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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

EIN MÄDCHEN VERSCHWINDET

EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

EIN MÄDCHEN VERSCHWINDET 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

München im Jahre 1963.  

Die wohlhabende Witwe Lavinia Engelmann ist todkrank und hat nur noch wenige Tage zu Leben. Sie hegt den Wunsch, sich mit ihrer verschwundenen Tochter Christina auszusöhnen, bevor ihr letztes Stündlein geschlagen hat. Privatdetektiv Remigius Jungblut wird beauftragt, die junge Frau ausfindig zu machen und zurück nach München zu bringen.

Die Spur führt nach Frankfurt. Doch als Jungblut in der Main-Metropole eintrifft, geschieht dort ein Mord. Die Hauptverdächtige: Christina Engelmann...

 

Ein Mädchen verschwindet ist der vierte Roman um den Münchner Privatdetektiv Remigius Jungblut aus der Feder von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Reihen Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Friesland, Jack Kandlbinder ermittelt und Münchner Blut. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2022 folgen zwei weitere Krimi-Serien: Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck und München-Krimis mit Jack Kandlbinder, der in der bayrisches Landeshauptstadt die merkwürdigsten Verbrechen aufzuklären hat.

EIN MÄDCHEN VERSCHWINDET

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Remigius Jungblut: Privatdetektiv aus München. 44 Jahre alt, studierter Jurist.

Susie Laurentius: seine 21jährige Sekretärin, auf die in jeder Situation Verlass ist.

Lavinia Engelmann: eine wohlhabende Münchner Witwe. 

Christina Engelmann: ihre Tochter. 

Johnny Grimm: Musiker. 

Alwin Metz: Jungbluts Assistent in der Detektiv-Agentur. 

Harry Jäger: ein freier Mitarbeiter von Remigius Jungblut. 

Konrad Landeck: Kommissar bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Julius Cassetti: Kommissar bei der Frankfurter Kriminalpolizei. 

Eva Schley: Schlagersängerin. 

Skippy Kramer: Pianist und Arrangeur in Johnny Grimms Orchester. 

Friedrich Germani: Spediteur aus Frankfurt. 

Evelyn Germani: seine Frau.

Oliver Meixner: stellvertretender Direktor der Sparkasse in Frankfurt. 

Wolfgang Beck: Laufbursche bei der Spedition Germani. 

 

 

Dieser Roman spielt in München und in Frankfurt/Main im Jahr 1963.

  Erstes Kapitel

 

 

Es war eines der wenigen alten Gebäude in der Landshuter Allee, das noch nicht in Appartementhäuser umgewandelt oder abgerissen worden war, um einer Großtankstelle Platz zu machen. Ich parkte meinen Wagen unter einem Säulenportal, ging die Sandsteinstufen zu einer langgestreckten, angebauten Veranda hinauf und drückte auf den Klingelknopf. An den Jalousien summten die Fliegen, der Verkehrslärm am Rande der abschüssigen Rasenfläche hinter mir schien weit entfernt. Es war drei Uhr nachmittags, mitten im heißen August. Ich nahm meinen Hut ab und trocknete die feuchte Stirn mit einem Taschentuch, das ich aus der Brusttasche meines leichten Freskoanzugs zog.

Eine Frau in weißer Pflegerinnentracht kam an die Tür und musterte mich durch die Glasscheibe. Sie war in den Dreißigern, recht hübsch, wenn auch ein wenig dicklich, und ungeschminkt. Braunes Haar mit grauen Strähnen kräuselte sich feucht unter der weißen, gestärkten Haube.

»Ja?«, fragte sie freundlich, nachdem sie geöffnet hatte.

»Mein Name ist Jungblut«, sagte ich. »Ich bin mit Frau Engelmann verabredet.«

»Ja, richtig.« Sie trat beiseite. »Kommen Sie bitte herein.«

In der Veranda stieg mir ein leichter Stärke- und Lysol-Geruch in die Nase. »Hier, bitte! Frau Engelmann befindet sich im Sonnenzimmer.«

Ich folgte ihr durch einen dunklen Korridor, der im Vergleich zu der Hitze, die draußen herrschte, geradezu kühl wirkte. Der Teppich war ein wenig abgetreten, er hatte ein altmodisches Blumenmuster, und es roch leicht nach Moder, Wachs und Staub. An der einen Wand tickte eine alte Standuhr. Die Schwester öffnete eine Tür, durchquerte einen dunklen Raum, dessen Rollos herabgelassen waren, um die Sonne abzuhalten, und ging in eine Art Alkoven, der von hohen Fenstern umschlossen war; mehrere Tische mit Topfpflanzen standen darin. Die Fenster waren geschlossen, und die Hitze war erdrückend. Es wurde mir fast übel von dem Geruch der Blumen und der feuchten Erde. Erneut wischte ich mir die Stirn ab und fühlte den Schweiß hinter den Ohren herabrinnen.

In einem tiefen, niedrigen Sessel, im direkten Sonnenlicht, saß eine Frau. Sie hatte eine rosa Wolldecke über die Knie hochgezogen und trug ein rüschenbesetztes Kleidungsstück mit langen Ärmeln und hohem Kragen, das man, wie ich glaube, Bettjacke nennt. Wenn ich die Decke und die Jacke nur ansah, wurde mir noch heißer. Die Frau hatte ein schmales, bleiches Gesicht, scharfe, dunkle Augen und weiße Haare, die man auf eine fast komisch anmutende Art in straffe kleine Löckchen gelegt hatte. Der schmale, kleine Mund war mit grellem Lippenrot geschminkt, und die eingefallenen Wangen bildeten einen erschütternden Kontrast zu der trockenen, blassen, gepuderten Haut. Irgendwann einmal in der fernen Vergangenheit mochte sie schön gewesen sein. Vielleicht war sie sechzig, vielleicht achtzig – in den Geruch der Blumenerde mischte sich der Geruch des Alters und Verfalls.

Die dickliche Pflegerin sagte mit halb erstickter Stimme: »Frau Engelmann – das ist Herr Jungblut.«

»Besten Dank, meine Liebe.« Die Stimme der alten Dame klang erstaunlich kräftig und voll. »Vergessen Sie nicht meine Medizin um sechs.«

»Selbstverständlich, gnädige Frau.« Die Schwester verließ schleunigst den Raum; offenbar war sie froh, der erdrückenden Hitze zu entrinnen, und ich konnte es ihr nicht verdenken.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Frau Engelmann zu mir.

Ich setzte mich auf einen Stuhl neben einem Kasten mit Geranien. Mein Hemdkragen war klatschnass, und der Schweiß rann mir am Rücken entlang.

»Mich friert«, sagte Frau Engelmann weinerlich, zupfte an der Decke und zog sie höher hinauf. »Ich kann nicht warm werden. Das ist der einzige Raum im ganzen Haus, in dem ich mich einigermaßen wohl fühle – wenigstens, wenn die Sonne scheint.«

»Ich verstehe, gnädige Frau«, entgegnete ich und wischte mir das Gesicht ab.

Sie fuhr in forschem Ton fort: »Ich werde Sie nicht länger aufhalten, als unbedingt nötig ist. Ich weiß, es geht Ihnen wie Fräulein Andorn – Sie fühlen sich hier sehr unbehaglich. Aber ich kann nichts dafür – es hat mit meinem Stoffwechsel und meiner Blutzirkulation zu tun. Offenbar muss ich immer frieren, vielleicht deshalb, weil ich bald eine Leiche sein werde.«

Ich war ein wenig verblüfft, zwang mich jedoch zu einem Lächeln. »Das dürfen Sie nicht sagen.«

»Aber es ist wahr, und es macht mir nichts aus. Mein Arzt hat mir ganz offen erklärt, dass ich vielleicht noch sechs Monate, im besten Fall ein Jahr zu leben habe. Mein armes altes Herz ist verbraucht. Ich bin bereit zu sterben, aber vorher möchte ich noch etwas erledigen. Und aus diesem Grund... habe ich Sie hierhergebeten.«

Ich betrachtete sie höflich und forschend. Der Schweiß sammelte sich auf meinen Brauen und tropfte mir auf die Wimpern. Das Salz brannte, ich zwinkerte mit den Augen und trocknete sie mit dem bereits völlig durchnässten Taschentuch. Das Hemd unter der Jacke fühlte sich klebrig an. Ich hatte keine Ahnung, warum Frau Engelmann mich zu sprechen wünschte. Meine Sekretärin, Susie Laurentius, hatte den Anruf entgegengenommen. Die Erkundigungen besagten, dass Frau Lavinia Engelmann die Witwe von Christoph Engelmann sei, der Mitte der fünfziger Jahre auf der Donau unter dem Namen Kapitän Chris als Eigentümer der größten Flotte von Erzkähnen, die zwischen Ulm und Wien verkehrte, bekannt gewesen war. Das Haus der Engelmann an der Landshuter Allee in München repräsentierte auch heute noch ein Vermögen, das zu einer Zeit entstanden war, da keine hohen Steuern die Profite beschnitten. Frau Engelmann hatte mich für drei Uhr bestellt. Ich sah auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass das Lederband unter der feuchten Manschette nass war. Fünf nach drei. Abermals wischte ich mir das Gesicht ab und versuchte, einen munteren Eindruck zu machen, aber ich musste immerzu an ein kaltes Bier in einem schattigen Biergarten denken. Die Hitze in Frau Engelmanns Zimmer hatte mein Geschäftsinteresse und sogar meine Neugier betäubt.

Frau Engelmann sagte mit einem Lächeln, das mir geradezu schelmisch vorkam: »Herr Jungblut, ich will Ihnen offen gestehen, dass ich Ihre Agentur durch meinen Anwalt überprüfen ließ. Er hat mir berichtet, Sie seien durchaus zuverlässig.«

»Besten Dank!«, erwiderte ich abwartend.

Mit einem Seufzer schloss sie die Augen. Ihre verschränkten Finger sahen aus wie aus Wachs. Die Sonne glitzerte auf einem riesigen, gelblichen Brillanten und einem dicken, goldenen Ehering. »Ich werde mich kurz fassen«, sagte sie schließlich mit müder Stimme. »Bitte, unterbrechen Sie mich nicht. Wenn ich fertig bin, können Sie sich entschließen, ob Sie bereit sind, den Auftrag zu übernehmen. Ist das klar?« Sie öffnete die Augen und sah mich scharf an.

»Vollkommen, gnädige Frau.«

Wieder machte sie die Augen zu und begann zu sprechen, tonlos und einförmig: »Ich möchte Sie bitten, meine Tochter ausfindig zu machen und sie zu veranlassen, nach Hause zu kommen und in meinen letzten Tagen bei mir zu sein. Das ist nicht zu viel verlangt. Sie ist mein einziges Kind. Ihr Vater und ich, wir haben ihr alles geboten, wir haben sie mit größter Güte behandelt, aber sie...«

Die müde, alte Stimme redete endlos weiter. Ich hörte aufmerksam zu und bemühte mich, die erdrückende Hitze einfach nicht zu beachten. Ich erfuhr, dass die Tochter – sie trug die etwas französisch und nordisch klingenden Vornamen Françoise Christina (ich werde mich im Folgenden auf das schnörkellosere Christina beschränken) – im jugendlichen Alter von sechzehn Jahren mit einem umherziehenden Trompeter aus einer zweitklassigen Kapelle, welche die Tanzlokale in den kleineren und größeren Städten abzuklappern pflegte, davongelaufen sei. Als die Polizei sie fand, war der Trompeter bereits weitergezogen, und Christina arbeitete in einem Gartencafé am Stadtrand von Nürnberg. Die Polizei schaffte sie nach Hause, aber der Trompeter schlüpfte ihnen durch die Finger.

Obwohl Frau Engelmann es nicht ausdrücklich erwähnte, hatte ich den Eindruck, dass nach Christinas Rückkehr die Dinge nicht reibungslos verliefen und dass zwischen Mutter und Tochter ein recht gespanntes Verhältnis herrschte. Ihrem Ton konnte ich entnehmen, dass sie es nicht übers Herz brachte, einen Schlussstrich unter das Geschehene zu ziehen, sondern Christina immer wieder daran erinnerte, dass sie ein sehr, sehr unartiges Kind gewesen sei. Ein Jahr später, als Christina nahezu achtzehn war, brannte sie wiederum durch. Diesmal verzichtete die Mutter darauf, sie zurückzuholen. Es vergingen sechs Monate, dann bekam Frau Engelmann Nachricht von ihrer Tochter: Christina wollte nach Hause kommen. Inzwischen aber hatte sich die Mutter auf eine bittere Geschieht-ihr-recht-Haltung versteift. Sie beantwortete weder Christinas ersten Brief noch die beiden weiteren, die auf ihn folgten. Dann erlitt Frau Engelmann einen Herzanfall, und als sie das Sauerstoffzelt verlassen durfte, merkte sie, dass sie trotz allem das Bedürfnis hatte, ihr Kind noch einmal zu sehen, bevor sie sterben würde, obwohl Christina so eigensinnig auf dem Pfad der Sünde gewandelt war. Sie änderte ihr Testament und vermachte ihre gesamte Habe Christina, vorausgesetzt, dass Christina nach Hause kommen und an ihrem Bett sitzen würde, um ihr in ihren letzten Stunden Trost zu spenden. Inzwischen aber hatte es sich auch Christina anders überlegt: Sie wollte nicht nach Hause kommen, nie wieder, unter keinen Umständen, und die Anwälte, die Frau Engelmann zu ihr schickte, konnten sie von ihrem Entschluss in keiner Weise abbringen.

Es lief darauf hinaus, dass Frau Engelmann mich beauftragen wollte, Christina umzustimmen und zu ihr zu bringen. Sie hatte keine nahen Verwandten, niemanden, an den sie sich hätte wenden können, außer an ihre Anwälte, und die hatten versagt. Ich war demnach ihre letzte Hoffnung.

Ich zögerte jedoch. »Frau Engelmann, wenn Ihre Anwälte Ihre Tochter nicht bewegen konnten, nach Hause zu kommen, warum erwarten Sie ausgerechnet von mir, dass es mir glücken sollte?«

»Es ist meine letzte Chance«, sagte sie müde. »Man hat Sie mir ausdrücklich empfohlen. Ich bin bereit, Sie gut zu bezahlen, über das übliche Honorar hinaus. Werden Ihnen persönlich fünfhundert Mark genügen – für den Fall, dass Sie mir meine Tochter bringen?«

»Ich bekomme mein Gehalt von der Agentur, Frau Engelmann, ich kann nicht...«

»Dummes Zeug. Nimm, was man dir gibt – das pflegte mein Mann immer zu sagen.« Ihre dunklen, scharfen Augen schienen mich zu durchbohren. »Wollen Sie es versuchen, mein Kindchen nach Haus zu holen?«

Ich seufzte, wischte mir den Schweiß von der Stirn und fragte vorsichtshalber: »Wo befindet sich Ihre Tochter?«

»Der letzte Brief kam aus Frankfurt. Meine Anwälte haben sie dort aufgesucht. Ich werde Ihnen die Adresse geben.«

»Vielleicht ist sie weggezogen? Wie lange ist es her, seit Ihre Anwälte mit ihr gesprochen haben?«

»Das war im Juni.«

»Und seither haben Sie nichts mehr gehört?«

»Nein.«

»Geht sie einer geregelten Arbeit nach?«

»Vermutlich – offenbar. Ich beauftragte meine Anwälte, ihr etwas Geld zu geben, aber sie wollte es nicht nehmen. Dann schickte ich ihr einen Scheck, doch sie schickte ihn zurück.« Frau Engelmann seufzte, ihre schmalen Lippen zitterten. »Christina ist wie ihr Vater – eigenwillig, halsstarrig und...« Sie schloss die Augen, eine Träne rollte ihr über die Wange, so dass die Puderschicht verfloss. »Bitte, holen Sie sie nach Hause, Herr Jungblut! Bringen Sie mir mein Kind zurück.«

Ich fasste einen Entschluss. Auftrag ist Auftrag. »Ich werde es versuchen. Wie lautete die letzte Adresse?«

Sie griff mit der knochigen Hand unter die rosa Decke, brachte eine kleine, dicke, ledergebundene Bibel zum Vorschein, holte zwischen den dünnen, rotgeränderten Seiten ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor und reichte es mir. Ich entfaltete das Papier, las die mit zittriger Schrift in blauer Tinte hingekritzelten Worte:

 

Françoise Christina Engelmann, Kelsterbachstraße 17, Frankfurt/Main.

 

Ich vermutete, den zweiten Vornamen müsse sie von ihrem Vater Christoph erhalten haben, der sich sicher einen Sohn gewünscht hatte, einen Nachfolger auf dem Thron seines Erzschifffahrt-Imperiums. Nicht ohne eine leise Melancholie überlegte ich mir, dass außer dem zusammengerafften Vermögen nichts mehr von der Herrlichkeit geblieben war außer eine sterbende Witwe und eine Tochter, die sich mit einem umherziehenden Trompeter aus dem Staub gemacht hatte.

»Danke!«, sagte sie und steckte das Papier wieder ein. Nach einem kurzen Zögern meinte ich: »Vielleicht ist es belanglos, aber es wäre nicht schlecht, wenn Sie mir den Namen des Mannes sagen könnten, mit dem sie vor zwei Jahren durchgebrannt ist.«

Sie erwiderte schroff: »Was soll das nützen? Er war ein Musiker – ein schäbiger Musiker. Christina hatte sich in ihn verliebt. Ich hatte Anzeige gegen ihn erstattet, aber als Christina wieder zu Haus war, zog ich sie zurück. Es hätte keinen Zweck gehabt, und meine Tochter sollte ihn vergessen.«

»Vielleicht ist er zu ihr zurückgekehrt«, sagte ich behutsam. »Vielleicht will sie deshalb nicht nach Hause kommen, weil sie weiß, was Sie von ihm halten. Vielleicht ist sie glücklich.«

»Herr Jungblut«, erklärte sie kalt, »Ihre Meinung interessiert mich nicht. Ich verlange von Ihnen nur, meine Tochter nach Haus zu holen.«

Aber ich ließ nicht locker. »Ich möchte den Namen des Mannes wissen.«

Ein hässlicher Ausdruck trat in ihre Augen, die Muskeln um den schmalen Mund strafften sich. »Johnny Grimm«, sagte sie. »Beruf: Verführer.« Das letzte Wort wurde fast hervorgezischt.

Ich erschrak. In den Kreisen der Unterhaltungsmusik war der Name Johnny Grimm berühmt. Noch vor einem Jahr waren Johnny Grimm, seine Kapelle und seine Trompete unbekannt gewesen, jetzt aber gab es keine Musikbox im ganzen Land, die nicht zumindest einige Grimm-Potpourris offerierte.. Seine Platten wurden zu Millionen verkauft, er war häufig im Rundfunk und im Fernsehen aufgetreten. Er hatte sogar seine schmachtenden Fan-Clubs. Sein Stil war eine wehmütige Kombination von Guy Lombardo und Ernst Armstrong und seine Tanzkapelle bei der Jugend der letzte Schrei. Egal, wie es um Johnny Grimms Moral bestellt sein mochte, er hatte beinahe den Gipfel erreicht – in einem Beruf, in dem der Aufstieg eine beschwerliche, grausame und mitunter herzzerreißende Sache ist. Es gab nur sehr wenige wirklich berühmte Kapellen, und Johnny Grimm war auf dem besten Weg, sich ihnen anzuschließen.

»Er ist heute eine Berühmtheit«, sagte ich.

»Dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete Frau Engelmann mit brüchiger Stimme. »Bringen Sie mir meine Tochter zurück, Herr Jungblut, und die fünfhundert Mark gehören Ihnen – über das übliche Honorar hinaus. Wenn Sie einen Vorschuss wünschen...« Wieder griff sie unter die Decke.

»Das ist nicht nötig. Mein Büro wird Ihnen eine Honorarrechnung und eine detaillierte Spesenrechnung zuschicken. Wollen Sie unseren Grundtarif wissen?«

»Nein, nein«, erwiderte sie ungeduldig. »Wie lange wird es dauern?«

»Nur ein paar Tage – so oder so –, falls ich sie ausfindig machen kann. Ich kann Ihnen nichts versprechen, Frau Engelmann, aber ich werde mein Bestes tun. Auf Wiedersehen.«

Sie schloss die Augen und wiederholte flüsternd: »Bitte, bringen Sie mir meine Tochter zurück.«      

Ich verließ das Zimmer. Die Krankenschwester saß im Korridor und las eine Illustrierte. Als ich näherkam, blickte sie lächelnd auf. Im Vergleich zu dem Sonnenzimmer war es hier kühl. Ich sagte: »Wohnen Sie und Frau Engelmann allein in diesem Haus?«

»Ja.«

Ich stopfte mir das Taschentuch in den feuchten Kragen. » Wie kann sie es bloß da drinnen aushalten?«

Wieder lächelte sie und zeigte ihre hübschen Zähne. »Sie hat eine sehr schlechte Blutzirkulation. Sie benötigt viel Wärme.«

»Ist sie wirklich so krank, wie sie behauptet? Ich meine, hat sie wirklich nicht mehr lange zu leben?«

Sie nickte sachlich. »Sie ist sehr tapfer und spricht ganz offen darüber.« Sie seufzte. »Sie hat nur noch den einen Wunsch – ihre Tochter wiederzusehen.«

»Warum hat sie nicht dafür Sorge getragen, dass ihre Tochter nicht wieder fortläuft?«

»Sie hat es mir erzählt. Sie spricht viel von ihr und macht sich große Vorwürfe. Sie bereut, dass sie Christina nicht liebevoller, verständnisvoller behandelt hat, dass sie nicht nachsichtiger war. Aber sie hat es für ihre Pflicht gehalten, Christina zu bestrafen, sie wollte sie nicht vergessen lassen, dass sie – eine Sünde begangen hatte.«

»Das habe ich mir gedacht«, entgegnete ich. »Und jetzt will Christina von ihrer Mutter nichts mehr wissen.« Ich nahm meine Brieftasche und gab ihr eine Karte. »Ich werde versuchen, Christina Engelmann ausfindig zu machen und nach Hause zu bringen. Wenn Sie sich mit mir in Verbindung setzen wollen, rufen Sie mein Büro an.«

Sie betrachtete die Karte und blickte lächelnd zu mir auf. »Wie interessant! Ein Detektiv. Ich habe noch nie einen Detektiv kennengelernt. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Herr Jungblut.«

»Nach dem, was ich über Christina gehört habe, werde ich Ihre Wünsche dringend brauchen. Auf Wiedersehen, Fräulein...«

»...Andorn«, erwiderte sie lächelnd. »Miriam Andorn.«

»Auf Wiedersehen, Fräulein Andorn.« Ich setzte meinen Hut auf und ging hinaus in die grelle August-Sonne.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und trank in einer benachbarten Kneipe eine kalte Flasche Bier. Es schmeckte sehr gut, aber eine Flasche musste genügen. Dann fuhr ich zurück nach Schwabing. Der Verkehr in der Münchner Innenstadt war wie üblich dicht und unnachgiebig, und es war beinahe fünf Uhr geworden, als ich ins Büro in der Walter-Gropius-Straße kam.

Susie Laurentius wollte gerade zuschließen und hatte die abzusendende Post in einem sauberen Stoß auf ihrem Schreibtisch geordnet. Susie ist eine große junge Dame mit einigen Sommersprossen auf dem kurzen Näschen. Sie hat freundliche braune Augen und einen weichen Mund, der erst natürlich wirkt, wenn sie zu lächeln beginnt. An diesem Tag trug sie ein einfaches schwarzes Leinenkleid mit kurzen Ärmeln, das ihr sehr gut stand. Seit ich die Filiale in München übernommen hatte, war Susie Laurentius bei mir angestellt.

»Hallo, Remi!«, begrüßte sie mich. »Ich habe Sie nicht erwartet und die Briefe für Sie unterschrieben.«

»Fein.« Ich warf meinen Hut auf den Schreibtisch. »Alles in Butter?«

»So ziemlich«, entgegnete sie. »Alwin hat aus Augsburg angerufen. Er glaubt dem verschwundenen Mann mit der hohen Lebensversicherung auf der Spur zu sein und bearbeitet das vorliegende Material. Harry Jäger ist eben erst weggegangen. Er hat Herrn Leinewebers schwachsinnigen Sohn in einer Bar in Neuhausen aufgestöbert. Stinkbesoffen, sagt Harry. Er hat ihn bei seinem liebenden Vater abgeliefert – man sollte den armen Kerl eben nicht frei herumlaufen lassen, egal, wie stolz Herr Leineweber ist und wie reich. Er sagt, es hätte einigen Tumult gegeben, aber er hat es schließlich geschafft.« Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Diese Menschen...!«

Alwin Metz war mein einziger vollbeschäftigter Assistent, Harry Jäger ein gelegentlicher Mitarbeiter, der sich ausgezeichnet zum Beobachten verdächtiger Personen und als Leibwache eignete. Er hatte ein eigenes Einkommen und arbeitete eigentlich nur zum Spaß für mich, aber er war zuverlässig, und ich zog ihn häufig heran, wenn Alwin und ich zu viel zu tun hatten.

»Menschen und Sorgen«, erwiderte ich lächelnd. »Wovon würden wir leben, wenn es nicht eben diese Menschen mit ihren Sorgen gäbe?«

Sie lächelte zurück. »Von ehrlicher Arbeit vermutlich... Rufen Sie Kommissar Landeck an. Er scheint wieder einmal zu toben.«

»Schön. Wollen Sie heute Abend mit mir essen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Kann nicht. Muss um sieben den Schwimmkursus einiger Mädchen beaufsichtigen. Ich. fürchte, der Martini-Dunst würde nicht allzu gut dazu passen.«

»Wir könnten uns die Martinis schenken«, schlug ich vor, fügte aber hinzu: »Zumindest Ihren Martini.«

»Ich sollte dabeisitzen und zusehen, wie Sie allein süffeln? Nein, danke, Herr Kollege.«

»Ich verreise morgen.«

»Schon wieder!«, jammerte sie. »Wohin?«

»Nach Frankfurt.«

»Für wie lange?«

»Für ein paar Tage.« Ich erzählte ihr kurz von Frau Engelmann und ihrer launischen Tochter. »Entweder finde ich sie und bringe sie dazu, zu ihrer Mutter heimzukehren, oder es gelingt mir nicht. Ich kann sie schließlich nicht fesseln und entführen. Auf jeden Fall bekommen wir unser Honorar und den Spesensatz, aber für den Fall, dass ich Erfolg habe, hat Frau Engelmann mir eine Prämie von fünfhundert Eiern in Aussicht gestellt.«

Sie drohte mir mit dem Finger und sagte streng: »Remigius Jungblut, Sie kennen die Regel: Alle Sondervergünstigungen sind an die Agentur abzuliefern.«

»Ja, meine Liebe, das weiß ich. Gehen Sie jetzt in Ihren Schwimmkursus.«

Sie sagte fast schüchtern: »Wenn Sie wollen, können wir uns nachher treffen. Der Kurs wird um acht zu Ende sein.«

»Können wir dann essen gehen? Falls Sie sich bis dahin gedulden können...«

»Ein schönes Essen mit Martinis? Selbstverständlich!«

»Fein.« Ich streichelte ihre Wange. »Stärken Sie sich mit einem Glas Milch. Ich warte um acht vor dem Schwimmbad.«

»Jawohl, Chef«, entgegnete sie gespielt unterwürfig und nahm die Post vom Tisch. Dann verließ sie das Büro mit einem spöttischen, heiteren, halb mutwilligen, halb scheuen Blick über die hübsch gerundete Schulter.

Ich zog das Jackett aus, hängte es über Susies Stuhl und rief Kommissar Konrad Landeck bei der Kriminalpolizei an. Der Beamte am Telefon stellte sofort die Verbindung her. »Hallo, Konrad! Hier spricht Remi. Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Sehr viel!«, sagte er barsch. »Was erlauben Sie sich eigentlich – der Polizei ins Handwerk zu pfuschen! Heute Nachmittag wurden wir in eine Bar in Neuhausen gerufen. Als meine Leute hinkamen, fanden sie dort einen total besoffenen jungen Herrn vor, der sich damit vergnügte, das Mobiliar zu zerlegen. Leineweber heißt er.

Meine Leute versuchten, ihn in die Enge zu treiben, ohne zum Gummiknüppel zu greifen, da kam Ihr Mann hinzu – Harry Jäger – und mischte sich ein. Der junge Herr ließ sich friedlich von Harry wegschleppen, und Harry versprach dem Kneipenwirt, der Herr Papa würde den angerichteten Schaden vergüten. Meine Leute sagten keinen Ton, aber ich habe sie ordentlich heruntergeputzt. So etwas kann ich nicht dulden, Remi! Der junge Mann hat eine Geldstrafe verdient, und vielleicht sollte man ihn gelegentlich mal einlochen. Ich pfeife darauf, dass sein Vater Ihr Klient ist. Er soll endlich lernen...«

»Ja«, warf ich ein. »Ich bitte um Entschuldigung, Konrad. Der junge Leineweber ist nicht ganz richtig im Kopf, und sein Vater bringt es nicht übers Herz, ihn einsperren zu lassen. Die Mutter ist tot, das einzige Kind – Sie verstehen. Wir haben ihn jetzt schon seit zwei Jahren auf dem Hals. Er hat großes Vertrauen zu Harry und kann ihn gut leiden, aber Harry kann nicht Tag und Nacht bei ihm sein, und ich habe den Herrn Papa schon beinahe überredet, ihn in einer Anstalt unterzubringen. Ich glaube kaum, dass er Ihnen noch einmal zur Last fallen wird.«

»Na schön.« Landecks Ton war milder geworden. »Wie geht's Ihnen, Remi?«

»Soweit prächtig... Sagen Sie mal, Konrad, erinnern Sie sich an ein Mädchen namens Engelmann, die vor etwa zwei Jahren mit einem Musiker durchgebrannt ist? Ihre Mutter wohnt draußen in der Landshuter Allee. Viel Geld. Der alte Engelmann hat es mit seinen Erzkähnen verdient.«

»Engelmann... Ich kann mich dunkel erinnern. Die Vermisstenstelle hat sich eine Weile mit ihr befasst. Ich glaube, man hat sie schließlich in Nürnberg geschnappt, und die alte Dame hat die Anzeige zurückgezogen. Stimmt das?«

»Ja. Sie haben ein gutes Gedächtnis, lieber Freund! Der Musiker heißt Johnny Grimm. Er hat jetzt eine eigene Kapelle und ist ganz groß rausgekommen.«

»Grimm?«, sagte Landeck. »Du lieber Gott, meine älteste Tochter, sie ist sechzehn, macht mich verrückt mit seinen Platten. Sie wollen doch nicht behaupten, dass Frau Engelmann den Fall wieder aufnehmen will? Das Mädchen ist doch nach Haus gekommen?«

»Ja, aber sie ist ein zweites Mal durchgebrannt. Ihre Mutter hat mich beauftragt, sie zurückzuholen. Wissen Sie Näheres über Grimm? Liegt sonst noch etwas gegen ihn vor?«

»Nein. Zumindest nicht in München. Nur diese eine Anzeige, und die ist erledigt. Ist anzunehmen, dass die beiden wieder zusammen sind?«

»Möglicherweise. Ich werde es überprüfen. Wie kann ich mit Grimm in Verbindung kommen?«

»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? He – einen Augenblick, Remi! Ich habe einen Beamten hier, der ein großer Musikliebhaber ist. Bleiben Sie am Apparat.«

Ich wartete. Nach etwa drei Minuten kehrte Landeck zurück. Er lachte leise vor sich hin. »Wenn es sich um Musik handelt, ist der Mann ein wandelndes Lexikon – auch, was Opern und sogar Volksmusik betrifft. Hier ist die gewünschte Auskunft: Johnny Grimm befindet sich zurzeit auf einer Tournee, meist nur einen Abend in jeder Stadt. Der Tournee-Auftakt fand in Hamburg statt, und das letzte Konzert spielt er Ende dieser Woche in Passau.«

»Wo steckt er jetzt?«  

»Sie haben Glück, Remi. Heute Abend spielt er in Augsburg, im Tanzlokal Sternenhimmel. Morgen Abend tritt er in Frankfurt auf, in einem Lokal, das Regenbogenterrasse heißt. München steht nicht auf seinem Plan – vielleicht liegt ihm noch die Entführungsklage im Magen.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Und Frankfurt ist die letzte Adresse der jungen Engelmann. Besten Dank, Konrad.«

»Viel Glück, Remi. Und gib auf dich Acht.« Er legte auf.

 

Ich beschäftigte mich mit allerlei Schreibtischarbeiten, die sich im Laufe des Tages angehäuft hatten. Um sechs, als der Spätnachmittagsverkehr schwächer geworden war, fuhr ich durch die Stadt nach Hause. In der Wohnung war es stickig und heiß. Ich öffnete die Fenster, stellte die Jalousien schräg, zog mich bis auf die Unterhose aus und mixte mir einen Whisky mit Wasser und viel Eis. Dann legte ich mich aufs Bett, um die Süddeutsche zu lesen, die morgens in meinen Briefkasten eingeworfen worden war, als ich mich bereits auf dem Weg ins Büro befand. Die Nachrichten enthielten nichts Aufregendes. In zwei großen Autofabriken streikten die Arbeiter, ein amerikanisches Flugzeug war über China abgeschossen worden, binnen vierundzwanzig Stunden sollte die Hitzewelle verebben, ein nicht mehr ganz junger amerikanischer Golfspieler hatte in England ein Turnier gewonnen, infolge der Steuererhöhung würde der Preis für Alkohol steigen, und sämtliche großen Warenhäuser annoncierten Kinderkleider für den kommenden Schulbeginn. Trotz der Hitze wurde mir klar, dass der Herbst vor der Tür stand.

Ich trank einen zweiten Whisky. Um sieben Uhr rasierte ich mich, duschte und zog frische Wäsche an. Um drei Viertel acht war ich wieder in der Stadt und schlenderte vor dem Portal des Schwimmbads umher, in dem Susie ihren Kurs abhielt. Fünf Minuten nach acht kam sie heraus, schüttelte ihre feuchten Haare zurecht und versuchte sie mit den Fingern aufzulockern.

»Hallo!«, sagte sie. »Ich habe noch keine Badehaube gesehen, die das Wasser nicht durchlässt. Wo steht Ihr Wagen?«

»Ein Stück weiter unten.« Ich führte sie zu dem Auto, und als wir losfuhren, holte sie einen Kamm hervor und begann mit Hilfe des Spiegels auf der Rückseite der Sonnenblende ihre Haare in Ordnung zu bringen.

»Sie sind zweifellos halb verhungert«, sagte sie, Haarnadeln zwischen den Lippen. »Von mir zumindest kann ich es behaupten.«

»Großartig.«

Wir aßen auf der Terrasse meines Golfclubs unweit von Starnberg. Vom See her kam eine leichte Brise, es war angenehm kühl. Anschließend saßen wir im Mondschein, tranken jeder einen Cognac, unterhielten uns über die Agentur, über das Leben und die Liebe, über Menschen, Bücher, Filme und Fernsehen. In Susies Gesellschaft fühlte ich mich wohl, und abermals kam mir der Gedanke, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Ich hatte es immer wieder hinausgeschoben, weil mir unser jetziges Verhältnis gefiel, und wenn ich sie fragte und sie nein sagte, würde alles verdorben sein. Es eilt nicht, dachte ich mir; vielleicht schrak ich wie so viele Junggesellen einfach vor jenen Banden zurück, die ewig binden. Und Susie hatte nie zu verstehen gegeben, dass sie mit unserer etwas sonderbaren Chef-Sekretärin-Freundschaft nicht vollauf zufrieden sei. Ich wusste, dass sie auch mit anderen Männern ausging, genauso wie sie wusste, dass ich mit anderen Frauen verkehrte – manchmal im Zusammenhang mit meinem Beruf, manchmal privat. Das machte uns beiden nichts aus – zumindest mir nicht –, und für mich war es ein Trost und eine Beruhigung zu wissen, dass Susie immer da war, stets heiter, begehrenswert, verständnisvoll und kompetent.

Um elf lieferte ich sie in ihrer Wohnung ab. Wir gaben uns vor der Tür einen Kuss, einen halb freundschaftlichen, halb zärtlichen Kuss, und wünschten einander eine gute Nacht.

Auf dem ganzen Weg durch die Stadt zu meiner Wohnung leistete mir die Erinnerung an ihre kühlen, weichen Lippen Gesellschaft.

 

Am nächsten Morgen wurde es elf, bevor im Büro alles soweit erledigt war, dass ich nach Frankfurt fahren konnte. Es kamen eine Menge Anrufe, unter anderen einer von Alwin Metz aus Augsburg. Und Harry Jäger meldete, unser Klient, Herr Leineweber, habe sich endlich entschlossen, seinen Sohn in einer privaten Nervenheilanstalt unterzubringen. Harry hatte die beiden begleitet, um dafür zu sorgen, dass der recht bedauernswerte, kranke junge Mann gut untergebracht wird. Ja, Leineweber junior hatte sich sogar geweigert, ohne Harrys Begleitung mitzukommen. Ich wusste, dass es eine gute und sehr teure Anstalt war. Aber Herr Leineweber konnte sich’s leisten, und obwohl das bedeutete, dass wir einen ständigen und lukrativen Auftrag einbüßten, war ich froh, dass man endlich meinen Rat befolgte – im Interesse unseres Klienten und seines Sohnes. Ich rief Kommissar Landeck an und teilte ihm mit, dass ihm die idiotischen Kapriolen Alfred Leinewebers keinen Kummer mehr bereiten würden, da dieser sich nun hinter samtenen Gittern befinde, umgeben von allen nur erdenklichen Nervenheilmethoden.

Landeck brummte: »Wie erfreulich...« und bemerkte, die Polizei habe genug damit zu tun, gesunde Leute bei der Stange zu halten, statt sich noch zusätzlich mit Geisteskranken zu befassen, die frei herumlaufen durften, nur weil sie reiche Väter haben.

Ich bat Susie, sich von Harry Jäger eine Spesen-Aufstellung geben zu lassen und Herrn Leineweber eine Rechnung über die bis zum heutigen Tage geleisteten Dienste zu schicken. Nachdem ich noch einige weitere Telefongespräche erledigt hatte, war ich endlich soweit, mich auf den Weg machen zu können.

Susie bestellte mir ein Zimmer im Hilton in Frankfurt, und ich sagte ihr, dass ich damit rechnete, in drei bis vier Tagen zurück zu sein. Mein Koffer lag im Auto, und ich fuhr durch die Hitze und den dichten Mittagsverkehr nordwärts zur Autobahn, die nach Frankfurt führt.

Als ich die München etwa eine halbe Stunde hinter mir hatte, hielt ich an einer Raststätte, aß dort zu Mittag, und machte mich dann auf die lange Fahrt. Die Sonne brannte glitzernd auf die Straße, der Wind wehte mir heiß ins Gesicht, und die Reifen summten auf dem klebrigen Asphalt.

Hoffentlich würde ich Christina Engelmann in Frankfurt antreffen und sie dazu bewegen können, sich nach Haus zu begeben. Zuerst aber wollte ich mit Johnny Grimm sprechen. Vielleicht irrte ich mich, aber ich empfand seine Anwesenheit in Frankfurt gerade zu diesem Zeitpunkt als ausgesprochen merkwürdig; es schien mir ein allzu großer Zufall zu sein. Das war nur ein flüchtiger Gedanke. Hoffentlich lag ich falsch – im Interesse von Frau Engelmann. Bevor ich mit Christina sprach, musste ich aber wenigstens versuchen, mir entsprechend Klarheit zu verschaffen.

In Frankfurt war es noch heißer als in München. Ich trotzte dem Verkehr in der Mainzer Landstraße, fuhr bis zur Hochstraße, wo ich nach rechts abbog und vor dem Haupteingang des Hilton hielt. Dort sagte ich dem Portier, ich würde gleich wieder auf den Weg machen, sobald ich mich ins Gästebuch eingetragen hätte; ein Page schleppte meinen Koffer in die große, kühle Halle. Als ich meinen Namen schrieb, teilte mir der höfliche Empfangschef mit, es sei für mich ein nettes Erker-Zimmer reserviert. Ich bedankte mich, gab dem Pagen ein Trinkgeld, bat ihn, meinen Koffer hinaufzuschaffen, und ging wieder auf die Straße hinaus.

Ich gab dem Portier fünf Mark und fragte ihn nach der Adresse eines Tanzlokals namens Regenbogenterrasse. Es liege, sagte er, am Main; er schilderte mir genau den Weg. Ich bedankte mich, denn es kann nie schaden, höflich zu sein, auch wenn man für die Auskunft bezahlt hat.

Ich fuhr in Richtung Frankfurt Westhafen, bog nach links ab und fuhr geradeaus weiter, bis ich zum Sommerhoffpark kam und dort in die Gutleutstraße einbog. Von hier aus war es nicht allzu kompliziert.

Die Regenbogenterrasse lag an der Uferpromenade, in einem kleinen Ausläufer des Sommerhoffparks, von der Straße aus durch eine gepflasterte Zufahrt zu erreichen, und erstreckte sich über ein ziemlich umfangreiches Terrain. Da gab es ein Restaurant, einen Eis- und Erfrischungsstand, mehrere Verkaufsbuden, Picknicktische unter Bäumen und einen riesigen, niedrigen Pavillon, der von einer gedeckten Veranda umgeben war. An der einen weißgetünchten Wand verkündeten rote Lettern:

 

Regenbogenterrasse!

Schwimmbad, Ruderboote, Erfrischungen!

Allabendlich Tanz!

 

Hölzerne Stufen führten zu einer Kasse neben dem Haupteingang, und dort hing ein Plakat:

 

Heute Abend – Johnny Grimm mit seiner Trompete und seinem Orchester!

Der beliebte Schallplattenstar – mit der Schlagersängerin Eva Schley!

Tanz von 19 Uhr bis 1 Uhr. Pro Person 5,50 Mark!

 

Ich ging um den Pavillon herum zur anderen Seite. Auch hier führten einige hölzerne Stufen zu der gedeckten Veranda hinauf. Fliederbüsche standen in einer Reihe, ein breiter Zementpfad lief zwischen den Bäumen zum Fluss hinab. Direkt am Ufer waren ein Bootshaus, ein kleiner Landungssteg und ein schmaler Strand mit einer Badehütte zu sehen. An diesem Steg waren einige Ruderboote und Kanus vertäut, und etwa zehn Meter weiter draußen auf dem Main lag eine kleine Segelyacht vor Anker. Am gegenüberliegenden Ufer ragten über dem grünen Laubwerk die Dächer, Schornsteine und Türme der Stadt in den heißen, blauen Himmel. Der Strand war voller Menschen, die im Sand umhertollten. Die Mädchen sahen hübsch aus in den knappen Badeanzügen.

Im Heck der Segelyacht saß ein dicker Mann mit einem Tropenhelm aus Plastik und einem grellrosa Hemd und angelte mit mürrischer Miene. Hinter ihm räkelte sich eine ebenso dicke Frau in geblümtem Kleid in einem Liegestuhl im Schatten eines Sonnendaches. Draußen auf dem Fluss knatterten zwei Boote mit ihren Außenbordmotoren und zogen scharfe Kurven.

Ich drehte mich um und betrachtete den Tanzpavillon. Auf dem Sand hinter den Fliederbüschen stand unter einigen hohen chinesischen Ulmen ein Reisebus von beachtlicher Größe. Er trug ein Hamburger Nummernschild, und an der Seitenwand war Johnny Grimms Name zu lesen. Ich ging an dem Bus vorbei und blieb neben den Fliederbüschen an der Rückseite des Pavillons stehen. Von drinnen klangen Orchestertöne, abgerissen und in falschem Takt. Plötzlich endete die Musik mit einer schrillen Dissonanz.

Ich ging die Holzstufen hinauf, durch eine breite Tür, überquerte die Veranda und kam zu einem Torbogen, der in den riesigen Tanzsaal führte. Das Parkett war mit Matten bedeckt, an dem einen Ende standen Tische und Stühle aufeinandergestapelt. Genau gegenüber von mir befand sich auf einem erhöhten Podium das Orchester: vierzehn Musiker mit verschiedenen Instrumenten – einer von ihnen am Schlagzeug, einer am Klavier. Die meisten hatten die Jacken und Schlipse abgelegt, einige hatten den Oberkörper entblößt. Ein kleines, schlankes junges Mädchen in engsitzenden weißen Shorts und einer kurzärmeligen Bluse stand vor dem Mikrofon. Ihre schlanken Beine waren von der Sonne gebräunt und das silberblonde Haar mit einem weißen Band streng nach hinten gerafft. Alle, die Männer und das Mädchen, starrten einen fünfzehnten an, der auf dem Tanzparkett vor dem Podium stand. Er kehrte mir den Rücken, stand mit gespreizten Beinen da, die Arme in die Seiten gestemmt. Ein dunkler Mann mit dichtem, schwarzem Haar. Er hatte eine hellgraue Strandhose an, weiße Leinenschuhe und ein dunkelblaues Sporthemd.

»Erbärmlich«, hörte ich ihn sagen – seine Stimme hallte von der hohen, gewölbten Decke wider. »Scheußlich. Meint ihr, wir sind hier unter Bauern, unter hessischen Hinterwäldlern? Na und? Hier werden auch Platten gekauft. Verstanden? Wir müssen ihnen den richtigen Grimm-Stil servieren. Das erwarten sie für ihr gutes Geld. Mit Recht. Ja, ich weiß, es ist heiß. Ja, ich weiß, wir proben seit zwölf. Na und? Ihr seid alle bei mir angestellt. Wenn es jemandem nicht passt, kann er gehen.«

Die vierzehn Mann und das Mädchen starrten ihn stumm an. Dann sagte das Mädchen: »Ach, Johnny, es ist doch nur, weil die Jungs den alten Kohl satt haben. Sie spielen ihn im Schlaf, und ich kann beim Singen auf den Händen gehen und Kaugummi kauen. Nur keine Angst – heute Abend wird es schon den richtigen Schmiss haben.«

»Ich will ihn jetzt hören«, sagte der Mann auf dem Parkett. Er hob die rechte Hand. »Von Anfang an – als ob wir es neu einstudieren müssten!« Seine Hand begann den Takt zu schlagen.

Plötzlich erfüllten die sanften, rhythmischen Klänge von Die Nacht ist mein den Raum. Der Takt war perfekt, jeder einzelne Ton kam klar und deutlich heraus. Die kleine, schmächtige Blondine begann sich leicht im Rhythmus zu wiegen und näherte sich dem Mikrofon. Dann stand sie da, ein wenig vorgeneigt, das Gesicht nach oben gerichtet, die Hände auf dem Rücken verschränkt, einen ekstatischen Ausdruck im Blick. Ihre Stimme war erstaunlich heiser, aber auch weich, hatte etwas Werbendes, Flehendes, während sie von den Tränen sang, von dem Mann, der endlich wieder bei ihr ist.

Als der Gesang zu Ende war, ließ der Mann auf dem Parkett die Arme sinken. In der jähen Stille sagte das junge Mädchen vorwurfsvoll: »Du hast nicht mitgespielt, Johnny.« Mit leichten Füßen sprang sie vom Podium herunter und nahm seinen Arm. Er war nicht viel größer als sie. Er drehte den Kopf zur Seite, und jetzt sah ich sein Gesicht, ein hageres, dunkles Gesicht mit einer geraden Nase und einem Grübchen im Kinn.

»Die Nacht ist mein braucht keine Trompete«, hörte ich ihn sagen.

Der Klavierspieler rief: »Können wir jetzt Schluss machen, Johnny?«

»Sicher. Alle Mann an Deck, Punkt Viertel vor neun.«

Die Musiker verließen das Podium und überquerten das Tanzparkett. Als sie an mir vorbeikamen,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1723-1

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