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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

KANDLBINDER

UND DER TAG DER ASCHE

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

KANDLBINDER UND DER TAG DER ASCHE 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Das Buch

 

München 1965.

Ludwig 'Jack' Kandlbinder ist Privatdetektiv, und München ist seine Stadt...

Jacks bildhübsche Nachbarin Geli Meloth bittet ihn unter reichlich exzentrischen Umständen darum, ihren verschwundenen Freund zu suchen. Aus purer Gefälligkeit nimmt Jack den Auftrag an – und stolpert kurz darauf über zwei Tote. Als die Polizei diese beiden Morde vertuschen will und Hauptkommissar Winterhammer Jack ersucht, die Ermittlungen umgehend einzustellen, nimmt dieser Fall eine ebenso tragische wie gefährliche Wendung...

 

Kandlbinder und  der Tag der Asche von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der vierte Band der Roman-Serie um den Münchner Privatdetektiv Jack Kandlbinder. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2022 folgen zwei weitere Krimi-Serien: Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck und München-Krimis mit Jack Kandlbinder, der in der bayrisches Landeshauptstadt die merkwürdigsten Verbrechen aufzuklären hat.

KANDLBINDER UND DER TAG DER ASCHE

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Ludwig 'Jack' Kandlbinder: Privatdetektiv aus München, 42 Jahre alt.

Nora Brecht-Dubois: Schriftstellerin und Kandlbinders Ex-Geliebte.

Korbinian Russenschluck: Jacks Partner in der Detektei Kandlbinder und Russenschluck.

Geli Meloth: Jacks hübsche Nachbarin. 

Harald Ruland: ein Chauffeur. 

Charlotte Hochstein: geschiedene Frau von Martin Feuerbach. 

Luise Hochstein: ihre Schwester. 

Martin Feuerbach: ein Wissenschaftler und Geschäftsmann. 

Sandra Büchner: Kandlbinders Sekretärin. 

Erik Winterhammer: Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Samson Friedmann: ein brutaler Schläger. 

Phil Klipstein: ein Gangsterboss. 

Toni Duschek: Abenteurer, Pilot und ein alter Freund von Jack. 

Knut Höllerich: ein Barkeeper. 

 

 

Dieser Roman spielt in München und in Garmisch-Partenkirchen im Jahr 1965.

  Erstes Kapitel

 

 

Das unbehagliche Gefühl kroch mir wie eine kleine Spinne über den Rücken.

Ich war bereits zwei Straßen weit gefahren, als ich den Verdacht hatte, nicht allein im Wagen zu sein – dass jemand hinter mir hockte. Dieses Gefühl war nicht angenehm. Ich trug keine Waffe, aber ich dachte an den Knopf rechts der Lenksäule, den ich nur zu berühren brauchte, damit sich eine Klappe öffnete, hinter der ein Revolver lag. Ich wollte jedoch nicht danach greifen. Hätte mein unsichtbarer Mitfahrer mich überfallen wollen, so hätte er dazu Gelegenheit gehabt, bevor der Giulia Sprint die Tiefgarage in der Türkenstraße verließ.

Dennoch war mir unbehaglich zumute.

Ich fuhr auf der Ludwigstraße in Richtung Innenstadt. Bevor die Gegenwart eines blinden Passagiers meinen Puls beschleunigte, hatte ich mich auf einen gemütlichen Abend eingerichtet: die Spätvorstellung im Kino, ein paar Drinks und eine nicht allzu kritische Selbsterforschung. Ich hätte ein Mädchen anrufen können, aber wir hatten uns schon zu sehr aneinander gewöhnt, und ich ahnte, dass ich es nicht mehr oft anrufen würde.

Als ich in den Rückspiegel sah, glaubte ich, einen Schatten hinter mir zu erkennen.

Ich fuhr langsamer und sagte: »Am besten kommen Sie jetzt heraus. Ich versichere Ihnen: Sie haben mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, falls es das ist, was Sie beabsichtigen.«

Eine Gestalt tauchte hinter der Lehne auf und nahm auf dem Rücksitz Platz. Eine Frau – das war immerhin zu sehen, obwohl ihr Gesicht im Halbdunkel nur ein blasses Oval war.

»Ich... ich wollte mit Ihnen sprechen«, erklärte sie mir unsicher. Ihre brüchige und etwas heisere Stimme verriet Nervosität.

Ich atmete langsam aus. »Das lässt sich anders leichter erreichen. Überraschungen dieser Art machen das Leben interessanter, aber ich kann gut darauf verzichten.«

»Entschuldigen Sie bitte.«

Ich bog nach rechts in die Brienner Straße ab und hielt im Lichtkreis einer Straßenlaterne, um mir meine Mitfahrerin anzusehen. Ich stellte den Motor ab und drehte mich nach ihr um. Obwohl das gelbliche Licht ihr vermutlich schmeichelte, war sie keine Schönheit – sie wirkte ganz attraktiv, aber ihre scharfen Gesichtszüge würden im Lauf der Zeit noch schärfer werden, bis sie wie ein bösartiger Raubvogel aussah. Mir fiel jedoch auf, dass sie ausgesprochen schöne Augen hatte. Sie war Ende Zwanzig, dunkelblond und eher zurückhaltend gekleidet. Ihr Mund störte mich am meisten. Er gab ihrem Gesicht einen hungrigen und zugleich misstrauischen Ausdruck.

»Schön, jetzt können wir uns unterhalten«, stellte ich fest. »Wer sind Sie?«

»Geli Meloth.«

»Kenne ich Sie von irgendwoher? Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?«

Sie nickte zustimmend. »Wir wohnen im gleichen Haus. Ich habe das Apartment 2 B. Wir sind uns manchmal unten im Foyer begegnet.«

Sie öffnete ihre Handtasche und holte eine Packung Zigaretten heraus. Als ich mich zu ihr hinüberbeugte, um ihr Feuer zu geben, fiel mir auf, dass sie ein nicht gerade dezentes Parfüm benutzte. Vielleicht hatte mein Unterbewusstsein vorhin auf diesen Duft reagiert, der Geli Meloths Anwesenheit verraten haben musste.

»Wollen Sie mir nicht erklären, was das alles soll?«, forderte ich sie auf.

»Ich weiß, dass Sie Privatdetektiv sind, und ich möchte Sie um Hilfe bitten...«

»Deshalb haben Sie sich in meinem Wagen versteckt. Um mit mir zu sprechen?«, fragte ich. »Hmm, das klingt logisch.«

»Die Sache ist etwas... komplizierter«, wandte Geli Meloth ein.

»Das habe ich bereits vermutet. Legen Sie los – ich höre.«

Sie zog gierig an ihrer Zigarette, als sei der Rauch gut für ihre Lunge, anstatt ihr zu schaden. »Sie halten mich vielleicht für übergeschnappt, aber ich habe mich in Ihrem Wagen versteckt, weil ich Angst habe. Wissen Sie, mein Freund ist nämlich... nun, er scheint einfach verschwunden zu sein.«

»Ich kann nachvollziehen, dass Ihnen das Sorgen machen könnte. Aber warum sollten ausgerechnet Sie deshalb Angst haben?«

»Harald – Harald Ruland – hat mich vor drei Tagen abends angerufen und mir erzählt, er sei einer ganz großen Sache auf der Spur. Profunder... hat er sich nicht geäußert. Wir sollten uns am Samstagabend in der Bar Bei Freddie treffen...«

»Warum gerade dort?«

»In dieser Bar waren wir noch nie. Er wollte nicht, dass wir uns bei mir oder bei ihm trafen. Er hat gesagt, er sei in Gefahr – und ich könne ebenfalls gefährdet sein.«

»Wissen Sie, welche Art von Gefahr er damit gemeint hat?«, warf ich ein.

»Das ließ er offen. Aber ich hatte den Eindruck, er sei wirklich davon überzeugt.«

»Was ist dann passiert?«, fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte.

»Er hat sich nicht blicken lassen. Ich habe bei ihm angerufen und in seinem Apartment nachgesehen. Er war seit Tagen nicht mehr dort. Niemand weiß etwas von ihm. Er ist einfach verschwunden!«

»Und ich soll ihn jetzt für Sie finden?«

»Daran muss ich wohl ursprünglich gedacht haben«, erwiderte sie ironisch.

»Hören Sie, an Ihrer Stelle würde ich Vermisstenanzeige erstatten und...«

»Nein, genau das möchte ich nicht«, unterbrach sie mich. »Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben.«

»Könnte diese große Sache, der Harald auf der Spur war, nicht zufällig etwas anrüchig gewesen sein? Wollen Sie sich deshalb von der Polizei fernhalten?«

»Nein!«

»Warum sehen Sie mich nicht an, wenn Sie das behaupten?«

»Nein!«, wiederholte sie und zog gierig an der Zigarette.

Ich seufzte resigniert. Im Lauf der Jahre hatte ich es längst aufgegeben, die Puppen zählen zu wollen, die wunderbare Märchen erfinden konnten, an denen kein Wort wahr war.

»Okay«, meinte ich achselzuckend. »Auftrag ist Auftrag. Dass eine Sache vielleicht schwierig ist, bedeutet noch lange nicht, dass ich sie nicht bearbeiten will. In meinem Beruf darf man nicht wählerisch sein, sonst kann man den Laden bald zumachen. Aber ich möchte sämtliche Karten sehen, mit denen ich spielen soll.«

Geli Meloth äußerte sich nicht dazu. Entweder gab es nichts zu sagen – oder sie hatte zu viel zu verbergen. Aber ihre Oberlippe zuckte, als beherrsche sie sich nur mühsam.

»Haben Sie überhaupt Geld?«, wollte ich als nächstes wissen.

Sie nickte wortlos und schob ihre Handtasche auf den Knien nach vorn.

»Ausgezeichnet. Ich bin Geschäftsmann, aber die Geschäfte gehen im Augenblick nicht sonderlich gut. Wenn also die Kohlen stimmen, suche ich nach Harald Ruland. Können Sie sich vorstellen, aus welchem Grund er sich derart fürchtete?«

»Nein, eigentlich nicht. Er... er ist immer gut zu mir gewesen. So ein Typ wie er... ist in München selten. Deshalb habe ich ihm vertraut.«

»Dass er seit ein paar Tagen verschwunden ist, empfinde ich keineswegs als bemerkenswert. Warum machen Sie sich gleich Sorgen um ihn?«

»Er hat mich noch nie versetzt, wenn wir verabredet waren. Und er hätte notfalls angerufen. Er hat nicht in seinem Apartment geschlafen und ist dort auch nicht gesehen worden. Damit... sind die einfachen Erklärungen erschöpft, Herr Kandlbinder.«

»Ist das so?«

»Was soll das heißen?«

Ich hatte einen Augenblick lang beinahe Mitleid mit Geli Meloth. Aber dann gewann mein berufsbedingt zynischer Verstand wieder die Oberhand, der die Kehrseite jeder menschlichen Situation betrachtete, überall niedrige Beweggründe witterte und viel von guten Honoraren, aber umso weniger von ideellen Werten hielt. Ich hatte keinen Grund, mit der Arbeitsweise dieses Verstands unzufrieden zu sein, dessen kühle Überlegenheit mir schon mehrmals das Leben gerettet hatte. Aber die Möglichkeiten, die er mir jetzt zeigte – meistens in Verbindung mit Alkohol, Sex und Gefühlsreaktionen –, konnten bei der Betroffenen unangenehme Empfindungen hervorrufen.

»Wir wollen uns doch nichts vormachen«, antwortete ich. »Harald hat von einer großen Sache gesprochen. Ich weiß nicht, was Sie davon halten, aber für mich riecht das förmlich nach Geld. Er wollte sich also mit Ihnen treffen – aber vielleicht hat er es sich anders überlegt. Ein Mann mit Geld kann ziemlich wählerisch sein, wenn es um Damenbekanntschaften geht. Ich möchte Ihre Gefühle keineswegs verletzen, Geli, aber Sie sind schließlich nicht Miss Germany.«

»Sie sehen die Dinge so negativ...«

»Eine negative Welt hat mir diese Perspektive vermittelt.«

»...und Sie irren sich. Harald ist anders.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Erzählen Sie mir von Harald. Wo arbeitet er?«

»Er ist Chauffeur bei Luise Hochstein.«

»Den Namen kenne ich. Sie ist mehrmals geschieden, nicht wahr? Das hat zumindest in den Zeitungen gestanden.«

»Dreimal«, erklärte Geli Meloth. »Sie ist reich, jung und hübsch – wie in einem Schlager. Im Augenblick sucht sie wieder einen Mann.«

»Was hatte Harald vor?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wissen Sie es wirklich nicht? Oder wollen Sie es mir nur nicht sagen?«

»Macht das einen Unterschied?«

»Vielleicht, wenn es etwas mit seinem Verschwinden zu tun hat. Wie sehr hat Harald sich für Geld interessiert?«

»Ziemlich. Das können Sie sich selbst vorstellen, Herr Kandlbinder. Chauffeure sehen, wie die Reichen leben, und finden selbst Gefallen daran. Das ist völlig natürlich. Aber Chauffeure selbst... werden niemals reich. Harald hat viel Geld beim Wetten verloren. Er hat immer davon geträumt, eines Tages einen Riesengewinn einstreichen zu können. Ich habe versucht, ihn davon abzuhalten, aber...«

»Warum?«, unterbrach ich sie.

Sie lächelte verbittert. »Sie müssen doch schon einmal in einer Wettannahmestelle gewesen sein. Was haben Sie dort gesehen?«

»Verlierer. Ja, ich weiß, was Sie meinen. Das bringt mich auf eine andere Idee. Könnte Harald Schwierigkeiten mit einem Buchmacher bekommen haben? Hat er etwa versucht, seinem Glück nachzuhelfen? Diese Leute verstehen keinen Spaß.«

»Ich habe keine Ahnung, was ihm zugestoßen sein kann. Aber bitte: Helfen Sie mir!«

»Klar, wird gemacht.« Ich lächelte so unverbindlich wie möglich. »Haben Sie sich schon mit Luise Hochstein in Verbindung gesetzt?«

»Ja. Er ist nicht zur Arbeit erschienen.«

»Das war zu erwarten. Geben Sie mir lieber gleich die Adresse.« Nachdem ich sie notiert hatte, fragte ich weiter: »Warum hat Harald nicht dort im Haus gewohnt?«

»Er hat ein Zimmer über der Garage. Wenn es abends spät wurde, hat er manchmal dort geschlafen. Aber normalerweise ist er in sein Apartment zurückgekommen.«

»Besitzt er selbst einen Wagen?«

Geli Meloth erriet die nächste Frage. »Seitdem Harald verschwunden ist, steht der Wagen unbenutzt vor seinem Haus.«

Ich nickte schweigend und überlegte mir gleichzeitig, dass ein verlassenes Auto in einer Stadt wie München ziemlich sicher bedeutete, dass der Besitzer sich aus dem Staub gemacht hatte.

»Hatte Harald außer Ihnen noch Freunde – irgendeine Vertrauensperson?«

Geli Meloth nickte eifrig. »Knut Höllerich ist sein bester Freund.« Sie gab mir auch seine Adresse. »Die Sache hat nur einen Haken: Ich wollte Knut besuchen, um ihn nach Harald zu fragen; aber er ist ein für paar Tage verreist.«

»Ein interessanter Zufall«, stellte ich fest.

»Das habe ich mir auch schon einzureden versucht.«

Ich fragte nach einem Foto, und Sie holte eines aus ihrer Handtasche. Harald Ruland war etwa fünfunddreißig und sah durchaus nicht schlecht aus. Nachdem wir uns über das Honorar geeinigt hatten, verlangte ich den Schlüssel zu seiner Wohnung. Sie gab ihn mir, ohne zu fragen, wozu ich ihn brauchte.

»Kann ich Sie irgendwo absetzen?«, erkundigte ich mich dann.

»Nein, vielen Dank. Ich steige gleich hier aus.« Sie machte eine Pause und fügte leise hinzu: »Tut mir wirklich leid, dass ich Sie vorhin erschreckt habe. Aber ich wusste nicht, wie ich sonst...«

Meine Hand lag auf der Rückenlehne des Beifahrersitzes, und sie berührte sie kurz. Ihre Finger waren eiskalt, aber das störte mich weniger als diese Geste an sich. Dabei handelte es sich entweder um die sorgfältig einstudierte Bewegung einer guten Schauspielerin oder um eine Demonstration wahrer Gefühle, die selbst einen Mann rühren konnte, der sonst bis ins Herz hinein skeptisch ist. Ob berechnet oder spontan – diese Geste missfiel mir einfach.

»Davon brauchen Sie doch nicht wieder anzufangen«, knurrte ich.

»Ich wollte noch etwas anderes sagen«, erklärte sie mir. »Ich fühle mich beobachtet.«

»Haben Sie jemanden gesehen, der Sie verfolgt?«

»Nein, ich... ich habe nur das Gefühl, beschattet zu werden.«

Ich stöhnte innerlich. Sie sah nichts und hörte auch nichts – aber sie hatte das Gefühl, beschattet zu werden! Manchmal lohnte es sich, auf weibliche Intuitionen einzugehen; in diesem Fall hatte ich jedoch den Verdacht, dass meine neue Auftraggeberin in letzter Zeit zu viele Kriminalromane gelesen hatte.

»Setzen Sie sich sofort mit mir in Verbindung, wenn Ihnen etwas auffällt«, riet ich ihr trotzdem, um ganz sicherzugehen.

Ich stieg aus und hielt ihr die Tür auf. Als sie neben mir auf dem Gehsteig stand, war sie doch kleiner, als ich erwartet hatte; sie konnte kaum größer als einssechzig sein. Ihre Figur war gut, keineswegs zu mager und nicht so kantig wie das Gesicht.

»Ich rufe Sie bald an oder komme bei Ihnen vorbei«, versprach ich ihr.

Ich sah ihr nach, als sie in Richtung Odeonsplatz davonging. Geli Meloths Auftreten hatte in mir einen bestimmten Verdacht geweckt, und ich konnte nur hoffen, dass mein Gefühl sich als ebenso unzuverlässig wie die weibliche Intuition erweisen würde, von der ich so wenig hielt. Mein Instinkt sagte mir nämlich, dass Geli mich noch in erhebliche Schwierigkeiten bringen würde. Sie hatte natürlich gelogen – vielleicht nicht direkt, aber zumindest dadurch, dass sie nur Halbwahrheiten erzählte und mir einen Teil der Wahrheit bewusst vorenthielt. Aber das tat fast jeder Klient, der mehr von mir wollte, als einen verlorengegangenen Hund suchen zu lassen. Mir blieb nur die Hoffnung, dass sie mir keine wirklich große Lüge erzählt hatte, die dazu führen konnte, dass ich reihenweise über Leichen stolperte oder plötzlich vor einer Pistolenmündung stand, die mir wie ein offenes Grab entgegengähnte.

Das war mir schon früher und entschieden zu oft passiert.

Vielleicht störte mich nur die Art ihres Auftretens, die melodramatisch und irgendwie künstlich gewesen war. Mir wollte nicht recht einleuchten, warum sie nicht einfach bei mir im Büro angerufen hatte, um einen Treffpunkt zu vereinbaren, wenn sie tatsächlich den Eindruck hatte, beschattet zu werden. Oder erwartete sie etwa allen Ernstes, dass niemand auf die Idee kommen würde, wer mir den Auftrag gegeben hatte, Harald Ruland zu suchen?

Ich seufzte philosophisch. Zumindest die Geldscheine in meiner Hand waren real genug.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Harald Ruland wohnte in einem schäbigen Apartmenthaus in einer düsteren Seitenstraße nähe Ostbahnhof. Ich öffnete die Tür seiner Wohnung mit dem Schlüssel, den Geli Meloth mir gegeben hatte, trat ein und sah mich um. Die drei Räume – eigentlich vier, wenn man das Bad mitrechnete – waren einfach und ziemlich geschmacksbefreit möbliert; die Luft war dumpf und abgestanden, als sei seit Tagen niemand mehr hier gewesen.

Ich sah mich eine halbe Stunde lang um, ohne recht zu wissen, wonach ich eigentlich suchte. Eine Sammlung von Streichholzheftchen zeigte mir, dass Harald eine Vorliebe für teure Nachtlokale hatte – nicht gerade das beste Hobby für einen Chauffeur. Die wenigen Anzüge im Schrank waren gut geschnitten und mussten teuer gewesen sein. Harald war keine Leseratte, aber ein gutes Dutzend Schmöker mit Titeln wie Ein Mörder rechnet ab und Das Borgia-Attentat ließ erkennen, welche Art von Lektüre er bevorzugte. Ein Stapel Schallplatten demonstrierte Haralds Interesse für leichte Musik. In einem Schrank fand ich einen reichlichen Alkoholvorrat, aber die meisten Flaschen waren noch voll, was zu beweisen schien, dass Harald in erster Linie an seine Gäste dachte, während er selbst nur wenig oder gar nichts trank.

Ich suchte nach Anzeichen für eine überstürzte Abreise und fand keine.

Harald Rulands Apartment war etwas eintönig, aber dafür umso gründlicher aufgeräumt. Das fiel mir immer deutlicher auf, und ich fragte mich, warum mir diese Tatsache Sorgen bereitete.

Ich wandte mich nochmals den Krimis zu. Eines der Bücher lag aufgeschlagen mit dem Rücken nach oben auf dem Bücherregal. Das war mir vorhin nicht aufgefallen. Dieses Versehen, das die allgemeine Symmetrie störte, konnte jedem  passieren. Aber ich wurde dennoch nachdenklich. Ich ging ins Schlafzimmer zurück und sah mir die Krawatte an, die aus ihrem Halter gerutscht und auf den Boden des Kleiderschrankes gefallen war. Und ich erinnerte mich an einen Hemdenstapel in der Kommode, der etwas verschoben gewesen war.

Dann wurde ich auf etwas anderes aufmerksam, das mich erheblich störte – gleich hier im Schlafzimmer. Wenn man ein komisches Gefühl im Nacken hatte, wie ich es jetzt erlebte, konnte es sich lohnen, sich genau umzusehen. Diesmal analysierte ich das Gesehene und überlegte, was es zu bedeuten hatte – vor dem Bett zeichnete sich ein helleres Rechteck auf dem grauen Teppichboden ab. Ich ging ins Wohnzimmer hinüber. In der Nähe des Heizkörpers lag ein dunkelblauer Teppich. Aber er hatte nicht immer dort gelegen, wie der deutlich hellere Streifen Teppichboden an allen vier Seiten bewies. Ich fragte mich natürlich, was aus dem ersten und größeren Teppich geworden sein mochte, der früher an dieser Stelle gelegen haben musste. Dann bückte ich mich und schlug den dunkelblauen Teppich zurück. Darunter zeichnete sich ein nahezu kreisförmiger brauner Fleck mit etwa fünfundzwanzig Zentimetern Durchmesser ab. Eingetrocknetes Blut hätte einen ganz ähnlichen Fleck zurückgelassen.

Ich dachte noch immer darüber nach, als ein Klappern und Rasseln an der Tür mich darauf Aufmerksam machte, dass irgendjemand sich Zugang zu dem Apartment verschaffte – und das nicht einmal sonderlich diskret. Der Besucher hatte anscheinend keinen Schlüssel, sondern probierte nacheinander mehrere Dietriche aus. Das klang natürlich nicht rechtmäßig. Ich hatte kaum noch Zeit, mich zu verstecken, bevor er hereinkam, aber ich war ohnehin zu neugierig.

Der Besucher kam mit einer dicken 11,4-mm-Pistole in der Faust herein und trug dazu den unerlässlichen bösartigen Gesichtsausdruck.

Gut gemacht, Kandlbinder, lobte ich mich selbst. Die Partie hatte eben erst begonnen, aber mein Verdacht, Geli Meloth sei nicht ganz koscher, schien sich bereits zu bestätigen.

Er war ein großer Kerl, aber er bewegte sich langsam und unbeholfen wie ein Mann, der langsam denkt und zögernd handelt. Ich überlegte mir, dass ein rasch geschlagener Haken bestimmt sein Ziel finden würde, wenn sich eine Gelegenheit dafür bot – aber das Fett und die Muskeln dieses großen Körpers würden jeden Schlag absorbieren, der nicht ganz exakt eine empfindliche Stelle traf. Der Kerl stank, als hätte er sich eine Woche lang nicht mehr gewaschen, und ich fand ihn schon deshalb widerlich. Er war etwas über dreißig, und seine dunklen Augen saßen in einem grobknochigen Gesicht, das große entzündete Flecken aufwies. Ich hatte mich nie mit den Zusammenhängen zwischen Hässlichkeit und asozialem Benehmen befasst, aber jetzt dachte ich unwillkürlich, das Aussehen dieses Gorillas sei ein Verbrechen.

Mir wurde außerdem klar, dass ich ihn kannte.

Er ließ sich nicht anmerken, ob er mich ebenfalls wiedererkannt hatte. Er kam nur etwas näher und blieb gerade weit genug von mir entfernt stehen, um zu beweisen, dass er ein Profi war.

»Was hast du denn hier zu suchen?«, wollte er wissen und enttäuschte mich dadurch endgültig. Die Stimme passte zu seinem Aussehen.

»Das könnte ich dich auch fragen«, stellte ich fest. Seine Pistole bewegte sich unangenehm, und ich gab lächelnd nach. »Aber du hast gewiss das größere Recht dazu. Ich wollte Harald Ruland besuchen. Wir sind alte Freunde.«

»Wirklich?« Sein widerliches Grinsen erzeugte einen Brechreiz in mir. »Sein Freund, was? Du hast einen Schlüssel zu dieser Wohnung – ich hab’ dich beobachtet.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen? Wir sind eben alte Freunde.«

»Aha. Und wo treibt sich Harald herum?«

»Warum verrätst du es mir nicht?«

»Du gefällst mir nicht, glaube ich«, erklärte er mir langsam.

»Dadurch wirst du mir auch nicht gerade sympathischer«, versicherte ich ihm.

Anscheinend war mein Wortschatz zu vielsilbig für ihn – oder er dachte gerade laut und wollte sich nicht unterbrechen lassen. Jedenfalls reagierte er nicht auf meine Feststellung.

»Ich glaube, dass du hier herumgeschnüffelt hast. Ja, das glaube ich.«

»Nicht doch...«

»Was hast du hier so lange gemacht?«

»Auf ihn gewartet...«

»Ich glaube, dass du herumgeschnüffelt hast. Ja, das glaube ich.« Er begann sich zu wiederholen. »Einfach überall herumgeschnüffelt. Oder vielleicht hat Harald dich hierher geschickt. Wo steckt der Kerl jetzt?«

»Ich habe doch bereits durchblicken lassen, dass ich es nicht weiß.«

»Nein.« Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir einfach nicht. An dieser Sache stinkt etwas.«

»Warum versuchst du es nicht mit einer Dusche?«, schlug ich ihm vor.

Der Gorilla reagierte denkbar ungnädig auf diesen Vorschlag; er holte aus und traf mein Gesicht mit dem linken Handrücken. Meine Zähne klapperten, und ich hätte fast das Gleichgewicht verloren.

Er hielt die Pistole auf mich gerichtet, während er mir die Brieftasche aus der Jacke zog. Als er sie aufklappte und meinen Ausweis sah, leuchteten seine Augen triumphierend auf.

»Das hab’ ich mir gleich gedacht«, knurrte er. »Wer so herumschnüffelt, muss ein Schnüffler sein. Für wen arbeitest du, Schnüffler?«

»Das darf ich nicht sagen, sonst verliere ich meine Lizenz«, behauptete ich.

Die Mündung seiner Pistole traf mich am Wangenknochen.

»Ich sorge noch dafür, dass du

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1406-3

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