CHRISTIAN DÖRGE
DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE
DES EDGAR WALLACE:
DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT
Die Hauptpersonen dieses Romans:
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Das Buch
London, im Spätsommer 1965.
Henry Gilder, ein erblindeter Ex-Soldat, gerät eines Nachts ins Fadenkreuz ausländischer Geheimagenten, die bereits mehrere Morde in London und Portsmouth auf dem Gewissen haben. Nur mit knapper Not kann Gilder sich deren tödlichem Zugriff entziehen.
Chefinspektor Dick Alford von Scotland Yard erhält von Lord Fossaway, dem Leiter des Britischen Militärgeheimdienstes, den Auftrag, die Agenten aufzuspüren und weitere Morde zu verhindern...
Mit dem Roman Die Schritte in der Dunkelheit veröffentlicht Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland, den sechsten Band seiner Roman-Reihe, die sich als Hommage an die Kriminal-Romane von Edgar Wallace (* 1. April 1875; † 10. Februar 1932), des Meisters der Hochspannung, sowie an die legendären Rialto-Filme der 1960er Jahre versteht.
Der Autor
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 2022 folgt eine neue Noir-Krimi-Serie um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck.
DIE SCHRITTE IN DER DUNKELHEIT
Die Hauptpersonen dieses Romans:
Richard – genannt Dick – Alford: Chefinspektor bei Scotland Yard, der bekannteste Ermittler seiner Zeit. Wohlbeleibt, den Genüssen des Lebens zugeneigt (und mit einer tiefen Abneigung gegen das Treppensteigen gesegnet), ein kultivierter Mann in den 50ern von freundlichem Wesen und scharfem Verstand (und mit einem beachtlichen Schnurrbart).
John Higgins: Sergeant bei Scotland Yard und Assistent von Dick Alford. 35 Jahre alt, passionierter Pfeifen-Raucher, ehrgeizig und mitunter impulsiv, aktiver Boxer und höchst kompetenter Kriminalist.
Bryan Wesby: Sergeant bei Scotland Yard, zweiter Assistent von Dick Alford. 40 Jahre alt, hochgewachsen und hager. Ein pedantischer und ausgesprochen effektiver Ermittler, verschlossen und nicht eben gesellig (was auch an seiner Vorliebe für Zigarren liegen mag).
Sir Archibald Morton: Chef von Scotland Yard und Vorgesetzter von Dick Alford. Durchaus kein hervorragender Kriminalist, pflegt er jedoch Kontakte in allerhöchste gesellschaftliche Kreise und hält große Stücke auf den Chefinspektor und dessen Fähigkeiten. Liebhaber der schönen Künste.
Mark Bannister: Constable bei Scotland Yard, Spezialist für Tatort-Ermittlungen und Spurensicherung.
Henry Gilder: ein blinder Ex-Soldat.
Shirley Clyde: eine verführerisch schöne Schauspielerin.
Julio Serra: ein ausländischer Geheimagent.
Greg Westlake: Lieutenant bei der Britischen Marine.
Raymond Milbourgh: ein Marine-Offizier.
Layla Milbourgh: seine Frau.
Jerome Milbourgh: sein Bruder.
Terrence Beauregard: ein Artillerie-Offizier.
Dieser Roman spielt im London des Jahres 1965.
Erstes Kapitel
Henry Gilder streckte den Arm aus, und seine Hand fand ohne weiteres den weißen Stock in dem Schirmständer. Er tastete seine Taschen ab, um sich zu vergewissern, dass er den Hausschlüssel eingesteckt hatte. Dann ging er durch den Flur auf die Etagentür zu.
Seine Haushälterin kam aus der Küche. Ihr dickes, gutmütiges Gesicht war voll Sorge.
»Wollen Sie wirklich noch ausgehen?«, fragte sie. »So spät abends? In einem Viertel, das Ihnen ganz fremd ist?«
Er wandte ihr sein Gesicht mit den blinden Augen zu und lächelte, als belustige ihn ihre Besorgtheit.
»Großer Gott, wir sind zwar aus einem Viertel in ein anderes gezogen, aber wir befinden uns immer noch in London. Und nicht irgendwo in Afrika. In Cricklewood gibt es keine wilden Tiere.«
»Vielleicht doch.« Mechanisch wischte sie sich mit dem feuchten Lappen, den sie aus der Küche mitgebracht hafte, über die Hände.
»Aber Francine! Seit mehr als zwanzig Jahren gehe ich nach dem Essen noch ein wenig aus und trinke ein Glas in einem Café. Ein Glas, vielleicht auch zwei, rauche ein wenig, schwatze ein wenig – soll ich darauf jetzt verzichten?«
»Bisher wurden Sie von Ihren Freunden begleitet, und in Camden kannten Sie jeden Pflasterstein. Aber hier ist es etwas anderes. Vielleicht nicht...? Sie sollten sich lieber erst mal etwas eingewöhnen... mit dem abendlichen Spaziergang warten, bis Sie die mit der neuen Umgebung einigermaßen vertraut sind...«
Er lachte und strich sich über den gepflegten Bart und Schnurrbart.
»Großartig! Ausgezeichnet! Ich soll das neue Viertel kennenlernen und dabei zu Hause hocken! Wie habe ich Camden so genau kennengelernt? Sie sind köstlich, Francine!«
Die Frau errötete. »Davon ist nicht die Rede. Sie hatten zuverlässige Freunde, wenigstens zu Anfang. Und dann gingen Sie auch bei Tage und nicht erst spät abends aus. Warten Sie einen Augenblick, bis ich mit dem Aufwaschen fertig bin, dann begleite ich Sie...«
Er beugte sich jetzt vor, ließ den weißen Stock über den Teppich schleifen, streckte die linke Hand aus und streichelte ihre runzligen Wangen.
»Liebe Francine! Ob Tag oder Nacht, das spielt für mich doch keine Rolle. Sie erwähnen meine Freunde. Tragen diese Freunde nicht auch den weißen Stock? Sie halten uns für hilflos. Habe ich Ihnen nicht längst das Gegenteil bewiesen? Zehn Jahre ist alles gutgegangen. Weshalb sollte es gerade heute schiefgehen?«
Jetzt musste seine gute alte Haushälterin, wenn auch noch immer besorgt, lächeln. »Trotzdem«, sagte sie. »Bleiben Sie vor allem in der Nähe. Gehen Sie ins nächstgelegene anständige Café. Und trinken Sie nicht zu viel!«
»Schon gut, alter Drachen.«
Er drehte sich um und öffnete die Etagentür, bevor sie ihm behilflich sein konnte. Während der vierundzwanzig Stunden, die sie in der neuen Wohnung wohnten, hatte er die Tür kaum zwei- oder dreimal geöffnet, und doch stellte er sich jetzt so geschickt an, als wäre sie ihm längst vertraut.
»Alter Drachen! Als wären wir verheiratet. Sie wollen mir nur wieder mal zeigen, wer der Herr im Hause ist.«
Sie lächelte, wartete, bis er das Treppengeländer gefunden hatte und über die mit Läufern belegte Treppe nach unten ging.
»Nicht mehr als zwei Glas«, flüsterte sie. »Und bitte gegen halb zwölf wieder zu Hause sein!«
»Gönnen Sie mir doch mal ein bisschen Freiheit!«
Er ahmte ihr Flüstern nach, dessen sie sich bediente, damit die Nachbarn ihre Ermahnungen nicht hörten. Er lachte. Als er dann lauter sprach, klang etwas wie Zuneigung in seiner Stimme.
»Keine Sorge, Francine. Mir passiert schon nichts.«
Er stieg die Treppe hinab und war bald Francines Blicken entschwunden.
Francine schloss die Etagentür, kehrte in die Küche zurück, nahm ihre Arbeit wieder auf und summte dabei mit seltsam monotoner Stimme vor sich hin. Dann und wann unterbrach sie ihre Arbeit. Ihr Gesicht war wieder sehr ernst. Sie dachte nicht nur an die neue Umgebung und die damit verbundenen Gefahren für den Blinden. Noch vieles andere beschäftigte sie. Henry Gilder hatte die neue Wohnung von seinem kürzlich verstorbenen Vater geerbt. Mit dem Ableben des alten Herrn war schon lange zu rechnen gewesen, trotzdem hatte dieser Schlag den Sohn, der seinem Vater sehr zugetan war, schwer getroffen. Außerdem war dieser Juni-Tag besonders bedeutungsvoll: Vor vielen Jahren hatte Henry Gilder am gleichen Tage erfahren, dass seine Verwundung aus dem Zweiten Weltkrieg zur vollständigen Erblindung führen würde. Der jetzt fünfzigjährige Gilder hatte sich im Lauf der Zeit in sein Schicksal ergeben und andere Freuden gefunden, die ihm über den furchtbaren Verlust hinweghalfen. Aber sein Wesen war nicht ausgeglichen, und er musste seine fröhlichen Stunden mit Tagen tiefer Niedergeschlagenheit bezahlen. Sobald ihn die Depression überfiel, wuchs die Zahl der Getränke, die er im Café zu sich nahm. Dann huschten Geisterschatten toter Hoffnungen über sein blindes Gesicht, in das Sorge manche Furche gegraben hatte. Altes Leid wurde zusammen mit der Erinnerung an unerfüllt gebliebene Jugendträume wieder lebendig, und nur das schwere bernsteinfarbene Getränk bedeutete Trost für den, der sein Augenlicht verloren hat und der so sehr auf seine Mitmenschen angewiesen war.
Eine Stunde später saß Henry Gilder auf der Terrasse eines Cafés. Vor ihm stand auf einem Untersatz ein Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Neben dem Glas häuften sich bereits mehrere derartige Untersätze, auf denen die Preise des Getränkes angeschrieben standen.
Es war ein schöner, lauer Abend, einer jener Abende, an denen man mehr hört als sonst, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass kaltes Wetter den Schall besser leitet als warmes. Gern verbringt der Mensch solche Sommernächte im Freien, achtet dabei auf manches, das er üblicherweise nicht wahrnimmt. Seine Entspannung macht ihn aufnahmefähiger, und gern erinnert er sich später dessen, was er auf diese Weise erlebte. In dieser geistigen Bereitschaft befand sich der blinde Henry Gilder.
Ein Omnibus kam um die Straßenecke und hielt, nach Henrys Berechnung, etwa fünfzig Meter entfernt. Es roch nach Benzin, eine Klingel schrillte, und der Omnibus fuhr geräuschvoll ab. Irgendwo, in einem Haus in der Nähe, übte jemand eine Chopin-Étude. In der schwachen Abendbrise raschelte es im Gezweig der Bäume. In der Nähe des Blinden plauderten und lachten Männer und Frauen. Jetzt wurden dem Kellner Bestellungen zugerufen, die er an der Theke drinnen im Café laut weitergab. Dann und wann kam ein verspäteter Zeitungsjunge ins Lokal, zwängte sich durch die Tischreihen und rief »Kaufen Sie die Abendausgabe der Times!« und wies mit heiserer Stimme auf irgendein absatzbelebendes politisches Ereignis hin. Ein Verkäufer von Erdnüssen legte eine Probe seiner Ware auf Henrys Tisch. Die weißen Finger des Blinden fanden die Nüsse und öffneten ihre dünne Schale. Ein Kellner spritzte Wasser aus einer Siphonflasche, um den angefeuchteten Staub an den Fußboden zu kleistern, und beschwerte sich dabei stöhnend über die Hitze.
»Ich mag Hitze gern«, erwiderte lächelnd Henry. »Die Getränke schmecken dann besser. Was habe ich zu zahlen?«
Der Kellner rechnete die Zahlen auf den Untersätzen zusammen und nannte respektvoll die Endsumme.
»Bringen Sie mir noch eine Zwanzigerpackung Gold Leafs«, sagte Henry Gilder.
Aber das war leider nicht möglich. Die Stimme des Kellners klang bedauernd, als er sagte, das Café verkaufe keine Tabakwaren. Aber nur vier Minuten weiter sei eine Café-Bar, die auch Zigaretten führe und bis spät nachts geöffnet sei. »Zweite Straße rechts und dann die erste Straße links...« Aber vielleicht wären die Schwierigkeiten für den Herrn zu groß. »Leider hat unser Café niemanden angestellt, der Sie begleiten könnte, aber ich will fragen, ob nicht jemand...«
Henry stand auf und klopfte dem Kellner auf die Schulter. »Ich bin schon mit größeren Schwierigkeiten fertig geworden! Zweite rechts, erste links. Das ist weiter nicht schwer.«
Er legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch und brach dann auf. Der Kellner bedankte sich überschwänglich.
»Ich komme bald wieder«, sagte Henry zu ihm. »Ich wohne erst seit kurzem in diesem Teil der Stadt.«
Munter schritt Henry Gilder los. Er hielt sich rechts, in der Nähe der Hauswände. Leute saßen noch vor den Haustüren, und die Fenster der Portiers-Logen waren weit geöffnet. In solchen Nächten denkt der Londoner nur ungern an sein Bett. Die Stadt erlebte ihre schönste Zeit, und nach einem etwas trostlosen Frühling wurde das beständige, warme Wetter mit Freude begrüßt.
Während Henry durch die Straßen ging, summte er ein Lied vor sich hin, und es schien eigentlich unglaublich, dass er blind war. Der weiße Stock glitt an den Hauswänden entlang, tastete nach dem Bordstein, und fand die Metallknöpfe, die den Straßenübergang für Fußgänger markierten.
»Zweite rechts«, sagte Henry vor sich hin. Er befand sich jetzt in einer stillen Straße, in der es keine Cafés zu geben schien. Auch aus den Häusern drang kein Laut. Henry roch Blütenduft, vernahm das Rauschen von Bäumen: Platanen und Kastanien. Er kannte das Rascheln der Platanen genau, die als die einzigen Bäume den Benzindünsten der Stadt zu widerstehen vermögen. Er fühlte, wie sein Fuß eine frühe Kastanie zertrat.
Henry pfiff ein Lied, das er im Zweiten Weltkrieg gelernt hatte. Dann sang er leise den Text des Liedes: Es handelte von der Liebsten eines Soldaten, und seine Worte erinnerten ihn an die kleine Theresa, die ihn nicht nur das Lied, sondern auch manches andere gelehrt hatte.
Wie nun weiter? Hatte der Kellner gesagt: erste oder zweite Straße links? Henry lächelte vor sich hin. Er hatte zu viel Scotch getrunken. Wahrscheinlich war es schon spät, und Francine würde ihn mit Vorwürfen empfangen. Einerlei. Nur ganz selten versetzte er sie wirklich in Sorge. Und Francine würde auch diesmal wieder Verständnis für ihn haben.
Henry lächelte wieder. Irgendwo in der Nähe unter den Bäumen hörte er Liebesgeflüster. Gern hätte er nach dem Weg gefragt, denn er fühlte, dass er die Orientierung verloren hatte. Aber er wollte das Pärchen nicht stören. Sie sollten sich liebhaben – Unheil kommt ohnehin bald genug –, sich ewige Treue schwören und Herzen, die ein Pfeil durchbohrte, in die Baumrinden schneiden, die sich dann eines Tages lösten und verfielen.
Henry seufzte. Auch er hatte einmal geliebt. Als Soldat hatte er...
Er stolperte leicht. Der glatte Asphalt wurde von Kopfpflaster unterbrochen. Vielleicht war es die Auffahrt zu einem Haus. Einem großen Haus mit weitem Garten. Denn eine ganze Strecke lang fühlte sein weißer Stock kein Tor, sondern nur glatte Mauer, über die blühende Baumzweige hingen, deren Duft ihm der leichte Wind zutrug.
Es war ein herrlicher Nachtspaziergang... Der Kellner hatte von vier Minuten Wegs gesprochen, aber Henry kam es vor, als sei er schon mindestens eine Viertelstunde durch eine gewundene Allee gegangen. Ja, er hatte die Orientierung verloren, und das ärgerte ihn. Francine würde sicher ihre Scherze machen. Natürlich hatte der Scotch schuld daran. Aber was das angeht...
Henry blieb stehen und lauschte. Tiefe Stille, keine Schritte. Der Lärm des Londoner Verkehrs, der in Wirklichkeit niemals verstummt, schien auf ein Minimum reduziert. Alles ein wenig gespenstisch. Ganz anders als in Camden mit seinen belebten Straßen. Francine war mit dem Wohnungswechsel sehr einverstanden gewesen. In der Nähe des Gladstone Parks! Waldluft und wie auf dem Land. Das hatte sie sich schon immer gewünscht; so genossen sie die Vorteile von Stadt und Land.
Henrys Gesicht wurde ernst. Vielleicht waren die zentralen, dicht bewohnten Viertel für einen Blinden doch sicherer. Seltsam, wie still und leer die Straße war, in der er sich befand. Der Wind wehte stärker, das Rauschen der Bäume nahm zu, und die Nachtluft wurde kühler.
Zweifellos war die Straße breit, mit prächtigen Gebäuden in großen Gärten, die für eine Stadt wie London einen unerhörten Luxus darstellten.
Henry ging weiter. Früher oder später würde er schon jemandem begegnen. Einem Diener aus einem der Häuser, der noch schnell einen Brief in den Kasten brachte. Einem Café-Kellner, der von seiner Arbeit nach Hause ging; oder einem Polizisten, der seine nächtliche Runde machte. Vielleicht war es doch sicherer, ein Taxi zu nehmen, wenn eine derartige Heimkehr für ihn auch etwas Demütigendes hatte. Aber er konnte ja vorher aussteigen, so dass Francine nichts merkte. Der Fahrer konnte ihm dann auch die Zigaretten besorgen. Henry lächelte wieder. Ja, es war genauso, als wäre er verheiratet, ein Ehemann, der unter dem Pantoffel steht. Er wusste, dass Francine manch scharfes Wort finden würde – aus lauter Sorge um ihn.
Es musste längst Mitternacht, wenn nicht noch später sein. Und dabei hatte er Francine versprochen, um halb zwölf wieder zu Hause zu sein. Geradezu schamlos, dass er sich derart verspätete. Seine Überlegungen sprachen dafür, dass er inzwischen wieder nüchtern geworden war. – Ja, es war höchste Zeit, dass er ins Bett kam.
Während Henry zu diesem etwas sarkastischen, aber durchaus vernünftigen Schluss kam, vernahm er in seiner Nähe ein Geräusch, das sich deutlich von dem Rauschen der Bäume und Büsche und dem fernen Stadtlärm unterschied. Ein Flüstern oder Murmeln, das aber mit heimlichem Liebesgeflüster nichts gemein hatte. Dann metallisches Klirren und das Knarren eines Tores, das sich rechts von Henry befand.
Der Blinde blieb stehen. Sein Gesicht zeigte die Freude eines Menschen, der das Ende einer Situation vor sich sieht, die schon mehr als unangenehm zu werden droht. Sicher kam der Diener eines der großen Häuser durch die Gartentür. Erleichtert ging er auf das Geräusch zu. Aber schon im nächsten Augenblick blieb er wieder stehen, als er den keuchenden Atem des Mannes am Tor vernahm. Der Mann schien erschrocken, schien plötzlich Angst zu haben. Weshalb sollte aber ein Diener vor einem harmlosen Spaziergänger Angst haben? Vielleicht nur als Folge der unerwarteten Begegnung in der dunklen stillen Straße. Henry schmunzelte: Vielleicht schaffte der Mann heimlich allerlei aus dem Haus seiner reichen Herrschaft. Etwa der Koch, der bedenkenlos diverse Lebensmittel verschwinden lassen wollte.
Aber schon im nächsten Augenblick erkannte Henry, dass seine Vermutungen falsch waren, denn die Angst des Mannes am Tor schien plötzlich geschwunden. Dem keuchenden Atem folgte ein italienischer Fluch. Henry, der die italienische Sprache gut beherrschte, bezweifelte, einen herrschaftlichen Diener vor sich zu haben. Eine Sekunde später pachte eine Hand hart seinen linken Arm und riss ihn vorwärts, so dass er beinahe gestürzt wäre. Sein Gesicht streifte dabei die Zweige eines Lorbeerbusches. Er hörte, wie hinter ihm die Gartentür ins Schloss fiel.
»Du verfluchter Spion«, sagte der Mann auf Italienisch. »Keinen Laut! Lass dich mal näher anschauen.«
Etwas Kaltes und Hartes wurde Henry gegen den Magen gepresst. Er wusste, dass es eine Pistole war.
Henry Gilder rührte sich nicht. Er war von Natur aus klug, geschickt und von schneller Auffassungsgabe. Seine Erblindung hatte diese Gaben nicht vermindert, sondern in den vergangenen zehn Jahren derart gesteigert, dass seine geistige Konzentration und seine Beweglichkeit Sehenden geradezu übernatürlich erschienen. Des Augenlichts beraubt, war Henry ganz auf seine anderen Sinne und sein Vorstellungsvermögen angewiesen, die ihn das ihm Unsichtbare sehen ließen. Anstatt Bücher zu lesen, Filme zu sehen und so das Erleben anderer in sich aufzunehmen, war Henry im Lauf der Zeit ein leidenschaftlicher Hörer geworden. Hätte er Shakespeares König Lear lesen können, wäre das Sieh mit deinen Ohren! sein Lieblingszitat geworden. Im Besitz jenes inneren Auges, das die Wonne der Einsamkeit ist, wurde Henry ein besonders scharfer Beobachter, dem auch nicht das geringste verborgen blieb: nicht die geringste Spur von Unaufrichtigkeit, Prahlerei, Unbehagen, Ungläubigkeit, Selbstgefälligkeit oder eines anderen Seelenzustandes, den man beim Sprechen so gern verheimlichen möchte. Mancher von Henrys Bekannten wäre erstaunt gewesen, hätte er gewusst, welch ein vorzüglicher Beobachter dieser Blinde war.
Obwohl er die Mündung der Pistole an seinem Bauch fühlte, verlor Henry nicht die Fassung, und er hatte bereits eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Mann, in dessen Gewalt er sich befand: ein gemeiner, brutaler Kerl, der Ausdrücke gebrauchte, wie sie nur dem Abschaum der Menschheit geläufig waren. Vielleicht ein Verrückter und, wie die meisten Verrückten, zweifellos gefährlich. Jedenfalls klang seine Stimme gemein, und der Revolver sagte mehr als alle Worte. Der Kerl gehörte sicher zu jenen Menschen, die Probleme lieber mit dem Revolver als mit Worten lösen. Der linken Hand, die Henrys Arm umklammerte, fehlte der kleine Finger. Der Mann sprach von Spionieren. Er sprach Italienisch. Es war also vernünftig, dass Henry seine italienischen Sprachkenntnisse, die den anderen in seinem Verdacht des Nachspionierens bestärkt hätten, für sich behielt.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er daher auf Englisch, mit vor Angst bebender Stimme. In Wirklichkeit hatte Henry keine Angst. Erstens war ihm dieses Gefühl von Natur aus fremd, und zweitens war für ihn das Leben nicht so wertvoll, dass er besonders an ihm gehangen hätte. Dennoch spielte er den Ängstlichen. Die Plötzlichkeit des Geschehens, die Mündung der Pistole an seinem Bauch, der keuchende Atem des anderen, der ihm ins Gesicht wehte, der harte Griff um seinen Arm erleichterten ihm sein Verhalten.
»Bist du Engländer? Für wen arbeitest du? Die Regierung? Antworte, solange du noch kannst.« Der Mann sprach immer noch Italienisch.
Henry befürchtete jetzt, er könnte getötet werden, ehe er sich noch gegen die absurde Beschuldigung des anderen gewehrt hatte. Hatte man hier mit einem Spion, mit irgendwem gerechnet, der dieses Haus heimlich beobachtete? Henry hätte am liebsten Italienisch erwidert: Ich bin blind. Können Blinde spionieren? Aber irgendetwas sagte ihm, seine italienischen Sprachkenntnisse könnten ihm gefährlich werden. Er hob also nur, als er wieder sprach, den weißen Stock, und seine Worte klangen wie die eines Menschen, der vor Angst nicht aus noch ein weiß.
»Ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie bitte Englisch. Ich verstehe kein Wort. Ich bin blind.«
Wieder fluchte der andere, und der Druck der Pistole gegen Henrys Bauch wurde stärker.
»Halt die Schnauze! Lass dich mal näher betrachten«, erwiderte der Mann in gebrochenem Englisch.
Die Hand ließ Henrys Arm los. Der Italiener griff in die Tasche. Henry hörte ein leichtes Klicken. Für einen kurzen Augenblick fiel das Licht einer Taschenlampe auf sein Gesicht und glitt an seinem Körper entlang. Dann erlosch das Licht wieder.
»Ich bin blind«, wiederholte Henry. »Was wollen Sie von mir?« »Warte ab. Vielleicht bist du nicht blind. Einen weißen Stock kann jeder haben. Komm mit zum Chef.«
Die Pistole immer noch gegen den Bauch seines Gefangenen drückend, drehte der Italiener sich um und führte Henry über einen Kiesweg, den Lorbeerbüsche einfassten, deren Zweige Henrys Gesicht streiften. Der Blinde war inzwischen vollständig nüchtern geworden, und seine Sinne waren aufs höchste angespannt. Die Bewohner des Hauses waren ohne Zweifel Verbrecher. Harmlose, unbescholtene Bürger haben nicht gleich eine Pistole bei der Hand. Diener eines vornehmen Hauses lassen sich nicht zu ordinärem Fluchen hinreißen.
Henry hatte demgemäß kein Verlangen nach dieser Begegnung mit diesem Chef. Er war augenblicklich ganz und gar Konzentration und beobachtete derart angespannt, dass ein Sehender von scharfsichtiger Aufmerksamkeit sprechen würde.
Der Pfad zwischen dem Lorbeergebüsch schien mit Moos und Unkraut bewachsen und lange nicht gejätet worden zu sein. Er stieg jetzt sanft an und machte mehrere Windungen, als führte er im Zickzack auf das Haus zu. Bei der ersten Windung geriet Henry hilflos in das Gebüsch. Sein Führer packte ihn wieder und stieß ihn nach links vor sich her.
Rosenduft füllte die Nachtluft, begleitete sie, während sie über den Pfad zwischen dem Lorbeergebüsch gingen. Henry berührte alles, was er konnte, mit dem weißen Stab oder seinen feinfühligen Fingern. Er lauschte gespannt, hielt manchmal den Atem an. Vielleicht vernahm er den Klang der Glocke einer Kirche oder etwas anderes, das ihm später wertvoller Hinweis für seinen augenblicklichen Aufenthalt sein konnte.
Später...?
Vielleicht gab es für ihn kein Später mehr.
Ein Nachtfalter streifte sein Gesicht. Der Pfad wurde steiler. Keine Lorbeerbüsche mehr. Der Rosenduft wurde stärker, vermischt mit dem Duft anderer Blumen aus Beeten rechts und links des Pfades. Henry roch den Modergeruch verblühender Lilien. Dann hörte er plötzlich Stimmen... nur ein Flüstern, wie aus weiter Ferne. Was gesagt wurde, konnte er nicht verstehen. Vielleicht wieder Italienisch? In der Tat: Jetzt sprach eine Frau. Unverkennbares Süditalienisch. Wohl eine junge, gebildete Frau, nach der Wahl ihrer Worte zu schließen.
»Augenblicklich droht keinerlei Gefahr«, sagte sie. »Kühnes Handeln ist immer das einzig Richtige. Vielleicht schöpft man Verdacht, aber dafür gibt es keinen Beweis. Ich schlage also den Zwölften vor. Andernfalls müssten wir bis zum Sechsundzwanzigsten warten. Was meinst du dazu, Julio?«
Ein Mann lachte.
»Der Zwölfte ist ein Glückstag, Liebling«, antwortete der Mann.
»Für uns jedenfalls, wenn auch nicht für die anderen.«
Ein zweiter mischte sich in das Gespräch. »Der Dritte war auch ein Glückstag. Aber seien wir doch nicht abergläubisch! Das Datum spielt keine Rolle, solange wir keine Fehler machen. Wenn alles gründlich vorbereitet ist, ist jeder Tag günstig. Wenn der...«
»Basta!«
Der erste Mann flüsterte erregt. »Ich höre Schritte. Mach die Lichter aus...«
»Es ist...«
»Keine Namen! Ich höre die Schritte von zwei...«
Es folgte ein Augenblick gespannten Schweigens. Dann pfiff Henrys Begleiter ein paar Takte eines Liedes. Die Frau lauschte und flüsterte ein paar Worte.
Henry und sein Begleiter blieben stehen.
Henrys Begleiter sprach wieder Italienisch. »Ich habe den Kerl am unteren Tor erwischt... Spionierte da herum. Behauptet, blind zu sein. Will auch kein Italienisch verstehen.«
»Blind?«
Der Mann, der zuerst gesprochen hatte und der Anführer zu sein schien, flüsterte: »Mach Licht, Liebling.«
Nach Henrys Gefühl befanden sie sich auf einer Terrasse. Er hatte einen eisernen Stuhl berührt, und seine Füße gingen über glatte Steine. In der Nähe mussten sich Rosen befinden. Vielleicht befanden sie sich in einer Loggia an der Rückseite des Hauses, die sich zum Garten hin öffnete. Ein angenehmer Aufenthalt bei warmem Wetter: Für andere Unsichtbar, mit Gartenstühlen und einem Tisch.
Henry lauschte gespannt. Er vernahm leichte Schritte, das Rascheln von Seide und dann das Knipsen eines Lichtschalters.
»Blind?«
Die flüsternde Stimme wiederholte das Wort. Schwerere Schritte näherten sich Henry; links von ihm bewegte sich jemand.
»Wir können es nicht riskieren«, sagte der andere. »Ausgeschlossen.«
Auch er sprach flüsternd Italienisch.
Der erste Mann, der der Anführer zu sein schien, lachte. Ein leichtes, lustiges Lachen, wie das eines Menschen, der Sinn für Humor hat. Henry, der früher ein furchtloser Soldat gewesen war, hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Die Getränke, die er im Lauf des Abends zu sich genommen hatte, förderten seinen Mut in keinster Weise mehr. Wahrscheinlich flüsterten die Menschen, um den Klang ihrer Stimmen zu verheimlichen und unkenntlich zu machen. Vielleicht bedeutete diese Vorsicht ein wenig Hoffnung für Henry. Andererseits aber bargen diese Stimmen und das leichte Lachen Unheil und tödliche Gefahr.
»Er hat eine blutige Wange«, sagte der Anführer. Er sprach immer noch Italienisch.
Henry wollte gerade nach seiner Wange fühlen, als er bedachte, dass diese Worte eine Falle waren.
Er rührte sich nicht. Seine Hand hielt den weißen Stock, und sein Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorging.
»Was wollen Sie von mir, meine Herren?«, sagte er. »Ich bin blind. Kriegsblind. Henry Gilder. Kürzlich erst in dieses Viertel gezogen: Ich habe mich auf dem Heimweg verlaufen.« Seine Stimme war fast ein Wimmern. Er hatte nun doch Angst. Was waren dies für Menschen? Anscheinend gebildete Menschen. Sie sprachen gewählt, die Frau trug Seide, war sicherlich gepflegt, und Henrys scharfe Sinne verrieten ihm, dass er Herren und eine Dame vor sich hatte. Aber was konnten diese Leute nicht riskieren?
»Hör mal«, flüsterte der zweite Mann jenem zu, den Henry für den Anführer hielt. »Ein Blinder geht doch nach Mitternacht nicht allein durch die Straßen. Und weshalb ausgerechnet hier? Nein, wir können es nicht riskieren. Wir müssen...«
Er sprach noch leiser und entfernte sich zusammen mit dem anderen, so dass Henry nicht mehr hören konnte, was er sagte. Der andere lachte. Für Henry klang dieses Lachen unmenschlicher als die Unbarmherzigkeit des anderen, die nur die Folge von dessen Furcht zu sein schien.
»Du bist zu gründlich. Ich kann dich nur bewundern. Aber vergiss nicht, dass jedes unnötige Handeln gefährlich werden kann.«
Wieder sprach der andere. Was er sagte, konnte Henry nicht hören. Leise und wohlklingend, aber doch angstvoll. Überredend, dringend, mit vielen Gründen. Henry wusste, was der andere so eindringlich verlangte, und trotz der warmen Nacht rann ihm der kalte Schweiß von der Stirn in die Augen.
»Meine Herren«, stammelte er. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Uns bleibt nichts anderes übrig. Niemand sah ihn...«
Vielleicht war Henrys Gehör noch schärfer geworden, vielleicht hatte seine Frage die Flüsternden veranlasst, lauter zu sprechen, jedenfalls verstand Henry diese Worte. Dann hörte er wieder das Rascheln von Seide: Die Frau war zu den Männern getreten.
»Nein!«, sagte sie. »Wozu? Ihr seht doch den weißen Stock. Der Mann ist blind. Kriegsblind. Von dem, was wir sagen, versteht er außerdem kein Wort.«
Wieder unmissverständliches Flüstern.
Dann die lautere Stimme der Frau: »Seid doch nicht so albern. Der Mann hat nichts gesehen. Und ebenso wenig gehört. Wir haben schließlich nur Italienisch gesprochen. Ich schlage vor...«
Sie sprach so leise, dass Henry nichts mehr verstehen konnte. Dann wieder Geflüster. Der eine sehr eindringlich. Der andere ruhig und lachend, als hörte er in einer Loge einer Komödie zu. Jetzt wieder die etwas lautere Stimme der Frau.
»Nein, nein, das wäre ruchlos! Ein Kriegsopfer... Alles hat seine Grenzen. Das würde ich niemals dulden.«
Henry stand unbeweglich da in seiner Dunkelheit. Er roch den Duft der Rosen. Er fühlte die Mündung des Revolvers und roch den schweren Knoblauch-Atem, der hinter ihm aufstieg und ihn umwehte.
Dann verstummte plötzlich das Flüstern. Der Anführer kam auf Henry zu und fasste ihn am Arm.
»Sir«, sagte er in tadellosem Englisch. »Verzeihen Sie uns, mir und meinen Freunden, wenn wir Sie derart behandeln. Wir haben Grund, gefährliche Feinde zu fürchten. Es handelt sich um Erpressung, mit deren Einzelheiten ich Sie nicht langweilen will. Wir haben die Sache Scotland Yard übergeben, aber dort hat man bisher nur Stümperarbeit geleistet, und nun fürchten wir die Rache unserer Gegner.«
»Ich verstehe, Sir..« Henry sprach sehr bescheiden und mit aller Schlichtheit, deren er fähig war. Natürlich log der Mann, aber wenn er, Henry, am Leben bleiben wollte, musste er die anderen glauben machen, dass er das, was sie sagten, nicht in Zweifel zog.
»Leider sind Sie hier zu sehr ungelegener Zeit vorbeigekommen, Mr... Ihren Namen habe ich nicht verstanden.«
»Henry Gilder. Ich habe im Zweiten Weltkrieg das Augenlicht verloren. Bis vor zwei Tagen wohnte ich mit meiner Haushälterin in der Water Lane. Nach dem Tode meines Vaters sind wir in die Oxleys Road gezogen.«
»Ich bedaure unendlich... aber wir müssen sehr vorsichtig sein. Diese Erpresserbande ist sehr gefährlich. Gefährlicher, als Sie vielleicht glauben. Verzeihen Sie also.«
Bei diesen Worten hatte der Mann Henry über die mit glatten Quadern gepflasterte Terrasse nach dort geführt, wo die Lichter brannten. Henry glaubte, die Wärme mehrerer starker Lampen einige Zentimeter über seinem Kopf zu fühlen. Der Mann öffnete Henrys Jacke und durchsuchte alle Taschen. Sie enthielten den letzten Brief von Henrys Vater, einen anderen von einer Pflegerin, die seinen Vater lange Zeit betreut hatte. Dazu die quittierte Rechnung eines Weinhändlers aus der Byron Road, die Henry zufällig noch in der Tasche hatte. Ferner ein paar hundert Pfund, seinen Schlüssel und seinen Ausweis. Letzterer interessierte besonders den anderen Mann und die Frau.
Henry hörte das Rascheln von Seide und roch den Duft eines kostbaren Parfüms. Die Fingerspitzen seiner linken Hand berührten einen behandschuhten Unterarm, ein mit Rauten besetztes Armband und dann den Samt eines Kleides,
»Nun«, stellte die Frau wieder Italienisch fest. »Genau wie ich es gesagt habe.«
»Wie stolz diese Worte aus deinem Munde klingen, Liebling«, lachte der Anführer spöttisch. »Ich habe dir noch nie widersprochen. Bisher... ist dem Mann noch nichts geschehen.«
»Dennoch...«
Der andere, gegen den Henry wachsenden Widerwillen empfand, wollte augenscheinlich noch einmal betonen, dass sie sich keinerlei Risiko aussetzen dürften.
Aber die Frau ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Genug«, zischte sie. »Es bleibt bei meinem Vorschlag. Von Risiko kann keine Rede sein, Liebling...« Diese Worte galten dem Gefährten des Anführers. »Riskiere ich nicht genauso viel wie ihr? Hältst du mich wirklich für so dumm?«
Nach diesem mehr oder weniger rhetorischen Appell sagte Henrys unversöhnlicher Gegner noch ein paar weitere Worte und schwieg dann endlich.
»Verzeihen Sie den übertriebenen Eifer eines zu pflichtgetreuen Dieners und die wenig freundliche Behandlung, die wir Ihnen zuteilwerden ließen«, ließ sich der Anführer vernehmen. »Ich bedaure sehr, was Sie sich alles gefallen lassen mussten. Wir werden uns bemühen, es wiedergutzumachen. Gestatten Sie uns, Sie in unserem Wagen nach Hause zu bringen.«
Er schnippte mit den Fingern. Wahrscheinlich galt diese Geste dem übereifrigen Diener, der jetzt die Pistole sinken ließ und sich entfernte. Irgendwo in der Nähe knarrte eine Tür in rostigen Angeln. Der Anführer steckte alles, was er ihnen entnommen hatte, wieder in Henrys Taschen.
»Bitte, hierher, Mr. Gilder«, flüsterte er. »Wir gehen durch das Haus. Der Wagen fährt gleich vor.«
»Vielen Dank, Sir.«
Links von Henry befand sich ein Blumenbeet. Nach dem Duft zu urteilen, war es ein Rosenbeet, vielleicht Kletterrosen. Henry trug an der schmalen Hand einen Siegelring, der etwas locker saß. Während er sich weitertastete, strauchelte der Blinde, und der weiße Stock entglitt seinen Händen. Er bückte sich, um ihn wieder aufzuheben. Aber die Frau kam ihm zuvor.
»Gestatten Sie, Mr. Gilder.«
Der Anführer schob seinen Arm unter den Henry Gilders und geleitete ihn über den mit Steinplatten gepflasterten Pfad. Henrys Siegelring lag irgendwo in dem Beet mit den Kletterrosen.
Henry wurde in das Haus geführt, das seinem Gefühl nach groß und leer war. Entweder war es nur spärlich oder überhaupt nicht möbliert. Der Anführer hielt immer noch Henrys Arm, so dass der Blinde mit seiner linken Hand nichts mehr berühren konnte. Vor ihnen ging die Frau in ihrem langen Kleid. Sie oder der Mann, der jeder Gefahr aus dem Wege gehen wollte, knipste das elektrische Licht an. Henry fühlte Fliesen unter den Füßen, dann Linoleum und schließlich etwas, das an eine Kokosmatte erinnerte. Vielleicht gingen sie durch die Küche oder die Räume der Dienerschaft.
»Kein Licht nach vorn, wenn die Vorhänge nicht geschlossen sind«, sagte der Anführer Italienisch.
Sie gingen jetzt durch einen schmalen Flur, in dem die flüsternde Stimme des Mannes seltsam widerhallte. Henry glaubte das Surren eines Motors irgendwo in der Nähe zu hören. Er hatte das Gefühl, als nähere er sich seiner Freiheit, aber ihn erwartete noch eine wenig erfreuliche Erfahrung.
»Bitte hierher, Sir«, flüsterte der Anführer höflich in ausgezeichnetem Englisch. Immer noch hielt er Henrys Arm. Er führte ihn in einen Raum. Nach Henrys Gefühl war es ein kleiner, komfortabel ausgestatteter Raum. Plötzlich wurden starke Lampen angemacht, deren Licht warm Henrys blindes Gesicht traf. Viele Minuten lang wurde Henry allerlei Experimenten ausgesetzt. Man stellte ihm Fallen. Er lief gegen eine Wand und stolperte über einen Schemel.
Der Anführer half Henry wieder auf die Beine, gab ihm seinen Blindenstock in die Hand und säuberte den beschmutzten Anzug.
»Ein unglücklicher Sturz. Hoffentlich haben Sie sich nicht wehgetan.«
Vor ohnmächtiger Wut bebend, erwiderte Henry: »Ich würde viel darum geben, wenn ich mich in einer Lage befände, die mir erlaubte...«
»Nur keine Aufregung«, erhielt er zur Antwort. »Weshalb so böse? Bisher ist Ihnen nichts passiert. Und darüber sollten Sie froh sein.« Er lachte leise. »Und nun werden wir dafür sorgen, dass Sie sicher und bequem nach Hause kommen. Bitte hier entlang.«
Henry wurde aus dem Haus geführt. Ein paar Sekunden lang wehte ihm die Abendluft ins Gesicht, als er über drei Stufen und dann über einen kurzen Kiespfad zu einem Wagen mit laufendem Motor geführt wurde.
»Steigen Sie ein, Mr. Gilder. Nur keine Angst. Sie haben nichts zu befürchten, solange wir nichts von Ihnen zu befürchten haben. Damit wäre wohl alles klar...«
Der Anführer betonte die letzten Worte besonders, und Henry verstand, was er meinte.
»Sie und Ihre Angelegenheiten interessieren mich weiter nicht, Sir«, antwortete er. »Ich bin ein hilfloser Mensch. Davon haben Sie sich wohl inzwischen überzeugt. Ich möchte nur möglichst bald zu Hause sein und vergessen, dass es Menschen wie Sie auf der Welt gibt.«
»Ganz richtig. Durchaus natürliche Gefühle«, knurrte der Anführer. »Also gute Nacht, Mr. Gilder. In einer Viertelstunde liegen Sie in Ihrem Bett. Schlafen Sie gut.«
Henry stieg in den Wagen.
Hände nahmen ihn in Empfang, von denen zu seiner Überraschung und Erleichterung eine die behandschuhte Hand der Frau war. Wieder vernahm er das Rascheln von Seide, als sie auf dem Hintersitz etwas beiseite rückte. Er roch erneut jenes kostbare Parfüm, das vergeblich gegen Knoblauchgeruch ankämpfte. Der sogenannte Diener saß zweifellos auf dem Klappsitz, Henry gegenüber.
In dem geräumigen Wagen befand sich noch ein dritter Mann. Er saß neben Henry, so dass dieser von allen Seiten umgeben war. Dieser dritte war anscheinend der Mann, der seinen Tod wollte. Er flüsterte in tadellosem Englisch: »Machen Sie keine Dummheiten. Falls Sie versuchen, irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder zu schreien, so wird Ihnen das schlecht bekommen. Riechen Sie mal!«
Er entkorkte eine Flasche. Henry roch den ekelhaften, schalen Geruch von Chloroform.
»Ich habe nicht die Absicht zu schreien«, sagte er. »Mein Ehrenwort. Ich unternehme nichts dergleichen.«
Der Wagen setzte sich in Bewegung, und Henry hörte, wie Kies unter den Reifen aufsprang und gegen die Karosserie prallte.
»Liebling«, protestierte die Frau. »Sei doch nicht so melodramatisch. Der ganze Wagen stinkt jetzt nach dem Zeug. Wie in einem Krankenhaus, öffne das Fenster.«
Links von Henry wurde das Fenster geöffnet. Der Wagen machte einen kleinen Sprung, als er von dem Kies auf die asphaltierte Straße fuhr. Dann bog er scharf ab und fuhr mit größerer Geschwindigkeit weiter.
Henry beruhigte sich. Das Chloroform hatte ihm einen argen Schock versetzt. Er hatte gedacht, der brutale Kerl würde nun doch noch sein Ziel erreichen, obwohl Henry sich in jeder Hinsicht ausgewiesen und man sich von seiner Hilflosigkeit überzeugt hatte. Mit ziemlicher Geschwindigkeit fuhr der Wagen durch die Straße. Henry bedrückte jetzt nur noch eines: Er musste die Fragen seiner Haushälterin beantworten und versuchen, sie zu besänftigen.
Aber so schnell sollte der Abenteurer doch nicht zu Hause sein. Er merkte schon bald, dass der Wagen einen großen Umweg machte. Immer wieder bog die Limousine aus einer stillen Straße in die andere. Von Autos und Omnibussen war nichts mehr zu hören. Tiefe Stille. Nur dann und wann ein Laut. In weiter Ferne der Pfiff einer Lokomotive. Als der Wagen plötzlich langsamer fuhr, erkannte Henry das schwere Rumpeln von Marktkarren über das Pflaster. Durch das offene Fenster wehte einen Augenblick lang Heuduft, als befänden sie sich irgendwo auf dem Lande.
Diese Leute versuchten wirklich alles, um ihre Spur zu verwischen. Henry fragte sich, welch verrückte Pläne diese Menschen beschäftigen, denen Mord anscheinend nichts bedeutete. Jedenfalls waren sie zu allem bereit, wenn ihnen irgendeine Gefahr drohte.
Wie seltsam alles war. Neben ihm saß im weichen Polster des Wagens eine junge, elegante Frau, deren Atem klang, als sehnte sie sich nach Schlaf. Was mochte diese Frau mit einer Bande zu tun haben, die vor einem Mord nicht zurückscheute? Und der Mann zu Henrys Linken? Er beherrschte, genau wie der Anführer, zwei Sprachen und schien ein gebildeter Mann zu sein. Aber irgendwie war sein Wesen von der gleichen Brutalität bestimmt wie das des Kerls mit der Pistole, der just in diesem Moment Knoblauchduft in Henrys Gesicht atmete.
Ein klares Bild konnte sich der Blinde nicht machen. Der Anführer hatte von Erpressung gesprochen. Wenn das, was er sagte, auch gelogen war, so war der Gebrauch des Wortes psychologisch doch vielleicht von Bedeutung. Vielleicht gehörten sie zu einer Erpresserbande, an deren Spitze Menschen standen, die in der vornehmen Gesellschaft verkehrten, deren dunkle Geheimnisse für Verbrecher bares Geld bedeuteten. Henry seufzte. Diese Theorie kam ihm ebenso unwahrscheinlich vor wie alle weiteren, die er sich ausdachte. Wie die Frau, die neben ihm saß, war auch er ausgesprochen müde. Er sehnte sich nach seinem kühlen Bett, nach seinen weichen Kopfkissen und nach Schlaf, der ihm Vergessen brachte, und nicht nach der Lösung eines aufregenden Problems.
Und als hätten die launischen Götter beschlossen, ihr grausames Spiel mit Henry Gilder für diese Nacht zu beenden, hielt der große Wagen plötzlich. Die Frau erhob sich. Seide raschelte. Henry vermutete, sie sähe aus dem Fenster, denn von beiden Seiten strömte kühle Luft in den Wagen. Kein Laut in der Straße. Tiefe Stille überall.
»In Ordnung«, flüsterte der Mann, der links neben Henry saß. »Niemand zu sehen.«
»In Ordnung«, sagte auch die Frau. »Gute Nacht, Mr. Gilder. In zwei Minuten sind Sie zu Hause.«
Henry fühlte, wie ihm starke Hände unter die Achseln griffen. Der Blutdürstige und der nach Knoblauch riechende halfen ihm aus dem Wagen.
»Nun gehen Sie schön nach Hause«, sagte der nach Knoblauch riechende mit unpassender Liebenswürdigkeit. »Man wird sich wundern, wo Sie so lange blieben. Und von dem, was Sie erzählen, glaubt Ihnen keiner auch nur ein Wort.« Der Mann lachte.
Einen Augenblick später stand Henry allein auf dem Bürgersteig. Der große Wagen brauste davon, und Henry ging geradeaus. Sein weißer Stock fand zu seiner Rechten Hauswände. Er wusste nicht, wo er sich befand, und es dauerte mindestens drei Minuten, bis er das Platschen von Wasser und die Stimmen von Männern hörte, die das Pflaster säuberten. Von ihnen erfuhr er, wo er war. Er war ganz in der Nähe seiner Wohnung. Noch bevor er klingeln konnte, hörte er in dem unteren Flur Francines Stimme. Sie hatte auf dem Balkon gestanden und Ausschau nach ihm gehalten. Sie war außer sich vor Angst, Empörung und plötzlicher Erleichterung.
»So was! So spät nach Hause zu kommen! Es wird immer schlimmer mit Ihnen. Und dabei sehen Sie ganz nüchtern aus. Was ist geschehen? An mich verschwenden Sie keinen Gedanken. Was aus mir wird, kümmert Sie nicht. Ich wollte schon in den Krankenhäusern und bei der Polizei anrufen.«
Immer noch schimpfend drehte sie das Licht an. Sie führte ihn in den Aufzug, und er musste, sobald sie die Wohnung erreicht, hatten, eine Tasse Bouillon trinken, die schon lange für ihn bereitstand.
Die Tasse Bouillon kam Henry gerade recht. Während er sie leerte, machte Francine ihm weiter Vorwürfe, aber der Klang ihrer Stimme verriet ihm, dass ihr die Tränen über die Wangen rollten. Mehrere Male schnäuzte sie sich, beinahe ärgerlich.
»Jetzt aber schnell ins Bett. Können froh sein, dass Sie noch zu Bett gehen können. Könnten genauso gut im Leichenschauhaus liegen. Wo haben Sie sich bloß rumgetrieben? In unserer Gegend haben die Cafés und Pubs doch längst geschlossen. Ja, ich wollte mich schon an die Polizei wenden. Das wäre was geworden! Das hätte auf unsere Nachbarschaft und das ganze Viertel einen ausgezeichneten Eindruck gemacht.«
Henry beugte sich über den Tisch und streichelte ihre Schultern. »Ja, Francine. Verzeihen Sie. Wir haben es nicht immer leicht... Sie verstehen mich gewiss. Auch wir machen zuweilen mal eine Dummheit.«
Auf dem Wege in sein Zimmer blieb er stehen und sah in ihre Richtung.
»Die Polizei...«, sagte er nachdenklich. »Wenn ich nicht irre, erzählte mir der Portier von einem jungen Mann, der hier im Haus wohnt und bei der Polizei beschäftigt ist. Ein Sportsmann, Meister im Radfahren oder im Boxen. Haben Sie von ihm gehört?«
»Ja, ich wollte mich sogar an ihn wenden und ihn um Hilfe bitten. Aber er ist für ein paar Tage verreist. Er heißt John Higgins. Ich glaube, er ist Boxer.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1204-5
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