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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

DAS GRAB AN DER ISAR

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

DAS GRAB AN DER ISAR 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

München 1972.

Am Ufer der Isar wird ein Skelett gefunden - die traurigen Überreste einer unbekannten jungen Frau, deren Tod etwa zwei Jahre zurückliegt.

Hauptkommissar Gottfried Unkelhäußer, erst kürzlich befördert und nach Schwabing versetzt, steht vor mehreren Rätseln: Wer ist die Tote? Und: War es Selbstmord oder ein Unfall - oder wurde die Frau Opfer eines Verbrechens?

 

Das Grab an der Isar von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Jack Kandlbinder ermittelt, Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist ein spannender und nostalgischer München-Krimi. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2022 folgen zwei weitere Krimi-Serien: Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck und München-Krimis mit Jack Kandlbinder, der in der bayrisches Landeshauptstadt die merkwürdigsten Verbrechen aufzuklären hat.

DAS GRAB AN DER ISAR

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Gottfried Unkelhäußer: Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei.

Robert Erlinger: Kriminaloberrat. 

Martin Raffler: Inspektor bei der Münchner Kriminalpolizei.

Walter von Spiegelberg: Rechtsanwalt. 

Jack Gostner: Besitzer einer Autowerkstatt. 

Vicky Kirsch: Gostners Mädchen für alles. 

Johnny Löffelhart: Tankwart. 

Niklas Nemeth: Rechtsanwalt. 

Franziska Nemeth: seine Schwester. 

Michael Reisinger: Polizeipräsident von München. 

Xaver Warenski: ein Gangster. 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der 7. September fiel im Jahr 1972 auf einen Dienstag.

An diesem Tag ereigneten sich drei scheinbar bedeutungslose Dinge. Später wirkten sie sich gemeinsam aus – wie bestimmte Chemikalien, die für sich genommen völlig harmlos, gemeinsam jedoch hochexplosiv sind.

Michael Ofenbauer, 14, und sein jüngerer Cousin Frank beschlossen, schon in aller Frühe zum Baden zu gehen, um den letzten Ferientag an der Isar würdig zu begehen.

Kriminalinspektor Gottfried Unkelhäußer erhielt die Bestätigung, er sei zum Hauptkommissar befördert und als Leiter der Polizeiinspektion 13 nach Schwabing versetzt worden.

Am gleichen Vormittag verurteilte Richter Striegler am Münchner Landgericht Samuel Reiter, Daniel Habenschaden und Peter Aulitzky wegen bewaffneten Raubüberfalls zu fünfzehn Jahren Gefängnis. »Sie haben brutal und geldgierig gehandelt«, hielt er den Angeklagten vor. »Sie haben ein junges Mädchen niedergeschlagen und einen Mann schwer verletzt, als sich beide gegen Sie zur Wehr setzten. Wäre eines Ihrer Opfer gestorben, hätte das Urteil auf lebenslänglich gelautet.«

Die drei Männer hörten sich die Strafpredigt und das Urteil gleichgültig an.

 

In einem Konferenzraum im Münchner Polizeipräsidium diskutierten drei Männer den Fall Reiter.

Am Kopfende des Tisches saß Kommissar Silbernagl: hager, pflichtbewusst und bereits von der Krankheit gezeichnet, die ihn zerstören sollte. Silbernagl hatte die Einsatzkommandos der Kriminalpolizei aufgebaut und leitete jetzt alle zwölf. Rechts neben ihm saß der Chef des Bezirks 1, Kriminaloberrat Gschnitzer, ein großer, kräftiger Mann, dem man den ehemaligen Amateur-Boxer ansah. Der unscheinbare Dritte war Unterstaatssekretär Heinrich Falkner, den das Innenministerium als ständigen Berater der Münchner Kriminalpolizei abgestellt hatte.

»Sie können sich dazu beglückwünschen, Reiter und die anderen hinter Gitter gebracht zu haben«, meinte Falkner. »Das war die dritte Diebesbande innerhalb von nur zwei Jahren.«

»Alles dank Mitterer«, sagte Gschnitzer und fügte hinzu: »Das klingt beinahe wie eine Fernsehwerbung, nicht wahr?«

»Das Mitterer-System hat sich bewährt«, stimmte Falkner zu. »Glauben Sie, dass die andere Seite allmählich vermutet, worauf es basiert?«

»Ich nehme an, die Ganoven sind auf der richtigen Spur«, antwortete Silbernagl. »Sie müssen sich fragen, wie wir Aulitzky so schnell gefasst haben, obwohl er nur den Wagen gefahren hat und nicht am Tatort identifiziert werden konnte. Ihnen ist wahrscheinlich klar, dass mit den Geldscheinen irgendetwas faul sein muss – obwohl sie das genaue Verfahren nicht kennen.«

»Was sollten sie dagegen tun, wenn sie es herausbekämen?«, fragte Falkner. »Das Zeichen lässt sich nicht entfernen. Ohne Spezialgeräte ist es nicht einmal zu entziffern.«

»Sie würden das Geld zweifellos in den Sparstrumpf stecken«, erklärte Gschnitzer ihm. »Oben kommt die neue Beute hinein, unten wird Geld entnommen, das vielleicht schon vor zwei Jahren gestohlen worden ist.«

»Und aus verschiedenen Fischzügen stammt«, warf Silbernagl ein.

»Dazu braucht man eine Menge Geld«, stellte Falkner fest. »Wo also würden sie es vermutlich aufbewahren?«

Gschnitzer grinste breit. »Das haben wir unsere Informanten auch schon gefragt. Von einer hohlen Eiche im Neuperlacher Forst bis zu Bahnhofstoiletten ist alles vorgeschlagen worden.«

»Nicht gerade vielversprechend«, meinte Falkner. »Das Geld liegt eher in einem privaten Safe. Oder in einem Bankschließfach.«

»Richtig«, stimmte Gschnitzer zu, »aber unsere Spitzel bewegen sich nicht in derart illustren Kreisen. Sie treiben sich in Kneipen herum und bringen Gerüchte in Umlauf. Was nicht völlig erlogen ist, ist zumindest verdreht.«

»Leider ist es uns noch nie gelungen, einen Mann in eine der ganz großen Banden einzuschleusen«, seufzte Silbernagl. »Diese Organisationen suchen sich die Kandidaten selbst aus und überprüfen sie eingehend, bevor sie mit ihnen in Verbindung treten. Die Rekruten müssen sich zunächst bei kleineren Jobs bewähren, bevor sie große Unternehmen mitmachen dürfen. Und sie wissen, dass ihre Familien versorgt sind, falls sie geschnappt werden. Deshalb haben sie wenig Grund, ihre Bosse zu verpfeifen.«

»Außerdem wissen sie sehr genau, was Verrätern blüht«, warf Gschnitzer ein. »Wer an so etwas denkt, wird an Schretzmayer erinnert – und überlegt es sich noch mal.«

»Schretzmayer?«

»Das waren Herzigs Leute. Schretzmayer war nur ein winziges Rädchen im Getriebe ihrer Organisation. Er hatte das Gefühl, schäbig behandelt worden zu sein, und wollte bei uns auspacken. Wir waren verdammt vorsichtig, kann ich Ihnen sagen, aber seine Kumpane haben doch Wind davon bekommen.«

»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Falkner zögernd.

»Sie haben ihn in einer regelrechten Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt und anschließend erschossen. Die Leiche ist am Flaucher in die Isar geworfen worden.«

»Wie haben Sie das herausgefunden?«

»Herausgefunden? Diese Geschichte hat in ganz München die Runde gemacht! Herzigs Leute haben sie selbst verbreitet, weil sie wussten, dass die Leiche inzwischen von der Strömung in die Donau geschwemmt worden war.«

»Die Bosse der Münchner Unterwelt haben zweierlei von den amerikanischen Gangstern gelernt«, erklärte Silbernagl. »Sie erkannten die Macht des Geldes und die Macht der Angst. Wer diese beiden Waffen meisterhaft beherrscht, kann sehr einflussreich werden und sich lange Zeit über unsere Anstrengungen lustig machen.«

»Aber nicht für immer«, wandte Falkner ein.

»Wenn alle Polizeibeamten ihre Pflicht täten...«, murmelte Silbernagl.

»Stellen Sie die Dienstauffassung der Polizei in Frage?«

»Nein, durchaus nicht. Aber Polizisten sind auch nur Menschen. Es gibt immer wieder welche, die man kaufen oder einschüchtern kann.«

»Schon ein einziger korrupter Polizeibeamter kann Verbrechern viel helfen«, stimmte Gschnitzer zu. »Je wichtiger sein Posten ist, desto nützlicher kann er für gewisse Kreise sein.«

 

Hauptkommissar Unkelhäußer packte.

Er war Anfang Dreißig, trug seine dunklen Haare ziemlich lang und hatte ein breites Gesicht, das durch eine Narbe entstellt wurde, die vom linken Wangenknochen aus am Auge vorbeiführte, so dass es ständig halb geschlossen zu sein schien. Unkelhäußer hatte muskulöse Schultern, einen gewaltigen Brustkorb und auffallend lange Beine.

Das möblierte Zimmer in Neuhausen, in dem er zwei Jahre gewohnt hatte, enthielt nur Bett, Kleiderschrank, Schreibtisch und einen Stuhl. Unkelhäußer zog eine Schreibtischschublade auf, nahm ein Notizbuch heraus und blätterte es durch. Dann riss er das Telefonverzeichnis mit dem halben Dutzend Mädchennamen heraus und verbrannte es im Aschenbecher. Er hoffte, dass es in Schwabing ebenso nette Mädchen gab – aber er konnte nicht recht daran glauben.

 

Am gleichen Abend fuhren Kriminaloberrat Robert Erlinger, Polizeichef von Schwabing und der Maxvorstadt, und seine Frau Anni wie jeden Montagabend zu Richter Ferdinand Wintersberger, um mit ihm und seiner Frau Margarete Canasta zu spielen. Während die beiden Frauen in der Küche Kaffee und belegte Brote zubereiteten, fachsimpelten die Männer.

»Der Neue fängt morgen an«, sagte Robert Erlinger. »Ein gewisser Unkelhäußer. Noch ziemlich jung. Wahrscheinlich ein neuer Besen, der gut kehrt.«

»Warum auch nicht?«, fragte Ferdinand Wintersberger. »Bergmann war allgemein beliebt, aber er war ein kranker Mann. Vielleicht hat sich das auf seine Arbeit ausgewirkt...«

»Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt«, widersprach Erlinger. »Ist dir eigentlich klar, dass meine Inspektionen die höchste Aufklärungsquote der ganzen Stadt haben?«

»Prima. Wahrscheinlich verleihen sie dir einen Orden, wenn du nächstes Jahr pensioniert wirst.«

 

Es war halb sieben, und die Sonne, die blutrot durch den Frühnebel schien, strahlte noch keine Wärme aus. Michael Ofenbauer und Frank zogen sich an einem überhängenden Ast aus der kalten Isar und standen frierend auf dem schmalen Kiesstreifen mit Aussicht auf das Deutsche Museum.

»Das war doch schön, was?«, fragte Michael.

»W-w-wunderbar!«, stimmte Frank zu.

Auf dem Weg zu ihrem Schlauchboot, in dem die Handtücher lagen, stolperte Michael über etwas, fiel beinahe hin und fluchte.

»Was ist los?«, wollte Frank wissen.

»Irgendein Idiot hat hier etwas...« Er sprach nicht weiter.

»Los, red schon, bevor ich erfriere!«

Aber Michael achtete nicht auf ihn. Er kniete auf den Steinen und räumte sie mit beiden Händen zur Seite. An dieser Stelle hatte die Strömung das Ufer unterspült, und nun war die oberste Lage eingebrochen.

An der Kante ragte etwas Weißes ins Freie. Michael, der es berührt hatte, stand auf und wusch sich die Hände im Fluss.

»Das müssen wir der Polizei melden«, entschied er.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

»Schwabing ist so ruhig wie eine Kleinstadt«, sagte Kriminaloberrat Erlinger, »und ich möchte, dass es so bleibt.«

»Ich werde mein Bestes geben«, nickte Unkelhäußer.

Die beiden saßen sich in Erlingers Büro gegenüber. Unkelhäußer hatte sich um neun zum Dienstantritt gemeldet. Jetzt führten sie ein erstes Gespräch miteinander.

»Hoffentlich sind Sie mit dem Zimmer zufrieden. Die Schleißheimer Straße ist nicht gerade um die Ecke, aber Frau Jandrasits kümmert sich bestimmt gut um Sie. Und jetzt im Herbst sind genügend Zimmer frei, falls Sie umziehen wollen.«

»Danke, ich bin ganz zufrieden«, antwortete Unkelhäußer. »Im Vergleich mit Neuhausen scheint mir Schwabing dennoch eher ein harmloses Fleckchen zu sein«, meinte Unkelhäußer.

»Oh, wir haben auch unsere Probleme. In letzter Zeit erleben wir eine Serie von Laden-Einbrüchen. Radios, Tonbandgeräte und Schreibmaschinen. Martin Raffler glaubt, dass jeweils der gleiche Täter in Frage kommt. Sie werden feststellen, dass Raffler ein guter Mitarbeiter ist. Er hat Bergmann praktisch sämtliche Arbeit abgenommen, bevor er...«

»Wie geht’s Bergmann?«

»Er ist im Krankenhaus.« Der Kriminaloberrat verzog das Gesicht. »Er bildet sich ein, nur ein Magengeschwür zu haben... Herein! Ah, das ist Martin Raffler. Kennen Sie sich schon?«

»Wir haben uns zugenickt«, sagte Raffler. »Und ich möchte wetten, dass Sie ihm erzählt haben, Schwabing sei ein verschlafenes kleines Viertel, in dem nie etwas passiert. Aber jetzt... ist es soweit! Zwei Jungen haben heute Morgen am Isar-Ufer – bei den Frühlingsanlagen – eine Leiche gefunden.«

»Hm.« Erlinger machte eine Pause. »Zweifellos ist sie dort angespült worden.«

»Dann muss sie sich auch sogleich selbst begraben haben.«

»Einer der Jungen – er heißt Michael Ofenbauer – meinte, die Leiche liegt etwa einen Meter tief unter der Erde. Ohne die stärkere Herbst-Strömung läge sie noch immer dort.«

»Ofenbauer?«, wiederholte Unkelhäußer. »Ein ungewöhnlicher Name. Ist er etwa...«

»Ganz recht«, stimmte Raffler zu. »Sein Vater ist Richard Ofenbauer, Leiter der Staatsanwaltschaft.«

»Verdammt noch mal!«, murmelte der Kriminaloberrat. »Wir müssen den Bereich absperren, bevor die Leute von der Stadtpolizei kommen. Ihnen passt es bestimmt nicht, wenn wir dort einen Haufen Neugierige herumlaufen lassen.«

»Ich habe Obermeister Homolka hingeschickt«, berichtete Raffler. »Aber ich bezweifle, dass jemand von der Stadtpolizei kommt. Ich habe mit Kriminaloberrat Niederhuber gesprochen. Er hat keinen einzigen Mann frei.«

Erlinger stand auf. »Darüber muss ich selbst mit dem Präsidium sprechen.« Fünf Minuten später kam er mit grimmiger Miene zurück. »Gschnitzer will, dass wir die Ermittlungen selbst durchführen. Er kann uns nur einen Beamten schicken, falls wir einen zusätzlichen Mann brauchen.«

Unkelhäußer und Raffler wechselten einen Blick. Dann schüttelten beide den Kopf.

»Wir bekommen jede technische Unterstützung«, fügte Erlinger hinzu. »Labor, Fernschreiber und so weiter.«

»Dann fahren wir am besten gleich hin«, entschied Unkelhäußer. »Wie heißt unser Fotograf?«

»Edi Hader.«

»Den nehmen wir mit, und Sie fahren uns hin, Martin.«

 

Als der Polizeiwagen die Auenstraße entlangfuhr, meinte Unkelhäußer: »Dem Alten scheint die Reaktion Gschnitzers nicht gerade gefallen zu haben.«

»Er wird nächstes Jahr pensioniert«, antwortete Raffler. »Wenn dieser Fall Aufsehen erregt und nicht gleich geklärt werden kann, will Erlinger die Schuld auf einen anderen schieben können.«

»Verständlich«, stimmte Unkelhäußer zu.

Am Ende der Auenstraße teilte sich die Straße. Die linke Abzweigung führte in Richtung Sendlinger Tor. Martin Raffler folgte der kleineren Straße nach rechts und fuhr zum Fluss hinab. Nach etwa fünfzig Metern bog Raffler auf einen Weg ab, der zwischen Erlen, niedrigen Eichen und Schlehdorn-Büschen verlief.

Die drei Männer stiegen aus und gingen zu Fuß weiter. Als sie sich dem Isar-Ufer näherten, kam Obermeister Homolka hinter den Büschen hervor. Das Ufer war an hier nirgends breiter als zwanzig Meter.

»War schon jemand hier?«, erkundigte Raffler sich.

»Nur ein paar Schwäne«, antwortete Homolka. Er war ein muskulöser Niederbayer, den man sich gut als Stopper einer Fußballmannschaft vorstellen konnte.

»Obermeister Homolka – Hauptkommissar Unkelhäußer, unser neuer Boss«, fuhr Raffler fort.

»Freut mich«, sagte Homolka.

Unkelhäußer nickte wortlos und starrte in die Grube, die der Obermeister ausgehoben hatte. »Wir machen jetzt ein paar Aufnahmen. Sobald der Pathologe hier ist, legen wir das Skelett ganz frei, damit wir es nochmals fotografieren können. Okay?«

Leonard Hader trat vor und stellte seine Kamera ein.

 

Dr. Rabitsch, der Pathologe, war ein müder alter Mann, der vor der Pensionierung stand. »Dem Becken nach war die Tote eine junge Frau«, erklärte er Unkelhäußer. »Sie hat mindestens ein, höchstens zwei Jahre am Ufer gelegen.«

»Nicht länger?«, fragte Unkelhäußer mit einem erstaunten Blick auf die weißen Knochen auf dem Untersuchungstisch.

»Die Verwesung ist aus drei Gründen schnell vor sich gegangen. Erstens hat die Leiche in lockerem Kies, nicht in Lehm oder Ton gelegen. Zweitens war das Grab zeitweise überschwemmt, was die Verwesung gefördert hat. Und drittens ist die Tote nackt begraben worden.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ganz bestimmt, denn sonst hätten wir Reste von Kleidungsstücken finden müssen. Metall, Leder und Plastik lösen sich nicht so schnell auf.«

»Woran kann sie gestorben sein?«

»Sie ist erwürgt worden«, antwortete der Arzt. Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Alter der Toten zwischen achtzehn und fünfundzwanzig. Größe etwa einssechzig bis einsfünfundsechzig.«

»Hm, das ist immerhin etwas.«

»Ich kann keine Tatsachen erfinden, nur um Sie zufriedenzustellen, Herr Hauptkommissar. Aber mir ist etwas Ungewöhnliches an der jungen Dame aufgefallen: Sie hatte keine einzige Plombe.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Wer sich richtig ernährt und sich nach jeder Mahlzeit die Zähne putzt, braucht nie zum Zahnarzt«, behauptete er abschließend.

 

In der Polizeiinspektion erstattete Unkelhäußer seinem Vorgesetzten Bericht. »Wir können den Zugang zum Ufer nicht unbegrenzt lange sperren«, stellte er fest. »Die ersten Neugierigen sind bereits dort. Ich brauche sechs Mann, die Homolka helfen.«

»Sechs?«, fragte der Kriminaloberrat ungläubig.

»Sie sollen das Ufer auf einer Länge von einem Kilometer absuchen.«

»Ich bewundere Ihren Eifer – aber finden Sie nicht auch, dass es für eine Spurensuche reichlich spät ist, wenn die Leiche ein, zwei Jahre dort herumgelegen hat?«

»Ich halte die Suche für wichtig«, sagte Unkelhäußer. »Aber wenn Sie mich anweisen, darauf zu verzichten...«

»Nein, nein! Sie leiten die Ermittlungen. Sie brauchen also sechs Mann...«

»Mit Stöcken oder Stangen. Und zwei oder drei Sensen. Sie müssen erst das Gestrüpp und die Brennnesseln beseitigen. Dann wird das Ufer in diesem Bereich Schritt für Schritt abgesucht.«

 

Um neun Uhr abends saß Unkelhäußer in seinem Büro, dachte über die Ermittlungen im Fall der unbekannten Toten nach und fragte sich, was er vergessen haben konnte.

Fundort abgesperrt. Büro des Leichenbeschauers verständigt. Pressemitteilung mit dem Polizeipräsidium abgestimmt. Aufnahmen am Fundort und im Leichenhaus. Vorläufige Personenbeschreibung an Vermisstenstelle.

Was hatte er ausgelassen? Das gerichtsmedizinische Labor. Aber er hatte nichts, was ins Präsidium hätte schicken können – kein Haar, keine Gewebeprobe, keinen Stofffetzen, nur die von Wasser und Sand blankgescheuerten Knochen. Trotzdem war es besser, auch dem Labor eine Abschrift des Befundes des Pathologen zu senden.

Martin Raffler und Homolka kamen mit einem Weidenkorb herein.

»Zweihundert faszinierende Andenken ans Isar-Ufer«, verkündete Raffler. »Sortieren wir sie gleich oder erst morgen?«

»Ist etwas Interessantes dabei?«

»Das kommt darauf an, was Sie interessant finden.« Raffler griff in den Korb. »Eine Sardinenbüchse mit Fischresten. Ein durchlöcherter Schuh. Eine...«

Unkelhäußer stand auf. »Die Leiche hat mindestens ein Jahr dort draußen gelegen – da kommt es auf zwölf Stunden mehr oder weniger nicht an. Schluss für heute! Ich brauche einen was zu trinken. Können Sie mir ein Kneipe empfehlen?«

Martin Raffler überlegte. »Um diese Zeit gehen Sie am besten ins Gemein & Gefährlich. In der Rheinstraße. Irgendwer hatte die Idee, die Fassade zitronengelb anzumalen, die Kneipe ist daher nicht zu verfehlen.«

 

Das Gemein & Gefährlich war ein altes, dunkles Lokal mit unebenem Klinkerboden, gelblicher Decke und großen Glaskästen mit präparierten Hechten und Forellen an den Wänden. Als Unkelhäußer die Bar betrat, starrte ihn niemand auffällig an, aber buchstäblich jeder schienen sich zu fragen, wer er war. Er bestellte ein Weißbier und zog sich damit in eine Ecke zurück, wo er eine unbequeme Sitzbank für sich hatte.

Etwa zehn Minuten später wurde die Tür des Nebenzimmers geöffnet. Ein rundlicher Mann mit von der Sonne gerötetem Gesicht und kurzgeschnittenen Haaren trat an die Bar, um Getränke zu bestellen. Unkelhäußer fiel auf, dass der andere nur einen Arm hatte.

»Ich bringe sie Ihnen gleich hinein, Herr Gostner«, sagte der Barmixer. Der Einarmige kam auf Unkelhäußer zu. »Sind Sie der neue Hauptkommissar?«, erkundigte er sich.

Unkelhäußer nickte. »Der hiesige stille Post scheint gut zu funktionieren.«

»Wir haben alle auf Bergmanns Nachfolger gewartet. Und als wir Sie heute in Martin Rafflers Wagen gesehen haben, war der Rest leicht zu erraten. Ich heiße übrigens Gostner – Jack Gostner. Ich bin der Inhaber der Autowerkstatt in der Auenstraße. Bergmann hat seinen Wagen immer zu uns gebracht. Wir kümmern uns auch gern um Ihren, wenn Sie wollen.«

»Ich suche mir erstmal einen«, erklärte Unkelhäußer ihm. »Ungefähr zwei Jahre alt, stabil und mit großem Kofferraum.«

»Damit Sie darin Leichen befördern können?«

Unkelhäußer warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Richtig, Leichen und anderes. Ist das auch schon bekannt?«

»Der Münchner Merkur hat eine kurze Meldung gebracht.« Gostner zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der rechten Jackentasche. Unkelhäußer las die Meldung, in der von dem Leichenfund berichtet wurde.

Der Wirt kam mit einem Tablett vorbei, auf dem vier Gläser standen. »Wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?«, forderte der Dicke Unkelhäußer auf. »Stellen Sie noch ein Glas Bier dazu, Flori«, bat er den Wirt.

 

Im Nebenzimmer war nur Platz für zwei Tische und sechs Stühle. Ein kleiner Mann, den die anderen mit Johnny anredeten, bekam einen Scotch. Der Cognac war für den grauhaarigen Brillenträger bestimmt, dessen Hand leicht zitterte, als er nach dem Glas griff. Das helle Ale bekam die sorgfältig zurechtgemachte Blondine am gleichen Tisch.

»Hier sehen Sie die Führungsspitze meines Unternehmens«, erklärte Gostner Unkelhäußer. »Das Fußvolk hockt in einer anderen Kneipe. Johnny kümmert sich um die Tankstelle, Herr Nussbaum kümmert sich um unsere Bücher, und Vicky kümmert sich um mich.«

»Du hast uns deinen Freund noch nicht vorgestellt«, sagte die hübsche Blondine mit der Stupsnase und den roten Fingernägeln.

»Hauptkommissar...?«

»Gottfried Unkelhäußer.«

»Du bringst die verrücktesten Leute mit«, behauptete Vicky, aber ihr Lächeln schwächte ihre Worte etwas ab.

»Vorsichtig, Vicky!«, mahnte Johnny. »Er sieht aus, als könnte er zwei von deiner Sorte zum Abendessen verspeisen.«

»Na, hoffentlich wäre ich sein Geschmack«, antwortete Vicky und warf Unkelhäußer einen abschätzenden Blick zu.

»Der Wirt setzt uns bestimmt bald an die Luft«, sagte Unkelhäußer. »Soll ich vorher noch eine Runde bestellen?«

Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden – am allerwenigsten Herr Nussbaum, der seinen Cognac schon heruntergekippt hatte. Die Atmosphäre wurde gelockerter, als die neuen Getränke kamen. Kurze Zeit später stand Nussbaum auf und verabschiedete sich.

»Er hat Magengeschwüre«, stellte Gostner fest.

»Ich dachte, dann dürfte man nicht so viel trinken«, warf die Blondine ein.

»Du denkst zu viel«, behauptete Gostner.

»Ihre Tankstelle hat nur einen Fehler – die ungünstige Lage«, erklärte Unkelhäußer ihm. »Wären wir heute Morgen zum Tanken abgebogen, hätten wir den ganzen Verkehr aufgehalten.«

»Das ist nur an Wochentagen so schlimm. Samstags und sonntags ist bedeutend weniger Verkehr.«

»Es ist noch gar nicht lange her, dass es in der Auenstraße sogar drei große Werkstätten gegeben hat«, warf Johnny ein.

»Holst du eine neue Runde?«, schlug Gostner ihm vor.

Als Johnny hinausgegangen war, deutete Unkelhäußer auf Gostners linken Ärmel und fragte: »Krieg?«

»Ja – bei Arnheim. Das war damals eine große Pleite, kann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2001-9

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