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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

KANDLBINDER

UND DIE EISKALTE SCHÖNE

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

KANDLBINDER UND DIE EISKALTE SCHÖNE 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Das Buch

 

München 1963.

Ludwig 'Jack' Kandlbinder ist Privatdetektiv, und München ist seine Stadt...

Zunächst sieht es für Kandlbinder nach einem Routine-Fall von der Sorte aus, die er so gar nicht leiden kann: Der erfolgreiche Münchner Rechtsanwalt Alexander von Castell hat sich von seiner Frau getrennt, um ihr Verhältnis in Ruhe zu überdenken. Nachdem er drei Wochen lang nichts von sich hat hören oder sehen lassen, ist dessen Frau Kamilla in größte Sorge und bittet Jack, ihren Mann zur Rückkehr nach Hause zu bewegen.

Im Zuge seiner Ermittlungen entdeckt Kandlbinder, dass von Castell in Gesellschaft einer gewissen Andrea Römer gesehen wurde – und sie wiederum steht in enger Verbindung zu Charles Ackermann, einem ebenso zwielichtigen wie gefährlichen Gangster-Boss aus Starnberg, in dessen Visier Jack nun gerät...

 

Kandlbinder und  die eiskalte Schöne von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der zweite Band der Roman-Serie um den Münchner Privatdetektiv Jack Kandlbinder. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

2022 folgen zwei weitere Krimi-Serien: Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck und München-Krimis mit Jack Kandlbinder, der in der bayrisches Landeshauptstadt die merkwürdigsten Verbrechen aufzuklären hat.

KANDLBINDER UND DIE EISKALTE SCHÖNE

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Ludwig 'Jack' Kandlbinder: Privatdetektiv aus München, 40 Jahre alt.

Nora Brecht-Dubois: Schriftstellerin und Kandlbinders Geliebte.

Korbinian Russenschluck: Jacks Partner in der Detektei Kandlbinder und Russenschluck.

Sandra Büchner: Kandlbinders Sekretärin. 

Erik Winterhammer: Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei. 

Alexander von Castell: Rechtsanwalt. 

Kamilla von Castell: seine Frau. 

Dr. Carl Melnick: ein Psychoanalytiker. 

Ingmar Lemberg: Sozius von Alexander von Castell. 

Selma Riselius: eine Journalistin. 

Joachim Kirschner: ein Gangster. 

Andrea Römer: seine Geliebte. 

Agnes Morroff: Freundin von Andrea Römer. 

Charles Ackermann: ein Gangsterboss aus Starnberg. 

 

 

Dieser Roman spielt in München, Dachau und Starnberg Jahres 1963.

  Erstes Kapitel

 

 

Der Fall Alexander von Castell begann an dem Tag, als ich die Sache mit dem farbenblinden Hund zu Ende gebracht hatte. Der Hund muss meines Erachtens farbenblind gewesen sein, denn er wusste noch nicht einmal, was das Fernsehen uns Menschen seit langem weiszumachen versucht: dass die Bösen schwarz sind und die Guten weiß.

Das meine ich natürlich nicht wörtlich.

Der farbenblinde Hund war ein irischer Wolfshund namens Rocky. Und sollte sein Verhalten auch nur eine Spur von Logik aufweisen, dann war mir das zweifellos entgangen. Abgesehen davon kann man nicht gerade behaupten, dass ich mich besonders für Schoßhunde aller Größen interessiere. Aber ich habe seit langem beobachtet, dass gewisse Misanthropen dazu neigen, den verständnislosen Tieren gerade jene idealen Eigenschaften zuzuschreiben, die sie an ihren Mitmenschen so sehr vermissen. Nachdem ich nicht gerade großen Enthusiasmus für die Spezies Mensch empfinde, war es sozusagen doch einigermaßen logisch, dass ich mich für Rocky einsetzte.

Abgesehen davon gingen die Geschäfte wieder mal schleppend.

Rockys Frauchen, Frau Michelstedt, ein grauhaariges, kompaktes Bündel Energie, bat mich zu einem Besuch in ihr Heim, eine luxuriöse, zweistöckige Villa in Starnberg. Ihr Mann, den ich nie kennengelernt habe, war Produzent beim Fernsehen, und vielleicht war das der Grund, weshalb Frau Michelstedt Rockys weibliches Gegenstück, eine irische Wolfshündin, als dessen Braut bezeichnete. Fernsehleute bezeichneten Ehefrauen nämlich oft auch nach Jahren noch als Braut.

Ich kann mir meine Klienten nicht aussuchen. Und manche von ihnen bestehen darauf, dass man sie zu Hause besucht, weil sie weder tot noch lebendig im Büro eines Privatdetektivs erscheinen würden. Also höre ich mir die Geschichten an. Wer auf die lausigen Piepen angewiesen ist, lässt sich eben auf so alberne Spielchen ein.

Nichtsdestotrotz sagte ich zu Frau Michelstedt, als ich, eine Margerite in meiner Hand, neben ihr in dem Innenhof mit Swimming-Pool saß: »Um ehrlich zu sein, das ist eine Sache, die eigentlich nicht in meinen Aufgabenbereich fällt. Streunende Hunde sind nicht mein Ressort.«

»Ach, wirklich?« Ihre Augen funkelten wütend. »Dann lesen Sie mal das hier.«

Das hier war ein Stück Papier, auf dem nicht handschriftlich, sondern durch aufgeklebte, einzelne Zeitungsbuchstaben folgende unzweideutige Mitteilung zu lesen war:

 

Werfen Sie an einer bestimmten Stelle der Altsostraße ein Paket mit fünfhundert Mark aus dem Wagen, dann kehrt Rocky unversehrt zu Ihnen zurück. Wenn nicht...

 

und so weiter.

Na ja, ich hing an der Angel, wenn ich es mir auch noch nicht eingestehen wollte.

Ein Privatdetektiv hat die Pflicht, sich überall umzuhören und den Finger am Puls des öffentlichen Lebens zu haben – eine sehr gefährliche Position, wenn man einmal tiefer über den Sinn dieser bildhaften Sentenz nachdenkt. Jedenfalls begann der Computer in meinem Gehirn zu rattern, und ich erinnerte mich daran, dass Erwin Schmidtchen, ein wandelnder Gemischtwarenladen verschiedenster Vergehen und Verbrechen, sich angeblich in letzter Zeit auf Hundediebstähle verlegt hatte. Er klaute, wie es hieß, teure und preisgekrönte Lieblinge berühmter Leute und gab sie dann auf sehr dezente Weise und nur gegen eine hohe Summe an den Eigentümer zurück.

Obwohl ich im Grunde auf das zu erwartende, schnell verdiente Honorar scharf war, zögerte ich noch, doch dann stellte mir Frau Michelstedt die Braut vor – Minka. Sie war, wie ich feststellen konnte, nicht nur Braut, sondern auch Mutter. Das Körbchen voll reizender kleiner Hündchen fügte meiner Geldgier einen Schuss Sentimentalität hinzu, und nachdem ich einen Blick in Minkas seelenvolle, melancholische Augen geworfen hatte, übernahm ich den Auftrag.

Jack Kandlbinder – der Trottel des Monats.

Es war nicht schwer, Erwin Schmidtchen ausfindig zu machen. Mit den Folgen hatte ich allerdings nicht gerechnet.

Erwin war ein stämmiger Kerl Mitte Fünfzig und so hartgesotten, wie er nach einem halben Dutzend verschieden langer Gefängnisaufenthalte und sonstigen Betriebsunfällen nur sein konnte. Dass er mich nicht gerade mit Glacéhandschuhen anfassen würde, hatte ich vorausgesehen. Rockys Verhalten dagegen war eine Überraschung für mich – eine von der unangenehmen Sorte.

Er war kaum größer als ein durchschnittliches Pony, lief frei umher und konnte, wie gesagt, die Guten nicht von den Bösen unterscheiden. Schließlich kämpfte ich mit ihm und Erwin zugleich, wobei mir der Hund bedeutend gefährlicher vorkam als der Hundefänger. Ich brauchte zu meinen Profikünsten noch ausgesprochenes Glück. Immerhin, während Rocky jaulend meinen ersten, heftigen Fußtritt verdaute, kühlte ich Erwin Schmidtchen das Mütchen mit einem Boxhieb, wie er nicht beim Ringtraining gelehrt wird – einem gemeinen, rücksichtslosen und sehr effektvollen Schlag unter die Gürtellinie.

Trotzdem hatte ich zuvor ein paar ordentliche Schläge einstecken müssen, ganz zu schweigen von den irischen Wolfshundzähnen in meinem Unterarm.

»Du blöder Hund«, sagte ich zu dem noch immer japsenden Rocky. »Kannst du denn nicht Freund und Feind unterscheiden? Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen, zu deiner Braut – kapiert?«

Von da an zeigte er sich zerknirscht, und seine Reue war kaum leichter zu ertragen als die vorausgegangenen Aggressionen. Er erhob sich auf die Hinterbeine, wobei er mich um gut zehn Zentimeter überragte, seine Zunge befeuchtete mein Gesicht, sein Fell zuckte vor Kummer über sein vorheriges Verhalten, während er mir vergeistigt und entzückt in die skeptisch dreinblickenden Augen starrte.

Schließlich gelang es mir, ihn in meinem Auto zu verstauen. Rockys freudige Erregung war noch lange nicht vorüber, und daher entwickelte sich die Fahrt für mich zu einer feucht-fröhlichen Angelegenheit. Nachdem er mein Gesicht abgeschleckt hatte, setzte er seine Tätigkeit an meinem Hals fort, wobei er immer wieder vor Dankbarkeit winselte und mir die Sicht nach hinten völlig verdeckte.

»Du bist ein Idiot«, sagte ich zu ihm. »Ein ganz blöder Hund. Merk dir das: Ein langer Stammbaum ist kein Ausgleich für mangelnden Verstand.«

Ich glaube, er hat es sogar verstanden. Jedenfalls vergoss er anschließend bittere Tränen – die dicksten und bittersten, die ich seit langem gesehen hatte.

Dennoch lag etwas Rührendes in der Art, wie er Minka begrüßte. Er schlug damit sämtliche mir bekannten Ehepaare um Längen.

»Tun Sie doch nicht so«, sagte Frau Michelstedt. »Sie mögen Hunde in Wirklichkeit genauso gern wie ich, Herr Kandlbinder.«

»Sagen wir mal, fast so gern, Frau Michelstedt. Und im Grunde kann ich mir diese Vorliebe gar nicht leisten.«

Sie tat etwas dagegen – mit Hilfe eines großzügigen Barschecks. Außerdem hatte sie inzwischen den Arzt herbeigerufen, der mir gegen Rockys Bisse eine Spritze gab.

»Er hat nicht gewusst, was er da tat«, erklärte meine Klientin ein wenig hilflos.

»Kein Wunder«, knurrte ich. »Ein irischer Hund mit einem amerikanischen Namen – das muss ihn doch völlig durcheinanderbringen. Außerdem ist er ein guter Ehemann, und guten Ehemännern traue ich prinzipiell nicht über den Weg. Die leben nämlich unter einer ständigen gefährlichen Stressbelastung.«

»Schauen Sie doch«, rief Frau Michelstedt entzückt. »Jetzt leckt er Ihnen die Hand.«

Ich zuckte zusammen. »Hoffentlich erinnert er sich an den Geschmack.«

Trotz meines unter Schmerzen aufrechterhaltenen Zynismus hielt ich die beinahe menschliche Episode mit Rocky noch für das Angenehmste, was mir in dieser Woche begegnet war. In größeren Dosen mögen die Reichen und ihre Lieblinge schwer zu ertragen sein, aber Frau Michelstedt hatte mir im Grunde einen Fall in den Schoß gelegt, von dem jeder Privatdetektiv träumt: schnell und zufriedenstellend zu lösen, mit einem Minimum an Beinarbeit verbunden, ohne lose Enden und mit einem begeisterten Klienten (ganz abgesehen von dem einträglichen Honorar).

So etwas erlebt man heutzutage nur noch selten.

Ich fuhr zurück nach München in mein Büro und war zufrieden und euphorisch, wenn nicht sogar glücklich gestimmt. Als ich die Tür öffnete, an der

 

Kandlbinder und Russenschluck, private Ermittlungen

 

prangte, schaute meine Sekretärin Sandra Büchner von ihrer Schreibmaschine mit solcher Unschuldsmiene zu mir auf, dass es geradezu herzerfrischend war. Ich bewunderte kurz und weit weniger unschuldsvoll ihre langen Beine, ehe sie mich fragte: »Wie gehen die Geschäfte?«

Sandra war eine große, schlanke Brünette, die Nora Brecht-Dubois' Aufgabe übernommen hatte, als weder Nora noch ich mit gutem Gewissen behaupten konnten, dass sie mein spärliches Gehalt zum Leben nötig hatte. Nora war wohl mit meinem Leben allzu sehr verflochten, als dass sie noch länger meine Sekretärin hätte sein können.

»Ganz prima«, erwiderte ich. »Wenn man mal von ein paar kleinen Bissen absieht. Aber die sind jetzt schon unter medizinischer Kontrolle, und außerdem können wir auch die fällige Miete bezahlen. Gibt es hier etwas Neues?«

»Frau Alexander von Castell hat angerufen. Ich sagte, dass Sie in Kürze zurücksein müssten, und sie bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie sie baldmöglichst besuchen möchten.«

»Sie meinen Herrn Alexander von Castell«, entgegnete ich automatisch.

»Nein, das meine ich nicht.« Sandras Augen blitzten spöttisch. »Ich kenne schließlich den Unterschied. Männer haben tiefere Stimmen.«

»Schön, schön«, beruhigte ich sie. »Also Frau Alexander von Castell. Glauben Sie, das bedeutet einen weiteren Auftrag für den armen, schwer arbeitenden Jack Kandlbinder? Ich habe wohl gerade eine Glückssträhne, Schätzchen. Bis später.«

Ich ging wieder hinunter zu meinem Wagen, einem Giulia Sprint, dessen Äußeres sich in einem verheerenden Zustand befand. Aber unter seiner zerbeulten Oberfläche schlug ein edles Herz, ein Motor, vorzüglich eingestellt von einem begnadeten Automechaniker, der sich stets über meine exzentrische Bescheidenheit in puncto äußerer Schein zu amüsieren pflegte. Während ich den Sprint in Richtung Dachau steuerte, dachte ich über Alexander von Castell nach.

Für einen Misanthropen wie mich gibt es keine Kompromisse – entweder hat er überhaupt keine Freunde oder einen ganzen Haufen von, sagen wir, guten Bekannten. Alexander rangierte irgendwo im oberen Teil dieses Haufens, und wenn wir mehr Zeit oder mehr gemeinsame Interessen gehabt hätten, wäre aus unserer Beziehung vermutlich so etwas wie echte Freundschaft geworden. Aber unsere gemeinsamen Interessen waren leider überwiegend beruflicher Natur: Er besaß eine blühende Anwaltskanzlei, und ich übernahm von Zeit zu Zeit gewisse Aufträge für ihn. Er war ein paar Jahre jünger als ich, sehr erfolgreich und sehr beschäftigt – mit zwei Worten: ein brillanter Strafverteidiger, obgleich ihm das Wort Strafverteidiger gar nicht passte und er sich selbst lieber Rechtsanwalt in Verteidigungssachen genannt hätte. Als junger Mann hatte Alexander den berühmten Münchner Rechtsanwalt Karl Pfeiffer bewundert, dessen Schauspielerkunst vor Gericht er inzwischen nicht nur fortführte, sondern sogar noch übertraf. Aber das war der einzige Punkt, in dem sich die beiden glichen. Alexander war raffiniert und kultiviert, ein schlauer Manipulator von Richter und Staatsanwalt, und vielleicht noch schlauer, wenn es galt, eine Pointe auszuarbeiten. Doch im Gegensatz zu Karl Pfeiffer war er kein Theoretiker. Seine Laufbahn entsprach weitgehend einem Klischee – vom Tellerwäscher zum reichen Mann –, und sein Aufstieg hatte, zweifellos unterstützt von seiner Frau, damit begonnen, dass er im Umgang mit der Staatsanwaltschaft die Ellbogen einsetzte. Für einen jungen Anwalt waren die Erfahrungen, die er dabei machte, unendlich wertvoll, denn nur so verlor er niemals die Maxime aus den Augen, dass das Recht vor Gericht und nicht in den Bibliotheken der rechtswissenschaftlichen Institute zu seiner wirklichen Geltung kommt. Die Arbeit bei Gericht stimulierte ihn und brachte seine Talente erst voll zur Geltung. Sein berühmtester Fall war vermutlich die Verteidigung der skandalumwitterten Herzogin Laura di Messina – ein Prozess, der wochenlang die Schlagzeilen der Boulevardpresse in Anspruch nahm. Die Herzogin, eine leichtlebige Frau, die sich aus ihrer Einsamkeit in ein von wenig Skrupeln eingeschränktes Liebesleben gestürzt hatte, war ein intimes Verhältnis mit einem Ganoven eingegangen, einem gewissen Maxie Tannenbaum. Eines Nachts erschoss die Herzogin ihren Liebhaber bei einem Streit. Alexander von Castell, der seine Zeugen sozusagen wie ein Varieté-Künstler aus dem Zylinder präsentierte, hatte nachgewiesen, dass dies nicht der erste Streit zwischen den beiden gewesen war, dass Maxie schon mehrmals ziemlich brutal gegen die Herzogin vorgegangen war und dass er dabei sogar handgreiflich geworden war. Der Richter ging auf von Castells Version weitgehend ein – vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil er Maxies Ableben als keinen großen Verlust für die Menschheit empfand. Skeptiker wie ich allerdings blieben nach wie vor der Ansicht, dass das Argument der Notwehr auf schwachen Füßen stand, wenn man davon ausging, dass der Gerichtsmediziner immerhin vier .45er Kugeln aus dem Körper des verblichenen Tannenbaum entfernt hatte.

Alexanders Frau Kamilla war Ende Dreißig – eine attraktive Blondine mit einer guten Figur, der man ihre zwei Schwangerschaften nicht ansah. Eine Frau, die mit sich selbst im Gleichgewicht war; nicht hübsch, aber irgendwie beeindruckend. Sie kannte den Preis, den man zu bezahlen hatte, und wusste auch, dass alles und jeder seinen Preis hatte auf dieser Welt. Ihr Zusammenleben mit Alexander kam mir manchmal vor wie eine genau vorausgeplante, militärische Kampagne, und sie stellte die Bedeutung ihrer Funktion gewiss nicht mehr in Frage als ein General bei der Schlacht. Ich mochte sie nicht besonders gern, aber meine Antipathie rührte wohl vorwiegend daher, dass ich sie kaum kannte – jedenfalls nicht so gut wie ihren Mann. Immerhin hatte ich herausgefunden, dass sie etwas vorschnell ihre Schlüsse zog, und dass diese Schlüsse sich in dem Zwischenbereich von Annahmen und Vorurteilen bildeten – zwei Qualifikationen, die nicht weiter voneinander entfernt waren als die Zähne in ihrem strahlenden, makellosen Gebiss. Sie liebte Alexander und stellte sich schützend vor ihn – wenngleich auch diese Eigenschaft nicht in der Lage war, das Eis zwischen mir und ihr zum Schmelzen zu bringen.

Ich habe gelernt, dass die Fallen, die aus Liebe gestellt werden, den Menschen zumeist das größte Unglück bringen.

Ich hatte mich schon so oft gefragt, wie sie sich gegenüber der Klienten-Schar ihres Mannes verhalten mochte – eine etwas merkwürdige Mischung aus Leuten aus dem Showgeschäft, Pechvögeln, Angehörigen von Minderheitsgruppen und Menschen mit einem gewissen Hang zur Unterwelt. Aber wenn ich es mir genauer überlegte, kannte ich auch schon die Antwort: Jeder von diesen Klienten war willkommen, vorausgesetzt, er nützte dem Konto oder der Reputation ihres Mannes.

Wozu wollte Kamilla von Castell mich sprechen? Ich verstieg mich nicht allzu sehr in Spekulationen, denn in Kürze würde ich es ja ohnehin erfahren; doch dann sagte ich mir, dass ich ja auch ein Büro besaß, und vielleicht wäre es Kamilla von Castell immerhin möglich gewesen, dorthin zu kommen – im Gegensatz zu unserer guten Frau Michelstedt. Na schön, die Reichen sind eben ganz anders als du und ich. Sie lieben ihre private Atmosphäre, ihre luxuriöse Umgebung, und vor allem kommt es ihnen darauf an, Dritte, die sie mit Dienstleistungen beauftragen, springen zu lassen.

Na schön, Kandlbinder würde also springen. Es war ihm egal, ob er auf diese Weise sein Gesicht verlor, was immer das sein mochte, oder nicht.

 

Das Heim der von Castells war ein pseudo-englisches, hohes Bauwerk auf einem landschaftlich hübsch gelegenen Hügel. In dieser Gegend brauchte man seinen Reichtum nicht zur Schau zu stellen. Man konnte ihn ohnehin förmlich riechen. Und das Haus war ein Meisterwerk an Understatement. Ein zierliches Hausmädchen führte mich in einen Raum, den ich von meinen früheren Besuchen her kannte, und in dem ich mir stets, so auch diesmal, schmutzig und schutzlos vorkam. Alles in diesem Raum war makellos weiß; Wände, Decke, Teppiche, selbst die Möbel.

Während ich also wartete, kam ein etwa neun Jahre alter Junge herein und betrachtete mich kritisch. Er hatte blondes Haar und glich eher seiner Mutter als seinem Vater, vor allem wegen seines vollen, etwas flapsigen Gesichts. Sein Name war Julian oder Julius – ich hatte es vergessen.

»Servus«, sagte ich.

Statt einer Antwort zielte er auf mich mit dem sehr echt aussehenden Revolver in seiner Rechten.

Er drückte zweimal auf den Abzug, und auch das Ergebnis war recht realistisch.

Ich sagte: »Spiel nie mit einem Revolver, mein Junge, und benutze ihn nur im Ernstfall. Wenn du Glück hast, gibt man dir eine Chance dazu in irgendeinem Krieg – was auch immer es für einen Krieg geben mag, wenn du erwachsen bist.«

Natürlich verstand er nicht, was ich meinte. Es hätte mich auch nur beunruhigt. Aber vielleicht hatte er den allgemeinen Hinweis über den Gebrauch von Handfeuerwaffen kapiert.

Doch nein, er starrte mich an, ohne zu blinzeln, in jener unverwandten Weise, wie sie Kindern und geistig und psychisch Zurückgebliebenen eigen ist.

Und wieder betätigte er den Abzug.

Peng! machte der Revolver.

»Lass das«, sagte ich.

Aber es war in den Wind gesprochen. Er zielte schon wieder auf mich.

Er stand keinen Meter von mir entfernt und hielt die Spielzeugpistole etwas locker zwischen den Fingern. Ohne mich dabei allzu sehr anzustrengen, stieß ich mit meinem linken Fuß danach. Ich verfehlte die Hand des Jungen, was auch meine Absicht gewesen war, traf aber den Revolver genau am richtigen Punkt, so dass er dem Jungen aus der Hand und im weiten Bogen auf den dicken weißen Teppich fiel.

Der Junge starrte mich mit dem erschrockenen Ausdruck an, der bei Kindern normalerweise einem lauten Gebrüll vorausgeht.

Ach, du meine Güte, sagte ich mir. Jetzt geht's gleich los. Jetzt tritt ein Stausee von Kindertränen über die Schleusen.

Aber noch ehe er die Schleusentore öffnen konnte, bemerkte eine trockene, weibliche Stimme: »Gut gemacht, Jack. Sie sind immer für prompte Erledigung, nicht wahr? Nun gut – ein Mann, der Hunde und Kinder nicht leiden kann, hat vielleicht andere Qualitäten.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Ich schaute nach links. In der Tür stand Kamilla von Castell, tadellos gekleidet in einem schwarzen Pullover und einem schwarzen Rock. In ihrem perfekten Aussehen erinnerte sie mich an das Aushängeschild eines teuren Schönheitssalons. Ihre ausdruckslosen, grauen Augen schauten mich an, und sie versuchte, den Blick jener amüsierten Verachtung zu verbergen, den sie sich während der letzten zwanzig Jahre mühsam angeeignet hatte.

Wie so vieles, was Kamilla von Castell tat, war auch das nicht ganz richtig. Sagen wir, die Nuance stimmte nicht.

Ich erhob mich und lächelte über ihre Bemerkung.

»Sie haben nur zur Hälfte recht«, bemerkte ich. »Auf treue Hundeaugen falle ich immer wieder rein.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Ich sagte ihr nicht, dass mich eigentlich kein Mensch außer Nora mit meinem Vornamen anredete. Wenn so etwas wie Freundschaft in der Luft lag, benutzte man mir gegenüber gewöhnlich meinen – nun ja – herkömmlichen Vornamen: Ludwig.

Überrascht durch die beginnende Konversation, vergaß der Junge ganz das Heulen. Kamilla von Castell warf sich in die Bresche.

»Julian«, sagte sie und würdigte ihn kaum eines Blickes, »warum gehst du nicht zum Spielen hinaus in den Garten? Ich glaube, dort gefällt es dir besser als hier drinnen bei uns.«

In ihrem Ton lag ein Befehl, dem man nicht widersprechen durfte, und Julian beeilte sich, ihm zu folgen, wobei er nur kurz anhielt, um seinen Spielzeugrevolver vom Teppich aufzuheben.

»Feuerwaffen sind hierzulande wirklich so etwas wie eine Seuche«, sagte ich. »Aber der Junge fängt besonders früh damit an.«

Seine Mutter zuckte abweisend mit den Schultern. »Sie haben keine Kinder, also fehlen Ihnen die Vergleichsmaßstäbe. Glauben Sie mir, Eltern haben es manchmal nicht leicht, dem Druck der Reklame, des Fernsehens und der Nachbarskinder zu widerstehen.« Sie machte eine oft geübte Geste. »Wollen Sie sich nicht wieder setzen?«

Ich folgte ihrer Einladung, und sie bot mir einen Drink an, den ich allerdings ablehnte.

Sie lächelte. »Sie wollen erst sehen, was ich im Schilde führe, nicht wahr?«

Während sie sich mir gegenüber niederließ und dabei in wohldurchdachter Manier nicht wenig von ihren langen, gutproportionierten Beinen zur Schau stellte, erklärte ich: »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich bin nicht in Eile.«

»Ich hatte auch gar nicht vor, zwischen Tür und Angel mit Ihnen zu sprechen.«

»Haben Sie mich aus beruflichen Gründen hergerufen?«

»Ja.«

»Aha, ich verstehe.« Aber ich verstand keineswegs. Noch nicht.

Ich zweifelte nicht daran, dass sie genau wusste, womit sie beginnen wollte. Daher überraschte mich auch ihre nächste Frage nicht.

»Sie mögen mich wohl nicht besonders, oder täusche ich mich?«

»Hat Alexander Sie noch nicht über die Vor- und Nachteile direkter Fragen aufgeklärt? Man sollte sie nur stellen, wenn man sicher sein kann, die gewünschte Antwort zu erhalten. Sonst passiert es leicht, dass beide Parteien dadurch vor den Kopf gestoßen werden.«

»Man könnte es auch anders sagen«, meinte Kamilla. »Ich sollte keine Fragen stellen, deren Antworten mir bereits bekannt sind.«

»Sie haben recht. Sicher, das Gesetz verbietet solche Fragen nicht, aber die Polizei beherrscht in der Hinsicht völlig den Markt.«

»Sie wissen genau, Jack, dass Ihre Manieren zu glatt und gepflegt sind für einen typischen Privatdetektiv; Sie sind wohl etwas zu kultiviert für Ihren Beruf. Das Zusammenleben mit Nora hat aus Ihnen einen ungewöhnlichen Menschen gemacht, der...«

»Ach, was, ich habe zum Beispiel keine Manieren beim Essen, um damit anzufangen. Hören Sie, Kamilla, ich lasse mich für gewöhnlich auf keine Herausforderungen ein, aber ich wusste nicht, dass Sie vorhatten, unser persönliches Verhältnis zu diskutieren.«

»Nun seien Sie doch nicht gleich beleidigt. Ich erwähne ja nur Ihre verschiedenen Qualitäten, die dazu führten, dass meine Wahl auf Sie gefallen ist.«

»Und in welcher Sache, wenn ich fragen darf?«

»Alexander ist verschwunden.«

Ich nahm an, sie rechnete damit, dass mir diese Mitteilung einen tüchtigen Schock versetzen würde. Aber sie kam zu nackt, zu unreflektiert. Ich musste erst mehr darüber wissen.

»Seit wann?«, fragte ich.

»Seit drei Wochen.« Den Rest der Geschichte teilte sie mir ohne Effekthascherei und völlig emotionslos mit. »Am Abend des Dritten dieses Monats kam er einfach nicht aus der Kanzlei zurück. Ich machte mir eigentlich noch keine Sorgen, sondern nahm an, dass ihm etwas Unerwartetes über den Weg gelaufen sein musste, dem er nachgehen wollte. Wahrscheinlich hatte er vergessen, mich anzurufen. Ich ging also zu Bett, ohne dass ich beunruhigt gewesen wäre, doch am nächsten Morgen war er immer noch nicht nach Hause gekommen. Ich rief in der Kanzlei an, auch dort hatte man nichts von ihm gehört. Ich wollte schon die Polizei alarmieren, als er mich plötzlich anrief. Es war eine kurze Unterhaltung – er sprach, ich hörte ihm zu. Er sagte, alles sei in Ordnung, und er wolle sich nur eine Weile zurückziehen und nachdenken.«

»Nachdenken?«

»Ja. Er sagte wörtlich: Ich brauche Zeit, um mir alles einmal genau durch den Kopf gehen zu lassen. Als ich wissen wollte, wann er zurücksein würde, wollte er sich nicht verbindlich äußern...«

»Hat er das auch wörtlich gesagt?«

»Ja. Ich habe immer und immer wieder darüber nachgedacht. Aber im Verlauf des Telefongesprächs konnte ich ihm keine weiteren Fragen stellen. Ehe ich dazukam, hatte er schon aufgelegt.«

»Sie sind seine Frau und kennen ihn besser als ich. Gab es Streit zwischen Ihnen? Hat er sich in der letzten Zeit seltsam verhalten? Konnten Sie eine solche Reaktion vorhersehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keine andere Frau – wenn Sie so etwas vermuten sollten.« Ich hatte solcherlei zwar nicht vermutet, aber ich hielt den Mund. »Sie werden einwenden, dass die Ehefrau es immer erst zuletzt erfährt, und was es dergleichen an schönen Redensarten mehr gibt. Aber wir können uns Debatten darüber, ob Alexander dieser Typ von Ehemann ist, ruhig ersparen: Er hatte einfach nicht die Zeit für derartige Eskapaden. Und er kam mir auch nicht so vor, als stünde er vor einem Nervenzusammenbruch.«

»Trank er in letzter Zeit?«

»Vielleicht mehr als vor einem Jahr – aber bestimmt nicht übermäßig.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er ist auch nicht mehr in der Kanzlei aufgetaucht. Nach einiger Zeit dachte ich noch einmal daran, vielleicht doch die Polizei zu benachrichtigen, aber schließlich besteht keinerlei Verdacht, dass irgendetwas an der Sache faul sein könnte...«

»Sind Sie dessen sicher? Ihr Telefongespräch war doch verhältnismäßig kurz. Können Sie mit Bestimmtheit sagen, dass Sie mit Alexander gesprochen haben?«

»Hundertprozentig. Vergessen Sie nicht, wir sind schon eine Weile miteinander verheiratet.« Sie atmete tief ein. »Drei Wochen lang habe ich mich in Geduld geübt. Aber jetzt bin ich es leid, den Kindern irgendwelche Geschichten zu erzählen. Ich will, dass Sie Alexander finden.«

Auf dem Flügel stand sein Foto. Der Flügel war selbstverständlich ebenfalls

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2022
ISBN: 978-3-7554-1350-9

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