. 

 

Dieser Roman spielt in London.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

Es war halb neun, als Leslie Chandler in die Avory Street einbog. Als er vor dem Bürogebäude anhielt, stellte er fest, dass seine Uhr im Wagen fünf Minuten nachging. Die Armbanduhr stand auf halb neun. Er wusste, dass sie richtig ging. Er hatte sie auf der Heimfahrt nach dem Radio gestellt. Aber die fünf Minuten spielten sowieso keine Rolle, und jeder weiß, dass Autouhren meistens nicht genau gehen. Eine halbe Stunde von Wembley Park bis zur Avory Street in London; nicht schlecht, sagte er sich.

Um diese Zeit war natürlich weniger Verkehr als während des Tages. Für die Heimfahrt hatte er länger gebraucht – wesentlich länger. Clare hatte gemeint, er wäre unterwegs noch in eine Kneipe gegangen.

Es hätte keinen Sinn gehabt, ihr zu widersprechen, sie überzeugen zu wollen, dass sie sich irrte. Diese Zeiten waren vorbei.

Seine Gedanken kreisten um sie, als er aus dem Wagen stieg. Wie dumm, so viele kostbare Jahre vergeudet zu haben. Die Ehe mit Clare war von Anfang an ein Fehler gewesen; eine Vernunftehe, die niemals glücklich werden konnte.

Jetzt winkte die Freiheit. Die Jahre der Tyrannei würden bald vorüber sein. Dieser Gedanke erregte ihn. So vieles, was noch auf ihn wartete! Er verstand nicht, warum er sich noch immer fürchtete, warum die Angst ihn so bedrückte. Nichts durfte dazwischenkommen – nichts konnte dazwischenkommen.

 

Als er über den Bürgersteig ging, bemerkte er, dass nur noch ein Auto in der Avory Street parkte. Es stand in einiger Entfernung unter einer Straßenlaterne. Seine Scheinwerfer waren abgeschaltet.

Die Tür des Bürogebäudes war abgeschlossen. Während er mit dem Schlüssel hantierte, kreisten seine Gedanken um Clare. Es schien unmöglich, sich mit anderem zu beschäftigen. Nichts hatte in seinem Hirn Platz, er hörte nur ihre nörgelnde Stimme – die Stimme, die er im Lauf der Jahre zu hassen gelernt hatte. Sie redete unaufhörlich auf ihn ein, während er die Tür aufschloss und dann hinter sich verriegelte, durch den Korridor eilte, der nur vom Licht einer Straßenlaterne erhellt wurde. Alles war still. Kein Laut im Haus.

Er stieg die Treppe hinauf. Auf jedem Stockwerk blieb er einen Moment stehen, um das Licht anzuknipsen. Er hörte nur den Widerhall seiner eigenen Schritte.

Der Korridor im dritten Stock war so dunkel wie das ganze Gebäude. Er schaltete das Licht ein, horchte einen Augenblick lang bewegungslos – dann ging er entschlossen auf die Tür seines Büros zu.

Auch dort war es finster. Er schloss die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Ehe seine Finger ihn berührten, hatte er plötzlich das Gefühl, er handele wie im Traum – in einem Traum, dessen Ablauf er genau kannte.

Noch ehe das Licht anging, war er sich sicher, dass im Vorzimmer nichts Ungewöhnliches auf ihn wartete. Dianes Schreibtisch war ordentlich aufgeräumt wie immer: eine zugedeckte Schreibmaschine, links davon ein Stenoblock, rechts das Telefon.

Unter der Tür zu seinem eigenen Zimmer schimmerte kein Licht. Als er den Türknauf drehte, spürte er für einen Augenblick Angst. Er fasste sich wieder. Lächerlich! Wieder tastete er nach dem Lichtschalter. Wieder ging das Licht an. Jetzt empfand er eher Ärger als Angst.

Das ganze Theater war unnötig gewesen. Die abgeschlossene Haustür hätte jedem gesagt, dass das Gebäude leer war, dass alle längst nach Hause gegangen waren. Und wenn das nicht Beweis genug gewesen wäre, dann hätte das völlige Dunkel des Hauses keine Nachforschung herausgefordert.

Doch vielleicht würde man ihn fragen, ob er nachgesehen hätte, um sich zu vergewissern. Wahrscheinlich erwartete man das sogar.

Er ging auf und ab, zog eine Schublade an seinem Schreibtisch auf, schloss sie wieder, schob die Löschunterlage zur Seite und rückte sie wieder an ihren Platz. Nichts war anders als sonst.

Aber das hatte er ja von Anfang an gewusst. Er hatte es gewusst, noch ehe er das Büro betreten hatte. Dies war nur eine lächerliche Pantomime. Trotzdem war es noch nicht vorüber.

Er schloss wieder ab, eilte nach unten, schlug die Haustür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss. In den prasselnden Regen mischten sich Schneeflocken.

Zum Polizeirevier Bow Street waren es keine zwei Minuten. Er stellte seinen Wagen etwa fünfzig Meter vom Eingang entfernt ab. Die Hände in den Taschen vergraben, den Mantelkragen hochgeschlagen, klopfte er an die Tür.

Der diensthabende Beamte hatte ein mageres, knochiges Gesicht und schütteres, in der Mitte gescheiteltes Haar.

»Guten Abend, Sir«, sagte er. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich hoffe«, versetzte Chandler. »Da scheint ein Versehen vorzuliegen, aber ich hielt es für angebracht, die Sache auf jeden Fall zu melden.«

So hatte er es nicht sagen wollen. Es war Sache der Polizei, zu entscheiden, ob ein Versehen vorlag oder nicht.

Der Sergeant blickte ihn starr an.

»Ja, Sir«, erwiderte er. »Was für ein Versehen?«

»Ja, also – ich erhielt heute zu Hause einen Anruf, mit dem mir mitgeteilt wurde, in meinem Büro wäre eingebrochen worden. Der Anrufer erklärte, er wäre Polizeibeamter, und bat mich, in die Stadt zu kommen. Ich sollte feststellen, was in meinem Büro fehlte. Daraufhin bin ich extra von Wembley Park hereingefahren, leider umsonst: falscher Alarm. In meinem Büro war überhaupt nicht eingebrochen worden. Das ganze Gebäude war stockfinster. Keine Menschenseele zu sehen.«

Mit unverändert respektvoller Stimme fragte der Sergeant: »Erwähnte der Mann am Telefon, zu welcher Abteilung er gehörte?«

»Nein, aber ich nahm an, er riefe von hier aus an. Mein Büro ist in der Avory Street, und die gehört ja wohl zu diesem Revier.«

»Das stimmt, Sir. Vielleicht würden Sie mir jetzt Ihren Namen angeben...?«

Er schrieb sich die Personalangaben auf, stellte einige Fragen und bat dann Chandler, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

»Ich werde gleich mal nachprüfen, ob von hier jemand angerufen hat. Es dauert nicht lange.«

Leslie Chandler setzte sich. Sein Hirn war leer, unfähig, einen Gedanken zu fassen. Wie im Traum nahm er wahr, was um ihn herum vorging. Leute kamen und gingen. Irgendwo läutete ein Telefon. Menschen sprachen, doch die Worte, die er hörte, ergaben keinen Sinn. Der Regen klatschte an das Fenster.

Er hörte Clares nörgelnde Stimme. Clare war es gewesen, die ihn gelehrt hatte, was Hass ist. Kein Mensch sollte dazu verdammt sein, sich unaufhörlich seihe Fehler und Schwächen vorhalten lassen zu müssen. Je näher ihre Beschuldigungen der Wahrheit kamen, desto mehr hasste er sie. Sie erniedrigten ihn vollends, machten ihn nackt und hilflos. Kein Mensch würde je verstehen, was es bedeutete, sich von ihr mit Worten schlagen und treten lassen zu müssen wie ein Hund. Er wollte vergessen, doch die Vergangenheit war zu tief in sein Gedächtnis eingedrungen. Vielleicht würde er niemals vergessen können. Vielleicht gab es für ihn keine Zukunft. Vielleicht würden die Erinnerungen an Clare ihn bis zum Ende seines Lebens bedrängen. Wo immer er auch hinging, was immer er tat: sie würde ihn nicht loslassen, weder bei Nacht noch bei Tag.

Der Gedanke entsetzte ihn. Er glaubte zu ersticken, es war, als drückte ihm jemand ein Kissen auf das Gesicht.

Das Schlimme war, dass ihm sein ganzer Mut genommen war. Die Jahre der Unterdrückung hatten ihren Tribut gefordert. Vielleicht war es zu spät, das Joch abzuschütteln. Die Freiheit ist nichts für einen Menschen, dessen Geist tot ist.

Der Sergeant kehrte zurück.

»Ich habe nachgefragt, Mr. Chandler«, berichtete er. »Von hier aus wurde nicht angerufen. Aber wenn Sie wollen, kann natürlich einer unserer Beamten mit Ihnen in die Avory Street...«

»Das wäre völlig sinnlos«, unterbrach ihn Chandler. »Ich war bereits in meinem Büro. Dort ist alles in Ordnung. Der Bursche, der mir den Streich gespielt hat, verdient eine Tracht Prügel.«

»Ja, unverschämt. Haben Sie eine Ahnung, wer diesen geschmacklosen Scherz gemacht haben könnte?«

»Nicht die geringste. Wenn es jemand gewesen wäre, den ich kenne, dann hätte ich seine Stimme am Telefon erkannt. Der Anrufer war ein Fremder.«

»Nun, der hat sich einen Spaß gemacht. Hoffen wir, dass die Sache damit erledigt ist. Aber wenn so was noch einmal passiert, dann setzen Sie sich am besten mit der Polizei in Wembley in Verbindung. Wahrscheinlich wohnt dort dieser Witzbold.«

»Und wenn ich ihn erwische, dann landet er im Krankenhaus«, erklärte Chandler. »Gute Nacht, Sergeant.«

 

Schneeregen schlug ihm ins Gesicht, als er zu seinem Wagen ging. Er schloss die Tür auf, ließ sich auf den Sitz fallen, wischte sich Gesicht und Haar mit einem Taschentuch ab und dachte nach.

Diese letzte Bemerkung war eine Dummheit gewesen. Er hatte sich hinreißen lassen, als er mit Gewalttätigkeit gedroht hatte. Das passte ganz und gar nicht zu ihm. Ein Mensch wie er darf nicht so reden. Entrüstung war verständlich, aber alles muss seine Grenzen haben.

Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Es war noch zu früh, um schon nach Hause zu fahren. Er hatte knapp eine halbe Stunde zur Stadt gebraucht. Es wäre ein Fehler, zu früh wieder in Wembley Park zurück zu sein. Das hatte Zeit – mehr Zeit als genug. Was ihm bevorstand, hatte keine Eile. Ein oder zwei Stunden Verzögerung würden auf lange Sicht kaum eine Rolle spielen.

Jetzt brauchte er erst einmal einen kräftigen Schluck. So viele Dinge beschäftigten seine Gedanken. Er musste ruhiger werden, warten, bis die Spannung sich löste, damit er das Nebensächliche vom Wichtigen trennen konnte. Ein Glas Bier war da das Beste. Danach konnte er zu Hause anrufen.

 

In der Bar des Three Feathers saß nur ein Dutzend Gäste. Abends war nie so viel Betrieb wie mittags. Es waren auch andere Leute – Leute, die er nicht kennenlernen wollte. Sicherlich ganz achtbare Leute, aber er wollte in ihrer Gesellschaft nicht gesehen werden.

Als er zögernd an der Tür stand, sah er Quinn, der sich lässig an seinem Stammplatz auf einem Hocker am Ende der hufeisenförmigen Theke lümmelte. Er saß allein, vor sich ein fast leeres Bierglas. Er machte den Eindruck, als wäre er schon halb eingeschlafen.

Als Chandler auf den Hocker neben ihm kletterte, richtete sich Quinn auf und grinste.

»Was für eine Überraschung«, staunte er. »Leslie Chandler, der Mann, der für andere immer ein offenes Ohr und eine offene Brieftasche hat. Ich hab’ mich schon gefragt, ob ich heute die ganze Zeche selber zahlen muss. Was trinken Sie denn?«

»Nein, nein, die Runde zahle ich«, versetzte Chandler. »Ich bin Ihnen noch ein Bier schuldig.«

»So ein Gedächtnis!« Quinn nahm sein Glas, leerte es und stellte es klirrend nieder. »Sollten alle meine Freunde so machen. Ich nehme ein Helles.« Er klopfte mit seinem Glas auf die Theke. »Freddie!«, rief er. »Hier ist ein Gast, der bar zahlen kann.«

Der Barkeeper drehte sich um.

»Na, das nenn’ ich Glück«, sagte er. »Ich hab’ schon gedacht, Sie wollen den Rest des Abends an Ihrem zweiten Hellen nuckeln.«

Er hatte Brillantine-verklebtes Haar und stotterte leicht. Sein Gesicht erinnerte an das eines Wiesels.

»Guten Abend, Mr. Chandler«, sagte er, als er näher kam. »Um diese Zeit sieht man Sie selten. Haben Sie Überstunden gemacht?«

»So könnte man es ausdrücken«, erwiderte Chandler. »Ein Helles für unseren Freund hier und das gleiche für mich. Ach, genehmigen Sie sich doch selbst auch eines.«

»Danke, kann ich gebrauchen.«

Als der Barkeeper ihnen das Bier gebracht hatte und sie wieder allein waren, fragte Quinn: »Sind Sie auf dem Heimweg, oder hat die Frau Gemahlin Ihnen den Abend freigegeben?«

»Weder – noch«, antwortete Chandler. »Ich wäre gar nicht hier, wenn sich nicht jemand einen dummen Scherz mit mir erlaubt hätte.«

»Was denn?«

»Hat mich für nichts und wieder nichts noch einmal in die Stadt gejagt. Man sollte es nicht für möglich halten, was den Leuten alles einfällt.«

»Erzählen Sie doch mal«, forderte Quinn seinen Nachbarn auf. Und Chandler erzählte.

»Wie klang denn die Stimme?«, erkundigte sich Quinn. »Jung? Alt?«

»Ein Halbstarker war’s nicht, wenn Sie das meinen sollten«, versetzte Chandler. »Nach der Stimme zu urteilen, würde ich den Mann auf mindestens dreißig schätzen.«

»Und er gab sich ganz amtlich, wie?«

»Oh, ja. Ich hatte nicht den geringsten Anlass, misstrauisch zu werden. Jetzt lacht der Kerl sich wahrscheinlich ins Fäustchen.«

»Kommt darauf an, ob er weiß, dass sein Trick gewirkt hat«, meinte Quinn. »Wenn ja, dann muss er entweder Ihr Haus oder Ihr Büro beobachtet haben. Sonst hätte er an der Sache ja keinen Spaß gehabt.«

Chandler machte ein nachdenkliches Gesicht und trank dann einen tiefen Schluck aus seinem Glas.

»Beim Haus«, erklärte er dann, »habe ich niemanden gesehen, aber nicht weit von dem Gebäude, in dem ich mein Büro habe, war ein Wagen geparkt.«

»Saß jemand darin?«

»Das habe ich nicht gesehen. Habe aber auch nicht sonderlich darauf geachtet.«

»Natürlich nicht. Was sagte denn Ihre Frau, als Sie ihr von dem Anruf erzählten?«

»Was hätte sie schon sagen sollen? Die Polizei wollte mich sprechen, also musste ich hinfahren. Meine Frau meinte lediglich, es wäre ein Glück, dass ich wenigstens schon zu Abend gegessen hätte.«

»So ganz unrecht hatte sie da nicht«, erwiderte Quinn. »Komisch eigentlich.«

»Was ist komisch?«

»Ich meine, dass der listige Till Eulenspiegel Sie nicht gleich wieder in die Stadt zurückgehetzt hat, ehe Sie zu Abend gegessen hatten. Das wäre doch noch gelungener gewesen.«

»Ihr Humor gefällt mir!« erklärte Chandler mit bitterer Miene. »Da setzt man sich, obwohl man, weiß Gott, müde genug ist, nochmals ins Auto und macht eine Fahrt, die ganz umsonst ist, und das alles auch noch an einem so scheußlichen Abend.«

»Na, der Abend ist doch noch ganz nett geworden«, stellte Quinn fest. »Sie genießen das unerwartete Vergnügen meiner Gesellschaft, und hier ist es urgemütlich. Das Bier ist auch nicht schlecht. Dabei fällt mir ein...« Er leerte sein Glas und krachte es auf die Theke. »Das gleiche nochmal, Freddie, damit’s uns warm wird!«

»Ich ruf’ inzwischen meine Frau an und gebe ihr Bescheid«, warf Chandler ein. »Nur damit sie nicht denkt, ich wäre verschütt gegangen.«

Das Telefon war auf dem Korridor, der zu den Toiletten führte. Irgendwo musste jemand ein Fenster oder eine Tür offengelassen haben. Kalte Zugluft machte ihn frösteln, während er dastand und das ständig tütende Besetztzeichen hörte.

Nach ein paar Sekunden legte er auf. Als er die Nummer wieder wählte, war sie immer noch besetzt.

Er kehrte zur Bar zurück und berichtete Quinn, dass er seine Frau nicht hatte erreichen können.

»Wenn Frauen am Telefon erst einmal zu schwatzen anfangen, dann vergessen sie ganz, dass es auch noch andere Leute gibt, die telefonieren wollen. Ich versuche es später noch einmal.«

»Da haben Sie wenigstens eine gute Ausrede für Ihren Abstecher ins Three Feathers«, meinte Quinn. »Man kann Ihnen ja nicht zumuten, dass Sie an so einem Abend durch die Landschaft wandern und eine Telefonzelle suchen.«

Um zehn Uhr rief Chandler noch einmal zu Hause an. Als er wieder zur Bar kam, sagte er, die Leitung wäre immer noch besetzt.

»Aber dasselbe Gespräch wird das kaum mehr sein«, stellte Quinn fest. »Es ist ja schon mehr als eine Stunde her, dass Sie das erste Mal angerufen haben. Wahrscheinlich spricht sie jetzt mit jemand anderem.«

Kurz vor halb elf versuchte Chandler es noch einmal. Besetzt.

Zu Quinn meinte er, es müsste irgendetwas nicht in Ordnung sein.

»Klar, da ist die Leitung gestört«, erwiderte Quinn. »Rufen Sie doch die Störungsstelle an.«

Bei der Störungsstelle erklärte man ihm, die Leitung wäre in Ordnung. »Sie kommen nicht durch, weil bei der Nummer, die Sie wählen, der Hörer nicht aufgelegt ist.«

»Das ist meine Nummer zu Hause«, sagte Chandler. »Ich versuche seit ungefähr neun Uhr, meine Frau zu erreichen. Könnten Sie nicht mit meiner Frau Verbindung aufnehmen und ihr sagen, dass sie vergessen hat, den Hörer aufzulegen?«

»Natürlich, Sir. Wir werden es versuchen. Bleiben Sie am Apparat.«

Er wartete. Die Zeit wurde ihm lang. Dann meldete sich wieder die Störungsstelle.

»Tut mir leid, Sir, aber es meldet sich niemand. Leider können wir Ihnen nicht helfen.«

Quinn war skeptisch. »Woher wollen die denn wissen, dass der Hörer nicht aufgelegt ist? An Ihrer Stelle würde ich die technische Überwachung verlangen.«

Chandler kehrte zum Telefon zurück und ließ sich mit der technischen Überwachung verbinden. Wieder musste er warten. Dann sagte eine Männerstimme: »Die Auskunft, die man Ihnen erteilt hat, ist richtig, Sir. Die Leitung ist nicht gestört. Sie kommen nicht durch, weil der Hörer nicht aufgelegt ist.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Oh ja, da gibt es keinen Zweifel. Die Leitung ist offen. Ich konnte sogar in der Nähe des Telefons eine Uhr ticken hören.«

»War das alles? Ich meine, den Fernseher haben Sie nicht gehört?«

»Nein, nur die Uhr. Es ist offensichtlich ziemlich still in dem Haus.«

»Sonderbar«, meinte Chandler. »Das verstehe ich nicht. Aber trotzdem – vielen Dank.«

Mit besorgter Miene ging er zur Theke. Inzwischen war es fünfundzwanzig Minuten vor elf.

»Nun?«, fragte Quinn. »Was haben Sie erfahren?«

»Dasselbe wie zuvor«, antwortete Chandler. »Der Hörer ist nicht aufgelegt.«

»Warum sehen Sie dann so zerknautscht aus?«

»Weil mir das nicht gefällt«, gab Chandler zurück. »Ich habe das Gefühl, da ist was nicht in Ordnung.«

»Wie kommen Sie denn darauf? Ihre Frau hat wahrscheinlich telefoniert und nach dem Gespräch den Hörer nicht richtig auf die Gabel gelegt. So was kommt öfter vor. Deswegen brauchen Sie sich doch keine Sorgen zu machen.«

»Vielleicht haben Sie recht. Aber das ist noch nie passiert.«

»Kann sogar sein, dass Sie selbst den Hörer nicht richtig aufgelegt haben, nachdem Sie den Anruf erhalten hatten, der angeblich von der Polizei kam.«

»Nein, bestimmt nicht. Das weiß ich genau«, versicherte Chandler. Er blickte auf die Uhr über der Theke. Mit stockender Stimme sagte er: »Sie werden mich wahrscheinlich für verrückt halten..., aber mir ist da gerade ein entsetzlicher Gedanke gekommen...«

»Was denn?«

»Ich – äh – vielleicht wollte man mich mit dem Anruf aus dem Haus locken. Ich weiß, das ist albern.«

»Und wie!« bestätigte Quinn. »Sie sehen Gespenster. Meiner Ansicht nach ist Ihre Frau zu Bett gegangen. Dann wäre es doch nur natürlich, dass im Haus alles still ist, nicht wahr?«

»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte Chandler ohne Überzeugung. »Aber ich fahre jetzt lieber doch und sehe nach, ob alles in Ordnung ist. Es ist sowieso schon spät.«

»Es ist bestimmt alles in Ordnung. Rufen Sie mich bei Gelegenheit mal an und erzählen Sie mir, was los war.«

»Das werde ich tun. Tut mir leid, dass ich den netten Abend so verpatzt habe.«

»Unsinn. Fahren Sie nur vorsichtig bei dem Wetter.«

»Das tue ich immer. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

 

Um elf Uhr hockte Quinn noch immer an der Bar. Die Hände um das Glas geklammert, hing er seinen Gedanken nach, während das Personal leere Gläser einsammelte, Aschenbecher leerte, Tische und Stühle zu säubern begann. Er hatte kein Bedürfnis, noch mehr zu trinken, und noch weniger Lust, nach Hause zu gehen – bei peitschendem Wind durch Regen und Matsch zu stapfen. Schade, dass der Abend vorbei war.

Von hinten klopfte ihm jemand auf die Schulter.

»Telefon für Sie.«

»Wer denn?«

»Ein gewisser Chandler.«

Der mit Steinfliesen ausgelegte Korridor war feucht und kalt. Man kann, dachte Quinn, gut andere Leute anrufen, wenn man selbst gemütlich im Bett liegt und nur die Hand nach dem Telefon auszustrecken braucht, das auf dem Nachttisch steht.

»Quinn?«, fragte Leslie Chandler. »Ich hatte schon Angst, Sie wären nach Hause gegangen und...

»Naja, so prompt hätten Sie mich nicht anzurufen brauchen. Das hätte auch bis morgen Zeit gehabt. Ich hab’ ja gewusst, dass alles in Butter ist. Ihre Frau behauptet wahrscheinlich, Sie hätten vergessen, den Hörer aufzulegen, wie?«

»Nein, ich war es nicht. Das kann ich beschwören.« Chandler brach ab und schwieg einen Moment. Dann fuhr er mit unsicherer Stimme fort. »Wir kennen einander doch schon lange, nicht wahr?«

Quinn war überrascht von dieser unvorhergesehenen Wendung des Gesprächs. Das passte ihm nicht recht.

»Natürlich«, erwiderte er. »Aber wozu regen Sie sich eigentlich auf? Solche Sachen kommen in den besten Familien vor. Wenn Ihre Frau behauptet, Sie wären’s gewesen, dann stimmen Sie doch einfach zu. Wozu sich streiten?«

Als hätte er gar nicht zugehört, sagte Chandler: »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Quinn. Es ist wichtig. Würden Sie mir helfen – bitte?«

»Selbstverständlich! Wenn mir auch schleierhaft ist, weshalb Sie so aus dem Häuschen sind.«

»Weil Sie nicht Bescheid wissen. Und am Telefon kann ich es nicht erklären. Deshalb wollte ich Sie bitten, hier heraus zu kommen – wenn es geht.«

»Zu Ihnen? Nach Wembley Park?«

»Ja.«

»Um diese Zeit? Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Doch. Ich bitte Sie, Quinn. Ich brauche Ihren Rat. Wenn ich jetzt nicht mit jemandem reden kann, werde ich verrückt.«

»Na hören Sie mal, alter Junge«, versetzte Quinn. »Von der Fleet Street bis nach Wembley Park – das ist ja eine kleine Weltreise. Ist Ihnen überhaupt klar, dass ich erst bis Aldwych zu Fuß gehen und dann noch ein paarmal umsteigen müsste? Und die Züge fahren um die Zeit auch nicht mehr regelmäßig.«

»Ja, ich weiß. Aber...«

»Es ist nach elf. Was glauben Sie denn, wann ich da ankomme?«

»Fahren Sie doch mit dem Taxi.«

»Das soll wohl ein Witz sein? Wissen Sie, was das kosten würde?«

»Darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ich zahle die Fahrt – hin und zurück. Wenn Sie wirklich mein Freund sind, dann kommen Sie! Bitte.«

Verdrießlich fragte sich Quinn, warum ausgerechnet ihm immer solche Sachen passierten. Wie kam der Mann dazu, aus einem gelegentlichen Trinkbruder gleich einen Freund zu machen? Trotzdem sagte er: »Na schön. Ich komme, obwohl ich nicht einsehe, warum die Sache nicht bis morgen Zeit hat. Was wird denn Ihre Frau überhaupt dazu sagen, wenn ihr mitten in der Nacht plötzlich ein wildfremder Mensch ins Haus schneit?«

»Darum geht es ja«, erwiderte Chandler mit fremdklingender Stimme. »Sie ist nicht hier. Als ich heimkam, war sie nicht mehr da.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das Haus am Carrington Way Nummer vierundvierzig stand in einem kleinen Garten, der von einem Holzzaun umschlossen war. Das Gartentor stand offen, und das Licht auf der vorderen Veranda brannte.

Die Haustür öffnete sich, noch ehe Quinn Zeit hatte zu läuten.

»Sie haben ja keine Ahnung, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte Chandler. »Ich fürchtete schon, Sie würden gar nicht kommen.«

Sein etwas schwammiges Gesicht war bleicher als sonst, und die Augen wirkten müde. Er zog Quinn in den Flur.

»Und ich hätte es Ihnen nicht einmal übelnehmen können«, fuhr er fort. »Es ist schon eine Zumutung, bei diesem Wetter mitten in der Nacht noch hier herausfahren zu müssen.«

»Das kann man sagen«, erwiderte Quinn. »Ich frage mich nur, was Sie eigentlich von mir erwarten. Zum Eheberater tauge ich gewiss nicht.«

»Sie glauben, meine Frau ist wutschnaubend abgehauen, weil ich so lange nicht nach Hause kam?«

»Was denn sonst? Einem alten Sprichwort zufolge ist, was dem einen recht, dem anderen billig. Der Meinung war offenbar auch Ihre Frau.«

»Nein.« Chandler schüttelte den Kopf. »Sie irren sich. Das ist nicht ihre Art.«

Er drückte die Haustür zu und ging voraus in das Wohnzimmer, in dem alle Lichter brannten. Ohne sich umzudrehen, deutete er auf einen Sessel und sagte: »Legen Sie ab. Nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Nein, danke«, erwiderte Quinn. »Zum gemütlichen Beisammensein bin ich im Moment nicht aufgelegt. Wenn ich Ihnen meine guten Ratschläge, die Sie offenbar für so wertvoll halten, gegeben habe, gedenke ich, schleunigst nach Hause zu fahren und ins Bett zu kriechen. Ich muss nämlich morgen früh wieder pünktlich raus, und jetzt ist es schon nach zwölf.«

»Ja, natürlich.« Chandler rieb sich die Hände, als fröre ihn. »Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist. Es tut mir leid.«

»Sie brauchen mich nicht zu bemitleiden«, fiel Quinn ihm ins Wort. »Nur fassen Sie sich kurz. Packen wir die Sache systematisch an. Hat Ihre Frau heute Abend, bevor Sie wegfuhren, erwähnt, dass sie ausgehen wollte?«

»Nein.«

»Vielleicht ist ihr der Einfall erst später gekommen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Aber wenn es nun so gewesen wäre? Hätte sie Ihnen da eine Nachricht hinterlassen?«

»Wahrscheinlich. Mit Sicherheit kann ich das nicht sagen, weil das nur äußerst selten vorgekommen ist.«

»Haben Sie nachgesehen, ob vielleicht irgendwo ein Zettel für Sie liegt?«

»Ja, aber ich habe nichts gefunden.«

»Was tat sie, als Sie gingen?«

»Sie war beim Geschirrspülen.«

»Um welche Zeit war das?«

Chandler musste einen Moment nachdenken.

»Kurz vor acht«, antwortete er dann. »Es war halb neun, als ich in mein Büro kam und feststellte, dass man mich...«

»Das alles haben Sie mir bereits erzählt«, unterbrach ihn Quinn. »Kommen wir noch einmal auf die Zeit vor Ihrer Abfahrt

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Leopold Horace Ognall/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Mechtild Sandberg (OT: Most Deadly Hate).
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 10.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2038-5

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