CHRISTIAN DÖRGE
FENSTER AM ABGRUND
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
FENSTER AM ABGRUND
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Das Buch
Frankenberg an der Eder 1960:
Wie so oft beginnt alles völlig harmlos: Privatdetektiv Lafayette Bismarck wird engagiert, um eine Reihe von Diebstählen im Frankenberger Brecht-Theater aufzuklären. Dann jedoch... ereignen sich innerhalb kürzester Zeit zwei mysteriöse Selbstmorde: Die Todeskandidaten waren aus dem Fenster gesprungen, und in beiden Fällen gingen Gerüchte über Ehebruch um...
Lafayette glaubt nicht an derartige Zufälle. Er ist ganz im Gegenteil davon überzeugt: Es waren Morde...
Fenster am Abgrund von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace und Friesland, ist der dritte Band einer Reihe von Noir-Krimis um den Frankenberger Privatdetektiv Lafayette Bismarck.
Der Autor
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.
FENSTER AM ABGRUND
Die Hauptpersonen dieses Romans
Lafayette Bismarck: Privatdetektiv aus Frankenberg. Besonderes Kennzeichen: das flammend-rote Haar.
Jacob Bötzel: Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei.
Randolf Pfeiffer: Inspektor bei der Kriminalpolizei.
Walter Kießebert: ein Bühnenschauspieler.
Adelheid Kießebert: seine Frau.
Frank Nielsen: Film- und Theaterstar, Hauptdarsteller im Stück Vorzimmer zum Tod.
Agnes Kieling: eine Schauspielerin.
Lydia Moll: eine Schauspielerin.
Fritz Rübsamen: Portier am Brecht-Theater.
Viktor Hammerschlag: Dramatiker, Autor von Vorzimmer zum Tod.
Petra Kirchmann: ehemalige Schauspielerin.
Ina Euler: Bismarcks Sekretärin.
Paul Elsner: stellvertretender Chefredakteur der Frankenberger Zeitung.
Erich Fritsche: Bismarcks Informant.
Ambrose Buttkewitz: ehemaliger Schauspieler und Kammerdiener des verstorbenen David Kirchmann.
Forellen-Henry: Rauschgifthändler aus Korbach.
Peter Willius: ein ehemaliger Seemann.
Dieser Roman spielt in der hessischen Kleinstadt Frankenberg im Jahre 1960.
Erstes Kapitel
In seiner stillen, fast schüchternen Art sagte er: »Ich glaube nicht, dass Sie sich noch an mich erinnern können, Herr Bismarck. Wahrscheinlich werden Sie sich auch nicht an das Lager erinnern. Es scheint auch schon lange her zu sein – wie in einem anderen Leben. Mein Name ist Kießebert.«
Mit seinen braunen Augen sah er mich gespannt an. Unwillkürlich musste ich an einen Hund denken, der gern auf einen Spaziergang mitgenommen werden möchte. Aber dieser Mann wirkte vermutlich stets ein wenig pathetisch, und daran würde sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Er gehörte zu jenen Menschen, an die man sich später nie mehr erinnern kann, die immer abseits stehen und über die Scherze der anderen lachen, die sich in die hinterste Reihe setzen und sich dann entschuldigen, dass sie überhaupt Platz beanspruchen.
Er machte einen ruhigen und durchaus sympathischen Eindruck. Er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht und gütige Augen, die Geduld und Aufmerksamkeit verrieten. Bei näherem Hinsehen wirkte er beinahe vornehm – aber gleich darauf wieder wie der Oberkellner eines erlesenen Restaurants.
Er sprach immer noch von jener Zeit beim Militär, vom Ausbildungslager und von den damaligen Kameraden – und plötzlich durchzuckte es mich wie ein Blitz, wo ich ihn einzuordnen hatte.
»Natürlich – Walter Kießebert!«, rief ich. »Damals in Frankfurt – 1940.«
Strahlend sah er mich an. Der gespannte Ausdruck seines Gesichtes war – zu einem gewissen Teil – wie weggewischt.
»Sie haben ein beneidenswertes Gedächtnis«, sagte er. »Aber als Privatdetektiv muss man das wohl haben. Ich habe mich seit damals ziemlich verändert, Sie sich aber überhaupt nicht. Wahrscheinlich sind Sie auch ein ganzes Ende jünger; ich bin jetzt achtunddreißig, und...«
»Darauf müssen wir erst einmal anstoßen«, unterbrach ich ihn, stand auf und ging zum Schrank. »Was trinken Sie, Walter? Whisky oder Bier? Außerdem habe ich noch einen guten Cinzano da – mit einem Schuss Angostura?«
»Dasselbe wie Sie, Lafayette. Eigentlich trinke ich vormittags nie etwas, besonders dann nicht, wenn ich noch zur Probe muss.« Er wurde plötzlich rot. »Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, dass ich Lafayette zu Ihnen sage? Aber irgendwie rutscht man wieder...«
»Wenn’s nichts Schlimmeres ist! Meine Freunde nennen mich selbstverständlich immer beim Vornamen. Sie also haben wieder ein Engagement, Walter, und proben für eine Aufführung? Das ist doch wunderbar!«
Er lächelte verlegen. »Ich werde immer nur für kleine Nebenrollen besetzt – mehr nicht. Meistens als Butler. Darauf bin ich fast spezialisiert, aber anders schafft man es heutzutage nicht. Jedenfalls... ist es eine Bühne hier in Frankenberg. Ich war sehr glücklich...«
Er verstummte. Sein Gesicht war wie erstarrt; seine Stimme klang gepresst, als er fortfuhr: »Wenigstens glaubte ich, glücklich zu sein.«
Ich stellte die gefüllten Gläser auf den Tisch und gab in jedes ein Stückchen Zitronenschale hinzu. Dann zündete ich mir eine Player's an und schob ihm die Schachtel hin.
»Es wird schon wieder werden, Walter. Erzählen Sie mir ruhig, was Sie bedrückt. Hoffentlich dreht es sich nicht um Scheidung – von solchen Dingen lasse ich nämlich meine Finger.«
Er wurde wieder rot, nippte an seinem Glas und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, seufzte er dann. »Damit hat es nichts zu tun – mit meiner Ehe hat es nichts zu tun. Soweit es sich um Adelheid handelt...« Er sprach nicht weiter. Nervös drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Darf ich vielleicht eine von meinen eigenen rauchen? Ihre sind ziemlich stark.«
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
Er lächelte unsicher. Seine Finger zitterten, als er eine Zigarette aus seinem Etui herausnahm und sie anzündete. Plötzlich brach es aus ihm heraus.
»Es handelt sich nämlich um einen Diebstahl«, sagte er. »Um eine Kleinigkeit – wenigstens zu Anfang, bis Frank Nielsens Brief verschwand. Zuerst war es Geld aus den Garderoben; mir selbst wurde ein Zehn-Mark-Schein entwendet. Und Agnes Kieling deutet jetzt ziemlich unverblümt an, dass ich es gewesen wäre!« Unbeholfen griff er nach seinem Glas, und als er es wieder zurückstellte, schwappte es über.
»Und wo ist all das passiert?«, fragte ich.
»Im Brecht-Theater, in der Bergstraße. Wir proben dort; und es soll auch dort aufgeführt werden. Das Stück heißt Vorzimmer zum Tod. Der Verfasser hat Geld und macht alles genau so, wie er es sich vorstellt. Die Besetzung ist ausgezeichnet, mit Frank Nielsen in der Hauptrolle.«
Er nahm wieder einen Schluck.
»Zuerst verschwand also Geld und dann auch Nielsens Brief?«
Er nickte. »Das war es ja, Lafayette! Wenn es sich nur um die paar Pfennige gedreht hätte, so hätte ich mich vielleicht um Agnes Kielings Gemeinheit gar nicht gekümmert. Aber ein Brief ist etwas anderes – besonders dann, wenn er einem Mann wie Frank Nielsen gehört.«
»Seine Post kommt direkt ins Theater?«, fragte ich.
»Manchmal«, antwortete er. »Wenn die Leute an einen Schauspieler schreiben, adressieren sie die Briefe meistens an das Theater – damit meine ich die Post von Verehrerinnen und dergleichen. Außerdem hat Nielsen seit kurzem eine neue Anschrift, wie ich glaube; er ist umgezogen. Jedenfalls – er bekam einen Brief ins Theater, und dieser Brief verschwand.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Doch – ja. Ich glaube schon. Der Brief steckte hinter dem Spiegel in seiner Garderobe. Oder lag er noch beim Portier – genau weiß ich es nicht, Lafayette. Mich geht seine Post schließlich auch nichts an.«
»Zweifellos. Und Sie haben den Brief auch nicht gesehen? Aber wer hat ihn gesehen? Wer – abgesehen von Agnes Kieling?«
»Bestimmt Fritz Rübsamen – er ist der Portier des Theaters und sehr zuverlässig. Und Lydia Moll auch. Zuerst war doch alles in Ordnung – und jetzt diese Verdächtigungen und Andeutungen! Ich halte es einfach nicht aus! Die Situation ist ganz unmöglich geworden, Lafayette. Ich muss... ich muss irgendetwas unternehmen.«
»Das kann ich vollkommen verstehen«, nickte ich.
Ich füllte die Gläser nach.
»Warum verdächtigt man gerade Sie, Walter?«, fragte ich ihn dann.
»Das ist ganz einfach: Weil ich arm bin!«, erwiderte er verbittert. »Im letzten Jahr ist es mir ziemlich dreckig gegangen, und das wissen natürlich die meisten meiner Kollegen. Den anderen geht es – im Vergleich zu mir – ganz ordentlich. Sie müssen wissen: Frank Nielsen und Agnes Kieling sind nie ohne Engagement. Und Lydia Moll – sie ist zwar noch ziemlich jung, aber sie kennt sich aus, und sie ist auch dauernd beschäftigt. Nein, die Sache ist ganz einfach: Ich bin arm, und deswegen verdächtigt man mich!«
Er nahm wieder einen Schluck. Sein Gesicht war gerötet, und er vermied offensichtlich, mich anzusehen.
Mich haben schon Leute angelogen, die sich bestens darauf verstanden; deshalb merkte ich genau, dass Walter mir irgendetwas verschwieg. Die Vorstellung, dass er Geld aus den Garderoben gestohlen haben sollte, war blühender Unsinn. Hinter der ganzen Geschichte steckte mehr, als er mir erzählen wollte. Ein Mann wie Kießebert stiehlt nicht, und sollte wirklich einmal ein Diebstahl vorkommen, käme natürlich keiner auf den Gedanken, ausgerechnet ihn zu verdächtigen. Außerdem laufen in jedem Theater während der Proben eine Unmenge Leute herum, und der Zutritt zu den Garderoben ist wirklich alles andere als schwierig.
»Wie lange werden die Proben noch dauern?«, fragte ich. »Drei Wochen?«
»Nein«, antwortete er, »mindestens sechs – so heißt es wenigstens.«
Ich starre ihn verblüfft an. »Sechs Wochen Proben! Das kostet aber eine ganze Menge.«
Kießebert lächelte schwach. »Der Autor kann es sich leisten. Er ist ein ziemlicher Sonderling; er meint, dass ein Dramatiker heutzutage nur dann eine Chance hat, wenn er sich selbst um alles kümmert. Er bezahlt uns sogar für jede Probe, ohne es später mit der Gage zu verrechnen. Und Nielsen hat eine nicht unerhebliche Abfindung bekommen, damit er eine Filmrolle ablehnte. Das Stück wird ein großer Erfolg, meint der Autor, und diese Überzeugung lässt er sich etwas kosten!«
»Vielleicht behält er recht«, meinte ich. »Wie ist sein Name?«
»Er heißt Hammerschlag – Viktor Hammerschlag«, antwortete Walter. »Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört.«
»Aber ich. Ich kenne ihn gut: ziemlich exzentrisch, aber manchmal sprüht er geradezu vor Intelligenz. – Na ja, vielleicht hilft uns das weiter – ich meine, bei den Nachforschungen.«
Kießeberts müdes Gesicht hellte sich auf. »Dann übernehmen Sie also den Fall? Das ist großartig von Ihnen, Lafayette! Ich sagte schon, dass ich auch für die Proben bezahlt werde, und obgleich Ihre Honorare wahrscheinlich ziemlich hoch sind, kann ich bestimmt...«
»Das ist unwichtig«, versetzte ich und machte eine Handbewegung, als wäre ich auf Geld überhaupt nicht angewiesen. »Über das Honorar können wir uns noch unterhalten, wenn die Sache erledigt ist, Walter. Jedenfalls dürfte es kein allzu schwieriger Auftrag sein.«
Er stand auf. Sein Gesicht zuckte, und seine Augen schimmerten, so dass ich schon fürchtete, er würde im nächsten Augenblick weinen.
»Danke!«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, wie...«
Wir gaben uns die Hand, und dann ging er zur Tür.
»Ist übrigens Ihre Frau auch beim Theater?«, fragte ich ihn noch.
Er wurde rot. »Adelheid? Ja. Sie hat doch sonst nichts zu tun. Wir haben keine Kinder!«
Er lachte – oder besser, versuchte zu lachen – und ging hinaus.
Ich zündete mir eine neue Zigarette an und setzte mich wieder an den Schreibtisch, um alles zu überdenken.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese Angelegenheit doch nicht ganz so einfach wäre. Walter Kießebert war leicht zu durchschauen; ich erinnerte mich jetzt genau an ihn und daran, dass er immer ein anständiger Kerl gewesen war. Trotzdem hatte er mir nicht alles gesagt. Aus irgendeinem Grund schien er Angst zu haben, und diesen Grund wollte er mir nicht verraten.
Aber warum verdächtigte man gerade ihn – denn ob es ihm gut ging oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Er hatte endlich, wahrscheinlich nach Monaten oder Jahren auf Provinzbühnen und nach ausgedehnten Ferien, ein Engagement am Brecht-Theater bekommen – eine Bühne von allerbestem Renommee; dieses Engagement würde er bestimmt nicht wegen der paar Geldscheine aufs Spiel setzen! Dann war noch die Geschichte mit dem Brief – aber das schien mir etwas vollkommen anderes zu sein. Ein Brief wird gezielt und aus ganz bestimmten Gründen gestohlen – meistens hängt es mit seinem Inhalt zusammen.
Als ich seine Frau zum ersten Mal erwähnte, hatte er schon merkwürdig reagiert. Deshalb hatte ich auch beim Abschied noch einmal nach ihr gefragt – und wieder hatte er sich äußerst eigenartig verhalten. Da gab es also irgendein Geheimnis. Und sobald er von Adelheid sprach, glich sein Blick dem eines geprügelten Hundes. Bei jedem anderen hätte ich wahrscheinlich angenommen, dass die ganze Geschichte schließlich doch auf eine Scheidung hinausliefe. Aber Walter war offen und ehrlich – warum also das Ganze?
Ich goss mein Glas noch einmal halb voll und sah auf die Armbanduhr. Zwölf Uhr war schon vorüber. Um diesen Diebstahl im Brecht-Theater aufzuklären und zu sehen, warum Walters müde Augen derart gequält dreiblickten, schien es mir angeraten, mir die Leute in der Bergstraße einmal näher anzusehen.
Ich trank mein Glas aus und ging in das Vorzimmer, in dem Ina Euler, meine Sekretärin, arbeitete. Sie schien wieder eine Beschäftigung gefunden zu haben – zumindest hämmerte sie auf der Schreibmaschine.
»Wir haben einen neuen Fall, meine Liebe«, sagte ich zu ihr. »Diebstahl in der Theatergarderobe – und dazu noch in einem Theater im Frankenberg. Also ein geradezu klassischer Fall.«
»Dieser Herr Kießebert...?«, fragte Ina. »Ist er bestohlen worden?«
»Im Gegenteil, mein Engel«, erwiderte ich. »Anscheinend verdächtigt man ihn eines ganz gemeinen Diebstahls.«
»Was! Diesen stillen, schmächtigen Mann mit den reizenden Augen? Das ist doch vollkommen undenkbar!« Inas dunkles, breites Gesicht lief vor Empörung rot an.
»Finden Sie?«, sagte ich. »...Interessant! Dann sind wir beide der gleichen Ansicht. Etwas ist faul im Staate Dänemark. Und außerdem ist ein alter Klient und Freund von uns auch in diese Angelegenheit verwickelt; zumindest hat er jenes Theater gemietet, in welchem das Verbrechen sein hässliches Haupt erhebt. Ich meine Viktor Hammerschlag. Eines seiner Stücke wird dort geprobt.«
Ina nickte lächelnd. »In der Zeitung habe ich schon davon gelesen.« Sie seufzte. »Aber Diebstahl in der Garderobe! Es klingt nicht gerade, als wäre das eine lohnende Sache für uns.«
»Ina, die Goldgräberin!«, rief ich aus. »Haben Sie denn kein Herz, sind Sie tatsächlich so kühl und berechnend? Ruhm und Ehre sind zu gewinnen; wir müssen einem alten Freund helfen, der in Schwierigkeiten geraten ist. Und vielleicht ergibt sich dabei auch eine Gelegenheit für Sie, Viktor Hammerschlag einmal wiederzusehen. Eine oder zwei Stunden werden wahrscheinlich ausreichen, um den ganzen Fall zu klären. Viel kann nicht dahinterstecken.«
Es sollte sich erweisen, dass dieser Ausspruch eine der größten Dummheiten war, die ich jemals von mir gegeben habe.
Zweites Kapitel
Mein Büro liegt am Untermarkt, und meine Wohnung ganz in der Nähe, nämlich in der Neuen Gasse. Beide befinden sich jeweils im obersten Stockwerk und näher beieinander, als man vielleicht glaubt, denn die beiden Häuser sind durch ein flaches Dach miteinander verbunden. Und gerade das kann gelegentlich ausgesprochen nützlich sein.
Als ich in die Ritterstraße einbog, schien die Sonne. Es war zwar schon Oktober, aber das Wetter war so schön, als wollte es uns für den verregneten Sommer entschädigen. Einige Geschäfte hatten die Markisen heruntergelassen; viele Frauen trugen noch Sommerkleider, und ich hatte fast das Gefühl, in Frankfurt zu sein und über die Zeil zu schlendern.
Meine Uhr zeigte auf zwanzig Minuten vor eins; langsam bekam ich Hunger. Trotzdem ließ ich mich durch nichts von meinem Ziel – der Bergstraße – abbringen; man weiß nie, wann ein neuer Auftrag kommt, und ich wollte Walter Kießeberts Fall möglichst schnell erledigen.
Ich war bereits in einem Geschäft gewesen, das meine Zigaretten – Player's – immer vorrätig hatte, und bog gerade um eine Straßenecke, als mich eine Hand im Schweinslederhandschuh am Arm festhielt und eine Stimme sagte: »Hallo, alter Freund – wohin so eilig?«
Es war Viktor Hammerschlag; er trug noch immer seinen Bart. Er war bewundernswert elegant angezogen. Seine dunklen Augen verrieten die Naivität und halbverrückte Intelligenz, die ihn so unberechenbar machten. Er strahlte übers ganze Gesicht, als ich auf seine Frage antwortete, dass ich jetzt eigentlich zu Mittag essen wollte.
»Dann können Sie gleich mit mir kommen, mein Lieber. In der Neustädter Straße hat ein neues Lokal aufgemacht, das wirklich gut sein soll. Übrigens bringe ich aktuell ein Stück heraus. Schon davon gehört?«
Er redete vergnügt weiter, während wir – zwischen Autos mit schimpfenden Fahrern hindurch – gemächlich die Straße überquerten. Ich war froh, als wir die Neustädter Straße wohlbehalten erreichten, nach links einbogen und das Restaurant betraten, das den Namen La Potinière führte.
Dort wurden wir wie Filmstars empfangen. Hammerschlag kam anscheinend täglich hierher, und als wir Platz genommen hatten, folgte sofort eine tiefschürfende Unterhaltung mit dem Küchenchef und dem Kellner. Wir bestellten Sherry, Suppe, Hummer, Brathuhn und einen roten Montrachet, und dann erst kamen wir zur Ruhe.
Wie erwartet, fing mein Gastgeber an, von jenen tausend Mark zu reden, die er mir angeblich schuldete. Es war ein Betrag, den er mir bezahlen wollte, als ich den Mörder seiner Frau gefunden hatte. Die Angelegenheit hatte damals fünf Tage gedauert, und ich hatte nur dreihundert Mark als Honorar genommen. Er fing also wieder davon an, dass er mir tausend Mark versprochen hätte und dass einzig und allein jenes Honorar anständig wäre, das der Klient für anständig hielte und so weiter.
Ich unterbrach seinen Redefluss. »Lassen Sie das doch«, sagte ich. »Sie waren damals ziemlich durcheinander. Und ich habe Ihnen tausendmal gesagt, dass ich pro Tag sechzig Mark nehme und nicht einen Pfennig mehr.«
Er seufzte, und der Blick seiner braunen Augen wurde sentimental.
»Arme kleine Frau!«, flüsterte er.
Trotzdem merkte ich, dass er selbst erkannt hatte, dass Franziska Hammerschlag – seine Frau – zu jenem Typ gehört hatte, der einen Mann so verrückt machen könnte, dass er nicht einmal vor einem Mord zurückschreckte. Und dann war es schon besser, dass sie das Opfer geworden war – und nicht er selbst.
»Übrigens – die Geschichte mit Ihrem Stück...«, sagte ich und lenkte ihn damit von diesem unerfreulichen Thema ab.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich sofort, und seine Augen waren wieder lebhaft und strahlend. »Es ist eine Art Kriminalstück«, sagte er, »ganz modern in seiner psychologischen Themenstellung, in der Verwendung von Hypnose und so weiter. Das Publikum wird über nichts im Unklaren gelassen. Ich glaube, dass wir...«
»Das finde ich großartig«, warf ich ein. »Hoffentlich lohnt es sich auch. Und vielleicht können Sie dabei etwas für mich tun?«
»Aber selbstverständlich, mein Lieber – das heißt, wenn Sie nicht gerade die Hauptrolle spielen wollen. Ich habe nämlich Frank Nielsen engagiert.«
»Oh, das will ich ganz sicher nicht«, betonte ich. »Die Schauspielerei ist nicht mein Metier. Aber ich würde mir gern einige Proben ansehen; das habe ich mir schon lange gewünscht. Die Frage ist nur, ob der Produzent – oder wie man ihn nennt – nichts dagegen haben wird.«
»Das wird er nicht«, grinste er wissend. »Ich bin es nämlich selbst!«
»Ist das wahr?«
Er nickte. »Und ich würde mich freuen, wenn Sie sich einige Stellen genau ansehen könnten. Ein Schauspiel zu schreiben ist für mich nämlich vollkommen neu, wenn ich auch schon ein paar kurze Hörspiele verfasst habe. Wie ist übrigens der Sherry?«
»Er schmeckt ganz vorzüglich«, antwortete ich. »Dann werde ich Sie also nach dem Essen ins Theater begleiten. Am besten ist es vielleicht, wenn ich mich im Hintergrund halte. Sie kennen doch diese Schauspieler – sie werden unruhig, wenn ein Außenstehender bei den Proben zusieht.«
»Das stimmt«, sagte er nachdenklich.
Und dann kam ihm wieder eine seiner plötzlichen Erleuchtungen. »Ich werde einfach behaupten, Sie wollen sich eventuell finanziell beteiligen«, meinte er. »Das klingt doch ganz einleuchtend – und jedenfalls besser als Detektiv, was? Das hätten wir also geklärt. Aber nun sagen Sie bloß nicht, Sie wollten einen meiner Schauspieler einsperren? Ich hatte verdammt viel Mühe, bis ich alle zusammenhatte – wegen Film, Fernsehen und so weiter.«
Seine strahlenden Augen sahen mich genauso aufrichtig an wie die eines Kindes.
Einen Augenblick zögerte ich, und dann erzählte ich ihm die Wahrheit. »Anscheinend handelt es sich nur um einen unbedeutenden Diebstahl«, beendete ich schließlich meine Ausführungen. »Aber ich war zusammen mit Walter Kießebert Soldat, und er hat es bestimmt nicht getan. Vielleicht war es irgendein Bühnenarbeiter oder sonstwer, jedenfalls ist es nur eine Kleinigkeit, und ich glaube nicht, dass es lange dauern wird.«
Er nickte mit ernstem Gesicht.
»Bisher hat mir niemand etwas davon gesagt«, meinte er dann. »Aber diese Angelegenheit muss natürlich geklärt werden, Lafayette. Kießebert kann Sie jedenfalls nicht bezahlen – aber ich, und das werde ich auch. Das Theater ist eine Institution, an der sich die Leute erfreuen sollen – wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Es braucht nur irgendetwas Unerfreuliches zu passieren – ein Diebstahl oder etwas Ähnliches –, und die ganze Sache... ist erledigt. Und dabei ist es besonders wesentlich, dass während der Proben die richtige Atmosphäre herrscht. Je schneller Ihr französisch-deutsches Gehirn mit der Sache fertig wird, desto besser. Ich persönlich finde die Angelegenheit ziemlich übel, mein Lieber; ich meine die Geschichte mit dem Brief und die versteckten oder offenen Verdächtigungen. Warum hacken zum Beispiel alle auf dem armen Kießebert herum?«
Ich nickte nur, und dann beschäftigten wir uns erst einmal mit der Suppe. Hammerschlags Gesicht, das sonst immer fröhlich war, hatte sich verdüstert.
»Verdammt noch mal!«, knurrte er zwischendrin. »Ich glaubte, ich hätte endlich ein anständiges Ensemble zusammen, und alles würde jetzt klappen.«
»Und gestritten hat sich wohl niemand?«, fragte ich. »Auch nicht mit Walter Kießebert?«
»Aus welchem Grund? Er ist doch ein wirklich netter Kerl. Und anscheinend ein Freund von Ihnen, nicht wahr? Nein, mein Lieber – davon habe ich nichts bemerkt.«
Er starrte dabei den Hummer derart wütend an, dass ich um seiner guten Verdauung willen schnell das Thema wechselte.
»Ich hörte, dass die Proben sechs Wochen dauern sollen«, fragte ich.
Er nickte nachdrücklich, und schlagartig hatte sich auch seine Laune wieder gebessert.
»Das trifft zu«, erwiderte er. »Die üblichen drei Wochen sind völlig unzureichend. Das Theater ist nämlich – und nun hören Sie genau zu, mein Lieber –, das Theater ist nämlich dafür da, dass die Leute sich freuen und vergnügt sind, und Vergnügen und Freude erreicht man nicht, indem man streng und knauserig ist. Luxus, Aufwand aller Art – das sind Dinge, die das Publikum will, die es aber zu selten bekommt. Wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will?«
»Ja – genau. Solange die Schauspieler nicht überanstrengt werden...«
»Es liegt allein am Regisseur und an der Art, wie er die Sache angeht«, sagte Hammerschlag. »Jedenfalls wird meistens vorher nicht genügend geprobt. Wenn man einmal alle Schauspieler braucht, sind sie oft nicht zusammenzubringen. Nein – drei Wochen sind viel zu wenig.«
Das Brecht-Theater gehört zu den schönsten Theatergebäuden in ganz Hessen. Es ist nicht allzu groß, hat reiche und geschmackvolle Stuckaturen und verfügt sogar über ein gemütliches Foyer.
Hammerschlag und ich betraten das Theater durch den Bühneneingang, und er stellte mich dem Portier, einem Mann namens Rübsamen, vor.
»Herr Bismarck ist mein Teilhaber, Fritz«, sagte er dabei. »Seien Sie besonders nett zu ihm, weil er nämlich die Absicht hat, sich an den Kosten zu beteiligen. Und wenn er bei uns auftaucht, dürfen Sie ihn um keinen Preis mit abweisenden Blicken bedenken – wenn Sie verstehen, was ich meine!«
Fritz Rübsamen grinste und reichte mir die Hand.
»Gesichter vergesse ich nie, mein Herr«, sagte er. »Und schon gar nicht das eines Geldgebers!«
Hammerschlag sah mich fragend an, aber ich schüttelte nur leicht den Kopf.
Ich wollte die Leute noch nicht gleich ins Kreuzverhör nehmen, und schon gar nicht diesen alten Knaben. Er hatte ein langes, gebräuntes Gesicht, das an ein Pferd erinnerte, und kurzgeschnittenes weißes Haar über den ernsten, aber trotzdem humorvollen Augen. Rübsamen bedeutete für das Theater dasselbe, was ein alter Butler für eine Familie bedeutet. Und dass er einen Brief gestohlen haben sollte, war vollkommen undenkbar.
Hammerschlag ging weiter und wollte gerade zwischen den Kulissen hindurch die Bühne betreten, als ich ihn am Arm zurückhielt.
»Ich möchte jetzt mit keinem Ihrer Schauspieler zusammentreffen«, sagte ich. »Wenn es möglich ist, setze ich mich in den Zuschauerraum. Ich möchte mir erst einmal alles in Ruhe ansehen.«
»Gut«, antwortete er. »Hier, durch diese Tür. Am besten, Sie merken sich gleich die verschiedenen Türen und Gänge. Es gibt nichts Leichteres, als sich in einem Theater zu verirren – und das in mehr als nur einem Sinn.«
Er öffnete eine kleine Tür und machte mich noch auf einige Stufen aufmerksam. Dann ging ich in den Zuschauerraum.
Ich weiß nicht, warum mich das Theater so besonders anzieht – wenn in einem Orchester die Instrumente gestimmt werden, wenn das Licht bei einer Premiere langsam erlischt und der Vorhang aufgeht, wenn sich einer der Schauspieler verneigt oder wenn einen Augenblick lang jene gespannte Stille herrscht, bevor der ehrlich begeisterte, donnernde Applaus einsetzt... Aber noch lieber als dies ist mir das geisterhafte Halbdunkel im Zuschauerraum, wenn man zwischen den überzogenen Sitzreihen steht und vorn auf der Bühne hart gearbeitet wird, denn von dieser Arbeit hängt Erfolg oder Misserfolg des Stückes ab.
Ich tastete mich bis etwa zur zehnten Reihe, nahm den Schonbezug von einem der Sitze und setzte mich, um – als Abschluss des Mittagessens – eine Zigarre zu genießen.
Auf der Bühne sprach Hammerschlag gerade mit einem jüngeren, bebrillten Mann im Pullover und schwarzen Cordhosen – vermutlich dem Inspizienten. Für einen Augenblick sah ich auch Walter Kießebert, der zwischen den Kulissen hervorkam und gleich darauf wieder verschwand.
Im Hintergrund saßen auf einem Empire-Sofa zwei Mädchen, die sich offensichtlich über einen Hut unterhielten: Er war schwarz und mit einem bezaubernden Federbusch besetzt, seine Trägerin war eine heißblütig aussehende Frau, deren Gestalt ganz in Taft gehüllt war, der bei jeder Bewegung raschelte. Sie war rothaarig und wirkte in dem grellen Licht der Scheinwerfer wie fünfunddreißig; der Bebrillte sagte etwas zu ihr, er redete sie mit Fräulein Kieling an. Die andere war erheblich jünger, trug sandfarbene Hosen und gefiel mir auf Anhieb. Neben ihr verblasste jedes andere Mädchen, und außerdem hatte sie das verführerischste Lachen, das ich jemals gehört hatte. Ihr goldbraunes Haar war in eine Art Knoten geschlungen, der sich harmonisch der Linie ihres wunderbaren Kopfes anpasste. Ich hielt sie für Lydia Moll, und wie sich später herausstellte, hatte ich recht.
Bis auf das Empire-Sofa, das zweifellos noch von der letzten Aufführung her da war, stand fast nichts auf der Bühne. Ich sah nur ein paar einfache Stühle, irgendein Gestell und drei Bänke, die an ein Klassenzimmer erinnerten. Mit den Stühlen und Bänken war das zukünftige Bühnenbild angedeutet worden; außerdem sah ich auf dem Bühnenboden noch verschiedene Kreidestriche.
Hammerschlag schaute gerade auf seine Uhr, als ein hochgewachsener Mann aus den Kulissen trat.
»Herr Nielsen ist da«, sagte der Inspizient, und die beiden Mädchen hörten auf zu reden.
»Es tut mir leid, Hammerschlag!«, entschuldigte sich der Neuangekommene mit einer wunderbaren, melodischen Stimme. »Es war einfach unmöglich, ein Taxi zu bekommen. Anscheinend sind sie nur noch da, um einen zu ärgern.«
»Schon gut, Nielsen«, antwortete Hammerschlag. »Lydia, ich glaube, wir gehen jetzt am besten noch einmal deine Szene durch – die erste Szene mit Frank.«
Ich hatte Frank Nielsen schon ein- oder zweimal im Film und vor kurzem auch auf der Bühne gesehen; er war einfach toll. Der Mann war eine starke Persönlichkeit. Wenn er nicht spielte, sah er aus wie ein skandalumwitterter, auffallend elegant gekleideter Lebemann. Sein Gesicht war blass und schmal, ohne dabei ungesund zu wirken; seine Stimme klang beherrscht und bis zur Vollkommenheit geschult. Am meisten aber fielen seine Augen auf, sie brannten in dem blassen Gesicht wie Kerzen. Er musste schon über vierzig sein, hatte jedoch jenes melancholische Etwas, das die Töchter von Hause weglaufen und die Mütter ihnen folgen lässt.
Während der nächsten Stunden sah ich den probenden Schauspielern zu; Walter öffnete ab und zu eine noch nicht existierende Tür und sprach einen Satz. Sie waren alle großartig. Aber Nielsen übertraf sie noch. Ich beobachtete ihn, wie er angespannt und leidenschaftlich arbeitete, hörte seine frechen Spötteleien – wobei er sich immer selbst zuerst verspottete, und hinter allem spürte man den Realisten in ihm, der sich ungeduldig gegen jeden falschen Ton wehrte. Er war ein moderner Byron, ein Romantiker, doch mit unerbittlichem Ernst anstelle spielerischer Launen. Sein Spiel war umso beeindruckender, als die Proben erst vor fünf Tagen begonnen hatten.
Das Stück indes war eine Geschichte etwa über das Thema Jekyll und Hyde, wenn auch in moderner Form. Nielsen spielte jenen Mann, dessen Wesen sich in Gut und Böse gespalten hatte – der aber, wenn er das Böse wollte, das Gute tat, und umgekehrt. Die Handlung war großartig und die Geschichte geschickt angelegt, so dass nichts zu sehr in die Tiefe ging – was sich bestimmt auf die Einnahmen ausgewirkt hätte –, jeder aber auch das fand, was intellektuelle Besucher todsicher als künstlerisch bedeutsam bezeichnen würden.
Während ich so der Probe zusah, staunte ich wieder über jene Gegensätze, die in diesem Viktor Hammerschlag verborgen waren. Ich kannte ihn als einen simplen Dummkopf, der auf beinahe jedes hübsche Fräulein hereinfiel. Dies hier war jedoch ein Hammerschlag, der schreiben konnte und der das richte Gefühl hatte für die Realität des Theaters.
Nielsen war der fetteste Brocken zugefallen; er freute sich sichtlich darüber und wusste auch etwas damit anzufangen. Aber auch Agnes Kieling war in ihrer erheblich kleineren Rolle wirklich gut. Mit Federbüschen auf dem Kopf und einer langen Zigarettenspitze in der Hand, sprach sie in einer wegwerfenden Art und so gekonnt, dass die Zuschauer bestimmt an den richtigen Stellen lachen würden, nachdem ihnen gerade noch eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen war.
Jenes Mädchen aber, das mir auf Anhieb gefallen hatte, war tatsächlich so gut, wie ich vertrauensvoll angenommen hatte. Sie spielte die Braut des gütig-verbrecherischen Helden, verlegen, von Qualen zerrissen, aber immer mit den richtigen Mitteln. In ihrer Art war die Rolle die weitaus schwierigste, weil sie so leicht ins Negative abgleiten konnte. Aber Lydia konnte selbst noch die unbefleckte Tugend mit Witz darstellen; das Wort spröde kannte sie anscheinend überhaupt nicht. In einer Szene war ich tatsächlich restlos von ihr fasziniert: als Nielsen, in der Darstellung des Bösen, sie durch Hypnose und bezaubernden Charme zum gemeinsamen, wenn auch nur vorgetäuschten Selbstmord überreden wollte.
Das mag vielleicht primitiv klingen, aber das war es ganz und gar nicht. Hammerschlag hatte in dieses Gruselmärchen gerade so viel Poesie gelegt und sie als geistreichen Zynismus verkleidet, wie das moderne Theater es von einem Stück dieser Art eben verlangt. Außerdem verbarg sich hinter allem das Problem, ob man einen Menschen durch Hypnose zu Dingen zwingen könne, die seinem Wesen entgegengesetzt sind.
Ich war jedoch nicht ins Brecht-Theater gekommen, um mir ein neues Stück anzusehen. Meine Gedanken beschäftigten sich damals mit ganz anderen Fragen. Aber ich freute mich an dem, was ich sah; und trotz der Wiederholungen, der vielen Unterbrechungen und des kahlen, grell erleuchteten Hintergrundes war ich überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war; denn plötzlich trat Hammerschlag an den Bühnenrand und rief: »Schluss jetzt, Kinder! Das war gar nicht so übel. Wir machen jetzt eine Pause!«
In einem kleinen Raum wurden Tee und andere Getränke gereicht. Hammerschlag stellte mich als Jacques Bismarck aus Frankreich vor, und seiner vergnügten Art hätte man entnehmen können, dass ich mich an diesem Stück vielleicht finanziell beteiligen würde. Er vergaß auch nicht, mich mit Walter Kießebert bekannt zu machen.
Agnes Kieling sah viel besser aus, als ich zuerst angenommen hatte und wie sie vorhin, in dem grellen Licht auf der kahlen Bühne, gewirkt hatte. Ihr Haar schien von Natur kastanienbraun zu sein, ihre Augen waren grün und verrieten eine kühle Klugheit. Sie behandelte mich, den vermeintlichen französischen Millionär, mit süßer Freundlichkeit, aber meist sah sie zu Frank Nielsen hinüber.
Nielsen trank mit Hammerschlag einen Whisky-Soda, während Kießebert in der Nähe stand, dem Gespräch zuhörte und jedes Mal lachte, wenn einer der beiden einen Witz gemacht hatte. Nachdem mich Agnes mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln entwaffnet hatte, ging sie ebenfalls zu der Gruppe hinüber. So blieb ich allein mit einer Tasse Tee, einigen Sandwiches und Lydia Moll.
Wir sahen uns vorsichtig an.
»Sind Sie schon länger hier, Herr Bismarck?«, fragte Lydia und fügte dann noch hinzu: »Frankreich muss ein herrliches Land sein!«
»Ich bin in der Tat schon eine ganze Weile hier«, erwiderte ich.
Wieder schaute sie mich aufmerksam an. Ihre himmelblauen Augen strahlten mich an wie die eines Kindes, aber dahinter verbarg sich irgendeine Falle – und gerade das beunruhigte mich.
»Sie wollen sich also vielleicht an der Aufführung beteiligen?«, fragte sie. »Das ist sehr nett von Ihnen.«
»Was soll daran schon nett sein, meine Liebe? Das Stück ist verdammt gut. Nielsen ist ganz große Klasse, Fräulein Kieling ist bemerkenswert, und Sie sind mehr als das.«
»Das ist wirklich reizend von Ihnen! So etwas hört man gern. Aber meinen Sie das moralisch oder kritisch?«
»Sowohl als auch«, versicherte ich. »Spricht nicht das Spiel deutlicher als alle Worte?«
Sie schnitt eine Grimasse. »Deutlichkeit ist sicher ein Vorzug«, erwiderte sie. »Aber Herr Hammerschlag würde es vermutlich nicht begrüßen, wenn die Zeitungsverkäufer es auf den Straßen hinausposaunen...«
»Das meinte ich auch nicht damit«, unterbrach ich. »Ich bin nur der Ansicht, dass man eine Rolle nur dann überzeugend darstellen kann, wenn man selbst einige jener Vorzüge, welche die Rolle verlangt, besitzt. Die Betonung liegt natürlich auf dem Wort überzeugend.«
»Und hinzu kommt noch eine gewisse Einfühlung in die Rolle, nicht wahr?« Sie lächelte. »Aber diese Ansicht halte ich für äußerst gefährlich! Ganz besonders für einen Finanzier. Ist sie wirklich ein Kompliment für uns arme Mimen? Wir entsprechen nicht immer dem gerade verlangten Typ. Und wenn man sich vorstellt, dass Sie...« Sie verstummte und trank ihren Tee aus.
Ich ließ unsere Tassen von Fritz Rübsamen nachfüllen. Hinter der Theke hingen eingerahmt verschiedene Bühnenfotos und witzige Verse. Dann ging ich zurück zu unserem Tisch.
»Wenn man sich vorstellt, dass ich so dumm war und glaubte, die Braut auf der Bühne müsse tatsächlich eine Braut und die Heldin tatsächlich heroisch sein – das wollten Sie doch gerade sagen, nicht wahr?«
Nachdenklich rührte sie in der Teetasse; dann sah sie sich um. »Nicht ganz«, sagte sie sehr sanft. »Ich dachte nur an Ihren Beruf. Und dann an dieses simple Vertrauen, verbunden mit Ihren anderen Fähigkeiten, jenseits jeder Finanzierung von neuen Bühnenstücken, meine ich.«
Unsere Blicke begegneten sich. Ihre Augen waren hübsch anzusehen, aber so voller Misstrauen, dass es mich etwas fassungslos machte.
»Machen Sie sich keine unnötigen Gedanken, Lafayette«, flüsterte sie. »Ich sah Ihr Bild in der Frankenberger Zeitung, neulich. Aber ich bin eine ausgezeichnete Heldin und außerdem verschwiegen wie ein Grab!«
Bevor ich noch etwas antworten konnte, kam Hammerschlag zu uns herüber.
»Wie wäre es«, fragte er, »wenn wir heute zusammen zu Abend essen würden, mein Lieber? Nielsen kann zwar eine andere Verabredung nicht absagen, aber Agnes kommt mit. Wie ist es mit dir, Lydia? Dann wäre das Kleeblatt vollzählig – was, Lafayette? Wir könnten ein bisschen tanzen und ausspannen. Diese Proben sind verdammt anstrengend, wir alle müssen mal auf andere Gedanken kommen.«
»Ich würde mich freuen«, sagte ich, »...sofern Fräulein Moll nichts Besseres vorhat!«
»Ich komme rasend gern mit«, erklärte Lydia.
Drittes Kapitel
Zu viert saßen wir also abends um einen Ecktisch; das Wetter war so mild, dass mehrere der hohen Saalfenster weit geöffnet waren.
Mit dem gelockten braunen Bart, einer Mischung aus Einfalt und Verschmitztheit sowie einer ungewöhnlichen Großzügigkeit wirkte Viktor Hammerschlag irgendwie altmodisch: Ein Beispiel war dieses sogenannte Abendbrot, das sich jetzt als ein ausgewachsenes Essen – mit allem Drum und Dran – im Dachgarten-Restaurant des Hotels Zur Sonne entpuppte. Ein anderes Beispiel war jener Blick, mit dem der arme Kerl Agnes Kieling ansah. In diesem Blick lag reines und unverhülltes Erdulden, und ich spürte förmlich den Beginn einer neuen Ehetragödie. Ich wusste schon, dass er von ihr als armer kleiner Frau reden und sie von der Bühne holen würde. Glücklicherweise hatte ich jedoch das Gefühl, dass Agnes in Frank Nielsen verliebt war; und deshalb konnte ich mich – mehr oder weniger erleichtert – mit Lydia beschäftigen.
Und sie war es wert. Allein schon dadurch, dass sie keine sandfarbenen Hosen mehr anhatte, war sie zu dem geworden, was mir mein Psychiater – wenn ich einen hätte – verordnen würde. In ihrem goldbraunen Haar leuchteten Blumen, sie passten genau zu dem Kleid, das ziemlich spät anfing und in einem wogenden, pastellfarbenen Rock endete. Ihr Parfüm verriet zärtlich, wenn auch unmissverständlich, dass es aus Paris stammte.
»Und nun?«, fragte Viktor vergnügt. »Wie wäre es mit einem Tanz, Agnes? Oder sollen wir nach dem Essen lieber noch etwas warten?«
»Meinetwegen bestimmt nicht!«
Sie erhob sich in einer Wolke aus schwarzem Chiffon und folgte ihm auf die Tanzfläche. Die eine Kapelle spielte gerade Jazz, während die andere – deren Spezialität der Tango war – pausierte.
Lydia lächelte mir zu. »Wir werden bis zum nächsten Tango warten, nicht wahr?«
Ich nickte und griff nach ihrer Hand. »Sie sehen aus«, sagte ich, »als hätte Christian Dior Sie in einen Regenbogen gehüllt.«
Sie errötete leicht.
»Frauen in Hosen scheinen Sie nicht zu mögen, nicht wahr?«, sagte sie. »Vielleicht kommt es von Ihrer französischen Abstammung. Und eine Mademoiselle in Hosen kann man sich tatsächlich auch nicht vorstellen.«
»Ich bin nur zum Teil Franzose: geboren in Paris; Vater Deutscher, Mutter Französin. Um noch einmal auf die Hosen zurückzukommen – bei Frauen mag ich sie tatsächlich nicht. Wahrscheinlich ist das seltsam von mir – aber nur in einem gewissen Rahmen, wenn Sie mir folgen können.«
Sie lachte wieder unendlich verführerisch. »Heute Abend kann niemand behaupten, wir Frauen wären ohne männlichen Schutz. Unser Gastgeber sieht aus wie ein verkleideter Seeräuber, und der große Detektiv neben mir... – aber das bewahre ich mir lieber für die Reporter auf!«
»Da wir gerade von unserem Seeräuber sprechen: Ist er Agnes Kielings
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Nicole Pai.
Korrektorat: Nicole Pai.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2022
ISBN: 978-3-7554-0918-2
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