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Leseprobe

 

 

 

 

CHRISTIAN DÖRGE

 

 

DER SCHNEE

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DER SCHNEE 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Das Buch

 

Anna Limmroth wird entführt. Als sie gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes freigelassen wird, kann sie sich an nichts mehr erinnern. 

Ein Psychiater soll ihre Amnesie heilen. Doch damit bringt er nicht nur Anna, sondern auch sich selbst in tödliche Gefahr... 

 

Mit dem Roman Der Schnee legt Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland, einen ebenso spannenden wie außergewöhnlichen München-Krimi vor. 

Der Autor

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge den Giallo-Roman Das rote Trauma und startet drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace sowie München-Krimis um die Privatdetektive Jack Kandlbinder und Remigius Jungblut. 

DER SCHNEE

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Dr. Adam Golgath: ein Psychiater am Institut für Persönlichkeitsforschung. 

Anna Limmroth: das Opfer einer Entführung. 

Patrizius Limmroth: ihr Vater. 

Kommissar Mosberger: Polizeibeamter. 

Norbert Kiefer: Privatdetektiv. 

Jonas Kreutzmann: Freund und Geschäftspartner von Patrizius Limmroth. 

Christa Nibelung: Dr. Golgaths Sekretärin. 

Daniel Kühnert: ein ehemaliger Kinderstar. 

Alfons Mogh: sein Freund. 

 

Dieser Roman spielt im Jahre 1974 in München, Starnberg und in Garmisch-Partenkirchen.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Meine Doktorarbeit befasste sich mit zwischenpersönlicher Kommunikation, aber in den zwölf Jahren, seit ich sie geschrieben habe, ist mir eine neue Theorie in den Sinn gekommen: Für mich bestehen neunzig Prozent jeder Kommunikation darin, die Zuhörer von den restlichen zehn Prozent zu überzeugen.

Jedenfalls war es so bei Ines Pfaffenbach.

Wir hatten zwei Stunden miteinander gesprochen, und mich beschlich das seltsame Gefühl, dass wir beide mit Personen sprachen, die gar nicht anwesend waren. Ich beschloss, es noch einmal zu versuchen – sozusagen von ganz unten.

»Frau Pfaffenbach, ich habe mich bemüht...«

»Fräulein«, verbesserte sie. Von dieser Art war das ganze Gespräch gewesen, nur hatte ihr Familienstand noch nicht zur Debatte gestanden.

»Fräulein. Ich habe mich bemüht, Ihnen die Arbeit hier im Institut ein wenig zu erklären. Es heißt Institut für Persönlichkeitserforschung, weil genau das unsere Aufgabe ist. Nur in sehr seltenen Fällen betreiben wir Psychotherapie im konventionellen Sinne, und auch dann in erster Linie beratend... konkrete Behandlung von neurotischen oder psychotischen Störungen ist eher die Seltenheit.«

»Fräulein Limmroth ist weder neurotisch noch psychotisch, Doktor.«

Ich breitete die Hände aus. »Keine Ahnung. Würde ich die Krankheitsgeschichte kennen, könnte ich vielleicht Vermutungen anstellen, aber mehr wäre es auch dann nicht. Traumatische Amnesie von der Art, wie Sie sie beschreiben, ist bei Personen, die etwas ausgesprochen Schlimmes erlebt haben, nicht selten, und sie kann durchaus von einer Gehirnerschütterung oder einer Misshandlung durch ihre Entführer herrühren. Es kann auch eine rein seelische Reaktion auf eine unerträgliche Erinnerung sein. Oder etwas völlig anderes; ich kann es wirklich nicht sagen, ohne sie in Augenschein genommen zu haben – und dafür gibt es, wie gesagt, andere Psychiater, die auf solche Störungen spezialisiert sind. Ich empfehle Sie gern weiter.«

»Herr Limmroth hat sich ganz eindeutig geäußert«, erwiderte Ines Pfaffenbach. »Er sagt, Sie sollen den Fall seiner Tochter übernehmen, eine andere Wahl gebe es nicht. Die Kosten spielen selbstverständlich keine Rolle.«

»Selbstverständlich. Hat er vielleicht auch mitgeteilt, weshalb unbedingt ich den Fall übernehmen soll?«

»Mein Arbeitgeber bespricht seine Privatangelegenheiten nicht mit mir«, sagte sie und fuhr fort: »Soviel ich weiß, ist er aber von Herrn König an Sie verwiesen worden – Herr König von König & Sohn –, der ihm versicherte, Sie hätten bei der Behandlung seines Sohnes sehr eindrucksvolle Arbeit geleistet.«

Wundersam wäre ein passender Ausdruck gewesen, wenngleich ich nicht wusste, wieviel ich tatsächlich mit Peter Königs Gesundung zu tun hatte. Bei einer Party in Starnberg hatte ihm jemand ein Gemisch von LSD, DMT und Strychnin verpasst; er war später im Tierpark Hellabrunn aufgewacht. Es hatte fünf Monate gedauert, ihn von seinem unfreiwilligen Ausflug zurückzuholen.

Ich nickte. »Verstehe. Es war gewissermaßen eine glückliche Fügung, dass der Fall, von dem Sie sprechen, mit unseren Forschungen hier kongruierte, so dass wir ihn behandeln konnten – aber bei Fräulein Limmroth ist das, wie gesagt, anders. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«

Sie stand auf und strich über ihr teures Schneiderkostüm, fast so, als sei es durch den Stuhl besudelt worden.

»Ich verstehe, Doktor Golgath«, sagte sie mit einem höflichen Lächeln. »Verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit so lange in Anspruch genommen habe.«

»Keine Ursache. Möchten Sie die Namen der anderen Ärzte, von denen ich gesprochen habe?«

Sie lächelte wieder. »Nein, danke, das wird, glaube ich, nicht nötig sein.«

Wie sich herausstellte, hatte sie völlig recht.

 

Der Anruf kam am Abend, als ich die Videoaufzeichnungen einer Gruppentherapiesitzung von diesem Tag studierte.

»Golgath.«

»Guten Abend, Doktor. Wie läuft's bei Ihnen?«

Es war Dr. Waldeck, der Leiter des Instituts; ich bemerkte, dass ich mich zusammennehmen musste, um im Sessel nicht gerader zu sitzen. Ich schaltete das Abspielgerät ab.

Waldeck hatte den besten Teil beider Welten gewählt: sein offizieller Titel war Direktor Emeritus, und in der Praxis lief das darauf hinaus, dass er sich nicht mit dem Alltagsbetrieb des Instituts abgeben musste – dies war meine Aufgabe –, aber trotzdem Ansehen und Prestige genoss und sowohl im Institut wie bei den Stellen, die es finanzierten, beträchtlichen Einfluss hatte.

Mir machte das nicht besonders viel aus; er diente als eine Art Puffer zwischen den Geldgebern und dem Institut – und damit mir. Bis jetzt jedenfalls.

Ich beantwortete seine Frage: »Ganz gut. Ich befasse mich gerade mit der Aufzeichnung über die Drogen-Gruppe. Wir scheinen da ein paar konkrete Grundlagen zu finden. Ich nehme an, dass sich entsprechende Erfolge einstellen werden.«

»Wie ist die Arbeitsbelastung? Irgendwelche Probleme?«

Die Alarmglocke in meinem Hirn begann leise zu klingeln, wie eine phantasielose Musikbox; es wäre ein Verstoß gegen den guten Ton gewesen, wenn ich mich zu dem auslösenden Verdacht geäußert hätte.

»Eigentlich nicht. Doktor Kramer ist mit der Winter-Gruppe fertig, ebenso mit den Integrierungssitzungen, und die nächsten Leute kommen wohl erst in drei Monaten oder so – Ende August, nehmen wir an. Mit ihr, Doktor Laux und den Beratern sind wir für den Sommer ganz gut gerüstet. Das heißt nicht, dass wir nicht überlegen sollten, ob wir noch einen Psychiater einstellen, falls ich einen finde und Sie ihn bezahlen können.«

»Verstehe vollkommen. Ich darf also annehmen, dass Sie im Augenblick nicht unter Zeitdruck stehen? Sie haben ein paar Termine frei?«

Ich widerstand der Versuchung, ein selbstbewusstes Gewiss! zu erwidern, schließlich habe ich auch noch ein Leben außerhalb des Instituts. Dennoch fragte ich: »Denken Sie an ein bestimmtes Projekt?«

»Nein – nicht ich persönlich. Ein Freund von mir kommt morgen mit seiner Tochter vorbei. Ich möchte, dass Sie sich mit ihr unterhalten.«

Ich drehte mich mit dem Sessel und blickte auf den Terminkalender. »Patrizius Limmroth.«

Eine Pause.

»Richtig. Soll das heißen, dass er sich schon mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat?«

»Sozusagen – vermutlich sogar, bevor er mit Ihnen gesprochen hat. Seine Chefsekretärin war heute bei mir.«

»Ja – er hat mich vor ein paar Minuten angerufen. Was haben Sie zu seiner Sekretärin gesagt?«

»Dass das Problem seiner Tochter nicht zu denen gehört, mit denen wir am effektivsten zurechtkommen. Ich weiß nicht, ob sie mir geglaubt hat.«

Eine nachdenkliche Pause bei Dr. Waldeck dauerte gewöhnlich fünf Sekunden; diese dauerte jetzt zehn.

»Nun, Adam, ich will Ihnen etwas sagen. Ich halte es für das einfachste, wenn Sie mit den beiden sprechen und ihnen die Situation selbst erläutern. Herr Limmroth hat für das Institut nämlich schon enorm viel getan und ist in der Lage, noch weitaus mehr zu tun. Ich möchte nicht, dass dies Ihre Entscheidung beeinflusst, ob Sie Fräulein Limmroth als Patientin annehmen...« – Waldeck tat allen Ernstes so, als sei das noch eine offene Frage – »...aber das beste insgesamt gesehen wäre wohl, wenn Sie mit den beiden reden, finden Sie nicht?«

»Sicher. Es ist möglich, dass Limmroth eine vereinfachte Fassung dessen bekommen hat, was ich Fräulein Pfaffenbach mitgeteilt habe – obwohl ich das eigentlich bezweifle –, aber es sollte nicht allzu schwierig sein, das nochmals klarzustellen.«

»Fein. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Dr. Waldeck legte auf, bevor ich mich verabschieden konnte; das gehört so zu den kleinen Dingen, die, oft unbewusst, geschehen, damit man an seine Stellung in der Hierarchie erinnert wird. Waldeck hatte allerdings viel geleistet und zahlreichen Menschen geholfen, um dahin zu gelangen, wo er jetzt war, und wenn mir diese Kleinigkeiten auffielen und sie mich störten, war das mein Problem, nicht das seine.

 

Wie vorausgesehen, war es keineswegs schwierig, die Angelegenheit zu klären. Limmroth hatte entschieden, dass ich seine Tochter als Patientin annehmen würde, und er erschien am nächsten Tag nicht einmal. Er schickte einfach seine Tochter. Als ich ins Büro kam, wartete sie dort bereits.

Sie schüttelte den Kopf ein wenig missbilligend. »Sie sind ja nicht mal pünktlich.« Das war das erste, was sie zu mir sagte.

Ich setzte mich und sah sie an, was mir gar nicht schwerfiel. Sie war etwa einsfünfundfünfzig groß, ihre rund hundert sechzig Kilo waren erfreulich verteilt, sie hatte unglaublich große blaue Augen und langes, glänzendes kastanienbraunes Haar. Alles in allem recht ansehnlich.

»Sie sind Anna Limmroth?«

Sie lächelte, als wäre ich eben durch einen Reifen gesprungen. »Und Sie sind Doktor Adam Golgath. Und Sie können mir nicht helfen.«

»Wer sagt das? Nehmen Sie doch Platz.«

»Sie sagen es, wie man hört. Und ich sage es auch. Stuhl oder Couch?«

»Die Couch, wenn Sie schläfrig sind. Ich brauche sie zu nichts anderem.« Als sie sich mir gegenübersetzte, sagte ich: »Ich weiß, warum ich nicht glaube, dass ich Ihnen helfen kann, jedenfalls soweit ich den Fall kenne. Aber warum glauben Sie nicht, dass ich irgendetwas tun könnte?«

Anna nahm eine halbzerdrückte Zigarettenpackung aus der Handtasche, sah sie stirnrunzelnd an und steckte sie wieder hinein.

»Weil ich erstens gar nicht will, dass mir geholfen wird. Was mir bei diesen Männern zugestoßen ist, war vermutlich nicht sehr angenehm, und ich möchte mich lieber nicht daran erinnern können. Ich fühle mich so, wie es jetzt ist, durchaus wohl.«

»Und zweitens?«

»Zweitens: Wenn mir überhaupt jemand helfen will, dann jemand, der glaubt, dass er etwas erreichen kann, und den man nicht anbetteln muss, mich als Patientin zu nehmen. Folglich... scheiden Sie aus.«

Sie hatte völlig recht, und das erleichterte nichts.

»Wenn wir den zweiten Punkt einmal beiseitelassen«, meinte ich, »weshalb sind Sie überhaupt hier, wenn Sie von dem, was geschehen ist, nichts wissen wollen?«

Anna schüttelte wieder kurz den Kopf. Anscheinend bestand ich die Prüfung, die sie sich ausgedacht hatte, nicht. »Mein Vater sollte heute eigentlich mitkommen. Er hatte jedoch wieder eine seiner Sitzungen, also musste ich allein erscheinen. Wenn Sie Gelegenheit bekämen, ihn kennenzulernen, würden Sie solche Fragen nicht stellen müssen.«

»Die habe ich aber nicht, also frage ich.«

»265.000 Mark.« Anna zog eine verbogene Zigarette aus der Packung in ihrer Handtasche – augenscheinlich hatte sie es sich anders überlegt – und zündete sie an. »So viel musste mein Vater bezahlen, um mich zurückzubekommen. Er meint wohl, wenn ich mich erinnern kann, was geschehen ist, und wie die Männer aussahen, bekommt er vielleicht sein Geld wieder. Der Kommissar glaubt das auch.«

»Der Kommissar?«

»Der Polizeibeamte, der den Fall bearbeitet; er heißt Mosberger, glaube ich. Ich musste mir sogar im Verbrecheralbum Fotos von bekannten Entführern ansehen. Er sagte, das könnte meinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen, aber das funktionierte nicht. Vielleicht hat er zu viele Psychiater-Filme gesehen.«

Ich lachte. »Ja. Es wäre schön, wenn die Dinge immer so einfach wären. An wieviel erinnern Sie sich nun wirklich? Wo beginnt und endet die Leerstelle?«

Anna wollte antworten, klappte den Mund wieder zu und sah mich merkwürdig an, so, als sei mein Gesicht plötzlich blau-grün geworden, und sie versuche herauszubekommen, was der Grund dafür sein mochte. Schließlich sagte sie: »Ich bin Dienstagnacht zu Hause eingeschlafen. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich draußen in Starnberg an einem Steg war. Später erfuhr ich, dass dies am Donnerstagabend gegen acht Uhr war. Ich bettelte einen Dame um zwanzig Pfennig an und telefonierte mit Papa.«

»Insgesamt keine achtundvierzig Stunden«, sagte ich, um zu zeigen, dass ich zugehört hatte. »Und das Ganze hat sich, laut Fräulein Pfaffenbach, vor etwa zwei Wochen abgespielt? Ich kann mich nicht erinnern, in der Zeitung etwas darüber gelesen zu haben.«

»Werden Sie auch nicht. Das ist vermutlich einer der Vorteile, wenn man reich ist. Die Leute fragen einen, bevor sie etwas abdrucken. Außerhalb der Familie wissen nur der Kommissar und sein Vorgesetzter, Fräulein Pfaffenbach und Herr Kreutzmann Bescheid.«

»Und die Entführer. Wer ist Kreutzmann?«

»Ein Geschäftspartner von Papa – früher jedenfalls.« Das Verhör begann sie offenkundig zu langweilen. »Jetzt hat jeder sein eigenes Unternehmen, aber sie sind noch immer miteinander befreundet. Er hat Papa geholfen, das Lösegeld aufzubringen.«

Die verbogene Zigarette zog nicht richtig; aus einem Riss in der Mitte drang Rauch. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und beobachtete sie dann, ganz so, als würde das Ding Pläne hegen, sie noch weiterhin zu ärgern.

»Glauben Sie, der Wunsch, das Geld zurückzuholen, ist der einzige Grund, warum Ihr Vater möchte, dass Sie sich an das Geschehene erinnern?«

Die Frage schien sie zu enttäuschen; anscheinend versagte ich vor ihr auf irgendeine mystische Weise.

»Wie Freud-mäßig von Ihnen, mich ausgerechnet das zu fragen, Doktor. Sagen Sie mir das doch. Ach, es könnte natürlich auch Papas große Achtung vor Gesetz und Ordnung sein, die Schurken müssen der Gerechtigkeit zugeführt werden blablabla, aber es hat einfach den Anschein, dass meine Gefühle nicht so wichtig sind, wenn er die Entführer schnappt und das Geld zurückbekommt. Oh, dabei fällt mir ein, es gibt noch jemanden...«

»Noch jemanden?«

»Noch eine Person, die Bescheid weiß. Sein Name ist Norbert Kiefer, und er ist Privatdetektiv. Er versucht aber nicht, die Entführer zu fangen, sondern nur, das Geld wiederzubeschaffen. Ich begreife aber nicht, wie er das eine ohne das andere erreichen will.«

Das Ganze klang sehr merkwürdig. Es war wie ein Puzzlespiel mit einer ganzen Reihe zusätzlicher Teile, die offenkundig nicht dazugehörten – aber vielleicht eben nur für mich. Ich hatte plötzlich eine Eingebung. Der Grund dafür, dass alles so verwirrend erschien, musste der sein, dass es sich um die Mitte eines Ereignisses handelte und nicht um sein Nachspiel; dieses Gefühl war völlig irrational, aber so stark, dass ich es nicht unterdrücken konnte.

Sie starrte immer noch in den Aschenbecher.

»Und was möchten Sie am liebsten in der ganzen Sache unternehmen?«, fragte ich.

»Spielt das eine Rolle für Sie?«

»Natürlich nicht. Ich frage nur, damit ich Ihnen, wenn Sie antworten, widersprechen kann.«

Sie grinste. »Oh. Na ja, ich möchte...« Sie wies mit einem Nicken auf die Glasschiebetüren zur Terrasse. »Ein schöner Tag. Ich wünsche mir die große Besichtigungstour.«

Ich stand auf. »Nicht die Antwort, die ich mir erhofft habe, aber sie wird wohl für den Moment genügen müssen.«

Als wir hinausgingen, flüsterte sie: »Einen Widerspruch kann ich das wohl nicht nennen. Eher ein Murren.«

Es war einer jener Tage, an denen es Vergnügen machte, im InPerf – wie das Institut von den Beschäftigten genannt wurde – zu arbeiten. Klar und sonnig, und ein leichter Wind aus Richtung der Isar hinderte den Smog von München daran, zu uns heraufzudringen.

Links vom Weg saß Lydia mit einer Gruppe auf dem Rasen.

»Was treiben die denn?«, wollte Anna wissen.

»Doktor Kramer hält eine Meditations-Sitzung ab.«

»Transzendental?«

»Okzidental. Wir geben uns Mühe, Etiketten und Warenzeichen zu meiden, und bleiben bei den Grundlagen. Der Geist als Rohmaterial ist so ziemlich überall gleich, woher er auch kommt.«

Sie warf mir einen seltsamen Seitenblick zu. »Wenn sie meditieren – angenommen, sie haben Angst vor etwas, verschwindet die dann?«

»Kommt darauf an, wovor sie Angst haben. Die meisten Menschen fürchten ihr eigenes inneres Ich mehr als alles andere, und die Meditation zwingt einen oft, sich diesem Ich zu stellen. Es kommt also, wie gesagt, darauf an.«

Wir gingen die schmiedeeiserne Treppe zum Isar-Ufer hinunter, und er lag seltsam verlassen da. Dieser Teil war theoretisch unser Privatbesitz, aber wir waren da nicht so streng.

»Sie reden gar nicht wie ein Psychiater«, meinte Anna unvermittelt.

Ich tastete mich ab. »Muss mein Diplom im Büro vergessen haben«, sagte ich. »Wie redet denn ein Psychiater?«

»Würdevoller, möchte ich sagen.«

»Können Sie überhaupt Vergleiche anstellen?«

Sie bückte sich nach einem Pfennig. Gebückt sagte sie: »Ich gehöre nicht zu den LMU-Studentinnen mit einem Analytiker dreimal in der Woche nach den Vorlesungen.« Versonnen betrachtete sie die Münze. »Hören Sie auf damit...  Hören Sie auf, so verknöchert tun zu wollen, älter zu sein, als Sie sind.«

»Ich bin siebenunddreißig. Außerdem scheine ich mich zu erinnern, dass mich vor wenigen Augenblicken jemand dafür kritisiert hat, weil ich nicht verknöchert genug wirke.«

Sie versuchte, sich schnell aufzurichten, aber sie war zu lange gebückt gewesen, verlor das Gleichgewicht und kippte um. Ich packte ihren Arm mit einer Hand und hob den Pfennig mit der anderen auf.

Als sie wieder stand, gab ich ihr den Münze, und sie sagte: »Danke. Für einen alten Mann haben Sie gute Reflexe.«

»Meine Kraft ist die von tausend – na ja, Sie wissen schon.«

Wir gingen weiter. Merkwürdigerweise hielt sie den Pfennig nun an ihr rechtes Ohr.

»In einer Münze hört man das Rauschen des Flusses nicht«, betonte ich höflich.

Anna nahm sie vom Ohr. »Sie sind kein Romantiker.«

»Oh, das bin ich durchaus, aber nur in Gegenwart ganz bestimmter, ausgewählter Patienten.«

Sie steckte den Pfennig in eine Tasche ihrer Cordhose und tanzte davon, das steinige Ufer entlang.

»Bin ich eine ganz bestimmte, ausgewählte Patientin?«, rief sie.

»Ich weiß noch nicht mal, ob Sie überhaupt eine Patientin sind, Punkt«, rief ich zurück.

Sie blieb plötzlich stehen und funkelte mich an. »Warum nicht? Stimmt was nicht mit mir?«

Da musste ich erst nachdenken. »Die Art, wie Sie Fragen stellen«, erklärte ich, »macht es unmöglich, sie zu beantworten.«

»Also weichen Sie ihnen aus«, stellte sie fest, als ich sie einholte.

»Ich weiche nicht aus. Hören Sie, Anna, ich muss mir vor allem Ihre Krankheitsgeschichte ansehen. Und mit Ihrem Vater muss ich auch sprechen.«     

»Viel Glück. Hoffentlich haben Sie mehr Erfolg als ich. Warum müssen Sie das eigentlich?«

»Hintergrund-Information. Und ich muss ihm erklären, was es bedeutet, wenn Sie meine Patientin werden. Dass Sie beispielsweise bei uns einziehen müssen...«

»Oh, prima. Bei Ihnen?«

»...und dass Ergebnisse eine Weile auf sich warten lassen werden, wenn sie überhaupt kommen; und dass ich für gar nichts garantieren kann, jedenfalls nicht in diesem Stadium.«

»Das wird ein Knüller«, meinte Anna. »Wenn Sie Papa erklären, dass es ihn eine Stange Geld kostet, wieviel hier eben verlangt wird, und dass er dafür vielleicht gar nichts bekommt... das wird ihm gefallen.«

»Er muss die Fakten erfahren. Sie wären ohnehin nicht dabei. Das wird allein zwischen mir und Ihrem Vater ausgetragen.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Die beiden Erwachsenen entscheiden über das Schicksal des Problemkindes? Die beiden Papis? Der richtige Papi, der sich keinen Deut um seine Tochter schert, und der falsche Papi, der...« Sie verstummte, als sie begriff, wohin ihre Worte führten.

»Nein, nichts dergleichen«, sagte ich hastig, »und das wissen Sie auch ganz genau. Das ist rein geschäftlich und hat mit Ihnen so viel zu tun wie der Preis vom Heftpflaster mit einer Schnittwunde.«

Wir gingen zurück zur Treppe.

»Es tut mir leid«, sagte Anna nach einer Pause. »Manchmal verdrehe ich die Dinge.«

»Nur manchmal?« Ich lächelte.

Sie lächelte auch. »Für Sie, Doktor, ganz besonders. Für Sie vielleicht die ganze Zeit.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Als Anna davongefahren war, einen dicken Streifen Michelin-Gummi hinterlassend, ging ich in die Kantine, um mein Leid in einer Leberkässemmel zu ertränken.

Lydia war auch da und winkte mich an ihren Tisch.

»Hallo, Schatz«, sagte sie. Lydia ist nicht für ausgesuchte Förmlichkeit bekannt. »Wer war das Mädchen, mit dem ich dich gesehen hab’?«

»Das war kein Mädchen, sondern meine Patientin – das heißt, sie könnte es werden.«

»Aha«, kicherte Lydia, »Patientin nennt sich das, nicht mehr Studentin. Was ist los? Lässt dein Glanz derart nach, dass du wieder die Kranken heilen musst?«

»Du willst mich ja bloß ärgern.«

»Ich würde das nicht tun, weißt du«, meinte sie. »Denn das hieße doch, in einem Fass auf Fische schießen.« Bevor ich das eindeutig als Beleidigung einstufen konnte, fuhr sie fort: »Ein hübsches Ding ist sie in der Tat.«

»Kann schon sein.«

Diesmal stieß sie einen kleinen Schrei aus und klatschte freudig in die Hände. Es war eine sehr unwürdige Vorstellung, und ein paar Leute drehten sich nach uns um. Ich aß meine Leberkässemmel und versuchte den Eindruck zu erwecken, als sei ich mit der Semmel beschäftigt und nicht mit ihr.

»So, so«, sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube beinahe, ich entdecke doch Anzeichen von Leben in dir.«

»Machst du nicht eine ziemlich große Sache aus etwas, das du zehn Sekunden lang aus dem Augenwinkel heraus gesehen hast?«

»Ah, aber ihr seid wirklich ein schönes Paar gewesen, so Hand in Hand.«

Hatte ich Annas Hand gehalten? Vermutlich – aber der Boden bei der Treppe war schließlich ausgesprochen uneben.

»Bitte, kompliziere mir mein Leben nicht noch mehr, meine Liebe. Ich muss morgen bei ihrem Vater wegen ihrer Therapie vorsprechen, und das wird für die voraussehbare Zukunft kompliziert genug sein.«

Lydia erbarmte sich meiner. »Na gut, dann Schluss mit dem Spielchen. Wie steht es mit ihr?«

»Sieht derzeit nach traumatischer Amnesie aus – aber es gibt ein paar merkwürdige Aspekte in diesem Fall, und deshalb bin ich mir nicht ganz sicher.«

»Na, ich beneide dich nicht, Schatz. Bei solchen Fällen kann man nicht nur nicht sagen, ob man sie geheilt hat oder nicht – man weiß nicht mal genau, ob sie wirklich krank gewesen sind.«

»Nur zu. Heitere mich auf.« Bei derart viel nicht konnte es einem schon mal den Tag verhageln.

 

Ich betreute am Nachmittag wieder die Drogen-Gruppe, und während ich innerlich danebenstand und mein Verhalten beobachtete, konnte ich feststellen, dass etwas nicht ganz stimmte. Ich war zu viel Schiedsrichter und zu wenig Teilnehmer. Soweit ich das beurteilen konnte, bemerkte es sonst keiner.

Aber mir fiel es auf, und das genügte.

 

Am Abend rief ich Dr. Waldeck an.

»Unser Freund Herr Limmroth ist nicht erschienen, aber seine Tochter, und ich habe mit ihr gesprochen. Vor zwei Stunden ist es mir gelungen, den Vater ans Telefon zu bekommen und für morgen einen Termin zu verabreden. In seinem Büro, versteht sich.«

»Haben Sie Fräulein Limmroth klargemacht, warum wir sie nicht als Patientin annehmen können?«, fragte Waldeck.

Es war eine völlig vernünftige Frage, und ich ärgerte mich darüber, dass ich keine schnelle Antwort parat hatte.

»Nicht direkt, Herr Kollege. Ich habe das Problem mit ihr besprochen, und es gibt noch immer ein paar Fragen, die ich zu klären habe, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffen kann. Vielleicht trägt das Gespräch mit Herrn Limmroth dazu bei.«

Waldeck brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen, und ich musste zugeben, dass ich selbst ein bisschen unsicher war. Es war so, als wiederholten wir das Gespräch vom vergangenen Abend mit vertauschten Rollen.

»Hm! Ja. Nun gut. Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«

»Gewiss.«

»Eines noch, Doktor. Bedenken Sie Herrn Limmroths – nun ja – Stellung im Hinblick auf das Institut. Soviel ich höre, ist zeitweise nicht gut Kirschen mit ihm zu essen. Sie werden einsehen, dass hier vielleicht mehr als das übliche Maß an Diplomatie und Nachsicht gefordert sein kann.«

»Ich verstehe. Ich glaube nicht, dass es diesbezüglich ernste Probleme geben wird.«

Das schien Waldeck zufriedenzustellen. Ich hielt es nicht für nötig  hinzuzufügen, dass es meiner Meinung nach nur dann ein Problem geben würde, wenn ich es ablehnte, Anna Limmroth als Patientin anzunehmen, und dass ich nicht ablehnen werde. Ich wusste selbst nicht genau, wann ich diesen Entschluss gefasst hatte. Vielleicht während dieses Telefongespräches.

Vielleicht auch schon, als sie zur Tür hereingekommen war.

 

Die Solitronik GmbH umfasste die obersten drei Stockwerke eines der neueren Gebäude

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx (Model: Anna Borkowska).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0226-8

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