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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

KANDLBINDER

UND DAS MÄDCHEN IM BIKINI

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

KANDLBINDER UND DAS MÄDCHEN IM BIKINI 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Das Buch

 

München 1963.

Ludwig 'Jack' Kandlbinder ist Privatdetektiv, und München ist seine Stadt...

In einer Münchner Bar rettet Jack die hübsche Blondine Merle Nittinger vor den gewalttätigen Übergriffen ihres Begleiters. Einen Tag später steht sie vor seiner Tür und bittet ihn um Hilfe. Ist ihr Leben tatsächlich in Gefahr?

Kandlbinder beschließt, die Sache eingehender zu untersuchen, und stößt zunächst auf einen Mord, der als Autounfall getarnt wurde...

 

Kandlbinder und  das Mädchen im Bikini von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der dritte Band der Roman-Serie um den Münchner Privatdetektiv Jack Kandlbinder. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2022 folgen zwei weitere Krimi-Serien: Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck und München-Krimis mit Jack Kandlbinder, der in der bayrisches Landeshauptstadt die merkwürdigsten Verbrechen aufzuklären hat.

KANDLBINDER UND DAS MÄDCHEN IM BIKINI

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Ludwig 'Jack' Kandlbinder: Privatdetektiv aus München, 40 Jahre alt.

Nora Brecht-Dubois: Schriftstellerin und Kandlbinders Geliebte.

Korbinian Russenschluck: Jacks Partner in der Detektei Kandlbinder und Russenschluck.

Hans Grohe: ein ehemaliger Polizeibeamter. 

Merle Nittinger: seine Freundin. 

Eisi Granthamm: sein Leibwächter. 

Helene Stanarius: eine Schauspielerin. 

Sandra Büchner: Kandlbinders Sekretärin. 

Teddy Dornberger: ein Filmstar. 

Erik Winterhammer: Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Konrad Reismann: ein Gangsterboss und Drogenhändler. 

Karl Rheinlander: Münchens großer Unterweltboss. 

Stefan Diestelkamp: Privatdetektiv. 

 

 

Dieser Roman spielt im München des Jahres 1963.

  Erstes Kapitel

 

 

Fünfunddreißig Minuten, nachdem Noras Maschine nach West-Berlin abgehoben hatte, hatte ich schon jede Menge Ärger am Hals. Oder genauer gesagt: den Ärger eines Dritten.

Bei der Rückfahrt vom Flughafen war ich in die Bar Zur Brezn eingekehrt, einem Treffpunkt von Nachteulen, Schlaflosen, Rebellen, Säufern, zufällig hereingeschneitem und ausgesuchtem Treibgut einer rastlosen, niemals Ruhe findenden Großstadt. Damit will ich beileibe nicht andeuten, dass es sich bei der Brezn um einen besonders üblen Schuppen handelte. Im Gegenteil, damals war es ausgesprochen schick, sich dort in der Maxvorstadt zu treffen, und die Gäste, die sich in dem Lokal die Nacht um die Ohren schlugen, waren überwiegend von der gutbetuchten Sorte. Dennoch: Trotz all dem freundlichen Grinsen ringsum, dem Lächeln kritikloser und oberflächlicher Kameraderie, schwamm man hier viel eher in einem Meer von Einsamkeit.

An diesem Abend fehlten noch knapp zwanzig Gäste, dann wäre es überfüllt gewesen – ein geräumiges, hellerleuchtetes Etablissement mit einer langgezogenen Bartheke an der einen Seite und genügend Platz zwischen den Barhockern und den Nischen an der gegenüberliegenden Wand. Ich bahnte mir einen Weg von der Tür her und entdeckte am entfernten Ende der Theke einen freien Hocker, wo ich mich niederlassen wollte.

Und als dann das Glas mit zwei Fingerbreit Johnny Walker vor mir stand, fragte ich mich allen Ernstes, welche pervertierten Instinkte mich ausgerechnet in die Brezn getrieben haben mochten. Eigentlich... war ich nämlich hungrig, nicht durstig.

Ich dachte wieder daran, wie ich vorhin Nora zum Flugplatz hinausgefahren hatte.

Sie hatte ihre Wange – die linke, die ich von meinem Platz aus sehen konnte, soweit sie nicht von der Flut ihres Haares verdeckt wurde – an den Pelzkragen ihres Mantels gekuschelt. Ich hatte Nora von Zeit zu Zeit einen Blick zugeworfen, ohne zu wissen, woran sie jetzt gerade denken mochte. Ich nahm an, sie dachte an den Nachmittag, den wir sehr harmonisch miteinander verbracht hatten, und an die Konferenz, die ihr in West-Berlin bevorstand, den Vertrag, der zwischen ihr, dem Literatur-Agenten und ihrem Verlag abgeschlossen werden würde.

Nora war eine hochgewachsene, rothaarige Frau mit einer kurvenreichen Figur, wie sie zurzeit aus der Mode gekommen zu sein schien. Der Begriff rothaarig ist freilich nicht so festgelegt wie die Schablone Blondine, aber selbst in diesem Fall wäre es Nora gelungen, sich über die Schablone hinaus zu charakterisieren. Sie trug seit jeher ihr Haar lang, und die Mode hatte sich allmählich ihrer Entscheidung angepasst. Ihr Gesicht, das von dem Haar eingerahmt wurde, wirkte dank irgendeiner geheimnisvollen Geometrie schön, obwohl es eigentlich zu rund war, um die ausdrucksvollen Züge richtig zur Geltung zu bringen: den breiten, weichen Mund, die lange, fast ein wenig aristokratische Nase und die strahlenden Augen, deren Farbe nicht so ohne weiteres zu bestimmen war... Wenn man ihre Züge im Ganzen gesehen als arrogant oder sogar abweisend bezeichnen konnte – das waren sie für die meisten Leute tatsächlich in gewisser Hinsicht –, die Augen standen dazu in einem hinreißenden Gegensatz: In ihnen lagen eine Sanftheit und eine deutlich spürbare Sinnlichkeit, welche den anderen Facetten ihres Ausdrucks, ihren Blicken und der keineswegs affektierten, aber dennoch irgendwie königlichen Haltung, eine ganz besondere, hochinteressante Note verliehen.

Ich nannte sie Prinzessin, aber nicht mit dem Tonfall eines Leibeigenen.

»Ruf mich bitte gleich an, wenn du im Hotel bist«, sagte ich. »Egal, wie spät es ist.«

Sie nickte und erteilte mir ihre eigenen Instruktionen mit einer tiefen, ein wenig belegten Stimme, die mich immer schwach in den Knien werden ließ, wenn ich sie aus dem Hörer eines Telefons vernahm.

»Und gib auf dich acht, Liebling. Sieh zu, dass du nicht wieder in irgendwelchen Schlamassel gerätst.«

Das gab mir nun doch einen Ruck. »Was ist denn das für ein sonderbarer Ratschlag?«

»Ein guter. Zwei Wochen sind eine lange Zeit. Und du hast die schlechte Angewohnheit, mit der Gefahr zu flirten, wenn ich nicht bei dir bin.«

»Der Freud'sche Unterton in deinem Satz macht mich stutzig«, nörgelte ich. »Das hört sich ganz so an, als zöge ich aus, um die Gefahr zu suchen...«

»Das hast du gar nicht nötig. Ein Privatdetektiv in einer Großstadt voll Irrer und Halb-Idioten stolpert früher oder später mitten hinein in den schönsten Schlamassel, ob er es will oder nicht. In letzter Zeit war es bemerkenswert still rings um dich her. Du bist seit mindestens einem Monat nicht mehr aus dem Hinterhalt beschossen worden.«

»Du wirst es nicht glauben, Prinzessin, aber mir gefällt die ruhige Kugel, die ich schiebe. Ich werde mich also in Zukunft auf entlaufene Pudel und vermisste Familienangehörige spezialisieren und...«

»So ist es recht. Und denk immer daran: Es wird erst dann gefährlich, wenn man dich engagiert, um verlorengegangene Würde und verletzte Ehre wiederherzustellen. Halte dich an die Realitäten – das ist sicherer!«

»Und wie steht es mit dir?«

»Mit mir? Nun, ich werde mich mit so gefährlichen Dingen wie Abstraktionen und mit Vertragsformulierungen befassen.«

»Und mit den ach so glattzüngigen, scharfsinnigen Schriftstellern.«

»Jawohl. Mit glattzüngigen, scharfsinnigen Schriftstellern. Bereitet dir das etwa Sorgen?«

»Klar. Es ist doch jedes Mal dasselbe. Der eine oder andere von ihnen versucht dich davon zu überzeugen, dass dein Leben mit mir so etwas wie die geistige Sanierung eines Abbruchhauses darstellt. Wer weiß, ob es nicht eines Tages einem besonders redegewandten Burschen gelingt, dich einzuwickeln.«

»Wer weiß. Aber auf der anderen Seite sind redegewandte Schriftsteller, in größeren Dosierungen genossen, ausgesprochen unverträglich. Scott Fitzgerald sagte einmal, er ziehe Leute mit zerfurchten Oberflächen den glatten bei weitem vor. Und deine Oberfläche ist schon ganz schön zerfurcht, mein Lieber!«

Ich lachte, griff nach ihrer Hand und drückte sie fest.

Anschließend fuhr ich eine Weile schweigend dahin, fragte mich, was wohl ein Außenstehender mit unserer Konversation, den vielen Codewörtern und Chiffren anfangen würde, dieser Privatsprache, mit der wir äußerlich so festgefügt die ernstesten Gedanken ausdrückten – eine Sprache, welche wir in Jahren gemeinsamen Erlebens und Mitteilens entwickelt hatten.

Dann plötzlich sagte ich, ohne mir viel dabei zu denken: »Mein Gott, bin ich hungrig!«

Sie wandte sich mir zu, amüsiert, vielleicht auch ein wenig ungläubig, aber zugleich tadelnd und enttäuscht.

»Du bist hungrig?«, wiederholte sie.

»Und wie.«

»Aha, du bist also hungrig.« Sie lachte. »Der Herr ist hungrig, nichts weiter.«

Auf dem Papier – und sie hatte schon eine ganze Reihe von Büchern geschrieben – war sie hart und unsentimental. Aber es gab auch noch eine andere Nora Brecht-Dubois, und die war soeben zu hören gewesen: Sie war alles Mögliche, aber nicht zuletzt auch empfindsam, eine Frau, die enttäuscht war darüber, dass ich nichts weiter als Hunger empfand in einem solchen Augenblick, in dem wir davor standen, uns für zwei Wochen zu trennen, zwei Wochen, in denen gut und gern fünfhundert Kilometer zwischen uns liegen würde.

Ich kannte diese kleinen, erträglichen Enttäuschungen. Sie waren mitunter tödlicher als unerträglicher Kummer.

Ich wollte, ich hätte das mit dem Hunger nicht gesagt.

Aber allzu schuldbewusst wollte ich auch wieder nicht erscheinen. Sie war mindestens genauso stark wie ich, und es gehörte eben dazu, eine solche Situation zu überstehen, wenn man erwachsen sein wollte. Sicher, das Flugzeug konnte abstürzen – und doch würde ich nach einiger Zeit wieder da fortfahren zu leben, wo ich aufgehört hatte. Und wenn mich die Kugel eines Gangsters erwischte, würde Nora mich eine Weile betrauern – aber das Leben würde auch für sie weitergehen.

Nicht, dass es noch einmal so werden würde wie früher. Aber es würde weitergehen. Irgendwie.

Während ich also jetzt in der Brezn saß und mein Glas mit dem Whisky in der Hand hielt, dachte ich an Noras leise Enttäuschung wegen meiner Gelassenheit und freute mich darüber. Ich dachte wieder daran, wie sie sich vor dem Flugsteig noch einmal in meine Arme geworfen hatte, wie ihre kühle Wange meine Bartstoppeln berührte. Und ich dachte an unseren gemeinsamen Nachmittag, an die Umarmungen und Liebkosungen, die erotische Anspannung und Entladung.

Keine schlechten Gedanken für einen Mann, der allein an der Theke sitzt, aber leider dauerte diese Selbstversunkenheit nicht an. Das, was sich rings um mich ereignete, stieß immer wieder bis in meine Gedanken vor, verdrängte sie zuletzt vollends.

In meiner Umgebung wogte das Laut und Leise zahlreicher Unterhaltungen, aber eine einzelne Stimme – die raue, beharrliche Stimme eines Mannes – erhob sich mehr und mehr über das allgemeine Rhabarber, teils wegen der stählernen Schärfe ihres Tons, teils auch, weil sie immer lauter wurde. Allerdings war sie noch nicht laut genug, als dass man einzelne Worte hätte verstehen können. Von Zeit zu Zeit wurde die Rede des Mannes durch einzelne, ziemlich schrille Antworten seiner weiblichen Begleitung unterbrochen.

Ich beschloss, mir das Paar genauer anzuschauen, und brauchte mich dazu nicht einmal umzudrehen.

Eine der sympathisch altmodischen Eigenheiten der Brezn war der große Spiegel, der die ganze Wand hinter der Theke entlang verlief, gut für besinnliche Betrachtungen seiner selbst, wenn einem danach zumute war, aber ebenso gut geeignet zum Beobachten der anderen Gäste.

Und mit Hilfe dieses Spiegels entdeckte ich rasch die Quelle des störenden Geräusches, das aus der hintersten Nische kam, und zwar von zwei oder drei Personen, die dort um das runde Tischchen saßen. Das Mädchen konnte ich von meinem Platz aus nicht erblicken, denn sie saß direkt an der Trennwand mit dem Rücken zu mir. Aber ihr gegenüber hockte ein ziemlich gewichtiger Mann mit weit aufgerissenen Augen, buschigen Augenbrauen und einer Nase, die an ein Stück Felsen erinnerte. Er wirkte so gefühlvoll wie ein Marmorblock. Der andere Mann – jener mit der scharfen Stimme – saß neben dem Mädchen.

Jetzt verstand ich auch die Worte, mit denen er sie anschnauzte. »Du und Dornberger«, sagte er. »Darüber möchte ich mal ein Wörtchen reden.«

Die ziemlich unsichere Antwort des Mädchens enthielt die Worte gar nichts und wurde einmal wiederholt, während sein nächster Satz das Wort Luder enthielt. Er sagte ihn mit einer Betonung, die mir klarmachte, dass er sich anscheinend eine ganze Weile zurückgehalten hatte.

Das Dröhnen seines Unmuts setzte sich noch eine Minute lang fort, dann folgten ein scharfes, deutlich hörbares Klatschen und gleich darauf der Aufschrei des Mädchens.

Der Barkeeper, der mich bediente, hatte plötzlich etwas Dringendes am anderen Ende der Theke zu erledigen. Zwei Stühle neben mir fasste eine hübsche Brünette ihren Freund an den Sakkoaufschlägen und sagte: »Harry, dagegen musst du doch einschreiten.«

Harry drehte sich um, weil er die Sache erst einmal genauer in Augenschein nehmen wollte. Auch mehrere andere Gäste hatten sich umgedreht und reckten die Hälse ich Richtung Nische, als das zweite Mal ein charakteristisches, klatschendes Geräusch zu hören war. Jetzt sah Harry so aus, als sei ihm gar nicht wohl in seiner Haut. Ich konnte es ihm nachfühlen. Er schien nicht so gebaut, dass er gefahrlos einschreiten konnte, und die beiden Männer in der Nische waren bestimmt nicht aus Pappe.

Irgendwie fühlte ich mich viel eher dazu erkoren. Aber ich beherrschte mich. Dachte an das Versprechen, das ich Nora gegeben hatte.

Während ich mich immer noch mühsam zurückhielt, hatte Harry all seinen Mut zusammengenommen und war vom Barhocker gerutscht, um zu der Nische hinüberzugehen. Als der massige Mann ihn auf sich zukommen sah, erhob er sich. Sobald Harry nahe genug an ihn herangekommen war, legte ihm der fette Kerl seine Handflächen abwehrend vor die Brust, ohne auch nur den geringsten Druck auszuüben, und sagte mit sanfter, aber entschiedener Stimme: »Gehen Sie gefälligst wieder hinüber an die Bar, mein Junge. Das hier geht Sie gar nichts an.«

»Sehr richtig!« Die andere männliche Stimme in dem Trio klang bösartig, und der Kopf des Schreihalses kam nur derart kurz hinter der Trennwand hervor, dass ich ihn gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Dann war er schon wieder verschwunden, hatte sein Interesse offenbar erneut dem Mädchen zugewandt, das jetzt übel von ihm beschimpft wurde.

Was er tat, konnte ich nicht sehen, und was er sagte, verstand ich nicht, aber eines stand fest: Das Mädchen kreischte laut auf.

Einen Augenblick lang stand Harry wie festgenagelt da. Er wandte mir den Rücken zu, daher konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht studieren. Rings um uns erstarben die Gespräche, und die Leute warteten, fühlten, dass Spannung in der Luft lag, warteten darauf, dass sie sich endlich entlud. Dann drehte sich Harry um und ging langsam wieder auf seinen Hocker zu.

Der fette Kerl lächelte und senkte die Arme, blieb aber an seinem Platz stehen. Keine Ahnung, ob es den anderen Beobachtern der Szene auch so vorkam, ich jedenfalls fand, seine Pose war eine einzige Herausforderung.

Ich trank meinen Whisky aus, seufzte und erhob mich.

Während ich an Harry vorbeikam, der gerade wieder ziemlich verzagt auf seinen Hocker kletterte, berührte ich seinen Ellbogen.

»Sie haben ganz recht«, sagte ich, »dass Sie sich da rausgehalten haben. Der Bursche ist ein Profi.«

Aber während ich es sagte, schaute ich nicht Harry an, sondern das Mädchen, das neben ihm saß. Einen ehrgeizigen Burschen wie Harry zum Helden zu machen war keine Kunst. Oder genauer gesagt, das war die Art von Kunst, mit der Kriege angezettelt werden.

Ich wandte mich von den beiden ab und ging auf die Nische zu. Diesmal bewegte der Gorilla seine Arme nicht, wenn er auch ein wachsames Auge auf mich warf. Immerhin war ich bestimmt einen Viertelmeter größer als Harry und vor allem: wesentlich breiter. Das gab ihm anscheinend zu denken.

Wobei ich nicht behaupten möchte, dass ihn meine Erscheinung in größte Verlegenheit brachte.

Jetzt schaute ich mir erst einmal seine Begleiter an, die in der Nische saßen. Das Mädchen, das sich jetzt ganz in die Ecke drückte, war eine Blondine Ende Zwanzig. Sie sah nicht schlecht aus in landläufigem Sinn, was sie in erster Linie ihren regelmäßigen Zügen verdankte, über die sie ein sorgfältiges, ziemlich dickes Make-up gekleistert hatte. Wenn ihre Augen momentan auch erfüllt waren von Angst, konnte man doch erkennen, dass sie ungewöhnlich hübsch und in seltenem Wasserblau strahlen konnten. Das Haar war hoch toupiert und machte den Eindruck, als käme sie eben vom Friseur. So wenig überraschend das Mädchen also im insgesamt wirkte – ihr Kleid war es ganz und gar nicht: Von einem Star bei der Eröffnung eines Filmfestivals getragen, hätte es vielleicht sehr gut und passend gewirkt. Für normale Anlässe war es entschieden zu bombastisch. Es bestand aus schwarzer Seide und schien nicht angezogen, sondern wie auf den nackten Körper gemalt, wobei die Vorderseite wahrlich ein Meisterstück an Übertreibungen darstellte. Allerdings verfügte seine Trägerin durchaus über die Figur, die man dazu brauchte – vorausgesetzt, man konnte ein solches Kleid überhaupt in einer anständigen Gesellschaft tragen.

Also schön – mochte sie die Figur dazu haben. Die würdige Haltung fehlte ihr jedenfalls im Augenblick vollkommen. Zwei rote Flecke auf ihrer linken Wange legten Zeugnis ab von der Handschuhnummer ihres Begleiters.

Der wandte sich, als ich mich der Nische näherte, sofort mir zu. Ein Mann Ende Dreißig, gut angezogen und nicht schlecht aussehend, wenn er auch schon ein wenig fleischig zu werden begann. Unangenehm fielen mir zunächst seine gelben Zähne und dann sein Gesichtsausdruck auf. Ich nahm an, der änderte sich nur wenig, wenn er besserer Laune war. Der höhnische Blick war ihm vermutlich bereits zur Gewohnheit geworden.

»Hallo, Leute«, sagte ich. »Amüsiert ihr euch gut?«

Der Mann in der Nische starrte mich ein paar Sekunden lang an. Dann nickte er dem fetten Gorilla zu, der mir sanft auf die Schulter tippte.

»Kom runter, mein Junge«, riet er mir. »Werden Sie bloß nicht sentimental. Die Puppe hier hat es nicht anders verdient.«

»Ach, tatsächlich?« Ich grinste ihn an. »Und wenn sie es Ihnen schriftlich gegeben hätte, dass sie es nicht anders haben will: Sie und Ihr Freund haben meine beschauliche Feierabendruhe gestört.«

»Immer langsam, Mann. Es könnte Ihnen schlecht bekommen.«

»Was soll das, du Trottel«, zischte ich ihn an. »Willst du mir mit Drohungen kommen? Ich fang’ gleich zu zittern an.«

Mit einem fast tierischen Knurren schoss er eine ungezielte Rechte gegen meinen Kopf, unter der ich mich ohne Mühe wegducken konnte. Er war zu langsam und zu wütend, um geschickt zu reagieren. Ich täuschte einen rechten Schwinger vor, und er fiel prompt darauf herein, so dass ich ihm meine Linke voll in den Magen setzen konnte, wobei ich richtiggehend fühlte, wie sie durch die einzelnen Fettschichten vorankam. Er stöhnte vor Schmerzen, parierte mit einer wirkungslosen Linken, kam mit dem Kopf meiner Rechten entgegen, die seine Nase erst einmal breitdrückte, und dann folgte eine weitere Linke, welche ich von ganz unten heraufholte und gegen sein Kinn prallen ließ, sodass er ein halbes Dutzend Schritte zurück zur Wand taumelte.

Wenn ich aber gedacht hatte, damit sei er bedient, befand ich mich im Irrtum. Burschen wie der... haben eine ganz besondere Gabe, mit Schmerzen fertig zu werden. Langsam schüttelte er den Kopf und kam wieder von der Wand her auf mich zu. Seine Dummheit spottete in der Tat jeder Beschreibung. Ich trat zur Seite, hob mein Knie an, stieß es ihm in den Bauch und stoppte ihn zugleich mit einem Unterarmschlag. Seine Nase begann zu bluten. Mit einem lauten Aufschrei ging er zu Boden und blieb unten. Er war noch nicht bewusstlos – dazu hätte es noch ein paar Schläge von der Sorte bedurft –, aber es war klar, dass er fürs erste genug hatte.

Ich zog mein Jackett mit einem Achselzucken gerade, stand über ihm und sagte: »Jetzt verschwinden Sie hier – von mir aus auf allen vieren.«

Ohne links oder rechts zu schauen, erhob er sich mühsam und taumelte auf die Tür zu, hielt sich ein Taschentuch gegen das zerschundene Gesicht. Die rund achtzig Zuschauer traten zur Seite und ließen ihn durch. Die Frauen wandten sich nur zum Teil schaudernd ab.

Ich betrachtete den zweiten Mann, der auf seinem Platz sitzen geblieben war. Er wurde blass, und das Lächeln, das er sich aufzwang, war so falsch wie die Wahlkampfrede eines Politikers.

»Das hier ist reine Privatsache«, sagte er, und in seiner Stimme war nichts von Trunkenheit zu hören.

»Eh klar.« Ich nickte. »Und wir alle sind entzückt von euren Manieren. Wünschen Sie eine ähnliche Behandlung wie Ihr zauberhafter Freund?«

»Jetzt hören Sie mal!« Die gelben Zähne blitzten in einem grotesken Lächeln auf. »Spielen Sie doch nicht den starken Mann, Kandlbinder. Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich? Gar nichts.« Ich verbarg meine Überraschung darüber, dass er meinen Namen kannte. »Aber ich empfehle Ihnen nachdrücklich, dass Sie verschwinden. Und zwar sofort.«

»Na schön, wie Sie meinen.« Sein Lächeln erinnerte mich an eine Mördergrube. »Na schön – warum nicht? Die Party ist sowieso vorbei.«

Er stand rasch auf, legte ein paar Scheine auf den Tisch und ging dann mit schnellen Schritten durch die frei gewordene Gasse zwischen den Nischen und den Barhockern. Die anderen Gäste starrten ihn teils fasziniert, teils angewidert an – mitunter beides zugleich.

Nachdem er verschwunden war, hielt die atemlose Stille noch eine oder zwei Sekunden lang an, dann minderte plötzliches, nervöses Gelächter der Frauen die lastende Spannung nach und nach. Fast im selben Augenblick setzte wieder das Geräusch vielfältiger Konversation ein – vielleicht lauter als zuvor, vielleicht kam es mir auch nur so vor. Nach dieser kostenlosen Vorführung zum allgemeinen Gaudium ging das Geschäft der Barkeeper besser als je zuvor.

Ich setzte mich in die Nische gegenüber dem Mädchen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie starrten mich voll Angst und ungeweinten Tränen an.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich sie.

Sie nickte. »Ja. Vielen Dank...«

»Darf ich Ihnen einen Drink besorgen?«

»Nein. Nein, vielen Dank.« Ihre Stimme war unsicher, aber nicht ohne eine gewisse Anziehung. »Ich – ich muss jetzt gehen.«

»Ihm nach?«

»Ja. Ja, leider.« Sie nahm ihre Tasche, blickte mich kurz an und vermied es von da an, mir in die Augen zu schauen. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.«

Ich nickte. »Da ich mich schon einmal eingemischt habe, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie sich einen recht ungehobelten Freund ausgesucht haben.«

Sie stand auf, wusste nicht, was sie tun sollte. »Er ist – er ist nicht immer so. Nicht, wenn er nüchtern ist.«

»Na schön, mich geht’s nichts an. Glauben Sie, dass Sie allein gehen können?«

»Ja.« Sie tastete nach ihrem hochtoupierten Haar in einer ebenso unnützen wie hochdramatischen Geste. »Nochmals, vielen Dank.«

Dann bedachte sie mich noch mit einem auffallend synthetischen Lächeln und stöckelte auf geradezu lächerlich hohen Absätzen davon, wobei ich erst erkannte, wie klein sie war. Ihre vollreife Figur hätte weit besser zu einem größeren Körper gepasst.

Zuletzt ging ich zu meinem Barhocker zurück. Noch bevor ich richtig saß, stand schon ein Glas mit einem tüchtigen Schluck Johnny Walker vor mir.

Ich warf einen fragenden Blick auf den Barkeeper, einen Mann in mittleren Jahren mit kahlem Kopf und vielen Sorgenfalten im Gesicht.

»Der geht auf Rechnung des Hauses«, erklärte er. »Sie haben uns allen einen Gefallen erwiesen.«

»Vielen Dank.« Ich grinste ihn säuerlich an. »Ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich Ihnen einen Gefallen erwiesen habe.«

»Haben Sie aber, mein Herr. Nebenbei bemerkt, ich habe ein Glas-Kinn und leide schon seit Jahren an fortschreitender körperlicher Feigheit. Und wie man hört, ist schon der Name Ihres Gegners gleichbedeutend mit großen Scherereien.«

»Wie heißt er denn?«

»Grohe – Hans Grohe.«

»Beruf?«

»Keine Ahnung.« Er polierte ein makelloses Glas. »Ich möchte auch gar nicht danach fragen.«

Der Name sagte mir gar nichts. Das ärgerte mich besonders, da Grohe meinen Namen gekannt hatte. Kein Privatdetektiv hat es gern, wenn er feststellt, dass sein Namens- und Personengedächtnis nachlässt.

»Und was ist mit seinem Gorilla?«, fragte ich.

Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. »Er war schon ein paarmal zusammen mit Grohe hier. Die Art und Weise, wie er heute die Brezn verlassen, hat er mir am besten gefallen. Sagen Sie, Mann, ich will ja nicht unhöflich sein, aber wo haben Sie gelernt, derart mit Ihren Fäusten umzugehen?«

»In einer großen, großen, bösen Welt«, sagte ich wie die Märchentante, »wo die Guten nur dann gewinnen, wenn sie sich durchsetzen können.«

»Da haben Sie recht.« Er lachte nervös. »Das können Sie ruhig zweimal sagen.«

Ich kippte meinen Drink hinunter und fuhr zurück in meine Wohnung in der Türkenstraße.

Während ich dort meine zerkratzten Hände und geprellten Knöchel betrachtete, hörte ich noch eine Weile der ausgelassenen Musik der Beatles zu. Dann schaltete ich die Stereoanlage ab und ging zu Bett.

Ich hatte wirklich ein Talent, mich von jedem Schlamassel fernzuhalten.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Offene Fragen stören mich privat genauso wie beruflich. Daher beschäftigte ich mich am folgenden Tag ein wenig mit der Person Hans Grohes.

Eine ganze Weile zuvor hatte Nora angerufen und gefragt, ob ich auch gut auf mich aufpasse. Ich entschied mich, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Auf dem Rückweg vom Flughafen kehrte ich auf einen Drink in die Brezn ein«, gestand ich zögernd. »Dort hat irgend so ein Bursche ein Mädchen geohrfeigt, und ich musste eingreifen.«

»Du wirst immer unorigineller«, beschwerte sie sich. »Jedes Mal, wenn ich ein paar Tage verreist bin, ziehst du dieselben alten Scherze ab.«

Es klang allerdings auch ein ganz klein wenig besorgt. Auch bei anderen Gelegenheiten hatte ich ihr schon von den verrücktesten Ereignissen berichtet, die sich zuletzt als reine Wahrheit herausstellten.

Es schien eines meiner Laster zu sein: Ich verbarg mich hinter der Wahrheit, wie manche Frauen sich hinter ihrer Schönheit verbergen.

Dann ließ ich mich erweichen und fügte hinzu: »Vielleicht habe ich das Ganze auch nur geträumt.«

Aber inzwischen war sie längst aus mir schlau geworden und sagte leichthin: »Für den Fall, dass du es nicht geträumt hast, mein Lieber, hoffe ich, dass die Sache damit auch erledigt.«

»Oh, ja, die ist endgültig erledigt«, versprach ich vorschnell.

Sehr vorschnell.

 

Ich schaute kurz bei Matthias Klemm vorbei, einem Beamten bei der Verbrecherkartei, den ich schon seit einiger Zeit gut kannte. Ein Mann Ende Dreißig mit unbedeutendem Äußeren, der eine Brille trug, was ihm ein oberlehrerhaftes, belesenes Aussehen verlieh. Und dieser Eindruck war gar nicht weit hergeholt, denn Matthias hatte tatsächlich ein ungeheuer gutes Gedächtnis –  nicht nur

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1373-8

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