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Leseprobe

 

 

 

 

ELVIRA HENNING

 

 

TAWAMAYA

2. ZWILLINGSBRÜDER

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

TAWAMAYA - 2. DIE ZWILLINGSBRÜDER 

JARED. Oktober 1874 

MEGHAN. November 1874 

EIN MANN ZU SEIN. Dezember 1874 

DIE MEHEGANS. März 1875 

DIE REISE. April 1875 

BUTCH. Mai 1875 

LINDENBERG. September 1875 

DER STURM. Oktober 1875 

HERMONS KIND. Dezember 1875  

HOCHZEITSFEIER. März 1876 

LITTLE BIG HORN. Juni 1876 

MÜTTER. Juli 1876 

AUF DES MESSERS SCHNEIDE. Januar 1877 

EIN ABSCHIED. August 1877 

DIE GLÄSERNE WAND. Januar 1878 

ALEX. September 1878 

BEGEGNUNG. März 1879 

ANPAGLIWIN. April 1879 

YELLOWSTONE RIVER. Frühjahr 1881 

ICAMNA. Herbst 1880 

PEPPA. Frühling 1883 

LAKOTAWORTE 

Danksagung 

 

 

Das Buch

Hermon und Alex Mehegan haben nach einem langen Weg endlich ein Zuhause auf der Ranch Tawamaya gefunden. Die Brüder Alex und Jam, der trotz seiner Behinderung wieder fest im Sattel sitzt, bewirtschaften gemeinsam die Ranch.

Hermon allerdings ist nicht zufrieden damit, ihre Zeit nur mit Kindern und Hausarbeit zu verbringen, sie will Pferde züchten, auf ihre eigene Weise, die so gar nicht den im Westen üblichen Methoden entspricht.

In der Familie stößt ihre Arbeit auf Widerstand.

Als jedoch immer mehr Rancher das Land besiedeln und damit beginnen, Zäune zu ziehen, wird Hermons Arbeit endlich anerkannt, denn die Arbeitspferde von Tawamaya sind bald im ganzen Land begehrt.

Die Arbeit mit den Pferden aber lässt ihr wenig Zeit für die Familie. Als sie deshalb nach der dritten Geburt beschließt, kein weiteres Kind mehr zu bekommen, steht ihre Ehe schließlich auf des Messers Schneide.

Mit ihren Pferden beschäftigt kann sie nicht verhindern, dass ihr kleiner Sohn in die Fluten des Yellowstone Rivers stürzt und von feindlichen Crow-Indianern gerettet wird. Alex setzt sein Leben aufs Spiel in der Hoffnung, den Jungen seiner Mutter zurückzubringen...

 

Mit dem Roman Tawamaya - 2. Die Zwillingsbrüder legt die deutsche Schriftstellerin Elvira Henning den zweiten Band ihrer erfolgreichen Tawamaya-Serie vor. 

 

   TAWAMAYA - 2. DIE ZWILLINGSBRÜDER

 

 

 

 

 

 

  JARED. Oktober 1874

 

 

Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Nach drei düstern Tagen, in denen die Wolken die Erde zu berühren schienen, brachen sich schüchterne Sonnenstrahlen in den großen Pfützen auf dem Hof vor dem Wohnhaus der Tawamaya Ranch am Fuß der Rocky Mountains.

Helmer, der Pferdeknecht verschwand mit mürrischer Miene und einer Schubkarre voller Heu im Stall. In den Paddocks standen nur wenige Pferde, denn die Crew der Viehtreiber war mit den Rindern, die verkauft werden sollten, auf dem Weg nach Süden zu der Verladestation.

Helmer wäre gerne mit ihnen geritten, aber er gehörte auch in diesem Jahr zu den Leuten, die zurückbleiben und den Betrieb auf der Ranch in Schwung halten mussten.

Chuck Heesley, der Vormann hatte sich nicht überreden lassen, auch die Pferde auf der Ranch mussten versorgt werden.

Helmer verteilte das Heu in den Paddocks hinter dem Stall. Tatezi, eine freundliche Gallowaystute rieb ihre Nase an seiner Schulter, und er klopfte ihr den Hals. Bei Mooney, dem schwarzweißen Pinto war er achtsam. Er hatte die schlechte Angewohnheit, zu beißen. Doch er war harmlos gegen Tec, den exzentrischen Hengst des Ranchers.

Miniwatu, Tecs Zwillingsschwester, die zwar wild, aber nicht bösartig war, stand allein in einem der Paddocks, denn der Boss war mit seinem Hengst draußen auf den Weiden. Helmer war froh darüber, denn er mochte Tec nicht, und auch mit seinem Besitzer hatte er so seine Probleme. Dem Pferdeknecht kam zum ersten Mal die eigenartige Kombination in den Sinn.

Die beiden Pferde waren Zwillinge, wie ihre Besitzer, Jam und Jad Mehegan, die Rancher von Tawamaya.

Miniwatu bekam eine Extraportion Hafer. Helmer strich ihr über die Flanke und den Bauch. »Wird nicht mehr lange dauern, bis du dein Kleines kriegst«, murmelte er.

Die übrigen Paddocks waren leer. Er brachte die Schubkarre nach draußen, schob die Hände in die Hosentaschen und trödelte über den Hof am Wohnhaus vorbei. In ihrem Stall hinter dem Gemüsegarten muhte die Milchkuh und übetönte das Gegacker der Hühner.

Helmer warf einen Blick um die Hausecke. Auf der Gartenbank hinter den Gemüsebeeten im Schatten einer dichten Hecke saß Hermon, Jad Mehegans Frau. Es hatte etwas mit ihr zu tun, dass er den Rancher nicht mochte, denn Hermon mochte er mehr, als gut für ihn war.

Die ganzen Verhältnisse im Ranchhaus waren ihm ohnehin irgendwie ein Rätsel. Er fragte sich, warum sie ihren Mann im Gegensatz zu allen anderen Leuten auf der Ranch bei seinem zweiten Vornamen Alex nannte.  

Zu Beginn, als sie auf die Ranch kam, mit Männerkleidern und kurz geschorenen Haaren, hatte er sich Hoffnungen gemacht und sich schließlich eine Abfuhr geholt.

Dann war ihr Kind zur Welt gekommen. Die Kleine musste schon vier gewesen sein, als Jad Mehegan sie endlich geheiratet hatte. Trotzdem konnte Helmer die Augen nicht von ihr lassen. Hier draußen auf der einsam gelegenen Ranch bekam man schließlich nicht allzu oft eine Frau zu sehen.

Sie war offensichtlich in Gedanken versunken, so wagte er es, sie zu betrachten. Sie trug Hosen und Reitstiefel. Die wilden braunen Locken hatte sie im Nacken zusammen-gebunden.

Sie war nicht wirklich schön. Die schmale, von Sommersprossen übersäte Nase war einen Hauch zu lang, der sanft geschwungene Mund zu breit.

Helmer wusste, sie konnte zupacken wie ein Mann, und sie strahlte eine ruhige Entschlossenheit aus. Doch er hatte auch erlebt, wie zornig sie sein konnte.

Sie strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Die zweite Hand ruhte auf dem runden Bauch, den auch das weite Männerhemd nicht mehr verbergen konnte. Das Kind bewegte sich unter ihrer Hand und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

»Wird dir langsam zu eng da drinnen, mein Sternenkind«, murmelte sie, »musst aber noch ein bisschen wachsen, bis du den Kampf mit dieser Welt aufnehmen kannst. Montana ist ein weites, wildes Land. Es wird deine Heimat werden und ich hoffe, du wirst es so lieben, wie dein Vater.«

Über ihr in den Büschen begann ein Vogel sein aufdringliches Lied zu zwitschern. Als sie den Kopf hob und zum Himmel blickte, schlich Helmer davon. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Die Wolkendecke war aufgerissen und gab nun ein großes Stück blauen Himmel frei. Die Sonne entfaltete noch einmal ihre ganze Pracht, bevor sie hinter den fernen Berggipfeln der Rockys versank. Als die Schatten sich übers Land legten, wurde die Luft kalt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ersten Nachtfröste kommen würden.

Ich muss das letzte Gemüse ernten, nahm sie sich vor. Die Kohlköpfe und die Kürbisse mussten noch verarbeitet werden.

Aus dem Haus waren Kinderstimmen zu hören, die lauter wurden und schließlich in grelles Geschrei umschlugen. Die Ruhe war vorbei. Hermon stieß die Luft verärgert durch die Nase. Warum mussten sie immer streiten! Der kleine Monty war im Grunde ein sanftes, friedliches Kind. Doch mit seinen drei Jahren war er nicht mehr bereit, hinzunehmen, dass seine ältere Cousine, Hermons Tochter Erin immer den Ton angab. Die Ermahnungen ihrer Mutter schlug Erin in den Wind.

»Du verwöhnst das Kind zu sehr«, warf Alex seiner Frau vor. Doch sie verteidigte ihre Tochter: »Sie ist noch so klein. Du bist so hart zu ihr.«

Sie hatten deswegen gestritten, im Grunde jedoch wusste Hermon, dass er recht hatte.

Während sie noch darüber nachdachte, ob sie hineingehen und die Streithähne trennen sollte, vernahm sie eine laute, ärgerliche Männerstimme. Es war Jam, Alex’ Zwillingsbruder, der diesen Part übernommen hatte. Es irritierte Hermon, dass auch er in letzter Zeit die Kinder so hart anpackte, denn er liebte die Kleinen und hatte stets eine Engelsgeduld mit ihnen gehabt. Bei ihm hatte Erin oft Schutz und Trost gesucht, wenn sie traurig war.

Jam hatte sich in den letzten Monaten verändert. Er war häufig gereizt, und die Kinder schienen ihn plötzlich zu stören.

Die Tür zur Küche wurde geöffnet, und die Kinder kamen in den Garten, Monty zerknirscht, Erin mit aufsässiger Miene. Sie rannte zu ihrer Mutter: »Monty ist doof!«

Hermon nahm ihre Tochter in den Arm: »Warum habt ihr schon wieder gestritten?«

Es war Monty, der antwortete: »Immer will sie Indianer spielen. Dann spricht sie so komisch und schreit und schubst mich, wenn ich nicht mitspiele.«

»Was kann ich dafür, wenn du so dumm bist!«, verteidigte sich Erin, schüttelte ihr unordentliches Haar aus dem Gesicht und versuchte sich ihrer Mutter zu entwinden. Doch Hermon hielt sie fest: »Hör zu, Erin! Nein, hör auf, herumzuzappeln! Monty ist nicht dumm. Er ist noch nie im Indianerdorf gewesen. Er kennt ihre Sprache nicht. Du bist unfair. So geht das nicht! Wenn ihr euch nicht vertragen könnt, dürft ihr nicht mehr zusammen spielen!«

Sie ließ Erin los und stand auf. »Ich werde Monty nach Hause bringen, dann hast du Zeit, nachzudenken.«

»Ich will aber mitkommen zu Tante Lil und zu Marilyn«, maulte Erin. Hermon griff nach Montys Hand und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Du bleibst hier!«

Monty trottete schweigend neben ihr her. Es war nur eine kurze Wegstrecke zum Haus auf dem Hügel, wo Lil und Chuck Heesley, der Vormann der Ranch wohnten.

Lil war dabei, hinter dem Haus die Wäsche aufzuhängen. Als sie Montys Miene sah, fragte sie sofort: »Haben sie wieder gestritten?«

»Ja. Ich weiß nicht, was ich mit Erin falsch gemacht habe. Sie will immer den Ton angeben.« »Sie ist einfach ein etwas dickköpfiges kleines Wesen. Und das ist kein Wunder bei den Eltern«, meinte Lil mit einem Lächeln, »das gibt sich, wenn euer Kleines erst da ist.«

»Ich hoffe, du hast recht«, schnaufte Hermon und machte sich auf den Heimweg.

Als sie das Ranchhaus erreichte, kam ein Reiter auf den Hof galoppiert. Sie drehte sich um und sah ihm zu, wie er absaß und absattelte. Er trug ein abgewetztes, fransenbesetztes Wildlederhemd. Das schwarze Haar reichte ihm fast bis auf die breiten Schultern.

Helmer kam aus dem Bunkhaus und nahm ihm den Hengst ab. Hermon ging ihm entgegen. Er begrüßte sie mit einem Lächeln und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Alles gut, Chey?«, benutzte er ihren Kosenamen.

»Ja, alles in Ordnung, Alex.«

Er bedachte sie mit einem fragenden Blick, sagte aber nichts. Sie gingen zum Wohnhaus. Hermon fand ihre Tochter bei Granny Augusta in der Küche. Sie unterdrückte den Impuls, sich Erin noch einmal vorzunehmen, denn sie war erschöpft und der Diskussionen müde. Eigentlich hatte sie sich vor Einbruch des Winters noch so viel Arbeit mit den Pferden vorgenommen. Doch die Schwangerschaft wurde nun beschwerlich, und sie musste ständig gegen Alex kämpfen, der nicht damit einverstanden war, dass sie immer noch auf der Range arbeitete. 

Granny Augusta reichte ihr einen Becher Kräutertee. »Setz dich, Mädel, du bist blass.«

»Ist schon in Ordnung, Tante Augusta. Ich helfe dir beim Kochen. Ich sehe dir doch an, dass dein Rücken wieder schmerzt.«

»Ja, ist halt so. Kümmere du dich um dein Kind. Du darfst dir nicht mehr so viel zumuten.« Hermon reagierte ungeduldig: »Bitte, Tante Augusta, du nicht auch noch! Ich kann es nicht mehr hören.«

Augusta sagte nichts mehr, doch ihr Blick sprach Bände. Sie bereiteten schweigend die Mahlzeit zu. Als das Essen auf dem Tisch in der Küche stand, tauchte Alex auf, und Jam folgte ihm in seinem Rollstuhl. Während der Mahlzeit unterhielten sie sich über den Viehtrieb. Die Frauen aßen schweigend. Erin kleckerte still und schlecht gelaunt auf dem Tisch herum. Hermon bemerkte, dass Jam kaum etwas aß. Er war schmal geworden, und um seine Mundwinkel hatten sich zwei Falten eingegraben. Auch seine Beweglichkeit hatte nachgelassen. Obwohl er nie ein Wort darüber verlor, war ihr nicht entgangen, dass es ihm nicht gut ging. Seine Rückenverletzung, die ihn dazu verurteilte, einen Rollstuhl zu benutzen, schien ihm Probleme zu bereiten. Er machte kaum Versuche, aus diesem Stuhl herauszukommen, und er stieg kaum noch in den Sattel.

Ihr war schon der Gedanke gekommen, es könne etwas mit Meghan Potter zu tun haben. Jam wich allen Fragen aus. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie enttäuscht von ihrer Freundin war. Nach der großen Hochzeitsfeier auf Tawamaya hatte sie nur noch einen einzigen Brief geschrieben. Das war im Mai. Auf Hermons Briefe war bis heute keine Antwort gekommen.

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Brüder den Tisch verließen und Granny Augusta abzuräumen begann. Sie stand auf und erwischte Erin noch am Arm, bevor sie aus der Küche flüchten konnte. Das Kind erfand tausend Ausreden, um noch nicht ins Bett zu müssen. Der Kampf endete mit Gebrüll.

Hermon war heilfroh, als ihre Kleine endlich schlief. Die Küche war aufgeräumt. Granny Augusta hatte sich bereits hingelegt. Aus Jams Zimmer hörte sie leise Männerstimmen. Der Kamin im Salon war kalt. Hermon fröstelte, warf dem vollen Flickkorb einen verdrossenen Blick zu, dann zog sie sich in die Schlafstube zurück, setzte sich aufs Bett und plötzlich kamen die Tränen.

Was ist los mit mir? fragte sie sich, ich habe doch schon ganz andere Probleme gelöst. Warum heule ich bei jeder Kleinigkeit? Sie strich sich eine Locke aus der Stirn, wischte die Tränen ab und legte die Hand auf ihren Bauch. Das Kind strampelte. Die zarten Bewegungen hatten etwas Beruhigendes. Doch sie fror. Es war kalt in der Stube. Sie kleidete sich hastig aus und schlüpfte in ein langes Flanellnachthemd.

Draußen knarrten die Dielen unter einem Stiefelpaar, dann trat Alex ein. Wie an jedem Abend wenn sie allein waren, nahm er sie in die Arme: »Wie geht es dir, Chey?«

»Ach...«, murmelte sie, dann brach sie erneut in Tränen aus.

»Chey, geht es dir nicht gut?«

»Doch... es ist nur,... wahrscheinlich bin ich im Augenblick nur überempfindlich.«

»Du bist eisig kalt, geh ins Bett.« Hermon kroch unter die Decke, während Alex sich auskleidete. Auch das Bettzeug war kalt, und sie fror noch mehr. Alex löschte das Licht, kam zu ihr unter die Decke und nahm sie in den Arm. Hermon genoss die Wärme seines Körpers und begann sich langsam zu entspannen, während seine Hand sanft über ihren Rücken strich.

»Und jetzt erzähl mir, was dich wirklich bedrückt.«

»Es ist wegen Erin. Sie streitet sich nur noch mit Monty.«

»Es ist normal, dass Kinder streiten.«

»Es liegt an ihr. Sie will immer alles bestimmen. Du hast recht, Alex, ich habe sie wohl schrecklich verzogen. Und wenn wir nun noch ein Kind haben...«

»Chey, hör auf, das ist Unsinn. Erin ist eben genauso stur und eigensinnig wie ihre Eltern. Was erwartest du also?«

»Du denkst, das ist alles in Ordnung so?«

»Ja, ist es. Frierst du immer noch?«

»Nur noch ein bisschen.«

»Ist das alles, was dir Sorgen bereitet?«

»Ich mache mir auch Sorgen wegen Jam. Was ist mit ihm? Redet er mit dir darüber?«

»Nein. Aber ich weiß es auch so.«

»Ist etwas mit seinem Rücken?«

»Ich denke, es ist etwas mit seiner Seele. Er ist enttäuscht und fühlt sich wohl an der Nase herumgeführt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Als Meghan Potter fort war, ist ihr wahrscheinlich klar geworden, auf was sie sich da eingelassen hatte. Sie wären sich besser nie begegnet.«

Hermon presste ihr Gesicht an seine Brust. »Du kannst nichts dafür, Chey.«

»Ich hätte das nie von ihr gedacht. Und irgendwie kann ich das immer noch nicht glauben.«

»Er muss damit klar kommen. So ist eben das Leben.«

»Für ihn ist es besonders schlimm.«

»Schlaf jetzt, denk nicht mehr daran. Wir können es nicht ändern.«

»Bist du so hart geworden, dass es dich nicht mehr berührt?«

»Du weißt, dass das nicht so ist. Aber ich kann ihm nicht helfen.«

 

Es war mitten in der Nacht, als Alex hochschreckte. »Was ist?«, fragt Hermon verschlafen.

»Geräusche im Hof!« Er sprang aus dem Bett und schlüpfte im Dunkeln in seine Hose.

Hermon meinte: »Ich kann nichts hören, das hast du dir eingebildet. Sicher hast du geträumt.«

»Nein, hab ich nicht.«

Alex war seit Tagen unruhig und gereizt, denn die Rückkehr der Crew vom Viehtrieb nach Süden war längst überfällig. Ohne ein weiteres Wort ging er nach draußen.

Durch die offene Tür hörte Hermon nun auch Stimmen vom Hof. Sie schloss für einen Moment noch einmal die Augen und kuschelte sich in die warmen Decken. Doch dann stand sie ebenfalls auf und kleidete sich an. Im Salon, der nur durch das Mondlicht erleuchtet war, das durch die Fenster fiel, kam Alex ihr mit gehetztem Schritt entgegen. Sie wusste sofort, dass etwas geschehen war.

»Die Crew ist zurück! Es hat einen Überfall gegeben mit Toten und Verletzten!«

Seine Stimme war panisch. »Wo ist die Verbandskiste? Die Wunden müssen ordentlich versorgt werden!« Hermon nahm die Holzkiste aus der Kommode. »Wer ist tot, Alex?«

»Gary Franklin und Old Abe«, entgegnete er kurz.

»Oh, nein!« Sie starrte Alex erschrocken an. Dann fragte sie: »Soll ich Lil holen?«

»Ja. – Kannst du dann ins Bunkhaus kommen und helfen?« Er nahm ihr die Holzkiste ab. »Schaffst du das?«

»Ja, ich komme.« Hermon fragte nicht weiter. Sie sah, dass Alex sehr verstört war.

Er ging zum Bunkhaus, und Hermon lief, so schnell es in ihrem Zustand möglich war, zum Haus auf dem Hügel. Es dauerte eine Weile, bis Lil öffnete. Sie stand schlaftrunken im Nachthemd an der Tür, aber sie fragte sofort: »Was ist passiert?«

Hermon berichtete, was Alex ihr erzählt hatte. Lil schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Was ist mit Chuck, ist er verletzt?«

»Ich weiß es nicht.«

Lil kleidete sich mit fliegenden Händen an, dann liefen sie zurück zum Ranchhof. Das Bunkhaus war hell erleuchtet. Als die Frauen eintraten, schlug ihnen der Geruch nach Schweiß, Blut und Eiter entgegen. Im Schlafraum herrschte ein eigenartiges Chaos. Auf mehreren Pritschen lagen Verletzte. Die Männer, die unverletzt waren, machten einen verwirrten und etwas hilflosen Eindruck. Nur Alex und Black Abe Corman waren damit beschäftigt, sich um die Verletzten zu kümmern.

Lil sah sich nach Chuck um. Er lag auf einer der Pritschen, und sie registrierte erschrocken, dass er zwei Schussverletzungen hatte. Sein Oberkörper war nackt, die Schulter verbunden, seine Hose war über dem linken Oberschenkel blutdurchtränkt.

Hermon und Lil kümmerten sich sofort um Chuck. Black Abe hatte die Kugeln zwar entfernt, doch die Wunden sahen nicht gut aus. Jimmy, der Mannschaftskoch brachte heißes Wasser, und Hermon machte sich an die Arbeit. Sie wusch die Wunden gründlich aus. Chuck war hart im Nehmen. Er knirschte zwar mit den Zähnen, gab jedoch keinen Ton von sich. Nachdem er versorgt war, überließ sie ihn Lil und ging Black Abe zur Hand.

Als alle Arbeit getan war, graute der Morgen. Doch im Schlafsaal herrschte nun nächtliche Stille, denn die Leute waren völlig erschöpft. Keiner der Männer hatte von dem Überfall geredet. Alle waren eigenartig schweigsam.

Auch Hermon war am Endet. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und sehnte sich nach ihrem Bett. Alex, der es ihr ansah, wollte sie zum Haus begleiten. Als sie das Bunkhaus verließen, war Jam vor der Tür.

»Was ist los?«, fragte er besorgt. Alex erklärte es mit kurzen Worten, griff nach dem Stuhl und schob Jam, obwohl er sich wehrte, zum Haus zurück.

»Lass die Männer schlafen, wir können im Augenblick nichts mehr für sie tun. Verdammt, nimm die Finger aus den Speichen, oder soll ich sie dir brechen!«

Er brachte Jam ins Haus, dann sagte er: »Ich lege mich noch eine Stunde hin. Wir reden später, mir ist jetzt nicht danach.« Ohne auf Jams Protest zu achten, verschwand er in der Schlafkammer. Jam sah Hermon fragend an.

»Ich weiß nur, dass sie überfallen wurden. Old Abe und Gary sind tot.«

Dann folgte sie ihrem Mann. Alex stand verloren vor sich hinstarrend in der Schlafkammer. Hermon schlang die Arme um seinen Hals: »Es ist schrecklich, dass zwei Männer tot sind. Ich weiß, was Old Abe dir bedeutet hat. Und Chuck und die anderen...«

»Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich es vielleicht verhindern können.«

»Das ist Unfug, und das weißt du! Vielleicht wärst du dann jetzt auch tot.«

»Ich habe dir noch nicht alles gesagt. Das Ganze ist noch viel schlimmer. Die Banditen haben die Hälfte unserer Jahreseinnahmen erbeutet. Chuck hatte die eine Hälfte des Geldes bei sich, Old Abe die andere. Wir haben das Geld immer so aufgeteilt. Sie haben Old Abe ausgeplündert. Ich weiß nicht, wie wir das Jahr überstehen sollen. Bis zum Frühjahrsroundup ist das verbliebene Geld längst aufgebraucht, für Löhne, Lebensmittel und was sonst noch so anfällt. Kurz und gut, unsere gesamte Existenz steht auf dem Spiel, denn wir haben so gut wie keine Reserve. Gott nochmal, so lange ich nicht da war, ist es gelaufen, und jetzt passiert sowas.« Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

»Alex, jetzt hör mal zu, das ist schlimm, aber wir schaffen das. Wir haben eine gute Kernmannschaft. Alle anderen müssen wir eben entlassen. Außerdem können wir noch ein paar von unseren Pferden verkaufen. Mister Kohrs hat Interesse gezeigt. Wir finden einen Weg. Hauptsache, die Männer werden alle gesund. Also jetzt lass den Kopf nicht hängen.«

Alex zog sie in die Arme: »Ich hab dich gar nicht verdient, Chey! Du bist so mutig, jammerst nicht, obwohl du schwanger bist und die Geburt kurz bevor steht.« Er verbarg sein Gesicht in ihren Locken. »Ja, du hast recht, wir schaffen das, irgendwie. Jetzt leg dich schlafen, du musst völlig erledigt sein. Ich glaube, ich kann jetzt nicht schlafen. Ich geh noch mal rüber ins Bunkhaus, es gibt noch einiges zu regeln. Du brauchst Ruhe, du musst auf unser Kind aufpassen.«

Er küsste sie, bevor er ging. Hermon ließ sich erschöpft auf das Bett fallen.

 

Als sie aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Sie fand Erin in der Küche bei Granny Augusta. Die alte Frau kam zu ihr und nahm sie in den Arm: »Ich habe gehört, was geschehen ist.«

Hermon entgegnete: »Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon. Ich werde gleich rüber ins Bunkhaus gehen und nach den Männern sehen.«

»Zuerst wirst du dich hinsetzen und ordentlich frühstücken. Du darfst dich jetzt nicht übernehmen, Mädel, sonst kommt es womöglich zu einer frühzeitigen Niederkunft.«

Hermon nahm den Kaffeebecher, den Granny Augusta ihr reichte und setzte sich.

»Ich passe schon auf.« Sie nahm Erin in den Arm, die auf ihren Schoß geklettert war und aß ihren Haferbrei.

»Ich will mit, Mummy«, forderte Erin, als Hermon aufstand. Sie schüttelte den Kopf: »Nein, mein Sonnenkind. Im Bunkhaus haben kleine Mädchen nichts verloren.«

Erin blieb schmollend bei ihrer Granny zurück. Hermon fand im Bunkhaus nur Jimmy und die verletzten Männer vor. Die übrige Crew war bereits draußen bei der Arbeit. Sie sah sich die Wunden an, machte neue Verbände und hoffte, dass alle Männer über den Berg kommen würden. Sie wechselte noch ein paar Worte mit dem Koch und gab ihm Anweisung, die Männer gut zu versorgen. Dann ging sie hinüber zum Haus auf dem Hügel, um nach Chuck zu sehen, den es wohl am schlimmsten erwischt hatte. Lil sah sie durch das Küchenfenster kommen und lief ihr entgegen: »Alles in Ordnung mit dir, Hermon?«

»Ja, wie geht es Chuck?« Lil verzog das Gesicht: »Du weißt ja, wie er ist, hart wie Stein. Er klagt nicht, ist nur wütend. Ich glaube, er macht sich große Vorwürfe, was natürlich Unsinn ist. Er fiebert. Ich bin sicher, er hat große Schmerzen.«

»Hast du ihn schon frisch verbunden?«

»Nein. Ich dachte mir, dass du kommst. Du kannst das besser als ich.«

Sie gingen hinein und machten sich an die Arbeit. Lil brachte abgekochtes Wasser und Hermon löste die Verbände. Die Schulterwunde sah gut aus, doch das Bein machte ihr Sorgen. Die Wundränder waren stark gerötet. Sie reinigte die Wunde noch einmal gründlich. Der Vormann hielt sich am Bettrahmen fest und gab keinen Ton von sich. Aber seine Muskeln waren angespannt wie Bogensehnen. Nur als Hermon Alkohol über die Wunde goss, kam ein zorniges Stöhnen über seine Lippen.

Etwas später in der Küche nahm Lil, die die schreiende Marilyn wiegte, Hermon in den Arm: »Ich bin so froh, dass du da bist. Ich mache mir solche Sorgen um ihn.«

»Chuck ist stark. Er schafft das. Soll ich Monty mit rüber nehmen?«

»Wenn es dir nicht zu viel wird.«

Hermon nahm den Jungen bei der Hand und ging mit ihm zurück zum Ranchhaus. Erin war begeistert, doch Hermon mahnte: »Vertragt euch, ich will kein Geschrei hören!«

»Ja, ja!«, versprach Erin, packte Montys Hand und zog ihn hinter sich her hinaus in den Garten. In der Küche fand sie Alex, der noch nicht gefrühstückt hatte und den Rest Haferbrei aus dem Topf löffelte. Sie schenkte ihm den letzten Kaffee aus der Blechkanne ein und erzählte von Chuck. Alex schob den leeren Topf zurück. »Geht es dir wenigstens gut, Chey?« »Ja, alles in Ordnung.« Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Wange.

 

In der folgenden Woche saßen Alex und Jam Stunde um Stunde über den Büchern und rechneten, wie sie das Jahr überstehen konnten. Hermon kümmerte sich um die Verletzten und vor allem um Chuck, dem es schlecht ging. Er hatte hohes Fieber, und Lil war außer sich vor Sorge. Am Ende gewann er den Kampf. Das Bein wurde besser, und damit fiel auch das Fieber.

Hermon stieg wider alle Vernunft noch einmal in den Sattel und ritt hinaus auf die Pferdeweide, um zu sehen, welche Tiere verkauft werden konnten. Doch sie wusste, es würde nicht annähernd reichen, das Loch, das in die Geldkasse gerissen war, zu stopfen.

Eigentlich brauchten sie ein Wunder, um aus den Schwierigkeiten herauszukommen. Und Hermon war überzeugt, dass es Wunder gab. Dass sie mit Alex verheiratet war und mit ihm auf Tawamaya lebte, zählte zu ihren ganz persönlichen Wundern.

Mit Chucks Genesung wuchs ihr Optimismus. Sie kehrte zur Ranch zurück und erledigte die letzten Arbeiten im Gemüsegarten. Es fiel ihr schwer, sich zu bücken und sie wünschte sich das Ende der Schwangerschaft herbei. Doch das Kind würde wohl erst Anfang November, etwa in vier Wochen geboren werden.

Die Sonne versank hinter den Bergen und die Luft wurde kalt, als Hermon das Werkzeug wegräumte. Ihr Rücken schmerzte, und sie begann zu frieren. Granny Augusta hielt heißes Wasser bereit. Als sie sich gründlich gewaschen und ihre Fingernägel von der Erde befreit hatte, fühlte sie sich besser. Granny Augusta gab ihr eine Tasse mit Brühe: »Trink etwas Heißes, damit dir warm wird. Du solltest nicht mehr so schwer arbeiten, Mädel.«

Hermon entgegnete: »Einer muss es ja machen.« Sie ruhte sich einen Moment am warmen Herd aus, dann deckte sie den Küchentisch für die Abendmahlzeit.

Alex kam nicht rechtzeitig nach Hause, und als Hermon einen Blick in Jams Stube warf, fand sie sie leer. So setzte sie sich mit Granny Augusta und Erin zum Essen.

Die Brüder kamen, als sie die Mahlzeit fast beendet hatten. Hermon rümpfte ihre durch die Schwangerschaft empfindliche Nase: »Ihr stinkt entsetzlich nach Stall!«

»Wir waren im Stall bei Miniwatu«, erklärte Alex, »es sieht so aus, als ob sie heute Nacht ihr Fohlen bekommen wird. Aber sie gefällt mir nicht. Sie ist unruhig. Etwas ist diesmal anders. Kannst du vor dem Schlafengehen noch einmal nach ihr sehen, Chey?«  

»Ja, mach ich. Doch jetzt ab mit euch in die Badestube.«

Jam folgte seinem Bruder schweigend. Seiner Miene war anzusehen, wie besorgt er um seine Stute war, an der sein Herz hing.

»Mum, darf ich zugucken, wenn Miniwatu ihr Fohlen kriegt?«, fragte Erin. Alex drehte sich noch einmal um: »Du wirst schön brav in dein Bett gehen, wo kleine Mädchen um diese Zeit hingehören.« Erin zog eine Flunsch, aber sie gab kein Widerwort, denn sie wusste, in solchen Dingen war ihr Vater unerbittlich. Granny Augusta wärmte das Essen für die Männer und Hermon brachte ihr Kind zu Bett. Als sie zurück in die Küche kam, waren Alex und Jam mit dem Essen fertig und unterhielten sich.

»...das ist Unfug, Jam. Es genügt, wenn ich mir die Nacht um die Ohren schlage. Ich kümmere mich um Miniwatu. Geh schlafen.« 

Jam zögerte noch, wechselte einen beredten Blick mit Alex, dann wünschte er gute Nacht.

Hermon und Alex gingen gemeinsam in den Stall. Sie beschäftigte sich mit der Stute, sprach mit ihr, und Alex wartete ab.

»Es könnte sein, das Fohlen liegt verkehrt herum«, vermutete sie schließlich. Alex stimmte ihr zu: »Das befürchte ich auch, und ich glaube, es ist sehr groß.«

»Ich werde hierbleiben.«

»Nein, Chey, das kann die ganze Nacht dauern. Du musst schlafen.« Er legte eine Hand auf ihren Bauch, »ich hole dich, wenn es notwendig ist.«

»Also gut.« Sie klopfte Miniwatu sanft den Hals, küsste Alex flüchtig auf den Mund und ging zurück ins Haus. Nachdem sie noch einen Blick ins Kinderzimmer geworfen hatte, legte sie sich ins Bett, zog die Decke fest um sich und lauschte noch eine Weile auf den Wind, der ums Haus pfiff.

 

Regen prasselte gegen die Fensterscheiben und schwere Wolken hingen über den Bergen, als der Morgen graute. Hermon erwachte, weil sie fror. Sie wollte sich in Alex’ Arme flüchten, doch sein Bett war leer, unberührt. Sie erinnerte sich und vermutete, dass er immer noch im Stall war. Etwas schwerfällig kroch sie aus dem Bett, zog Hosen, Stiefel, ein Flanellhemd und einen dicken Pullover an. Sie hörte Schritte im Flur, und dann stand Alex in der Tür.

»Gut, dass du wach bist, Chey.«

»Ist das Fohlen da?«

»Nein. Es sieht nicht gut aus. Es ist zu groß. Ich habe versucht, es zu drehen, aber da ist nichts zu machen. Es sieht verdammt nicht gut aus.«

»Ich komme!« Sie griff nach der Bürste, kämmte die Locken zurück und band sie im Nacken zusammen. Dann versuchte sie sich zu strecken, den Rücken zu dehnen. Sie hatte nicht gut geschlafen. Ihr Körper war verkrampft, die Bauchmuskeln schienen zu kurz zu sein. Sie hätte gerne in der Küche noch einen Kaffee getrunken, doch sie wollte Alex, der zurück in den Stall gegangen war, nicht warten lassen. Sie lief durch den Regen über den Hof, versuchte den großen Pfützen auszuweichen, die sich überall gebildet hatten und war froh, als sie den Stall erreichte.

Hermon erkannte auf den ersten Blick, in welchem Zustand die Stute war. Sie lag im Stroh, zitternd und völlig erschöpft. Alex hockte bei ihr. Sie kniete sich neben Miniwatus Kopf, legte die Arme um ihren Hals und redete mit ihr. Dabei spürte sie die Angst und die Schmerzen der gepeinigten Stute, doch sie merkte auch, dass ihre Stimme sie erreichte und dass sie ruhiger wurde. Hermon war jedoch sicher, der Stute blieb nicht mehr viel Zeit. Sie hatte sich die ganze Nacht gequält, ihre Kraft ging zu Ende.

Ihre Hände lagen fest auf dem Pferdekörper. Sie spürte jede Wehe, die Anspannung, das Zittern der Muskeln. Sie ließ sich ganz darauf ein, redete mit dem Tier, ohne sich ihrer Worte bewusst zu sein, litt mit ihm, spürte seinen Schmerz, hörte Alex’ Stimme, ohne wahrzunehmen, was er sagte.

Hermon verlor jedes Zeitgefühl, war ganz bei Miniwatu. Sie hörte Alex fluchen. Ihre Hände strichen über das schweißnasse Fell, und auch die eigene Kraft schien zu schwinden. Die Zeit dehnte sich endlos. Der Regen prasselte auf das Stalldach. Miniwatu streckte sich, ließ den Kopf in Hermons Schoß sinken.

»Nein! – Du darfst jetzt nicht aufgeben, du kannst das, du schaffst das!« Hermon wusste nicht, ob sie laut geredet oder nur gedacht hatte. Die Stute lag völlig regungslos. Sie zitterte nicht mehr. Dann bäumte sie sich noch einmal auf. Alex stieß einen Triumphschrei aus: »Ja! Ja, so ist gut! Weiter so!«

Hermon blickte auf. Das Fohlen war geboren, lag als nasses Bündel im Stroh. Es war ein großes, kräftiges Tier, deshalb hatte es seiner Mutter solche Scherereien gemacht.

Alex, selber klatschnass geschwitzt, begann es abzureiben. Miniwatu hob den Kopf. Da kam das Fohlen auch schon auf die Beine.

Hermon richtete sich auf, wollte aufstehen. Da fuhr ein Schmerz wie ein Blitzschlag durch ihren Körper. Sie stieß einen Schrei aus und sank auf den Pferdehals.

»Chey! Um Himmelswillen, was ist denn?« Alex stürzte zu ihr. Sie versuchte sich aufzurichten. Da kam der Schmerz wieder, nicht mehr so unverhofft, aber noch heftiger und sie biss in Alex’ Arm, den er um sie gelegt hatte.

»Autsch! Verdammt!«, brüllte er, »Chey! Was ist los? Du kannst doch das Kind jetzt nicht kriegen! Es ist viel zu früh!«

Als die nächste Wehe wie ein Messerstich durch ihren Leib fuhr, spürte sie das Wasser an ihren Beinen herabrinnen. Alex rang um Fassung. »Ich bringe dich ins Haus, Chey!«

Er wollte sie aufheben, doch sie stieß ihn zurück. »Die Decke, Alex!«

Er zog die Pferdedecke vom Balken und legte sie auf den Boden. Hermon wälzte sich auf den Rücken, stieß einen unflätigen Fluch aus. Als die nächste Wehe einsetzte, presste sie mit einem wütenden Knurren. Alex hockte neben ihr und fühlte sich so hilflos wie noch nie im Leben. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.

»Alex! Verdammt noch mal, so hilf mir doch! Die Hose! Soll es zwischen meinen Beinen ersticken!« Er kniete sich neben sie, riss sämtliche Knöpfe von der Hose und zerrte sie bis zu ihren Knien, als auch schon die nächste Wehe folgte und ein kleiner Kopf zwischen ihren Beinen hervortrat. Alex starrte sprachlos auf das Geschehen, und er zitterte.

Zwei, dreimal konnte sie atmen, dann stieß sie das Kind vollständig aus. Endlich setzte sein Verstand wieder ein. Er nahm das kleine, blutverschmierte Menschlein hoch, hielt es ungläubig in seinen Händen. Hermon holte tief Luft und hob den Kopf. Das Kind gab einen ärgerlichen Protestlaut von sich.

»Leg es auf meinen Bauch und zieh dein Hemd aus.«

»Mein Hemd?«

»Ja, gib es her.«

Er legte das Kind vorsichtig auf ihr ab, und sie umfasste es sanft mit ihren Händen. Alex reichte ihr das Hemd und dann sagte er: »Es ist ein Junge, Chey!«

»Natürlich! Männer machen nichts als Ärger.« Sie betrachtete das Kind. »Du hast dich da ziemlich unverschämt in die Welt gedrängt. Du bekommst den Namen Jared, nach deinem Vater. Das passt!« Sie wickelte das Baby in das Hemd.

Mit der nächsten Wehe stieß sie die Nachgeburt aus. Alex sah einfach nur zu.

»Jetzt stell dich nicht so blöd an, verflixt! Soll ich hier denn alles allein machen! Schneide Miniwatu drei Haare ab und knote sie um die Nabelschnur, dann trenn sie durch.«

Sie drehte das Kind auf den Rücken und sah Alex‘ Bemühungen zu.

»Soll ich schneiden?«

»Ja, mach schon.«

Alex tat es. Dann wickelte sie Jared sorgfältig ein. »Er ist so winzig«, bemerkte er.

»Ja, er ist viel kleiner als Erin bei ihrer Geburt. Er ist zu früh. Aber er wird schon wachsen. Da, nimm ihn.«

Alex legte das kleine Köpfchen an seine Wange und flüsterte zärtliche Worte. Hermon rollte sich zur Seite und zog die durchnässte Hose hoch. Dann nahm sie ihr Kind schützend in den Arm und ließ sich von Alex durch den strömenden Regen ins Haus tragen, wo Granny Augusta eben aus der Küche kam.

»Potz Blitz! Da haben wir die Bescherung«, rief sie aus, »dass du deine Kinder aber auch nie wie andere Frauen anständig im Bett bekommen kannst!«

Im selben Moment kam Erin aus dem Kinderzimmer geflitzt: »Mummy, Mummy, was...«

»Du hast gerade einen kleinen Bruder bekommen«, erklärte ihr Vater, »lauf hinüber zu Tante Lil, sie soll gleich kommen.«

»Alex, du kannst sie nicht allein...«

»Doch, sie kann das, sie ist alt genug. Geh, Erin, und trödle nicht. Verdammt, du wirst schwer, Chey! Ich habe gerade einem Fohlen auf die Welt geholfen und die ganze Nacht nicht geschlafen.« Er trug Hermon in die Schlafkammer. Granny Augusta legte schnell eine Decke aufs Bett, bevor er sie ablegte. Hermon ließ sich erleichtert in die Kissen sinken. Die Welt um sie herum schien sich aufzulösen. Granny Augusta nahm ihr den Säugling aus dem Arm und schlug das Hemd auseinander. Ihr Blick ruhte einen Augenblick auf dem Kind, dann sah sie Alex an. Ihr Blick sprach Bände. Doch sie sagte nur: »Geh in die Küche. Hol heißes Wasser und die große Waschschüssel.«

Als er mit den Sachen zurückkam, stürmten Erin und Lil herein. Granny Augusta wusch das Kind, und Lil kümmerte sich um Hermon. Erin sah fasziniert zu, wie Granny Augusta ihren kleinen Bruder wickelte. Alex kam sich nun überflüssig vor. Er verließ die Schlafkammer und ging hinüber zu Jam.

»Ist das Fohlen geboren? Wie geht es Miniwatu, Jad?«, bestürmte er seinen Bruder.

»Ja. Es war schwer. Das Fohlen lag falsch herum und es ist sehr groß. Doch Miniwatu hat es geschafft. Und dann hat Hermon im Stall ihr Kind bekommen.«

»Was!«

»Es geschah ganz plötzlich.«

»Ist es nicht viel zu früh.«

»Ja«, Alex ließ sich in den Sessel fallen, »es ist ein Junge. Er ist sehr klein. Ich glaube nicht, dass er große Chancen hat, zu überleben. Das Fohlen ist besser dran.«

Jam sagte nichts. Er nahm die Whiskeyflasche aus dem Regal und schenkte ein. Alex trank. Seine Hand zitterte. Sie schwiegen, es bedurfte keiner Worte.

 

Hermon wusste nicht, ob sie geschlafen hatte. Lil saß bei ihr. Sie strich ihr eine Locke aus dem Gesicht: »Du musst trinken, Hermon.« Sie setzte ihr einen Becher an die Lippen.

Hermon trank. Dann fragte sie: »Wo ist mein Kind?« Lil legte ihr das winzige Bündel in den Arm. Hermon strich über das kleine Kinderköpfchen und versuchte, wach zu bleiben. Sie öffnete die Knöpfe von ihrem Hemd, das sie noch immer anhatte, entblößte ihre Brüste und bemühte sich, ihre Brustwarze in Jareds winzigen Mund zu schieben. Die Mühe war vergebens. Er reagierte nicht, machte keinen Versuch, zu saugen.

»Jared, du musst lernen zu trinken! Hörst du mich, ich bin deine Mama. Ich will, dass du lebst. Du schaffst das, mein Kleiner.«

Sein Köpfchen rollte zur Seite. Hermon hüllte ihn in ihre Decke. Sie war so müde. Mit dem Kind im Arm schlief sie ein.

Als sie die Augen wieder öffnete, saß Alex bei ihr und hatte die Hand schützend über Jareds Köpfchen gelegt, der regungslos in ihrem Arm lag und kaum zu atmen schien.

»Wie geht es dir, Hermon?« Sie sah ihn an und in ihrem Blick war ein Schimmer von Zorn: »Ich weiß, was ihr alle denkt! Aber ich gebe ihn nicht einfach her. Ich werde um ihn kämpfen!«

»Ich weiß.« Mehr sagte er nicht, dann schwiegen sie lange. Alex rührte sich nicht, sah einfach nur sein Kind an. Dann nahm er Hermons Hand: »Ganz gleich, was geschieht, wir haben uns. Er küsste sie. »Ich muss los, Micante.«

»Ja«, sie nickte, »ist in Ordnung.« Mit einem letzten Blick auf seinen Sohn ging er hinaus.

Gleich darauf kam Granny Augusta mit Erin und einem Frühstück herein. Das kleine Mädchen kam mit verdrossener Miene an ihr Bett und betrachtete den Bruder.

»Der ist doof! Der ist ja viel zu klein.«

»Er wird wachsen, Erin.«

»Tu ihn weg, ich will zu dir«, verlangte sie. »Das geht nicht, Erin, es ist wichtig, dass ich ihn warmhalte.« Erin drehte sich um und rannte schreiend hinaus.

»Ich kümmere mich um sie«, versprach Granny Augusta, »ich werde Lil bitten, sie erst einmal mitzunehmen. Und nun iss etwas, Mädel.« Sie folgte der brüllenden Erin. Hermon schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Sohn, der schlaff in ihrem Arm lag. Sie redete mit ihm und sang ihm vor, nahm seine winzigen Fingerchen in die Hand und streichelte ihn. Dann kam Granny Augusta zurück. Gemeinsam bemühten sie sich, Jared zum Saugen zu bringen, doch alle Mühe war vergebens. Die alte Frau schüttelte sorgenvoll den Kopf, ging in die Küche und kam mit einem dünnen Kräutertee zurück.

»Es ist zum Verrücktwerden! Es gibt im ganzen Haus keine Babyflasche mehr.«

Sie setzte sich auf die Bettkante und ließ mit einem kleinen Löffel ein paar Tropfen in Jareds Mund laufen. Es dauerte einen Augenblick, doch dann schluckte er.

»Immerhin«, murmelte Granny Augusta.

In den nächsten Stunden verbrachte Hermon viel Zeit damit, ihrem Kind immer wieder ein paar Tropfen einzuflößen. Jeder weitere Versuch, ihn zum Saugen zu bewegen, war vergebens. Seine Windel wurde kaum nass. Sie wickelte ihn frisch, streichelte seinen kleinen Körper und nahm die Füße mit den winzigen Zehen in die Hand. »Du bist so schön, Jared, du bist ein so perfekter kleiner Junge. Bleib bei uns. Die Welt da draußen ist so aufregend.«

Die Stunden vergingen. Hermons Brüste begannen zu spannen. Sie ließ keinen Blick von ihrem Kind, hatte Angst, dass es aufhören würde zu atmen. Sie massierte ihre Brüste, fing die Milchtropfen auf und ließ sie mit dem Löffel in den kleinen Mund rinnen.

Granny Augusta kam von Zeit zu Zeit herein und überredete sie zum Essen. Hermon entgingen nicht ihre sorgenvollen Blicke. Es dämmerte bereits. Jareds Atem war so flach, dass sie ihn kaum wahrnahm. Plötzlich begann er leise zu wimmern. Hermon öffnete erneut ihr Hemd. Ihre Brüste waren nun so prall, dass sie bei leichtem Druck zu tropfen begannen. Sie schob ihre Warze in Jareds Mund. Er schluckte und schmatzte ein wenig.

»Jared, du musst saugen, sonst wird das nichts!« Und dann hielt sie ihm das Näschen zu. Da schloss sich sein Mund um die Warze, und sie spürte ein ganz leichtes Saugen. Sie ließ seine Nase los. Jared schmatzte. Ein paar Tropfen liefen aus seinem Mund. Sie widerholte den Versuch und er saugte zwei, drei mal. »Ja, ja, so ist es gut.«

Jared bewegte seine Zunge, dann schlief er ein. Hermon sang leise für ihn. Sobald er blinzelte und die Äuglein öffnete, legte sie ihn wieder an die Brust. Und er saugte, nur sehr schwach und nur ein paar Mal, aber immerhin. Dann schlief er wieder.

Sie zündete eine Kerze an, denn es war dunkel geworden. Nach einer halben Stunde machte sie den nächsten Versuch. Jared trank wieder ein paar Tropfen. Er saugte nun etwas kräftiger. Hermon streichelte ihm übers Köpfchen und sie fand, dass er zufrieden aussah.

Wahrscheinlich bilde ich mir das ein, sagte sie sich.

»Du schaffst das, mein kleines Löwenkind«, flüsterte sie ihm zu, dann schlief sie ein.

 

Eine Hand auf ihrer Wange weckte sie. Granny Augusta war über sie gebeugt: »Du musst essen, Mädel! So geht das nicht.« In Gedanken fügte sie hinzu, es ist schlimm genug, wenn der Kleine stirbt.

Jared bewegte seine Finger und jammerte leise. Hermon richtete sich ein wenig auf und legte ihn wieder an die Brust. Granny Augusta sah verwundert, wie der kleine Mund zupackte und er zu saugen begann. Hermon strich mit den Fingern über ihre Brust, um die Milch besser zum Fließen zu bringen. Jared schluckte. Sie strahlte Granny Augusta an.

»Das ist ein kleines Wunder. Ich hätte keinen Cent für sein Leben gegeben.«

Hermon betrachtete ihr saugendes Baby: »Wir werden es der Welt schon zeigen, mein Sohn!«

Er trank diesmal mehrere Minuten. Dann öffnete er seine Augen ganz weit und schien seine Mutter anzusehen. Hermon wischte die Milch von seinem Bäckchen und küsste ihn. Dann legte sie ihn an die Schulter und er gab einen kleinen Rülpser von sich.

»Oh, deine Windel ist nass, mein Löwenkind!«, stellte sie zufrieden fest. Granny Augusta reichte ihr frische Wickeltücher und setzte sich zu ihnen.

»Ich will dir keine Angst machen, Mädel, aber die Schlacht ist noch nicht gewonnen. Er ist etwa vier Wochen zu früh geboren. Kein Mensch weiß, ob in seinem kleinen Körperchen schon alles richtig entwickelt ist. Meist haben solche Kinder eine schwache Lunge.«

»Jared schafft das, er ist mein Sohn!«, sagte Hermon bestimmt.

»Jetzt iss die Suppe, die ich dir mitgebracht habe. Du musst zu Kräften kommen.«

Sie nahm ihr den Säugling aus dem Arm. Hermon setzte sich auf, schob die Beine über die Bettkannte und begann zu essen, dabei stellte sie etwas erschrocken fest, wie erschöpft sie war. »Wir sollten ihn in sein Körbchen legen, damit du richtig schlafen kannst«, schlug Granny Augusta vor. »Nein! Er braucht mich. Er muss spüren, dass ich da bin.«

Sie nahm ihn wieder in den Arm, deckte ihn zu und schloss die Augen. Granny Augusta ließ sie allein. Im Salon traf sie auf Jam, der sie fragend ansah. Sie lächelte traurig: »Vielleicht hat der Liebe Gott ja doch ein Einsehen.«

 

Die Nacht war pechschwarz, als Alex zurückkam. Er sattelte Tec ab. Dann stand er unschlüssig vor dem Stall und sah hinüber zum dunklen Wohnhaus, dessen Umrisse nur vage zu erkennen waren.

Er hatte ein schlechtes Gewissen. Wie hatte er weggehen können an diesem Tag? Er war sicher, dass sein kleiner Sohn diese Welt wieder verlassen hatte. Wieso war er nicht geblieben und hatte ihn wenigstens auf seinem kurzen Lebensweg begleitet?

Natürlich, im Wegrennen warst du schon immer gut, Alex Mehegan!

Während der Arbeit hatte er die Gedanken verdrängt. Jetzt schämte er sich. Wie sollte er Hermon unter die Augen treten und ihr sagen, dass die Welt nicht untergehen würde.Für Hermon würde es die Hölle sein, ihr Kind zu verlieren.

Es fiel ihm schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das Haus war totenstill, der Salon dunkel. Er machte kein Licht. Die Dielen knarrten unter seinen Stiefeln. Vor der Tür zur Schlafstube blieb er stehen. Kein Laut. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der etwas Verbotenes getan hatte. Langsam drückte er die Klinke herunter. Neben dem Bett brannte eine Kerze. Hermon war allein. Sie schlief, hielt das Kind im Arm. Lautlos trat er ans Bett, und er sah, dass Jared im Schlaf an seiner kleinen Faust nuckelte. Er war so erleichtert, dass er sich setzen musste. Hermons entspanntes Gesicht trieb ihm die Tränen in die Augen. Unser Kind lebt! Oh, Gott, Hermon, wie sehr ich dich liebe!

Als hätte sie seinen Blick gespürt, schlug sie die Augen auf: »Alex!« Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Wange: »Verzeih mir, Chey, dass ich so ein Feigling bin.«

»Alex! Was ist denn los?«, fragte sie verwundert, »alles ist gut, Jared und ich schaffen das schon. Er trinkt jetzt. Was hast du?«

»Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen. Ich hatte so erbärmliche Angst, mit ansehen zu müssen, wie unser Sohn stirbt. Ich bin wieder einmal davongelaufen.«

Hermon setzte sich kerzengerade auf: »Nein, Alex, es ist in Ordnung. Ich habe dir gesagt, dass du gehen kannst. Diese Schlacht mussten wir zwei allein schlagen. Du hättest nichts tun können.« Sie legte ihm das Kind in den Arm. »Schau nur, wie süß er ist.«

Aber Alex hatte nur Augen für Hermon, die ihm eine Haarsträhne aus der Stirn strich und ihm ein Lächeln schenkte. »Du meinst das wirklich?«

»Ja.« Er legte seinen freien Arm um sie: »Ich habe kein Wort dafür, wie sehr ich dich liebe.«

»Ich weiß«, sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, zwischen ihnen das Kind. Sie wussten beide, es war einer der kostbaren Augenblicke, in denen sie sich ganz nahe waren.

 

Alex und Hermon schliefen in dieser Nacht kaum. Immer wenn sie ihr Kind stillte, was sie nahezu jede Stunde tat, war auch er wach und hielt beide im Arm.

Gegen Morgen, als sie erschöpft in einen kurzen Tiefschlaf fielen, forderte Jared zum ersten Mal mit einem schwachen, aber dennoch aggressiven Weinen sein Recht.

Während Hermon ihn stillte, ging Alex in die Küche und machte ein Frühstück für sie. Als er zurückkam, war Jared schon wieder eingeschlafen. Doch im Licht des neuen Tages war erkennbar, dass das kleine Gesichtchen sich geglättet und Farbe bekommen hatte. Alex nahm ihr seinen Sohn ab und sah ihr beim Essen zu. »Soll ich bei euch bleiben, Chey?«

»Nein, Alex! Mach deine Arbeit, und nimm dir eine Decke mit. Vielleicht kannst du da draußen an einem verborgenen Plätzchen ein bisschen schlafen. Wir kommen schon klar.«

Er nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich. Dann küsste er auch Jared und gab ihn seiner Mutter zurück.

Etwas später erschien Granny Augusta. Sie war zufrieden mit dem, was sie vorfand und sie lächelte: »Du hast gegessen, und der Kleine sieht wirklich besser aus.«

Sie sah nach dem Rechten, räumte ein bisschen auf, brachte Hermon eine Kanne Tee und warmes Waschwasser, und legte ihr ein frisches Hemd zurecht.

Gewaschen und frisch angezogen kuschelte Hermon sich zufrieden in die Kissen, um bis zum nächsten Stillen zu schlafen.

Am Nachmittag machte endlich auch Jam einen Besuch. »Darf ich reinkommen?«, fragte er von der Tür aus. »Ja, natürlich, Jared ist gerade wach geworden.«

Er steuerte seinen Stuhl dich neben ihr Bett. Hermon nahm ihren Sohn hoch: »Schau, mein Löwenkind, das ist dein Onkel Jam.« Sie legte ihm das Baby auf den Schoß.

»Er ist wirklich sehr klein. Doch er wird schon wachsen«, sagte er zuversichtlich und legte seine große Hand um das kleine Köpfchen, »entschuldige, Hermon, dass ich erst jetzt komme, aber... ich...«

»Ja, ich weiß, Jam, wenn man selbst Kummer hat, ist es schwer, auch noch den Kummer der anderen zu ertragen. Jetzt bist du ja da.«

Jam betrachtete das Baby und wiegte es auf den Knien. Hermon sah ihm zu, dabei fiel ihr auf, wie dünn er geworden war, und wie müde er wirkte.

»Wie geht es Miniwatu und dem Fohlen, Jam?« Er lächelte: »Miniwatu hat sich gut erholt und das Fohlen ist ein prächtiges Tier, aber...«

»Was?«

»Ich fürchte, Miniwatu ist schuld daran, dass dein Kind zu früh geboren ist und... «

»Unsinn!«, fiel Hermon ihm ins Wort. Sie wollte nicht, dass Jam sich womöglich Vorwürfe machen würde. »Er wollte einfach auf die Welt. Und jetzt muss er eben ein bisschen kämpfen, dass er auch bleiben darf.«

Jared begann zu plärren. Seine Stimme war noch immer dünn und kraftlos, doch Hermon lächelte: »Er hat schon wieder Hunger.«

 

Drei Tage lang tat Hermon Tag und Nacht nichts anderes, als ihr Kind zu versorgen und zwischendurch ein bisschen zu schlafen. Auch Alex fand in den Nächten keine Ruhe, denn er wollte nicht in einem anderen Zimmer schlafen. Wenigstens in den Nächten wollte er bei Hermon und seinem Sohn sein. Inzwischen war auch er zuversichtlich, dass Jared eine Chance hatte, zu überleben. Doch der Winter stand vor der Tür, und so klein und schwach, wie das Kind war, konnte schon ein Schnupfen sein Tod sein. Deshalb war Alex sehr zurückhaltend mit der Illusion, seinen Sohn aufwachsen zu sehen. Und er machte sich Sorgen um Hermon, ihr ging es nicht gut, obwohl sie Alex mit einem Lächeln zu täuschen versuchte.

Am vierten Tag nach der Geburt bekam sie Fieber. Nun war auch ihr Leben in Gefahr.

Und wenn sie Jared nicht mehr stillen konnte, würde er sterben. So zart und empfindlich wie er war, würde er wohl die Kuhmilch nicht vertragen. Und er brauchte den Körperkontakt zu seiner Mutter. Hermon hatte so sehr um sein kleines Leben gekämpft, doch ihre Kraft war aufgebraucht.

Als Alex sie in Tränen aufgelöst fand, war ihm klar, dass auch sie es wusste. Nein, heute konnte er nicht hinausreiten. Da war auch noch Erin, bei ihrer Tante Lil völlig in Vergessenheit geraten. Sie hatte ihren Bruder nur ein einziges Mal gesehen. Alex ging zu Jam ins Arbeitszimmer: »Hör zu, Bruder, ich muss heute zu Hause bleiben. Also heb deinen Hintern in den Sattel, und kümmere dich um den Kram da draußen.«

»Es geht ihr nicht gut?«

»Nein. Sie braucht mich.« Jam nickte.

Alex ging im Laufschritt zum Haus auf dem Hügel. Er fand ein ziemliches Chaos vor. Marilyn war am Brüllen, und Erin und Monty schrien sich gegenseitig an.

»Gib das her, Erin! Das ist mir! Alles nimmst du mir weg!«

Erin knallte sein Spielzeug auf den Boden: »Da hast du es! Ich will deine Sachen überhaupt nicht, du Blödmann! Spiel doch mit deiner doofen kleinen Schwester!« Sie gab ihm einen Stoß, dass er gegen die Wand schlug und ebenfalls zu brüllen begann.

Alex blieb erst einmal sprachlos in der Tür stehen. Da kam Lil aus der Küche hereingerauscht: »Geht das schon wieder los! Hab ich nicht gesagt, ihr sollt euch nicht dauernd streiten!«

»Die lässt mich nicht spielen, Mum!«, plärrte Monty und Erin schrie: »Ich will nach Hause zu meiner Mum!« Alex trat in die Stube: »Geht das hier immer so zu, Lil?«

»Ja, Alex, die meiste Zeit. Erin ist im Moment unausstehlich.«

»Und wir dachten, sie würde gerne bei Monty bleiben. Kannst du herüberkommen? Es geht Hermon nicht gut. Sie hat Fieber.«

»Ja. Natürlich, ich komme.«

Erin war auf ihren Vater aufmerksam geworden. Sie kam nicht zu ihm, starrte ihn nur wütend an. Alex nahm seine Tochter auf den Arm, während Lil Marilyn holte. Als Erin zu strampeln begann, drohte er: »Wenn ihr nicht brav seid, werdet ihr gefesselt und geknebelt. Es geht deiner Mama nicht gut. Sie braucht ihre Kraft für das Baby.«

Erin begann wieder zornig zu strampeln: »Lass mich runter!« Alex stellte sie resigniert auf den Boden. Sie verschränkte die Arme, funkelte ihn wütend an und sagte: »Von mir aus kann das doofe Baby sterben!«

Alex hatte seine Tochter noch nie geschlagen, doch nun gab er ihr eine Ohrfeige. Erin begann zu brüllen, und Lil sah ihn vorwurfsvoll an.

»Gehen wir«, sagte Alex nur und griff sich Erins Hand. Monty trottete hinter seiner Mutter her. Erin riss sich los und lief noch immer schluchzend ein Stück voraus.

»Es war nicht richtig, dass du sie geschlagen hast, Alex«, warf Lil ihm vor.

»Nicht richtig? Soll ich ihr eine solche Unverschämtheit durchgehen lassen?«

»Sie ist fünf, Alex, und ziemlich daneben. Ihre Mutter bekommt ein Kind, und sie wird weggeschickt. Sie ist halb wahnsinnig vor Eifersucht.«

»Was hätte ich denn tun sollen? Du weißt selbst, wie die Dinge stehen.«

»Natürlich weiß ich das. Trotzdem kannst du nicht erwarten, dass eine Fünfjährige das begreift. Also pack sie nicht so hart an.«

Als sie das Haus betraten, wollte Erin sofort zu ihrer Mutter in die Schlafkammer rennen, doch Alex hielt sie fest: »Halt, hier geblieben! Hör auf zu schreien und hör mir zu, Erin, sonst gehst du gar nicht zu deiner Mum!« Er ging in die Hocke. Sie sah ihn mit Schmollmiene an.

»Jetzt hör mir genau zu, deiner Mum geht es sehr schlecht. Sie braucht ihre ganze Kraft, das Baby am Leben zu halten. Und du wirst nie wieder so etwas Hässliches über deinen Bruder sagen. Du darfst jetzt einen Augenblick zu deiner Mum, wenn du versprichst, dass du brav bist und sie nicht aufregst.«

Erin nickte. Alex stand auf, nahm sie an der Hand und ging mit ihr in die Schlafkammer. Ein müdes Lächeln erhellte Hermons Gesicht, als sie ihre Tochter sah.

»Komm her, mein Sonnenkind, ich hab dich so sehr vermisst.« Sie legte einen Arm um Erin, die sich verdächtig steif machte und dem Baby neben ihr einen bösen Blick zuwarf.

»Willst du deinen Bruder streicheln?« Erin biss sich auf die Lippe, schüttelte den Kopf und rannte hinaus. Alex setzte sich zu Hermon ans Bett: »Sei ihr nicht böse, sie ist ziemlich durcheinander.«

Hermon war viel zu erschöpft, um sich über Erins Verhalten Gedanken zu machen. Sie schlief wieder ein. Alex ging zurück zu Lil und den Kindern. Immerhin bewirkte seine Anwesenheit, dass Erin aufhörte, Monty zu tyrannisieren.

Granny Augusta kochte einen Fiebertee, Fleischbrühe und einen besonders nahrhaften Brei für Hermon. Lil hatte in dem Kamin in der Schlafkammer, der eigentlich nie benutzt wurde, ein Feuer gemacht. Sie half Hermon mit dem Baby, nahm ihr das Wickeln und Waschen ab, und sie zeigte ihr, wie sie durch Massieren der Brüste den Milchfluss in Gang bringen und einen Vorrat auffangen konnte. Alex kam herein und nahm ihr das Kind aus dem Arm, und als sie protestierte, erklärte er: »Du wirst jetzt schlafen, damit du gesund wirst, und ich werde mich ein bisschen mit meinem Sohn unterhalten.«

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie eingeschlafen war. Alex brachte Jared in die Küche. Mit Hilfe der Muttermilch gelang es Lil, ihn eine ganze Weile ruhig zu halten.

Lil und Granny Augusta diskutierten darüber, ob sie es mit verdünnter Kuhmilch versuchen sollten. Doch das Risiko, dass er Durchfall bekommen würde, war zu groß. Solange Hermon Milch hatte, war es besser, ihn zu stillen.

Hermons Zustand verschlechterte sich, obwohl sie den halben Nachmittag ungestört schlafen konnte. Die nächsten beiden Tage kämpfte ihr Körper verzweifelt gegen das ansteigende Fieber. Alex wich kaum von ihrer Seite. Sobald sie halbwegs bei sich war, bemühte er sich, sie zum Trinken zu bewegen. Ihre Milch ging immer mehr zurück. Sie war kaum noch imstande, das Kind zum Stillen zu halten. Alex setzte sich hinter sie, legte die Arme um ihren Körper und hielt auch das Kind beim Trinken.

Am zweiten Abend wurde Jared nicht mehr satt und hörte nicht auf zu weinen. Granny Augusta entschied, es nun doch mit Kuhmilch zu versuchen. Hermon war nicht mehr ansprechbar. Sie glühte vor Fieber. Für Alex wurde es die schlimmste Nacht seines Lebens. In der Angst, Hermon zu verlieren, wich er keinen Moment mehr von ihrer Seite, hielt ihre Hand, redete mit ihr und versuchte sie zum Trinken zu bewegen. Auch die kalten Umschläge, die Lil machte, vermochten das Fieber nicht zu senken. Hermons Körper schien von innen zu verbrennen.

In dieser Nacht fand im Haus niemand Ruhe. Granny Augusta fütterte Jared immer wieder mit Kuhmilch. Er trank nur wenig, er mochte sie nicht.

Auch Jam, der allein in seinem Zimmer saß, weil es für ihn nichts zu tun gab, brachte es nicht fertig, schlafen zu gehen, während Hermon um ihr Leben kämpfte.

Alex erwartete ungeduldig den ersten Schimmer des neuen Morgens, denn er hatte die irrsinnige Hoffnung, wenn Hermon die Nacht überstehen würde, dann hätte sie eine Chance. Die Nacht wollte kein Ende nehmen, und er konnte selbst die Augen kaum noch offen halten.

Endlich wurde es hell. Das Fieber war wohl etwas gesunken, doch Hermon blieb völlig apathisch. Die einzige gute Nachricht an diesem Morgen war, dass Jared die Kuhmilch vertrug. Immerhin bekam er davon keinen Durchfall.

Dennoch war Alex verzweifelt. Er verließ nur das Zimmer, um zum Abtritt zu gehen und Feuerholz zu holen. Als er zurückkam, war Lil dabei, Hermon von Kopf bis Fuß zu waschen und ihr erneut kalte Wickel zu machen. Granny Augusta hatte frischen Tee gekocht und ein Frühstück für Alex bereitet. Er rührte außer dem Kaffee, von dem er nicht genug bekommen konnte, nichts an. Stattdessen beschäftigte er sich geduldig damit, Hermon zum Trinken zu bewegen. Als Granny Augusta, die auch jetzt wie immer die Ruhe bewahrte, hereinkam, um das Geschirr zu holen, schimpfte sie mit ihm: »Herrschaftszeiten! Reiß dich zusammen, Junge! Du wirst auch noch schlapp machen, wenn du nichts isst!«

Alex sagte nichts dazu. Er brauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht in Tränen auszubrechen.

In der Küche plärrte Jared. Seine Stimme war kräftiger geworden. Erin hockte im Kinder-zimmer, wollte nicht spielen, nicht essen und mit niemand reden. In der Nacht hatte sie ins Bett gemacht, und ihre Wutausbrüche hatten sich in Schweigen verwandelt.

Jam, der sich in dem ganzen Dilemma sehr überflüssig vorkam, verließ das Haus und schwang sich in den Sattel.

Als Hermon so gut wie möglich versorgt war und einen Becher Tee getrunken hatte, ohne ihre Umwelt wahrzunehmen, fiel sie in einen bleiernen Schlaf.

Alex ließ ihre Hand nicht los und hörte nicht auf, ihr zu sagen, wie sehr er sie brauchte.

Sie schlief bis zum Mittag. Das Feuer knisterte, der Regen trommelte gegen die Fensterscheibe. Alex verharrte regungslos auf seinem Platz. Er spürte seinen Körper nicht mehr, und er merkte nicht, dass ihm immer wieder sekundenlang die Augen zufielen. Auch Lil konnte ihn nicht überreden, sich für eine Weile schlafen zu legen.

Hermon war ganz ruhig geworden. Das Fieber war gesunken, ihr Atem ging flach. Alex war sich nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war, oder – ob seine Hermon sich schon auf den langen Weg gemacht hatte. Und als Erschöpfung und Angst ihn überwältigten, weinte er doch.

Es hatte aufgehört zu regnen. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken. Alex kämpfte die lähmende Erschöpfung nieder, nahm Hermon in den Arm und presste sie an seine Brust: »Chey! Bleib bei mir! Du darfst nicht einfach fortgehen! Was soll ich denn tun ohne dich?«

Da schlug Hermon die Augen auf und sah ihn angstvoll an: »Wo ist mein Kind? Alex! Wo ist mein Kind?«

Er ließ sie los, lief mit großen Schritten in die Küche, nahm ohne Erklärung das schreiende Baby aus dem Korb, trug es zu seiner Mutter und legte es ihr in den Arm. Dann öffnete er ihr Hemd und legte das Köpfchen an ihre Brust. Jared fing sofort an zu saugen. Alex sah erleichtert, wie Hermon sich entspannte. Es waren nur wenige Tropfen, die ihre Brust hergab, trotzdem nuckelte Jared zufrieden. Alex hielt das Baby an ihrer Brust fest. Nun war es Jared, der seiner Mutter half, weiterzuleben. Zufrieden lag er in ihrem Arm, wo er schließlich einschlief. Hermon schenkte Alex ein kleines Lächeln: »Ich habe solchen Durst.«

 

Alex hielt durch bis zum Abend. Hermon hatte viel getrunken und ein bisschen Suppe gegessen. Jared musste noch immer mit Kuhmilch gefüttert werden, aber Hermons Brüste begannen wieder prall zu werden. Und mit ihrem zufrieden schmatzenden Kind im Arm kehrten langsam ihre Lebensgeister zurück.

Als die Dunkelheit hereinbrach, war Alex sicher, sie hatte den Kampf gewonnen. Das Fieber stieg nur noch wenig an, und als Lil ihr noch einmal kalte Umschläge machen wollte, setzte Hermon sich entschieden zur Wehr. Dass ihr Kampfgeist erwacht war, beruhigte Alex mehr als alles andere.

Als Jared sich noch einmal richtig satt getrunken hatte, konnte Alex Hermon überreden, ihn in sein Körbchen zu legen, das Lil herübergebracht hatte. Dann zog er sich aus, schlüpfte zu ihr ins Bett, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr in die verschwitzten, zerzausten Locken: »Ayor anoshini, Micante... .meine Chey, ich bin so froh... so froh...«

Wenige Atemzüge später waren beide eingeschlafen.

Jared hielt in dieser Nacht vier Stunden durch, bis er seine Eltern weckte. Alex fuhr sofort aus dem Schlaf. Benommen stand er auf und legte das Kind in Hermons Arm. Verschlafen öffnete sie ihr Hemd, und Jared verlangte energisch nach seinem Recht. Alex blieb auf der Bettkante sitzen und betrachtete erleichtert das friedliche Bild. Er griff nach Hermons Hand.

Als Jared satt war, half er Hermon beim Wechseln der Windel. Dann packte er ihn wieder in seinen Korb und legte sich zu ihr. Es tat so gut, sie im Arm zu halten.

Als Jared erneut aufwachte, schaffte Hermon es allein, ihn aus seinem Korb zu nehmen, bevor auch Alex wach wurde. Sie legte ihn an ihre Brust, die inzwischen wieder prall gefüllt war. Jared trank gierig. Mit der zurückkehrenden Kraft verspürte Hermon Freude. Sie streichelte das kleine Köpfchen und betrachtete sein Gesicht. Die Haut war nun samtig glatt und die Bäckchen hatten sich gerundet. Er sah anders aus als Erin, die so ganz nach ihrem Vater kam.

»Du siehst ein bisschen aus wie deine Mum, mein kleines Löwenkind«, stellte sie nicht ohne Stolz fest. Als er satt war, legte sie ihn wieder in den Korb und schlief durch bis zum Morgengrauen.

Alex wachte auf, als Hermon und Jared noch schliefen. Vorsichtig legte er eine Hand auf ihre Wange. Sie hatte nun kaum noch Fieber. Leise stand er auf und fand Granny Augusta in der Küche, die schon Frühstück gemacht hatte. Es duftete herrlich nach Eiern und Speck. Alex machte sich hungrig darüber her. Jam kam herein, und sie rangelten um die letzte Portion Eier. Granny Augusta war erleichtert, die beiden wieder lachen zu sehen.

Als Alex aufstand, kam auch Lil herein und erkundigte sich, wie die Nacht verlaufen war, obwohl auch sie die entspannten Mienen sah. »Oh, gut! Wir haben endlich geschlafen«, erklärte er. »Komm, setz dich wieder, ich muss mit dir reden«, forderte sie ihn auf.

»Was ist los, Lil?«, fragte er verwundert und legte die Stirn in Falten.

»Du musst dich um deine Tochter kümmern.«

»Lil, du weißt, dass ich die ganze Zeit...«

»Ja! – Aber jetzt braucht Erin dich. Ich weiß, das war nicht zu ändern, doch ihr habt sie ausgeschlossen, und sie ist halb wahnsinnig vor Eifersucht. Sie redet nicht mehr mit uns, isst nicht, hockt herum und stiert Löcher in die Luft, und sie macht ins Bett. Du musst dich um sie kümmern. Und komm ja nicht auf die Idee, mit ihr zu schimpfen.«

Alex war sehr nachdenklich geworden. Er fand Erin noch im Bett. Als er die Tür öffnete, zog sie sich die Decke über den Kopf.

»Erin! – Erin, bitte komm da heraus!« Als sie nicht reagierte, zog er ihr mit sanfter Gewalt die Decke vom Gesicht. »Erin, magst du mit mir reiten?«

»Nein!«

»Tatezi wird sehr traurig sein. Du warst lange nicht bei ihr. Sicher denkt sie, du hättest sie vergessen.« Erin zerknüllte den Bettzipfel und dachte nach. Dann murmelte sie: »Na gut.«

»Fein. Dann zieh dir warme Sachen an, ich komme gleich zurück.«

Er ging hinüber zu Hermon, die dabei war, den Haferbrei zu löffeln, den Lil ihr gebracht hatte. »Wie geht es dir, Chey?« Er legte eine Hand auf ihre Wange. Sie war warm, aber nicht mehr fiebrig heiß.

»Viel besser!«, sie strahlte ihn an. »Und du?«

»Ich habe gut geschlafen.«

»Hast du ordentlich gefrühstückt?«

»Ja, eine Riesenportion Eier. Kann ich dich heute allein lassen?«

»Natürlich. Es ist Zeit, dass du dich wieder um deine Arbeit kümmerst. Die Leute werden schon lästern, dass du bei deiner Frau sitzt und Händchen hältst. Kinderkriegen ist schließlich Frauensache. Welcher Mann schert sich schon darum. Wenn das Kleine zu schwach ist, und die Mutter im Kindbett stirbt, haben sie eben Pech gehabt.«

Alex nahm sie in den Arm: »Wie kannst du nur so daherreden.«

»So ist es doch gewöhnlich.«

Doch dann wurde sie ganz weich in seinem Arm und schmiegte sich an ihn: »Danke, Alex, dass du da warst. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«

»Ich werde dich niemals im Stich lassen, versprochen.«

Jared begann zu weinen. Alex ließ Hermon los und legte ihn in ihren Arm. »Soll sich keiner bei einer dummen Bemerkung erwischen lassen. Ich werde heute nicht zu den Herden reiten. Ich muss mich zuerst um Erin kümmern. Sie macht Kummer. Sie ist eifersüchtig.«

»Das arme Kind, sie denkt bestimmt, wir hätten sie vergessen.«

»Mach dir keine Sorgen, ich reite jetzt mit ihr aus.«

Jared begann ärgerlich zu zappeln. »Ja, ist ja gut, du bekommst ja schon!« Sie öffnete ihr Hemd.

Alex fand seine Tochter fertig angezogen in Stiefeln und Jacke im Kinderzimmer, den Blick jedoch starr auf den Boden gerichtet. »Du musst noch frühstücken, Erin.«

Sie schüttelte den Kopf. Alex nahm ihre Hand und ging mit ihr hinaus in den Stall. Sie sprach noch immer kein Wort, begrüßte auch Helmer nicht, streichelte nur ihr Pferd und wartete, bis ihr Vater beide Tiere gesattelt hatte. Dann saß sie auf und trieb Tatezi aus dem Stall. Alex folgte ihr. Er hatte heute Tatewin gewählt, da Tec kaum zu bändigen war, wenn er mehrere Tage im Stall gestanden hatte.

Alex ließ Erin den Weg bestimmen und ritt lange Zeit schweigend neben ihr her. Schließlich kamen sie zum Flussufer.

»Hier machen wir Pause«, entschied Alex, hob Erin aus dem Sattel, setzte sich auf einen Felsen am Wasser und nahm sie auf seinen Schoß. Er sagte nichts, hielt sie einfach nur im Arm und wartete. Und dann fing Erin an zu weinen. Alex wiegte sie sanft in seinen Armen. Über ihnen im Geäst spielte der Wind. Das Wasser murmelte leise.

»Ich weiß, meine Kleine, das ist nicht leicht für dich. Alles wird gut, ich verspreche es dir. Deiner Mum geht es jetzt besser.«

»Meine Mum hat mich nicht mehr lieb«, kam ein sehr zaghaftes Stimmchen, »die hat nur noch das Baby lieb.«

»Nein, Erin, das ist nicht so. Ich weiß genau, dass deine Mum dich sehr, sehr lieb hat.

Als Jared geboren wurde, der so klein und schwach ist, dass er seine Mum ganz nötig gebraucht hat, da musste sie sich darauf verlassen, dass ihre Tochter schon groß, stark und sehr tapfer ist. Ihre Kraft hat nicht einmal für Jared gereicht, deshalb ist sie sehr krank geworden, und wir hatten große Angst, dass sie zu den Engeln im Himmel gehen muss.«

Erin hob den Blick und sah den Vater mit großen, angstvollen Augen an: »Das darf sie nicht.« »Es geht ihr besser, Erin, und du kannst ihr helfen, dass sie ganz schnell wieder gesund wird.« »Was muss ich machen?«

»Du musst nur ein vernünftiges Mädchen sein, damit sie sich um dich keine Sorgen machen muss. Und du darfst ihr nichts Böses über deinen Bruder sagen.«

»Ich darf ja überhaupt nicht zu ihr!«, entgegnete sie bockig.

»Hör zu, Erin, ich verspreche dir, wenn wir nach Hause kommen, werde ich Jared zu Granny in die Küche bringen, und bis er wieder hungrig wird, hast du dann deine Mum ganz für dich allein. Ist das für dich in Ordnung?«

Erin dachte einen Augenblick nach, dann nickte sie. Alex nahm sie ganz fest in den Arm und streichelte ihr zerzaustes Haar, ließ sie los und stand auf.

»Wir müssen, zurück, mein Schatz.« Er band die Pferde los. Erin starrte ins Wasser. Dann bückte sie sich und griff nach etwas, das im flachen Wasser lag.

»Erin, pass auf! Mach dir die Kleider nicht nass«, mahnte Alex, denn sie durfte sich auf keinen Fall erkälten und Jared anstecken.

Erin hielt einen Stein in der Hand, den das Wasser rund geschliffen hatte.

»Das Wasser ist stark, Dad. Wenn ein Stein lange im Wasser gelegen hat, wird er bestimmt auch stark. Das ist ein Zauberstein. Ich bringe ihn Mummy mit.«

»Das ist eine gute Idee. Und jetzt hopp aufs Pferd.« Er hob sie in den Sattel. Auf dem Nachhauseweg verfiel Erin wieder in Schweigen. Alex ließ sie in Ruhe. Er war sicher, das Eis war gebrochen.

Als sie gemeinsam über den Ranchhof gingen, blieb Erin plötzlich stehen.

»Was ist?«, fragte ihr Vater, und als er ihren erschrockenen Blick sah, hob er sie hoch.

»Dad, ich hab ins Bett gemacht. Ich wollte das gar nicht, ehrlich!«

»Erin, ich weiß das, und es ist nicht schlimm.«

»Aber ich bin doch schon groß.«

»Wenn man einen großen Kummer hat, kann das passieren. Mach dir deshalb keine Sorgen. Und jetzt wollen wir nach deiner Mummy sehn.«

 

Alex hatte Jared in die Küche gebracht und Erins Haare gekämmt. Dann durfte sie endlich zu ihrer Mutter. Hermon begrüßte sie mit leuchtenden Augen, schloss sie in die Arme und hielt ihr Kind genau wie Alex eine ganze Weile einfach nur fest, wiegte es und sang ihm vor, bis Erin den Kopf hob und ihre kleine Faust öffnete: »Schau, Mummy, ich hab dir was mitgebracht. Das ist ein Zauberstein aus dem Yellowstone.«

Hermon nahm ihn in die Hand: »Er fühlt sich gut an, mein Sonnenkind. Danke! Magst du jetzt eine Geschichte hören?«

Sie beschäftigte sich mit ihrer Tochter, bis aus der Küche energisches Geschrei zu hören war. Alex brachte Jared herüber. Erin warf ihm einen misstrauischen Blick zu und kletterte kommentarlos vom Bett, doch Hermon sagte: »Bleib hier, mein Sonnenkind!« Sie legte das Baby an ihre Brust und schlang den freien Arm wieder um Erin. Sie wandte den Blick ab, bemühte sich, Desinteresse zu demonstrieren.

Als Jared dann zufrieden schmatzend in Hermons Arm lag, musste sie doch hinsehen: »Hast du das mit mir auch gemacht, Mummy?«

»Natürlich Erin, ganz genauso.«

Als er fertig getrunken hatte, fragte Hermon: »Hältst du ihn mal fest?« Und sie legte ihn ohne eine Antwort abzuwarten, in ihren Arm. Jared sah sie mit großen Augen an und krähte vor Vergnügen. Erin sagte nichts. Doch sie hielt ihn fest an sich gedrückt und sah ihn fasziniert an, obwohl sie ihn eigentlich nicht mögen wollte.

Als Hermon ihn wieder in seinen Korb legte, sagte Erin: »Der darf bei euch schlafen und ich nicht. Das ist gemein.«

»Jetzt hör mir mal zu, wenn Jared bei dir im Kinderzimmer schläft, macht er dich jedes Mal wach, wenn er weint, und ich muss über den kalten Flur laufen, um ihn zu holen. Wenn er größer ist, darf er bei dir schlafen.«

Erin sagte nichts, aber die Eifersucht stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Heute Nacht darfst du bei uns schlafen«, versuchte Hermon sie zu besänftigen, »und jetzt gehst du in die Küche und isst ordentlich, du bist schon ganz dünn geworden.«

 

Wenige Tage später schaffte Hermon es, aufzustehen und sich wieder in den normalen Tagesablauf einzufinden. Sie beschäftigte sich so oft wie möglich mit Erin, die langsam wieder aus ihrem Schneckenhaus herauskam. Manchmal nahm Alex sie auch für ein paar Stunden mit hinaus und ließ sie auf dem Pferderücken all ihren Kummer vergessen.

Jared entwickelte sich nun so gut, dass Hermon sich keine ernsthaften Sorgen mehr machen musste. Lil kehrte mit den Kindern in ihr Haus auf dem Hügel zurück. Granny Augusta und Hermon hatten gemeinsam den Haushalt wieder im Griff.

Immerhin hatte die Aufregung der letzten Wochen auch Jam aus seiner Lethargie gerissen und er ritt nun fast täglich wieder hinaus. Das Wetter war für die späte Jahreszeit noch erstaunlich mild, und es gab auf der Range eine Menge zu tun. Alex, der nun Frau und Kinder in Sicherheit wusste, musste sich wieder mit den Existenzsorgen der Ranch befassen, die er über all der Angst der letzten Wochen fast vergessen hatte.

Stundenlang diskutierte er mit Jam über die Möglichkeiten, einen Teil der Pferde zu verkaufen. Am Ende trafen sie die Entscheidung, Conrad Kohrs die Tiere anzubieten. Der Verkauf würde zwar das Problem nicht lösen, doch es würde helfen. Und so machte Alex sich mit Lenny und Walter auf den Weg nach Deer Lodge zur Kohrs Ranch. Hermon ließ ihn nur ungern gehen, obwohl sie einsah, dass der Verkauf der Tiere sinnvoll war. Sie hoffte, dass er zurück sein würde, bevor der Schneefall einsetzte.

Die beiden Kinder ließen ihr nicht sehr viel Zeit zum Nachdenken. Erin forderte die Zuwendung ihrer Mutter energisch ein, und als sie wieder einen ihrer Wutanfälle bekam, wusste Hermon, dass nun alles mit ihr in Ordnung war.

 

 

 

 

 

  MEGHAN. November 1874

 

 

Hermon war dabei, Erins Wintersachen durchzusehen, von denen sie viele Teile verwachsen hatte. Ein paar Sachen konnte man noch ändern, denn für neue Kleider war kein Cent übrig.

Während sie darüber nachdachte, welche Stoffreste sie noch zur Verfügung hatten, kam Erin wie ein Wirbelwind hereingeschossen: »Mummy, Mummy, da kommt ein Planwagen!«

Hermon blickte verwundert auf. Wer zum Geier verirrte sich zu dieser Jahreszeit mit einem Planwagen in diese gottverlassene Gegend?

Sie ließ die Sachen fallen und ging mit Erin zur Haustür. Wahrhaftig! Das Gefährt rollte gerade auf den Hof, ein von zwei Pferden gezogener Wagen. Ein Mann und eine junge, in Mantel und Tücher gehüllte Frau saßen auf dem Bock, und dann entdeckte sie im Windschatten des Wagens noch zwei Reiter. Auf den zweiten Blick kam ihr das Gesicht des jungen Mannes auf dem Bock bekannt vor, und dann erkannte sie in der vermummten Gestalt Meghan Potter, die jedoch seltsam fremd wirkte. Da rannte sie los.

Der Planwagen hielt vor dem Pferdestall. Meghan kletterte herunter und fiel Hermon buchstäblich in die Arme.

»Meghan! Um Himmelswillen!«, sie erschrak, als sie ihrer Freundin ins Gesicht sah, denn sie war bleich, abgemagert und elend, »was ist geschehen?«

»Ich bin so froh, dass ich bei euch bin, Hermon. Es war alles so schrecklich! Um ein Haar wäre ich genauso gestorben, wie mein Vater. Ich bin beim Reiten gestürzt. Ich habe wochenlang mit dem Tod gerungen. Und als es mir besser ging, habe ich mich furchtbar mit meiner Tante und meinem Onkel gestritten, weil sie mich nicht reisen lassen wollten. Hermon, hat Jam mich vergessen? Ich hatte Angst, ein Brief würde vielleicht verlorengehen.«

Die Worte sprudelten nur so aus Meghan heraus.

»Jam hat dich nicht vergessen, er hat dich schrecklich vermisst. Alles wird gut.«

Sie begrüßte Meghans Cousin Charly und die beiden Begleiter, die er als Evan und Brad vorstellte. »Wir spannen erst mal aus, und dann fallen wir über Jimmy her. Er hat bestimmt `nen Whiskey für uns.«

»Er soll euch etwas Ordentliches zu essen geben, Charly«, bemerkte Hermon noch, dann legte sie den Arm um Meghan, »komm, lass uns reingehen.«

»Ist Jam da?«

»Nein, er ist mit Alex draußen.«

»Das ist gut. So wie ich aussehe, sollte ich ihm besser nicht unter die Augen treten.«

Hermon brachte Meghan zuerst einmal in die Küche, wo Granny Augusta sich sofort um sie kümmerte. Während Meghgan aß und trank, machte Hermon Wasser heiß und Granny Augusta richtete ein Bad. Sie war begeistert, sich nach den Strapazen der letzten Tage in einen Zuber mit heißem Wasser zu setzen. Hermon wusch ihr mit selbstgekochter Seife die Haare. Meghans angespannte Miene begann sich zu entspannen. In warme Tücher gehüllt brachte Hermon sie nach oben in die Dachkammer und packte sie ins Bett.

»Nun ruh dich erst einmal aus!« Sie trug das Gepäck, das Charly inzwischen in den Salon gebracht hatte, nach oben.

Als sie auf der Treppe war, hörte sie Jared schreien. Sie stellte die Sachen vor die Tür, dann holte sie das Baby und nahm es mit nach oben. Erin war im Moment bei Granny Augusta gut aufgehoben. Sie konnte sich um ihre Freundin kümmern.

Meghan lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, doch als sie die Geräusche des Babys hörte, blickte sie auf: »Hermon, du hast noch ein Kind?«

»Ja, Jared ist gerade vier Wochen alt.« Sie setzte sich zu Meghan auf die Bettkante  und legte Jared an die Brust. »Ach ist der süß. Aber er ist so winzig.«

»Ja, er ist zu früh geboren.« Hermon erzählte ihr, wie sie um Jareds Leben gekämpft hatte und dann selber krank geworden war.

Als das Baby wieder zufrieden in seinem Bett lag, half sie Meghan beim Ankleiden, bürstete ihr Haar und machte ihr eine hübsche Frisur. Geräusche im Haus ließen sie aufhorchen: »Ich glaube, Jam ist zurück.«

Meghan wurde sofort fahrig und aufgeregt. »Lass uns hinuntergehen, Hermon!«

»Nein, warte noch, Meghan! Ich will erst mit ihm reden, nicht dass ihn vor Freude der Schlag trifft.« Meghan sank wieder auf den Stuhl, und Hermon lief nach unten. Sie hatte sich nicht getäuscht, denn sie hörte ihn in seinem Zimmer und klopfte an.

»Was ist?« Seine Stimme klang ungeduldig. Hermon trat wortlos ein.

»Ich bin eben nach Hause gekommen, kannst du mich nicht einen Moment in Ruhe lassen!«

»Hast du den Planwagen draußen gesehen?«

»Ja, und ich habe mich gefragt, welche Idioten um diese Jahreszeit noch damit durch die Gegend fahren und was sie ausgerechnet hier wollen.«

»Meghan ist hier.« Jam blickte auf: »Meghan Potter?«

Hermon sah das Aufleuchten in seinen Augen. Doch aus der Freude wurde augenblicklich Ärger. »Was zum Teufel denkt sie sich? All die Monate ließ sie nichts von sich hören und jetzt taucht sie einfach hier auf! Wenn sie glaubt, dass sie ihr Spiel mit mir treiben kann, hat sie sich gewaltig verrechnet!« Jam hatte in all den Monaten nie über Meghan geredet, doch Hermon bemerkte, wie viel Enttäuschung in seiner Stimme lag.

»Jam, vielleicht hörst du erst einmal zu! Meghan ist sehr krank gewesen. Sie ist bei einem Sturz vom Pferd fast ums Leben gekommen und war nicht imstande, dir zu schreiben. Und jetzt hat sie wohl einen Riesenkrach mit ihrem Onkel und ihrer Tante gehabt, weil sie noch gar nicht gesund genug ist, um zu reisen. Aber sie wollte sich nicht auf einen Brief verlassen, der womöglich nie angekommen wäre. Und sie hatte wohl entsetzliche Angst, dass du sie vergessen hast.«

»Du bist sicher, dass sie uns nicht belügt?«, fragte Jam misstrauisch.

»Schau sie dir an, dann weißt du es. Ich hole sie jetzt herunter. Und bitte, Jam, sag nichts, was dir hinterher leid tut.«

Sie wandte sich ab, überließ ihn dem Chaos seiner Gefühle und ging nach oben. Meghan sah sie erwartungsvoll an: »Was hat er gesagt?«

»Weißt du, er ist ein bisschen daneben, also nimm ihn nicht so ernst. Komm.«

Meghan folgte ihr etwas zögernd die Treppe hinunter. Sie fanden Jam im Salon. Er sah ihnen mit erwartungsvoller Miene entgegen. Hermon entging nicht sein Erschrecken, als er erkannte, in welchem Zustand Meghan war. Er stand auf, eine Hand auf einer Stuhllehne in der Tischrunde, und kam ihr einen Schritt entgegen. Meghan, die zögernd auf der untersten Stufe stehen geblieben war, ging nun ermutigt auf ihn zu. Er streckte seine Hand aus, und sie griff danach wie eine Ertrinkende nach einem Strohhalm.

»Jam, es tut mir so leid... dass ich... ich konnte nicht...« Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Er nahm sie in den Arm und sie lehnte sich an seine Schulter.

»Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht, Meghan. Ich gebe zu, ich war enttäuscht und wütend, ich wusste ja nicht, was dir geschehen ist.«

Hermon machte sich indessen am Kamin zu schaffen, zündete das Feuer an und rückte zwei Lehnstühle an den Kamin. Dann wandte sie sich wieder den beiden zu, die noch immer am Tisch standen, etwas hilflos und verlegen.

»Kommt schon her und setzt euch ans Feuer.«

Jam angelte nach seinem Stuhl und kam Meghan zuvor, die zufassen wollte, um zu helfen. Sie setzten sich nahe an den Kamin, und Jam ergriff Meghans kalte Hände.

Hermon beschäftigte sich mit dem Feuer, legte noch zwei Scheite nach. Dann ergriff sie den leeren Korb und ging nach draußen in den Holzschuppen, um ihn zu nachzufüllen. Sie wollte Meghan und Jam Gelegenheit geben, allein zu reden. Als sie den vollen Korb wieder zum Haus trug, kam Alex aus dem Paddock: »Hallo Chey, was hat das zu bedeuten?« Er zeigte auf den Wagen hinter dem Stall. »Wir haben Besuch, genauer gesagt Jam.«

Alex zog die Brauen hoch: »Meghan Potter?«

»Ja.«

»Was zum Teufel bildet die Frau sich ein, dass...«

»Halt, Alex! Hör mir erst einmal zu!« Mit kurzen Worten schilderte sie Meghans Geschichte. Alex starrte nachdenklich vor sich hin. »Du denkst, dass sie es ehrlich meint?«

»Ja, schau sie dir selber an. Sie hätte noch gar nicht reisen dürfen.«

Er nickte: »Ich hoffe, du hast recht.«

Als sie gemeinsam den Salon betraten, fanden sie zwei strahlende Gesichter. Auch Alex erkannte, wie krank sie noch aussah und begrüßte sie herzlich.

Granny und Erin deckten den Tisch. In der Schlafstube begann Jared zu brüllen. Als Hermon ihn hochnahm, verstummte er sofort. Sie setzte sich auf das Bett und stillte ihn. Seine Bäckchen waren inzwischen rund geworden. Er trank gierig, und Hermon versank in ein Meer von Glück. »Mein kleines, süßes Löwenkind«, flüsterte sie ihm zu und überließ sich ganz und gar der Zärtlichkeit des Augenblicks.

 

Nach der Mahlzeit, als die Kinder zu Bett gebracht waren, saßen sie gemeinsam am knisternden Feuer. Granny Augusta brachte Gebäck und heißen Wein, und sie hielt an diesem Abend lange aus.

Meghan hatte rote Wangen und leuchtende Augen bekommen, und dann begann sie zu erzählen: »Als ich damals von eurer Hochzeitsfeier heim kam, habe ich meiner Tante von dir erzählt, Jam. Zuerst hat sie nichts dazu gesagt. Doch dann erklärte sie mir, mein Onkel habe längst mit meinem Cousin Willy besprochen, dass wir beiden heiraten werden. Willy ist jetzt der Rancher der Potter Ranch. Daraufhin sind wir ziemlich in Streit geraten. Von diesem Tag an hat mein Onkel Druck gemacht. Ständig hat er mir vorgeworfen, dass ich ein dummes, unvernünftiges Kind sei und froh sein müsse, einen so tüchtigen Mann zu bekommen, der mit fester Hand die Pferdezucht leitet. Nur eines hat mein Onkel dabei nicht erwähnt, nämlich dass Willy vor allem die Ranch heiraten wollte. Er ist zwar kein übler Kerl, und bestimmt auch kein schlechter Ehemann. Aber das genügt mir nicht. Und außerdem... ist mein Herz vergeben.

Und dann hat mein Onkel von mir verlangt, mit ihm nach Kentucky zu reisen, da es auf der Ranch angeblich Dinge zu klären gäbe, wobei ich als Eigentümerin anwesend sein müsse. Doch das war in Wirklichkeit nur ein Vorwand. Der eigentliche Grund war meine geplante Verlobung mit Willy! Zum Glück gelang es mir, allein mit meinem Cousin zu reden, und er hat ganz offen zugegeben, dass es ihm in erster Linie um die Ranch ginge, wobei er nichts dagegen hatte, mich zu heiraten. Und ich habe ihm unumwunden gesagt, dass ich ihn nicht heiraten werde. Er meinte ziemlich geknickt, dass ich dann wohl bald selbst wieder Anspruch auf die Ranch erheben und einen neuen Rancher mitbringen werde.

Ich habe ihm erklärt, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt nach Kentucky zurückkommen werde und dass sich sicher eine vernünftige Lösung finden wird.

Willy war damit zufrieden. Doch mein Onkel hat getobt, als wir ihm unsere Entscheidung mitteilten, und er hat mir schlimme Dinge an den Kopf geworfen. Ich war so wütend, bin hinausgerannt und habe mir in meinem Zorn Dads Hengst gesattelt, ein wildes, unberechenbares Tier. Und dann hab ich ihn angetrieben. Er hat meinen Zorn gespürt und ist losgejagt, hat eine Hecke übersprungen und ist über irgendetwas gestolpert und gestürzt. Und dann ist die Welt für mich versunken, für viele Wochen. Ich hatte einen gebrochenen Arm und eine schlimme Kopfverletzung. Niemand hat geglaubt, dass ich überleben würde. Als ich meine Umgebung zum ersten Mal wieder wahrnahm, war der Sommer zu ende.

Mein Körper wollte mir nicht mehr gehorchen. Es dauerte noch Wochen, bis ich wieder aufstehen konnte, ohne dass Schwindel und Übelkeit mich peinigten.

Mein Onkel hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, und er bedrängte mich nicht mehr mit der Heirat. Aber der Brief, den ich dir von Kentucky geschrieben habe, wurde nie abgeschickt, das hat mir Willy am Ende gestanden. Es war Herbst, als wir zurück nach Wyoming reisen konnten und ich hatte Angst, dass du mich längst vergessen hast.«

»Hat deine Tante dir nicht gesagt, dass ich dir mehrmals geschrieben habe?«, fragte Jam.

»Nein, ich habe nur einen einzigen Brief von dir bekommen.«

»Ich habe dir auch zweimal geschrieben, als wir nichts mehr von dir hörten«, bemerkte Hermon. Meghan murmelte: »So eine Gemeinheit! Wie gut, dass ich meinen Kopf durchgesetzt und mich auf die Reise gemacht habe. Womöglich hätte sie den nächsten Brief auch abgefangen.« Sie schüttelte den Kopf: »Das hätte ich nie von ihr gedacht.«

Jam ergriff ihre Hand: »Ich bin so froh, dass du hier bist.«

Sie saßen an diesem Abend noch lange beisammen. Es gab so viel zu erzählen. Doch dann konnte Meghan die Augen nicht mehr offen halten, und Hermon brachte sie nach oben in die Dachkammer, schnürte ihr das Kleid auf und schlug die Bettdecke zurück.

»Wie lange wirst du bleiben, Meghan?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ich muss wohl schon bald zurück, solange das Wetter es noch zulässt zu reisen.«

»Hast du mit Jam darüber gesprochen?«

»Nein«, Meghan ließ sich erschöpft in die Kissen fallen, »im Augenblick darf ich nicht daran denken, in das Haus meiner Tante zurückzukehren. Du glaubst nicht, was mein Onkel mir alles an den Kopf geworfen hat, als ich von Jam erzählt habe. Bist du von Sinnen, dich mit einem Krüppel abzugeben, war noch eine der harmloseren Bemerkungen. Er hat ja keine Ahnung, wie Jam ist.« Ihr liefen wieder Tränen übers Gesicht, und Hermon nahm sie in den Arm: »Du musst vor allem jetzt erst einmal schlafen. Morgen werden wir weitersehen.«

 

Nach drei Tagen im Haus der Mehegans hatte Meghan Potter sich bereits erstaunlich erholt. Sie genoss es, eine Freundin an der Seite zu haben, und sie mochte Hermons Kinder, spielte mit Erin oder wiegte Jared auf dem Arm, wenn er nicht schlafen wollte. Und sie war begeistert, als Lil mit den Kindern herüberkam. Von Granny Augusta wurde sie nach Strich und Faden verwöhnt und bekam ständig etwas Essbares zugesteckt. Wenn Jam auftauchte, und er kam meist früher als üblich von den Weiden zurück, wo es vor Wintereinbruch noch einiges zu tun gab, strahlte sie.

Doch als sie am vierten Morgen aus dem Fenster sah, die Berge in dichten Wolken verschwunden waren, und der Nebel in den Talsenken hing, wusste sie, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Sie hatte keine Gelegenheit, mit Hermon zu reden, da sie nach dem Frühstück mit Alex hinaus auf die Range geritten war, denn ein Hengst hatte sich ernsthaft verletzt und ließ niemand an sich heran. So spielte sie sich mit den Kindern und beruhigte Jared, als er zu schreien begann. Jam kam schon mittags zurück, denn ihn beschäftigte das gleiche Problem.

Nachdem Hermon ihren Sohn zum Stillen geholt hatte, schickte Jam Erin zu Granny Augusta in die Küche und zog sich mit Meghan in sein Zimmer zurück. Er kam unumwunden zum Thema: »Meghan, ich denke, du weißt, wie sehr ich mir wünschen würde, dass du noch bleibst. Aber das Wetter wird umschlagen. Und sobald starke Schneefälle einsetzen, ist die Rückreise mit dem Wagen unmöglich. Und Charly will lieber gestern als heute los.«

Meghan nickte: »Ja, Jam, ich weiß das. Es bleibt mir nichts übrig, als mich auf die Rückreise zu machen. Es ist unmöglich, eure Gastfreundschaft den ganzen Winter in Anspruch zu nehmen. Das wäre ungehörig, und ich will mich mit meiner Tante und meinem Onkel nicht endgültig überwerfen, schließlich habe ich ihnen viel zu verdanken. Als mein Vater gestorben ist, haben sie sich sehr liebevoll um mich gekümmert. Nur denken sie, dass ich immer noch ein Kind bin und keine Entscheidungen treffen kann. Sie haben mich einfach nicht ernst genommen. Mein Onkel hat meine Gefühle als Hirngespinst bezeichnet. Nun werde ich ihm klar machen, dass es mir ernst ist!«

»Ich lasse dich nicht gerne gehen, doch ich sehe ein, dass du recht hast. Du musst gehen.«

Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an, und er konnte diesen rätselhaften Ausdruck nicht deuten. Doch dann griff er nach ihrer Hand: »Es sei denn...«

»Was?«

»Du heiratest mich. Jetzt!«

Meghan starrte ihn an, rührte sich nicht, bekam keinen Ton hervor.

»Ich meine natürlich, nur... wenn du mich haben willst.«

»Ja.«

»Heißt das, du willst mich?«

»Ja, Jam, ich habe dich immer gewollt, von Anfang an.«

»Du willst mich also wirklich heiraten, jetzt?«

»Ja.«

»Dann fahren wir morgen nach Coulson!« Er stand auf, zog Meghan heftig an sich und küsste sie, bis sie sich lachend aus seiner Umklammerung befreite.

»Oh Jam«, murmelte sie völlig überwältigt, »ich kann es noch gar nicht fassen.«

»Ich auch nicht, Meghan«, ganz sanft nahm er sie nun in die Arme, »von diesem Augenblick habe ich all die Monate geträumt. Doch ich dachte, ich hätte dich verloren.«

Dann musste er sich setzen, denn plötzlich zitterten ihm die Knie, und das war nicht nur die Schwäche seiner Muskeln. Meghan zog ihren Stuhl ganz nahe heran und setzte sich zu ihm.

»Schreib deiner Tante und deinem Onkel einen Brief und erkläre ihnen alles. Ihm Frühling, sobald es das Wetter zulässt, reisen wir nach Cheyenne, holen all deine Sachen und regeln deine Angelegenheiten. Und dann feiern wir wie Hermon und Jad ein richtiges Fest.«

Er nahm ihre Hand, legte sie an seine Wange und schloss die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er an Hermon.

»Reiten wir noch ein Stück, Meghan?«

»Ja«, sie strahlte ihn an.

»Dann lass uns gehen.«

 

Hermon riss die Tür zu Erins Zimmer auf und fuhr sie ärgerlich an: »Erin! Hör auf der Stelle auf, so herumzuschreien! Du weckst Jared auf! Ich bin froh, dass er gerade... »

Das Wort blieb ihr im Hals stecken. Erin drehte sich wie ein Wirbelwind mit ausgestreckten Armen um sich selbst und riss mit wilden Gesten alles herunter, was irgendwo herumlag. Spielzeug, Kleider, Kissen, Bettzeug, alles lag kreuz und quer im Zimmer am Boden.

»Erin bist du übergeschnappt?«, sie hielt das brüllende Kind am Arm fest, »was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

»Aua! Ich bin nicht übergeschnappt, ich bin ein Tornado!«

»Etwas Besseres fällt dir wohl nicht ein! Du räumst sofort auf, sonst gehst du ohne Essen ins Bett! Wieso kannst du nicht spielen wie andere Kinder?«

»Mir war langweilig. Meghan ist bei Onkel Jam. Zu Monty darf ich nicht, und du hast bloß Zeit für das blöde Baby«, sagte Erin patzig.

»Hör auf mit dem Theater! Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt! Und jetzt räumst du auf der Stelle auf. Wehe wenn ich dich noch einmal schreien höre!«

Hermon ließ ihre Tochter los, ging hinaus und schlug die Tür zu. Erin hatte den Bruder zwar akzeptiert, aber die Eifersucht kam immer wieder durch. Sie ging in die Küche, wo Granny Augusta am Herd stand. »Was macht der Rücken?«, fragte sie und warf einen Blick in die Töpfe. »Das kalte Wetter ist nun einmal Gift für meine alten Knochen, daran ist nichts zu ändern«, entgegnete sie mit der ihr eigenen Gelassenheit.

»Was kochst du denn da? Himmel, riecht das gut!«

»Kalbsragout.«

»Und frisch gebackenes Brot. Das ist ja ein richtiges Festessen.«

»Damit die Kleine noch eine ordentliche Mahlzeit bekommt. Sicher wird sie morgen oder übermorgen abreisen.«

»Du bist ein echter Schatz, Granny Augusta.« Sie nahm einen Stapel Teller vom Regal und begann den Tisch im Salon zu decken, als Jam hereinkam. Er strahlte über das ganze Gesicht. »Hermon, fragst du Granny, ob sie irgendwo noch eine Flasche von dem Portwein versteckt hat?«

»Hm«, brummte sie verwundert und sah ihm nach, als er mit knirschenden Rädern in der Badestube verschwand. »Abschiedsessen und so gute Laune. Seltsam!«

Als sie den Tisch fertig gedeckt hatte, sah sie noch einmal nach dem schlafenden Jared, dann warf sie einen vorsichtigen Blick in Erins Zimmer. Es herrschte nicht wirklich Ordnung. Immerhin hatte sie so viel aufgeräumt, dass Hermon es akzeptieren konnte. Erin sah ihre Mutter mit motzigem Blick an, dann hörte sie im Salon Meghans Stimme und flitzte an ihr vorbei. »Satansbraten«, murmelte Hermon und begrüßte Meghan, die nun von Erin belagert wurde. Dann half sie Granny Augusta, das Essen aufzutragen. Schließlich legte sie einen Arm um ihre Freundin: »Ist das unser Abschiedsessen, Meghan? Brichst du morgen auf?«

»Hm... nein, ich...«

In diesem Augenblick kam Alex hereingestürmt. Granny Augusta brachte die letzte Schüssel und auch Jam rollte in den Salon. Meghan blieb ihr die Antwort schuldig. Erin ließ Meghan endlich los, und alle setzten sich zu Tisch. Granny Augusta verteilte das Ragout und die Männer sprachen über den Zustand der Weiden. Erin plapperte auf Meghan ein und Hermon verbot ihr den Mund: »Sei still und iss. Schau auf deinen Teller und sieh zu, dass du nicht alles vollkleckerst.«

Meghan lobte das Essen, und Granny Augusta war glücklich, als sie eine zweite Portion nahm. Als Jam das Besteck auf den Teller legte und sich mit bedeutungsvoller Geste zu seiner ganzen Größe aufrichtete, trat eine erwartungsvolle Stille ein. Jam blickte in die Runde, und er schien die Spannung zu genießen, die mit einem Mal in der Luft lag. Selbst Erin war verstummt und starrte ihren Onkel an.

Jam räusperte sich: »Das Essen war wunderbar, Tante Augusta.« Er hatte als Einziger die alte Anrede beibehalten. »Aber dies war kein Abschiedsessen! Im Gegenteil! Meghan und ich werden heiraten, und zwar sofort. Wir fahren morgen nach Coulson und lassen uns von Reverend Donner trauen.«

Erst einmal herrschte Schweigen. Dann begann Erin zu schreien: »Hurra, hurra, wir heiraten!« Sie sprang vom Stuhl und rannte um den Tisch. »Erin! Hör auf, so zu schreien und setz dich wieder hin«, mahnte Hermon. Erin sah die Gesichter ihrer Eltern an und gehorchte. Noch immer herrschte ratloses Schweigen, bis Granny Augusta sagte: »Das ist doch mal eine gute Nachricht.« Sie stand auf und nahm Meghan in den Arm: »Willkommen, Mädel, in der Meheganfamilie.« Dann umarmte auch Hermon ihre Freundin: »Ich freue mich, Meg«, und an Jam gewandt, »ich wünsche euch von Herzen Glück.«

Sie sah den kurzen Blickwechsel zwischen den Brüdern, aber sie vermochte ihn nicht zu deuten. »Dann wollen wir darauf anstoßen«, war Alex’ ganzer Kommentar. Er entkorkte die Weinflasche und füllte die Gläser.

Nicht nur Hermon hatte das Gefühl, dass er hinter der Geschäftigkeit etwas verbarg. Sie nahmen die Gläser und stießen an, doch es wollte kein Gespräch mehr aufkommen, und es war Alex, der im Brennpunkt der Blicke stand. Selbst Erin blieb still.

»Wenn ihr also morgen nach Coulson fahrt, muss ich gleich noch mit Chuck reden. Wir werden dann zwei Tage weg sein«, erklärte Alex geschäftsmäßig. Das war immerhin eine Zustimmung.

»Du kommst doch auch mit, Tante Augusta?«, fragte Jam.

»Nein Kinder, auf keinen Fall. Wenn ich meine alten Knochen dem Gerüttel des Wagens aussetze, werde ich anschließend eine Woche nicht mehr aus dem Bett kommen. Ich bleibe schön zu Hause und werde für eure Rückkehr eine kleine Feier vorbereiten.«

»Und ich werde auch nicht mitkommen«, erklärte Hermon, »Jared nimmt keine Flasche, und mitnehmen kann ich ihn nicht. Ich kann nicht riskieren, dass er sich erkältet.«

»Oh Hermon, daran habe ich nicht gedacht«, sagte Meghan traurig.

»Das ist schon in Ordnung, Meghan, dann kann Lil Marilyn bei mir lassen.«

»Aber ich fahre mit«, machte Erin sich bemerkbar.

»Ja, du kannst mitfahren«, stimmte Hermon zu, »dann gehst du jetzt auf der Stelle ins Bett, denn ihr werdet früh aufbrechen.« Hermon stand auf und brachte ihr Kind zu Bett. Alex verließ hastig den Salon. Tante Augusta und Meghan räumten den Tisch ab. Jam verschwand in seinem Zimmer. Alex kam zurück, als Hermon eben die Kinderzimmertür schloss. Sie trafen im Flur unter der Treppe zusammen.

»Was hast du gegen die Heirat, Alex?«

»Sie ist mir zu überstürzt, Chey. Jam ist nun mal nicht wie andere Männer. Er kennt Meghan kaum, und ich habe die Befürchtung, dass sie nicht weiß, auf was sie sich da einlässt. Die beiden klammern sich an eine Illusion, und am Ende gibt es ein böses Erwachen. Ich werde den Eindruck nicht los, das ist Meghans Trotzreaktion gegen ihren Onkel und ihre Tante.«

»Ich weiß es nicht. Rede mit Jam darüber.«

»Das ist sinnlos. Auch wenn man es nicht so merkt, er ist genau so stur, wie ich. Und wenn ich mich unterstehe, seine Entscheidung in Frage zu stellen, werden wir einen entsetzlichen Streit bekommen.« Er wandte sich ab und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten.

Hermon verharrte einen Moment auf der Stelle. Im Salon traf sie auf Meghan, die aus Jams Zimmer kam und nicht besonders glücklich aussah.

»Hilfst du mir, meine Kleider zu richten, Hermon? Ich will auf meiner Hochzeit wenigstens ein bisschen hübsch aussehen.«

Sie gingen nach oben und waren eine Weile mit Megans Garderobe beschäftigt. Meghan wandte ihr beharrlich den Rücken zu, und dann sah Hermon, dass sie weinte.

»Um Himmelswillen, was ist denn?«

»Alex will mich nicht auf Tawamaya. Ich glaube, er mag mich nicht.«

»Das ist nicht wahr, Meghan.«

»Warum benimmt er sich dann so? Es war doch nicht zu übersehen, dass es ihm überhaupt nicht passt.«

Hermon überlegte drei Sekunden, ob sie Meghan eine wahrheitsgemäße Antwort geben sollte, sie entschied sich dagegen. »Er hat nicht damit gerechnet, dass ihr gleich heiraten werdet. Er war einfach nur überrascht.«

»Das glaube ich nicht, Hermon. Ich habe Jam auch darauf angesprochen, und er hat mir geantwortet: Kümmere dich nicht darum, es ist allein unsere Entscheidung. Das gefällt mir nicht, Hermon! Ich will nicht schon wieder kämpfen.«

Hermon nahm die Freundin in den Arm: »Lass Alex erst mal darüber schlafen. Morgen sieht alles anders aus.«

»Vielleicht hätte ich mich wirklich nicht auf diese überstürzte Heirat einlassen sollen. Aber ich habe es mir so schön vorgestellt, für immer hierbleiben zu können.«

»Weine nicht, Meghan, alles wird gut. Geh schlafen, denn die Nacht wird kurz.«

Als sie die Treppe hinunterging, nahm sie sich vor, mit Alex zu reden. Doch zuerst sah sie noch einmal nach ihren Kindern.

Als Alex Schritte auf der Treppe hörte, öffnete er die Tür und sah Hermon im Kinderzimmer verschwinden. Er zögerte einen Augenblick, dann ging er die Treppe hinauf zur Dachkammer und klopfte an. Es dauerte einen Augenblick, bis Meghan öffnete. Sie war bereits im Nachthemd und hatte ein Tuch umgelegt.

»Darf ich reinkommen, Meghan?«

Nicht sonderlich bereitwillig trat sie zur Seite, und Alex schloss die Tür hinter sich. Sie bot ihm keinen Platz an. Beide blieben stehen.

»Ich will nicht um die Sache herumreden, mir scheint das alles ein bisschen überstürzt. Du hast Ärger zu Hause, willst nicht zurück. Ich kann das alles verstehen. Aber ob es eine Lösung ist, Hals über Kopf zu heiraten? Bist du dir wirklich im Klaren darüber, was du da tust? Hast du dir das genau überlegt? Jam ist nun einmal nicht wie andere Männer!«

Meghan wich seinem Blick nicht aus. »Ja, er ist nicht wie andere Männer, in vielen Dingen, und ich bin froh darüber!«, entgegnete sie heftig, »und – ja, ich weiß, was ich da tue! Ich wollte Jam von Anfang an haben, eben weil er anders ist! Damit meine ich nicht seine Beine! Ich bin in einer Männerwelt aufgewachsen, und ich habe erfahren, dass sie brutal, gefühllos und herrisch sind – und Schweine! Jedenfalls die meisten. Der einzige Mann, in dessen Nähe ich mich wohl gefühlt habe, war mein Vater. Und dann mit Hermon, als ich dachte, dass sie ein Junge ist. Ich dachte, nur so einen kann ich lieben. Und dann bin ich Jam begegnet. Das ist keine Laune, Alex, und keine Flucht. Dass er nicht laufen kann, ist nicht wichtig. Er ist mehr ein Mann, wie viele, denen ich begegnet bin, die auf zwei Beinen standen! Sind damit deine Fragen beantwortet?«

»Liebst du ihn, Meghan?«

»Ja! Ja, ich liebe ihn.«

»Ich auch. Er ist mein Zwilling. Ich will, dass er glücklich ist.«

»Verdammt nochmal, das will ich doch auch!«

»Willkommen auf Tawamaya, Meghan!«

»Ist das ein Waffenstillstand oder ein Friedensangebot?«

»Ich habe dir nie den Krieg erklärt.«

»Ich hatte aber den Eindruck.« Meghan hatte sich beruhigt und setzte sich auf die Bettkante.

»Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, Meghan.«

Sie sah in seine dunklen Augen, die irgendwie anders waren, als Jams. »Das Willkommen war also ehrlich gemeint?«

»Ja, es ist ehrlich gemeint. Gute Nacht. Wir brechen morgen auf, sobald es hell wird.«

 

Hermon hatte Feuer im Kamin gemacht und war gerade damit fertig, Jared zu stillen, als Alex hereinkam. Er umfasste sie von hinter und strich Jared übers Köpfchen: »Geht es unserem Löwenkind gut?«

»Ja, er hat schon eine Menge zugenommen.«

»Bist du sehr traurig darüber, dass du morgen nicht mitkommen kannst?«

»Viel trauriger bin ich darüber, wie du dich benommen hast. Du bist nicht deines Bruders Hüter! Er ist ein erwachsener Mann, der allein entscheidet, sonst hätte er dich um deinen Rat gebeten«, entgegnete Hermon verärgert, »du hast Meghan die ganze Freude verdorben.«

»Ich weiß. Ich hätte mich besser im Griff haben müssen.«

»Oh, du gibst es wenigstens zu! Du solltest es ihr sagen.«

»Das habe ich schon. Ich bin ungehörigerweise oben bei ihr in der Dachkammer gewesen. Es war ein ziemlich hartes, aber ehrliches Gespräch. Auch Meghan hat nicht hinter dem Berg gehalten und mir einiges um die Ohren gehauen. Ich glaube, ich habe ihr Unrecht getan. Ich denke, sie weiß, was sie tut.«

»Ich finde, es war eine ziemliche Unverschämtheit von dir, von ihr zu verlangen, sich vor dir zu rechtfertigen. Das hast du doch wohl?«

»Ja! Hermon, wir werden in Zukunft im selben Haus leben, da sollten klare Verhältnisse herrschen.« Hermon schüttelte verärgert den Kopf: »Sie ist dir keine Rechenschaft schuldig. Was sie tut ist nicht unvernünftiger, als das, was ich getan habe, mich auf einen Alex Mehegan einzulassen.«  

»So gesehen hast du recht. Hättest du dich schnellstens aus dem Staub gemacht, wäre dir viel Kummer erspart geblieben. Aber Chey, was ist mit dem Glück?«

Hermons Zorn verrauchte schlagartig: »Jeder Augenblick Glück mit dir wiegt allen Kummer auf.« Er nahm sie in die Arme und küsste sie mit all seiner Leidenschaft. Als er sie freigab, fragte sie jedoch: »Was ist jetzt mit Meghan? Muss ich hinaufgehen?«

»Nein, ich denke, wir haben uns verstanden. Lass uns schlafen, bevor Jared wieder hungrig wird.

 

Hermon half Meghan beim Ankleiden und gab ihr ein Schaffell und zwei warme Decken für den Weg mit. Dann machte sie Erin fertig, und obwohl ihre Tochter protestierte, bestand Hermon auf einer langen Hose unter dem Wollkleid. Das Frühstück fiel kurz aus. Alex war schweigsam und Jam fahrig. Jared schrie auf Hermons Arm, denn die ganze Aufregung ging nicht spurlos an ihm vorüber. Nur Granny Augusta bewahrte die Ruhe, teilte Haferbrei aus und bestand darauf, dass alle Teller leergegessen wurden. Für die Fahrt hatte sie bereits einen Korb gepackt. Dann stand Lil vor der Tür, und Alex trieb zum Aufbruch.

Meghan brachte ihrem Cousin, dem sie noch am Abend ihre plötzliche Entscheidung mitgeteilt hatte, einen Brief für die Potters. Auch er würde nach dem Frühstück im Bunkhaus mit seinen beiden Begleitern nach Cheyenne aufbrechen.

Lil überließ Hermon die ebenfalls brüllende Marilyn, die nicht einsah, dass sie dableiben sollte. Alex stürmte mit flüchtigem Abschied hinaus und fuhr den Wagen vor. Helmer hatte bereits eingespannt. Es wurde ein hektischer Aufbruch.

Nachdem alle gegangen waren, war Hermon erst einmal damit beschäftigt, die Kinder zu beruhigen. Als Jared endlich schlief und Marilyn mit einem Keks beschäftigt war, schenkte Granny Augusta zwei Becher Kaffee ein. »Komm, setz dich her, Mädel.« Hermon setzte sich zu ihr an den Tisch. »Du wärst gerne dabei gewesen?«

»Ja. – Sicher! Das Problem jedoch ist, Alex macht sich Sorgen um Jam, dass er nicht glücklich wird mit dieser Ehe.«

»Es kommt schon alles ins Lot. Ich glaube, Jad ist auch ein bisschen eifersüchtig. Bisher war er der wichtigste Mensch in Jams Leben. Jetzt ist das anders. Ich freue mich, dass Jam eine Frau gefunden hat und dass es wieder so viel Leben auf Tawamaya gibt. Eine Zeitlang sah es so aus, als würden die Mehegans aussterben. Und jetzt sind wir wieder eine große Familie. Womöglich werden Jam und Meghan auch noch Kinder bekommen. Das hätte Jordan gefallen.«

»Jordan?«

»Jads und Jams Mutter.«

»Seltsam, Alex hat mir nie gesagt, wie sie hieß.«

»Bist du nie auf dem Familienfriedhof gewesen?«

»Doch, aber ich hab mir die Gräber nie aus der Nähe angesehen.«

Marilyn fing an zu brüllen. Sie hatte sich unter dem Tisch den Kopf gestoßen. Hermon nahm sie hoch und tröstete sie. Granny Augusta schenkte Kaffee nach.

»Hilfst du mir beim Umräumen, Hermon?«

»Was willst du denn umräumen?«

»Ich werde in Lils altes Zimmer umziehen.«

»Warum?«

»Ich brauche nicht mehr so viel Platz. Dann kannst du mit Alex meine beiden Zimmer bewohnen. Sie sind die größten im Obergeschoss. Und es gibt noch eine Stube für die Kinder. Dann könnt ihr Jam und Meghan das Erdgeschoss überlassen.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht, dass Jam und Meghan einen eigenen Wohnbereich brauchen. Natürlich helfe ich dir.«

Sie trank ihren Kaffee aus, sah noch einmal nach Jared, und dann machten sie sich an die Arbeit. Die Räume, die Granny Augusta bisher bewohnt hatte, lagen über der Küche und der Badestube. Sie waren hell und geräumig und mit lackierten Möbeln ausgestattet.

Hermon und Granny Augusta waren den ganzen Tag mit dem Umräumen beschäftigt. Schränke wurden ausgeräumt, Betten frisch bezogen, und Hermon lief viele Male treppauf und treppab. Dann brachten sie Meghans Sachen in die neue, gemeinsame Schlafkammer.

Marilyn war zufrieden, sie fühlte sich in dem ganzen Chaos wohl und ging auf Entdeckungs-reise. Bei der Räumerei kam ein Kästchen zum Vorschein, in dem Granny Augusta ihre Heiligtümer aufbewahrte. Sie zeigte Hermon eine silberne Kette, ein Geschenk von Lils Vater, von dem sie niemals gesprochen hatte, und eine Fotographie von Alex’ Eltern.

Hermon sah sie genau an. James Mehegan war groß und hatte die gleiche kraftvolle Statur wie seine Söhne. Sein glattes Haar war schwarz und kurz geschnitten, seine Gesichtszüge kantig, härter als die seiner Söhne. Jordan wirkte neben ihm klein, zierlich, fast zerbrechlich. Ihr Haar war heller, wahrscheinlich dunkelblond. Sie war nicht schön, doch sie hatte einen eigenartigen Charme. Hermon erkannte die Ähnlichkeit mit Alex und Jam. Sie hatte denselben geschwungenen Mund. In ihrem Blick war etwas Mutwilliges. Als Hermon aufblickte, bemerkte sie, dass Granny Augusta sie aufmerksam beobachtete.

»Wie war Sie, seine Mutter?«, wollte sie wissen. Granny Augusta lächelte: »Ich habe sie immer beneidet. Sie war so voller Lebensfreude. Und sie hat James, den das Leben so hart gemacht hatte, dass ihn scheinbar nichts mehr berührte, im Sturm erobert. Sie hat es nicht leicht gehabt mit ihm, hat um ihrer Liebe Willen viel leiden müssen. Aber so sind sie, die Meheganmänner, bereiten den Frauen, die sie lieben, viel Kummer. So waren sie alle, der Großvater, der Vater und der Sohn. Hoffen wir, dass Jam es besser macht. Ich fürchte, seine Meghan ist nicht so hart im Nehmen wie du.

Als James geheiratet hat, war ich eifersüchtig auf Jordan und habe ihr das Leben auch noch schwer gemacht. Ich hatte mir doch wahrhaftig eingebildet, James würde mit mir und meinem Kind Vorlieb nehmen.«

»Du hast ihr das Leben schwer gemacht! Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Damals war ich sehr naiv. Jordan hat mir das nie nachgetragen.«

Hermon betrachtete noch immer die Fotographie. Außer von den Kinderstreichen der Zwillinge hatte Granny noch nie von der Familie erzählt. Als sie zärtlich über den silbernen Anhänger strich, sah Hermon sie fragend an.

»Er war der fünfte Sohn eines Ranchers in der Nachbarschaft. Ein Erbe hatte er nicht zu erwarten, und unsere Väter waren verfeindet. Dann bot sich für ihn die Heirat mit der Tochter eines wohlhabenden Ranchers. Sie war das einzige Kind. Wäre er bei mir geblieben, hätten wir mit leeren Händen dagestanden und hätten zwischen unseren Vätern einen blutigen Weidekrieg heraufbeschworen. Deshalb bin ich mit James fortgegangen. Dass ich ein Kind erwartete, hat er nie erfahren.«

»Weiß Lil, wer ihr Vater ist?«

»Nein. Ich habe noch nie darüber geredet, mit niemandem, auch nicht mit James.«

Hermon stellte keine weiteren Fragen, und Granny Augusta machte sich wieder ans Aufräumen.

Als die Arbeit am Nachmittag beendet war, Hermon ihren Sohn gestillt hatte und Marilyn bei Granny in der Küche spielte, zog sie ihre Schaffelljacke an und ging hinaus auf den kleinen Friedhof. Er lag auf der Westseite, ein Stück vom Haus entfernt und war von hohen Huckleberrybüschen umgeben. Im vorderen Teil befanden sich Gräber von Männern aus der Crew, die bei der Erfüllung ihrer Pflichten ihr Leben gelassen hatten. Der hintere Teil war mit großen Steinen abgetrennt. Dort gab es unter den Büschen nur zwei Grabhügel. Sie waren nicht mit Holzkreuzen, sondern mit zwei behauenen Steinen gekennzeichnet.

Auf dem rechten Stein standen zwei Worte: MEINE JORDAN und darunter die Zahlen:

 

1822  -  1851

 

Sie war nur neunundzwanzig Jahre alt geworden. Auf dem linken Stein stand:

 

JAMES ALEXANDER MEHEGAN

1814  -  1860

 

Hermon dachte an Granny Augustas Worte. Sie müssen sich wohl sehr geliebt haben.

Eines Tages werde ich auch hier liegen, ging es ihr durch den Sinn. Es ist schön hier, ein friedlicher Platz. Die nackten Äste der Sträucher mit den leuchtenden Beeren ragten um beide Steine wie ein Kranz und gaben dem Platz etwas Lebendiges. Sie dachte an die Gesichter auf der Fotographie und versuchte sich die Menschen vorzustellen.

»Schade, dass ich euch nicht gekannt habe.«

Sie blieb noch eine Weile nachdenklich vor den grasbewachsenen Hügeln stehen. Dann schlenderte sie zurück zum Haus, ließ den Blick über das Land, die grasbewachsenen Hügel und die fernen Rockys schweifen. Der Himmel hatte eine eigenartige Farbe. Das roch nach Schnee. Der Winter war ihr willkommen. Jared war nun kräftig genug, ihn zu überstehen. Das Haus würde voller Leben sein.

Sie ging noch einmal in das Zimmer unter der Treppe, wo nun Meghan und Jam wohnen würden, strich über das frisch bezogene Bett und stellte eine neue Kerze in den Halter. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Das erste Mal! Hermon wusste, dass Jam davon nicht mehr zu träumen gewagt hatte. Wie würde es für ihn sein? Wenn er auf ein Pferd kommt, dann wird er wohl auch... Himmel, was geht mich das an! Wieso denke ich über so etwas nach! rief sie sich zur Ordnung. Sie musste an ihr erstes Mal denken, lange bevor sie verheiratet waren, in der Hütte am Big Horn Canyon. 

Geschrei aus dem Haus schreckte sie aus ihren Gedanken, und Hermon erinnerte sich wieder an ihre Pflichten. In der Küche fand sie ein ziemliches Chaos vor. Granny Augusta hantierte mit der brüllenden Marilyn am Rockzipfel am Herd, und Jared, von dem Lärm aufgeweckt, brüllte ebenfalls. Hermon schnappte sich zuerst das zeternde Mädchen und brachte es zur Ruhe. Bei Jared genügte es, dass sie ihn aus dem Korb nahm und zu singen begann. Sofort verwandelte sich sein Geschrei in vergnügtes Krähen.

Trotz des Protests der Kinder wurde es ein friedlicher Nachmittag. Granny Augusta war ungewöhnlich gesprächig. Sie erzählte von früher, von Alex’ Eltern und sogar aus ihrer eigenen Kindheit.

Abends nahm Hermon beide Kinder mit in ihre neue Schlafstube, und sie machten sich gegenseitig wach. Marilyn vermisste ihre Mutter und Hermon erwartete schließlich sehnsüchtig die Rückkehr der Familie.

 

Granny Augusta warf zufrieden. einen letzten Blick über den festlich gedeckten Tisch. Das weiße Tischtuch war mit Tannengrün geschmückt. In die Mitte hatte sie den großen Messingkerzenständer von der Anrichte gestellt.

Hermon nahm den Korb, um Feuerholz zu holen. Als sie die Tür öffnete, trieb der Wind ihr einen Wirbel von Schneeflocken entgegen. »Oh!«, murmelte sie und hatte es eilig, zum Holzschuppen zu kommen. Als sie den Korb gefüllt hatte und wieder nach draußen ging, blieb sie stehen und sah fasziniert hinauf zum Nachthimmel. Die Wolkendecke war aufgerissen. Ein runder Mond schien direkt über dem Haus zu stehen, und sein silbernes Licht ließ in der frischen Schneedecke tausend Funken glühen. Doch es war nur ein kurzes Aufleuchten, dann verschwand der Mond wieder hinter den Wolken. Die Nacht wurde schwarz, das Leuchten des Schnees war erloschen. Nur durch das Küchenfenster fiel ein warmer Lichtschein in die Dunkelheit. Schneeflocken schmolzen auf Hermons warmem Gesicht, und sie freute sich auf die wohlige Wärme des Kaminfeuers. Es war so gut, ein Zuhause zu haben. Sie erinnerte sich an die Nächte, die sie allein draußen in der Wildnis im Schnee verbracht hatte, sich fragte, ob sie die Nacht überleben würde, nicht wusste, was sie am Ziel ihres Weges finden würde, wenn sie es überhaupt erreichte. Am Ende hatte sie das Ziel gefunden, den Platz, der Sicherheit und Geborgenheit bedeutete. Tawamaya! Das war der Ort, an den sie gehörte, an dem sie glücklich war. 

Sie stellte den Korb neben den Kamin und zündete das Feuer an. Sie sah dem Spiel der Flammen zu und spürte, wie sich die Wärme langsam ausbreitete.

»Zeit, dass sie kommen!«, das war Granny Augusta, »sie werden sich bei dem Schneegestöber doch nicht verirrt haben?«

»Nein, die Pferde kennen den Weg«, beruhigte Hermon sie. Im selben Moment hörten sie Stimmen vom Hof. Als erste kam Erin hereingestürmt. Hermon fing sie auf: »Hallo, mein Sonnenkind! Geht es dir gut?«

»Ja, Mummy, es war so schööön! Fast so schön wie bei dir und Dad.«

»Dann zieh deine Sachen aus, du bist ganz nass.«

»Ich will aber noch nicht schlafen!«

»Nein, wir essen jetzt alle und feiern ein bisschen.«

»Au ja!« Erin wollte losflitzen, doch Hermon hielt sie fest: »Wir wohnen jetzt im Obergeschoss, damit Jam und Meghan auch einen Platz haben. Und du bekommst dort auch deine Stube.«

»Ja, gut.«

Nun kamen auch die Erwachsenen herein, die draußen den Schnee abgeschüttelt hatten. Monty war auf dem Arm seiner Mutter eingeschlafen. Hermon warf einen prüfenden Blick auf die Gesichter. Jam und Meghan strahlten, alles schien in Ordnung zu sein. Sie zogen die warmen Sachen aus und verursachten ein fröhliches Chaos. Granny Augusta kam aus der Küche geeilt und umarmte das Brautpaar. Meghan und Jam erzählten begeistert. Hermon küsste Jam, dann legte sie den Arm um Meghan: »Ich freue mich so, dass du jetzt bei uns bleibst.« Da fühlte sie sich von hinten gepackt: »Hallo, ich bin auch noch da!«

Hermon drehte sich um, und Alex küsste sie fast etwas verschämt: »Schade, dass du nicht dabei sein konntest. Reverend Donner hat sich übertroffen. Ich glaube, er hat verdammt seinen Spaß gehabt.«

»Granny und ich haben die Zeit genutzt und das Haus auf den Kopf gestellt. Wir wohnen jetzt oben.«

»Ist mir alles recht, solange du heute Abend in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elvira Henning/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1206-9

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