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Leseprobe

 

 

 

 

ELVIRA HENNING

 

 

Blutiger Mokassin

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Der Romankiosk

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

BLUTIGER MOKASSIN 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Es ist nur eine Kuh, gefunden in einem Gebüsch von dem Knaben Bärenkind, durch die es zwischen den Lakota-Kriegern und den Soldaten der US-Armee zu einer Schlacht kommt.

Diese Schlacht endet in einem entsetzlichen Massaker.

Bärenkind wird mit einer Gruppe Frauen gefangen genommen, doch seine Mutter verhilft ihm zur Flucht.

Geprägt von einem unbändigen Hass auf die Weißen wächst er zum Krieger heran und kämpft schließlich unter dem Befehl des Lakota-Häuptlings Crazy Horse.

Als das Cheyenne-Mädchen Weiße Feder sein Herz berührt, beginnt er zu verstehen, dass der Hass ihn letztlich zerstören wird. So beschreitet er neue Wege, die ihn lehren, dass auch ein weißer Mann ein Freund sein kann...

 

Mit dem Roman Blutiger Mokassin legt Elvira Henning - nach ihrem Debüt Tawamaya 1: Hermon - bereits ihren zweiten spannenden und mitreißenden historischen Roman vor.

  BLUTIGER MOKASSIN

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

1854: Die Kuh

 

 

Der Pfeil, den Bärenkind abschoss, verfehlte das Ziel.

»Du musst die Hände ruhig halten und den Bogen etwas höher! Aber für heute ist es genug, wir gehen zurück ins Dorf«, sagte sein Vater. Bärenkind war enttäuscht. Er war so sicher gewesen, dass er es heute schaffen würde.

Sein Vater, ein drahtiger Miniconjou Krieger, sah ihm die Enttäuschung an, und er tröstete ihn: »Du musst Geduld haben, mein Sohn, du wirst es lernen.«

Bärenkind zählte sieben Winter. Es war sein erster Bogen. Der Vater hatte ihn geschnitzt, und er war voller Freude darüber gewesen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, ein Ziel, das weiter als nur wenige Schritte entfernt war, damit zu treffen.

Er sammelte die verschossenen Pfeile ein und schob sie in den Köcher, den seine Mutter für ihn verziert hatte, dabei wischte er sich heimlich eine Träne weg.

Obwohl sein Vater, High Forehead sich so liebevoll um seinen Sohn kümmerte, dass er dafür schon etwas belächelt wurde, war Bärenkind kein glücklicher Junge. Als einziges Kind hatte er keine großen Brüder als Vorbilder und Beschützer. Er war dünn und klein für sein Alter. Bei den wilden Spielen und Ringkämpfen mit seinen Altersgenossen blieb er stets auf der Strecke. Nur bei den Wettläufen war er bei den ersten.

Bärenkind war nicht stark, aber schnell, und auch auf dem Pferderücken saß er schon gut.

Die Mutter hatte ihn gelehrt: »Sei freundlich zu deinem Pferd, schlage es niemals, sprich mit ihm oder singe ihm vor. Dann werdet ihr euch verstehen.«

Seine Mutter, Roter Sonnenhut, war eine Cheyenne.

Die meiste Zeit hatte Bärenkind mit seinen Eltern im Dorf seiner Mutter verbracht. Auf diese Weise hatte er beide Sprachen, die der Cheyenne und die der Lakota zu verstehen gelernt.

High Forehead war mit einer kleinen Jagdgruppe Lakota Krieger losgezogen, hatte jedoch Frau und Kind mitgenommen, um weiter zu reisen zum Fort Laramie, in der Hoffnung, die jährliche Zuwendung der Regierung der Weißen zu bekommen, die sie den Lakota für den Siedlertrail durch ihre Jagdgründe zugestand.

Außerdem hatte er ein paar Felle gegen Wintervorräte getauscht. Frau und Kind waren jedoch nicht mit ihm im Fort gewesen. Bärenkind hatte die Wasicu, die weißen Männer mit den blauen Jacken nur von weitem gesehen. Er war neugierig, aber er hatte auch Angst. Er wusste von ihnen nur das, was die Männer im Dorf über sie sprachen. Die Wasicu waren anders. Bärenkind bemerkte, dass die Männer, wenn sie über die Blaujacken sprachen, wütend oder besorgt waren.

Dann waren sie weitergereist in Richtung der aufgehenden Sonne zu einem Dorf der Brule` Lakota, wo zwei Schwestern von Roter Sonnenhut mit ihren Ehemännern lebte.

»Komm, Sohn, trödle nicht«, ermahnte sein Vater ihn.

Bärenkind versuchte mit den langen Beinen High Foreheads Schritt zu halten, dabei strichen seine Finger über das glatte Eschenholz seines Bogens.

Plötzlich blieb er stehen: »Vater, da zwischen den Büschen steht eine Kuh.«

»Wirklich, da steht eine Kuh!«, High Forehead sah sich suchend um, aber nirgends waren ein Mensch oder ein Lager zu sehen, wohin das Tier gehören konnte.

»Komm, wir holen die Kuh, bevor sie von Wölfen oder Coyoten gerissen wird.«

Das Tier lief nicht weg. Es war kein Prachtexemplar, hatte nicht viel Fleisch auf den Knochen, trotzdem würde es satt machen. High Forehead begutachtete die Kuh.

»Ich glaube, sie ist krank, deshalb hat sie wohl ihre Herde verloren, also nehmen wir sie mit.«

Bärenkind brach einen Weidenzweig ab und trieb die Kuh vor sich her, die unwillig dahintrottete. Als sie ins Dorf kamen, liefen Frauen ihnen entgegen, Roter Sonnenhut und ihre Schwestern waren dabei.

»Das ist doch die Kuh, die vorhin quer durchs Dorf gerannt ist und Kochgestellen und sogar ein Tipi umgerissen hat«, bemerkte Roter Sonnenhut, »sie ist einem vorbeifahrenden Treck davongelaufen. Die Leute haben es gesehen, aber niemand ist gekommen, um sie zu holen. Wir haben nicht gewagt, sie zu behalten, und so ist sie weitergelaufen.«

»Unser Sohn hat sie gefunden«, erklärte High Forehead, »da die Weißen sie nicht zurückgeholt haben, werden wir sie behalten.«

»Gut, dann schlachten wir sie«, entschied Roter Sonnenhut.

Die Frauen führten die Kuh weg. Bärenkind war stolz auf seine Beute. Eins der Mädchen seiner Tanten ergriff seine Hand: »Komm spielen!«

Aber er riss sich los und rannte zum Tipi seiner Familie, um den Bogen weg zu bringen. Er wollte nicht mit den Mädchen spielen.

Die Frauen schlachteten die Kuh und beeilten sich, sie zu zerlegen. Sie war mager und gab nicht allzu viel her. Das Fleisch wurde mit Rüben und spärlichen Gewürzen gekocht und an die Dorfbewohner verteilt, um den ärgsten Hunger zu stillen, denn die Zuteilungen von der Regierung ließen noch immer auf sich warten.

Während der Mahlzeit war es ruhig. Danach setzte Conquering Bear, den die Soldaten zum Oberhäuptling und Verantwortlichen für die Dörfer um das Fort bestimmt hatten, sich mit dem Rat der Ältesten zusammen. Seine Stirn lag in Sorgenfalten.

»Ich frage mich, wie die Soldaten reagieren werden, wenn sie erfahren, dass wir eine Kuh der Siedler genommen haben.«

Einer war der Meinung: »Sie haben doch gesehen, wie die Kuh weglief und hätten sie zurückholen können. Sie haben es nicht getan und sind weitergefahren.«

Conquering Bear wiegte sein Haupt: »Ich kenne die Weißen. Sie sind geizig! Wenn es nun Ärger gibt wegen dieser Kuh, dann werden sie mich verantwortlich machen.«

Sie diskutierten noch eine Weile, wie man sich verhalten sollte. Die Meinungen gingen auseinander.

Conquering Bear ließ sich nicht beruhigen. Zur Sicherheit schickte er zwei Boten nach Norden in ein Dorf der Oglala Lakota zu Häuptling Crazy Horse, und bat ihn um Unterstützung, falls es zu einer Auseinandersetzung mit den Soldaten kommen sollte.

Crazy Horse, der Conquering Bear kannte und mochte, machte sich sofort mit seinen Leuten auf den Weg. Sie erreichten das Dorf noch in der Nacht, und sie schlugen ihr Lager in einer nahen Buschgruppe auf.

 

Als der Morgen graute, schlüpfte Bärenkind aus dem Tipi und rannte über den Platz zu den Pferden, da entdeckte er zwischen den Büschen das Lager, das dort gestern noch nicht gewesen war. Neugierig schlich er sich näher heran und sah, wie mehrere Jungen die Pferde zum Tränken an den Fluss brachten. Der älteste von ihnen mochte dreizehn oder vierzehn Winter zählen.

Bärenkind beobachtete sie. Eine Weile standen sie nur bei den Pferden herum, dann begannen sie herumzuspringen, zu lachen und zu spielen. Schließlich rannten sie am Ufer entlang und sprangen ins flache Wasser. Der jüngste unter ihnen mochte so alt wie er selbst sein.

Bärenkind wagte sich hinter dem Busch hervor, der ihn vor Blicken verborgen hatten.

Der älteste der Jungen, der noch immer bei den Pferden stand, drehte sich zu ihm um: »Hau, kleiner Krieger!« Er lachte, und dann lachte Bärenkind auch und wagte sich näher.

»Kommst du aus dem Dorf von Conquering Bear?«

»Ja, aber wir sind dort nur Gäste bei meinen Tanten. Meine Mutter ist eine Cheyenne, mein Vater ein Miniconjou Lakota.«

»Wie heißt du?«

»Bärenkind.«

»Mein Name ist Can Oha – Unter Den Bäumen.«

Er rief einem der Jungen zu: »Geh nicht so weit ins Wasser! – Das sind meine Brüder, ich muss auf sie aufpassen.«

»Ich hab keine Brüder. Ich hätte gerne welche.«

»Du kannst mit ihnen spielen. Lauf zum Fluss.«

Bärenkind trödelte zu den Jungen hinunter und sah ihnen zu, wie sie sich gegenseitig nass spritzten. Dann half er ihnen, die Pferde zum Lager zurück zu treiben und sah sich neugierig um. »Seid ihr Oglala?«

»Das hast du richtig erkannt«, bestätigte Unter Den Bäumen, »es ist das Lager von Tasunke Witko – Crazy Horse, meinem Vater.«

Bärenkind wusste, dass Crazy Horse ein angesehener Häuptling war.

Er blieb noch eine Weile und spielte mit den kleineren Jungen. Sie tobten auf einem Hügel herum. Dann setzten sie sich auf die sattellosen Pferde, jagten um den Hügel und versuchten sich mit Stöcken abzuschlagen, um Coups zu gewinnen. Dabei schrien und johlten sie.

Auch Unter Den Bäumen machte mit, um sie im Auge zu behalten.

Es wurde eine wilde Schlacht und Bärenkind hielt sich gut. Es machte ihm Spaß.

Plötzlich hielt Unter Den Bäumen inne und sah hinüber zum Tipi-Dorf. Eine Gruppe Soldaten, er schätzte sie auf dreimal zehn, und ein Wagen mit zwei Eisenrohren rollten auf das Dorf zu. Dort entstand Unruhe, Menschen rannten aufgeregt herum. Auch Bärenkind hatte es gesehen. Er sprang vom Pferd.

»Halt! Bleib hier!«, schrie Unter Den Bäumen, aber Bärenkind hörte nicht und rannte los. Er erreichte das Dorf von der anderen Seite vor den Soldaten, die dabei waren, die Kanonen auf das Dorf auszurichten.

»Holt eure Waffen!«, schrie einer der jungen Männer. Bärenkind sah seinen Vater auf dem Dorfplatz und wollte zu ihm laufen. Aber Roter Sonnenhut stand vor dem Tipi und fing ihn ab. »Du bleibst hier, Sohn! Komm!«, sie schob ihn ins Tipi. Er blieb am Eingang, wollte wissen, was draußen vorging.

Da trat Conquering Bear in die Dorfmitte. Er hatte die besten Jahre hinter sich und sein Haar war blass geworden, aber er war weise und bedächtig.

»Hiya – nein!«, rief er, »bleibt ruhig! Es sind sicher Soldaten aus dem Fort. Wir leben in Frieden mit ihnen. Ich werde mit ihnen reden.«

Die Soldaten trieben die Pferde ins Dorf. Conquering Bear ging ihnen entgegen, eine würdevolle Erscheinung. Er begrüßte die Soldaten mit einer Handbewegung.

Der junge Kommandant, der vorausritt, räusperte sich. Er war bleich, was der schmale, schwarze Schnurrbart noch unterstrich. Er wirkte verspannt. Seine Stimme war zu hoch, als er sprach: »Ich bin Leutnant John Grattan und komme im Auftrag des Kommandanten von Fort Laramie, Leutnant Fleming!«

Einer der Männer trieb sein Pferd neben Grattan und übersetzte den Text. Conquering Bear zog die Brauen ein wenig hoch. Dieser Mann war ihm bekannt, ein übler Trunkenbold, und er erschien ihm auch jetzt nicht nüchtern.

»Ich verstehe dich, Leutnant«, antwortete Conquering Bear auf Englisch, »was willst du von uns? Was soll das?« Er wies auf die Kanonen. »Ich bin Häuptling Mato Wayuhi.« Er nannte den Namen in seiner Sprache.

»Der Führer eines Mormonentrecks hat gemeldet, dass ein Mann aus deinem Dorf dem Treck eine Kuh gestohlen hat. Ich bin gekommen, den Mann zu verhaften.«

Der Dolmetscher übersetzte trotzdem. Conquering Bear wiegte sein Haupt: »Niemand von unserem Dorf hat eine Kuh gestohlen. Wenn die Treckleute nicht auf ihre Tiere aufpassen, sie fortlaufen lassen, und sie nicht zurückholen, gehören sie niemand mehr.«

Der Häuptling sprach ruhig und freundlich. »Unsere Leute sind hungrig. Sie haben die Lebensmittel, die ihnen zustehen, noch immer nicht bekommen. Ehe ein Wolf Gelegenheit hatte, sie zu reißen, haben wir sie genommen.«

»Wo ist die Kuh?«, fragte Grattan in arrogantem Ton.

»Wir haben sie gegessen. Was würdest du tun, Leutnant, wenn deine Familie Hunger hat, und du findest in der Wildnis eine Kuh?«

»Die Kuh ist gestohlen! Also wer ist der Dieb?«

Der Dolmetscher übersetzte und er nannte den Dieb einen feigen Hund, und nahm es mit der Übersetzung nicht sehr genau.

Bärenkind, der alles gehört hatte, sprang auf: »Ich muss ihnen sagen, dass ich es war! Ich hab die Kuh gefunden. Sie dürfen meinen Vater nicht mitnehmen!«

Er wollte aus dem Zelt laufen, aber seine Mutter hielt ihn fest: »Du bleibst hier! Der Häuptling wird das regeln!«

»Ich gebe dir als Ersatz für die Kuh ein Pferd«, bot Conquering Bear an.

»Ich will den Dieb«, beharrte der Leutnant, »das ist die letzte Aufforderung!«

Der Häuptling schüttelte ungläubig den Kopf und dann lachte er: »Sei nicht albern, Leutnant. Am besten schickst du mir einen Mann mit Verstand in seinem Kopf, dann werde ich das mit ihm klären.«

Der Dolmetscher beschimpfte ihn mit hässlichen Worten, aber Conquering Bear beachtete ihn nicht. Er drehte sich um und ging.

Leutnant Grattan lief rot an vor Wut und machte seinen Männern eine auffordernde Geste, doch die wussten nicht recht, was er von ihnen wollte. Ein paar trieben die Pferde voran. In der Truppe entstand Unruhe. Und dann geschah etwas Ungeheures. Leutnant Grattan zog den Revolver, zielte und drückte ab.

Als der Schuss krachte, blieb Conquering Bear stehen. Dann brach er in die Knie und fiel aufs Gesicht. Grattan hatte ihn in den Rücken geschossen.

 

Einen Moment lang herrschte Totenstille. Dann schrie eine Frau, und im Dorf brach die Hölle los. Ein Hagel von Pfeilen sirrte durch die Luft. Mehrere bohrten sich in Grattans Brust. Er riss den Mund auf, dann fiel er vom Pferd. Von allen Seiten stürzten die Krieger sich nun auf die Soldaten, die ihre Revolver herausrissen und versuchten, sich zu verteidigen.

Schüsse fielen und die Kanonen krachten. Die Krieger fielen mit Kampfbeilen, Keulen und Messern über sie her. Die Soldaten versuchten zu fliehen, aber sie waren eingekesselt, auf einer Seite von den Männern des Dorfes, auf der anderen Seite hinter Wildkirschen und Büschen erwartete Crazy Horse sie mit seinen Kriegern, denn sein Sohn hatte alles vom Hügel aus gesehen und ihn alarmiert. Es gab keinen Ausweg!

Unter Den Bäumen hatte nach seinem Bogen gegriffen. Er sprang aufs Pferd, ließ die kleinen Jungen zurück und wollte sich in den Kampf stürzen. Doch sein Vater erwischte ihn und schickte ihn zurück zu seinen Brüdern.

Der Dorfplatz war ein Schlachtfeld. Die Pferde suchten ihr Heil in der Flucht, die Soldaten lagen in ihrem Blut am Boden. Ihre Skalps hingen an den Gürteln der Krieger.

Die Frauen hatten den schwer verletzten Conquering Bear in sein Tipi gebracht, dann plünderten sie die Leichen der Soldaten aus. Die Männer nahmen ihre Waffen.

Nur einem einzigen Soldaten war es gelungen, sich schwer verletzt in einem Gestrüpp zu verkriechen. Er wartete bis es dunkel wurde, dann ergriff er die Flucht. Es gelang ihm, ein geflohenes Pferd zu erwischen. Sich mühsam im Sattel haltend schlug er den Weg zum Fort Laramie ein.

 

Bärenkind stand vor dem Tipi und starrte auf das Schlachtfest. Die größeren Jungen liefen zwischen den Leichen herum und durchsuchten ihre Jacken nach Sachen, die die Frauen nicht genommen hatten.

Er wollte auch etwas haben! Dann sah er den Mann, der mit durchgeschnittener Kehle auf der Seite lag. Etwas war aus seiner Hosentasche gefallen. Bärenkind wusste nicht genau, was es war. Karten aus Papier mit bunten Bildern. Er ging näher, bückte sich, hob blitzschnell eine auf und rannte damit davon, zurück ins Tipi seiner Tanten. Er wollte das da draußen nicht mehr sehen, das Schreckliche. Er hockte sich in eine Ecke und betrachtete die Karte. Auf einer Seite hatte sie ein blaues Muster, auf der anderen waren schwarze Zeichen. Er schob sie in seinen Lendenschurz und starrte den blutigen Mokassin an seinem Fuß an. Er fror, obwohl die Luft heiß war. Seine Nase lief. Er wollte die Tränen nicht. Ein Krieger weint nicht.

 

Der Infanterist John Cuddy schaffte es nur mühsam, sich im Sattel zu halten, und er kam schlecht voran, denn auch das Pferd war verletzt. Bis Fort Laramie würde er es nicht schaffen. Doch es gab in der Nähe einen Handelsposten, den konnte er mit etwas Glück erreichen.

Der Vollmond schien, so erkannte er wenigstens den Weg. John hörte einen Schrei. Waren sie hinter ihm her? Nein, es war wohl nur ein Coyote.

Das Pferd stolperte. Es konnte nicht mehr weit sein. Dann sah er das Licht.

»Komm, Alter, das schaffst du noch«, redete er dem Pferd gut zu. Die Stute wankte noch ein Stück vorwärts, dann brach sie zusammen. John Cuddy stürzte aus dem Sattel, aber er raffte sich wieder auf, biss die Zähne zusammen und kam auf die Beine.

Als der Handelsposten nur noch einen Steinwurf weit entfernt war, begann er zu schreien: »Hallo! – Hilfe ! – James! – James Bordeaux! – Hilfe!«

Eine Tür der Blockhütte flog auf. Ein Mann mit wilder Haarmähne und einer Flinte in Anschlag trat heraus: »Ist da jemand?«

»Hier, James – hier!« John lag auf den Knien. Dann war der Mann bei ihm.

 »John, bist du das? Um Gotteswillen, was ist passiert?«

»Indianer!«, keuchte John, aber das hatte James anhand der abgebrochenen Pfeile, die aus Johns Körper ragten, schon erkannt. Er rief noch zwei Männer heraus, und sie trugen den verletzten Soldaten erst einmal in die Hütte, gaben ihm Wasser zu trinken und eine ordentliche Portion Whiskey. Dann fragte James: »Also was ist geschehen?«

»Die Indianer – aus dem Dorf der Brule’ – sie haben alle umgebracht. Wir waren neunundzwanzig.«

»Oh Gott! Aber warum? Die waren doch friedlich.«

»Unser Kommandant hat ausgerechnet dieses impertinente Greenhorn Grattan ins Dorf der Brule’ geschickt, wegen einer Kuh – einer lächerlichen Kuh, die dem Mormonen-Treck, der hier durchgezogen ist, weggelaufen sein muss. Dieser Idiot, frisch von Westpoint, bildete sich ein, dass er sich profilieren muss. Hat den Befehlshaber rausgehängt und sich mit dem Häuptling angelegt. Ihr kennt ja Conquering Bear. Der hat ihn gar nicht ernst genommen. Er hat für die Kuh sogar ein Pferd angeboten. Aber Grattan wollte den Dieb.

Der Häuptling hat ihn ausgelacht, ihn praktisch einen Schwachkopf genannt, dann hat er sich umgedreht und ist gegangen. Da hat Grattan ihn in den Rücken geschossen. Und dann war der Teufel los. Ich habe mich in einem Gebüsch versteckt, bis es dämmerte. Außer mir hat keiner überlebt. Und alles wegen einer Kuh! In Grattans Brust haben wohl zwanzig Pfeile gesteckt. Unter den Männern war auch mein jüngerer Bruder. Sie haben ihn skalpiert.«

Und dann weinte er. Die Männer entfernten die Pfeile und verbanden die Wunden. Dann fragte James: »Was machen wir jetzt mit dir?«

»Bringt mich nach Fort Laramie. Ich muss das melden.«

James wandte sich an seinen Schwager Swift Bear, der still in einer Ecke saß und alles gehört hatte. »Kannst du ihn ins Fort bringen, unbemerkt vorbei an den indianischen Wachen.«

»Ja. Aber wir müssen gleich reiten, die Dunkelheit nutzen«, entgegnete Swift Bear.

Er suchte einen kräftigen Wallach aus. Die Männer hoben John hinter Swift Bear aufs Pferd und sie machten sich auf den Weg.

Sie schafften es noch, in der Dunkelheit unbemerkt ins Fort zu kommen. Der Kommandant, Leutnant Hugh Fleming schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als er hörte, was geschehen war.

John Cuddy starb im Morgengrauen.

Wenige Tage später starb im Dorf der Brule’ auch Häuptling Conquering Bear.

Danach brachen sie ihr Lager am Shell River ab und zogen weiter nach Osten.

 

Nachdem sie den schlammigen, verzweigten Shell River, den die Weißen Platte River nannten, mühsam überquert hatten, entschied Wakinyan Cikata – Little Thunder, der nun Häuptling der Brule’ war, an einem Ort Namens Ash Hollow, nahe an einem kleinen Flusslauf das Lager aufzubauen.

High Forehead hatte darüber nachgedacht, die Brule’ zu verlassen und nach Norden zu gehen, um nach dem Miniconjou Dorf seiner Familie zu suchen. Aber sie würden viele Wochen unterwegs sein, und der Winter stand vor der Tür. Es war besser hier in der Dorfgemeinschaft zu bleiben, wenigstens bis der Frühling kam.

Bärenkind, der aufpassen musste, dass die Pferde nicht auseinanderliefen, trat von einem Bein auf das andere, denn seine Füße waren eisig kalt. Die Mokassins waren zu klein und völlig zerrissen, und an einem klebte noch immer das Blut dieses schrecklichen Tages. Er konnte sie nicht mehr tragen. Die neuen hatte seine Mutter noch nicht fertig genäht.

Während er hüpfte und die Füße abwechselnd am Leder seiner Leggins rieb, sah er den Frauen dabei zu, wie sie die Tipis aufrichteten. Die Dreibeingestelle aus starken Stangen, die oben zusammengebunden wurden, waren schon aufgestellt. Nun wurden die restlichen Stangen eingefügt. Einige Frauen waren schon dabei, den Tipi-Überzug aus zusammen-genähten Büffelhäuten auseinanderzufalten.

Bärenkind staunte jedes Mal darüber, wie geschickt sie den schweren Überzug mit Hilfe zweier Hebestangen über das Gestell legten und so gut befestigten, von innen und außen, dass auch ein Sturm ihm so schnell nichts anhaben konnte.

Die größeren Mädchen mussten kräftig mit zupacken und die Tipis einrichten. Für den Winter wurden sie dick mit Fellen ausgelegt.

Auf dem Dorfplatz zündeten die Männer ein Feuer an und setzten sich in eine große Runde.

Etwas abseits rauften ein paar große Jungen. Bärenkind dachte an Unter Den Bäumen. Nach dem schrecklichen Tag hatte er ihn nicht mehr gesehen. Er hoffte, dass die Blaujacken ihn nicht erwischt hatten.

Die Stimmung im Dorf war bedrückt, denn die Menschen trauerten um Conquering Bear.

Auch Bärenkind war traurig. Er musste immer daran denken, dass er es war, der diese verflixte Kuh gefunden hatte.

Inzwischen hatte er das Bogenschießen besser gelernt. Sein Vater lobte ihn. Und er war ein Stück gewachsen.

Die Tipis waren aufgestellt. Die Frauen begannen die Mahlzeit vorzubereiten. In das Dorf kehrte Ruhe ein. Auch die Pferde waren nicht mehr so unruhig. Er konnte sie jetzt alleine lassen und sich die Füße am Feuer wärmen.

Die Nächte waren schon bitterkalt. Im Tipi ging das Feuer nicht aus. Die ältere Schwester von Roter Sonnenhut verteilte das Essen. Bärenkind setzte sich neben den Vater und löffelte den guten, heißen Eintopf.

Nach der Mahlzeit nahm seine Mutter beim Licht des Feuers ihre Näharbeit wieder auf, während die Männer leise redeten, mit Worten und mit der Zeichensprache der Hände.

Roter Sonnenhut beendete die Arbeit vor dem Schlafengehen. Bärenkind durfte die neuen Mokassins anprobieren. Es waren gute Winterschuhe mit festen Rohledersohlen und warmem Fell, das bis zu den Knöcheln reichte. Er strich über das weiche Leder und war glücklich. Jetzt hatte er wieder Schuhe ohne Blutflecke, die wie eine Schuld an ihm klebten, wunderbare, warme Schuhe. Er brauchte den Winter nicht mehr zu fürchten.

Doch bevor Eis und Schnee die große Stille bringen würden, wollten die Männer noch einmal auf Büffeljagd gehen, um die knappen Wintervorräte aufzubessern. In den kommenden Tagen bereiteten sich die Jäger mit Ritualen vor, die ihnen bei der Jagd Glück bringen sollten.

Einige der größeren Kinder durften mitkommen.

Bärenkind half beim Satteln und Packen. Doch als sie mit viel Lärm losritten, musste er zurückbleiben, und stand traurig bei den Frauen und Kindern, die den Männern nachschauten. Sie würden lange fortbleiben, denn sie trafen sich zur großen Büffeljagd zum Ende des Jahres mit anderen Lakotagruppen, um in der großen Gemeinschaft zu reiten. Zu diesem Ereignis sammelten sich ganze Dörfer, aber Little Thunder wollte den guten Lagerplatz nicht aufgeben. Der Weg zum Treffpunkt war weit. Protestiert hatten nur die Männer, die zurückbleiben mussten, um das Dorf zu schützen.

 

Der Winter wurde lang und hart, aber die Männer waren nach Wochen mit reichlicher Beute zurückgekehrt.

Der Schnee lag hoch und die Tage waren kurz. Bei Tageslicht spielten die Kinder meist draußen im Schnee. Die großen Jungen wurden zum Flussufer geschickt, um nach Brennholz zu suchen, was bei diesem Wetter nicht einfach war.

Von der Jagd hatten die Männer Büffelchips mitgebracht, aber sie taugten nur zum Kochen, denn sie erzeugten keine Flammen, die das Tipi erleuchteten.

Die Frauen teilten den Vorrat an Brennholz sorgfältig ein. Das frisch gesammelte Holz musste getrocknet werden.

Bärenkind hatte großen Spaß an den Balgereien draußen im Schnee. Er war stärker geworden, war nicht mehr der ewig unterlegene, und das hatte seinen Ehrgeiz geweckt. Manchmal trieb er sein Pferd durch den hohen Schnee. Er ritt stets ohne Sattel, seit dem er gelernt hatte, einfach auf den Rücken der zierlichen Stute zu springen. Sein Zügel bestand nur aus einer Lederschlinge, die er durch die Gebisslücke der Stute legte. Eine Peitsche benutzte er nie. Seine Stute gehorchte. Wenn sie aber auf der hart gefrorenen Erde ausrutschte, und Bärenkind kopfüber im Schnee landete, wischte er sich das Gesicht ab, blies Schnee aus Mund und Nase und lachte.

Am meisten aber liebte er die Abende im warmen Tipi in großer Runde zwischen Fellen und Menschen, wenn Geschichten erzählt wurden.

Manchmal kam Taumelnde Krähe, der Schwiegervater einer seiner Tanten ins Tipi. Er war ein alter Mann, der viele Winter gesehen hatte. Nach einer gemeinsamen Mahlzeit zündete er seine Pfeife an. Dann wurde es still im Tipi.

Alle blickten auf den alten Mann, der nun völlig in sich versunken schien. Bärenkind mochte den Geruch des Kinnikinniks, Tabak mit aromatischen Kräutern, der sich im Tipi verbreitete.

Sein Vater hatte ihm erklärt, dass das Rauchen der Pfeife ein wichtiges Ritual war, mit dem ein wichtiges Gespräch, eine Handlung oder der Abschluss eines Vertrags eingeleitet wurde.

»Ist es wichtig, wenn der alte Mann von früher erzählt«, hatte Bärenkind gefragt und sein Vater hatte geantwortet: »Ja, es ist wichtig, dass er sein Wissen an die Jungen weitergibt, also hör ihm immer gut zu.«

Das tat Bärenkind.

Wenn Taumelnde Krähe die Pfeife zur Seite legte, begann er zu erzählen. Dann wanderte der Blick seiner fast blinden Augen in die Ferne und sein Geist versank in der Vergangenheit. Alle lauschten, wenn er zu reden begann.

»Es war eine Nacht vor vielen Wintern. Die Jungen unter uns waren noch nicht geboren. Eine kalte Frostnacht. Es war der Waniyetu Wi – der Wintermond. Ich war noch ein Krieger, der fest im Sattel saß und dessen Pfeile sein Ziel nie verfehlten. Wir kamen spät von der Jagd zurück, hatten ein Rudel Antilopen verfolgt. Aber im hohen Schnee waren diese Tiere unseren Pferden überlegen und sie sind uns entwischt. Als wir in der Ferne unser Dorf sahen, war es längst dunkel.

Und dann – plötzlich geschah das Unglaubliche, das Unfassbare, das Unbegreifliche!

Wir standen wie erstarrt. Kein Pferd machte mehr einen Schritt. Wir waren voll Entsetzen.

Die Sterne fielen vom Himmel. Sie rasten durch die Dunkelheit. Schockiert starrten wir zum Himmel, erwarteten, erschlagen zu werden. Erwarteten, dass unser Dorf in Flammen aufgehen würde. Aber es geschah nicht! Die Sterne verloschen, verschwanden einfach in der Nacht. Dann war es vorbei. Die Nacht war rabenschwarz. Wir jagten ins Dorf.

Die Menschen waren außer sich. Niemand verstand, was geschehen war. Auch die weisen Männer konnten nicht sagen, ob es eine Botschaft war, oder eine Mahnung. Was wollte das Große Geheimnis uns sagen?

In den folgenden Tagen wurden unzählige Zeremonien abgehalten. Doch als es Nacht wurde, standen alle Sterne wieder am Himmel.«

»Ist das wirklich passiert?«, fragte eines der größeren Mädchen. Roter Sonnenhuts ältere Schwester nickte: »Ja, ich habe es auch gesehen, ich war noch ein kleines Mädchen. Alle haben es gesehen, in allen Dörfern. Die Menschen sprachen noch lange von dieser Nacht, in der die Sterne vom Himmel fielen.«

Diese Geschichte beschäftigte Bärenkind lange. Aber es gab auch Abende, da erzählte Taumelnde Krähe von der Zeit, bevor die Wasicu – die Weißen ins Land kamen und alles anders wurde.

Manchmal gab es auch Zeit, in der Bärenkind mit seinem Vater allein war. Dann erzählte er seinem Sohn, was er über sein Volk wissen sollte, von den Teton Lakota, die sich selbst Oketi Sakowin nannten – die Sieben Ratsfeuer. Bärenkind kannte die sieben Gruppen der Teton. Die Miniconjou waren die wildesten und die gefürchtetsten Krieger unter ihnen, wurde erzählt. Selbst nannten sie sich Minik Owozu – sie Pflanzen am Wasser.

Bärenkind lernte viel in diesem Winter. Sein Vater lehrte ihn, was im Leben eines Lakota wichtig war.

»Wenn du ein Mann bist, musst du Verantwortung für deine Familie und deine Verwandten tragen, für sie sorgen und großzügig sein. Geiz ist eine hässliche Eigenschaft.

Du sollst tapfer und mutig sein und Respekt und Anerkennung für andere Menschen haben. Und du sollst nach Weisheit streben. Sie ist wie die Sonne, die uns hilft, in der Dämmerung die Wirklichkeit zu erkennen.«

Bärenkind war nicht sicher, ob er all das verstanden hatte. Aber der Winter war noch lange. Er hatte noch viel Zeit, über alles, was er an den langen Abenden gehört hatte, nachzudenken. An den schrecklichen Tag im Samen reifen Mond – dem August dachte er nur noch selten.

 

 

 

September 1855: Piksieben 

 

 

Immer wieder hatte Bärenkind seinen Vater gefragt: »Wann gehen wir nach Hause in unser Dorf?« Er wollte seine Freunde wiedersehen, und seine Großmutter, die er sehr liebte.

Im Winter hatte der Vater gesagt, sie würden im Frühling gehen. Als das Gras zu wachsen begann, war das Dorf der Spur einer Büffelherde gefolgt und High Forehead hatte mit den Männern gejagt. Sie waren viele Monde fort gewesen.

Little Thunder war im Dorf geblieben, denn nach einer Krankheit im Winter war er noch nicht wieder hergestellt, und er hatte die Verantwortung für die Jagd an Sinte Gleska – Spottet Tail, einem erfahrenen Krieger übergeben.

Es war Sommer, als sie zurückkehrten und High Forehead kam nach einem üblen Sturz bei der Jagd mit einem gebrochenen Bein nach Hause. So konnten sie nicht reisen und zogen weiter mit der Gruppe der Brule’ umher.

Als er endlich wieder laufen konnte, fragte Bärenkind erneut: »Wann werden wir reisen?«

Sein Vater erklärte ihm, dass eine seiner Tanten ein Kind erwartete. Das hatte Bärenkinder selber gesehen. Roter Sonnenhut wollte bleiben, bis das Kind geboren war, denn sie war eine gute Geburtshelferin, und einige Zeichen wiesen darauf hin, dass es eine schwere Geburt werden würde.

Damit die Pferde genug zu fressen fanden, waren sie inzwischen mit dem Dorf weitergezogen zum Blue Water River. Die Geburt stand nun kurz bevor und Bärenkind hoffte so sehr, dass sie danach endlich gehen würden. Inzwischen hatte schon der Blätter gelb Mond – der September begonnen. In der Nacht hatte er seine Tante stöhnen gehört und gehofft, es wäre so weit. Aber nichts war geschehen.

Als Bärenkind wieder einschlief, peinigte ihn einen Alptraum. Er träumte von den Männern mit den blauen Jacken. Er wollte davonlaufen, aber er konnte nicht, und er sah den blutigen Mokassin an seinem Fuß.

Als er erwachte, tastete er nach dem Papier mit den schwarzen Zeichen, das er einem Soldaten abgenommen hatte und immer verborgen in seinem Lendenschurz mit sich trug. –

Jetzt stand er mit anderen Jungen im flachen Wasser, einen selbst geschnitzten Speer in der Hand, um Fische zu fangen. Am Ufer standen flüsternd und kichernd ein paar Mädchen herum und sahen ihnen zu.

Eine seiner Cousinen, Schmetterling Im Haar, kam näher und begutachtete seine Beute. Er hatte schon drei Fische gefangen.

»Du bist ein guter Fischer, Bärenkind.« Er fuhr zu ihr herum: »Du sollst mich nicht beim Namen nennen!«

»Was ist das überhaupt für ein Name? Was bedeutet er?«

»Geh weg! Du vertreibst die Fische!«

Das Mädchen ging beleidigt davon, aber seine Frage blieb zurück. Er hatte noch nie über seinen Namen nachgedacht.

Als er seinen vierten Fisch gefangen hatte, packte er zusammen und brachte die Beute seiner Mutter, die vor dem Tipi hockte und Körner mahlte. Roter Sonnenhut lobte ihn gebührend. Er kniete sich neben sie auf die Erde: »Warum habe ich den Namen Bärenkind?«

Sie richtete sich auf und betrachtete ihn mit großer Zärtlichkeit.

»Als du laufen gelernt hattest, warst du so voller Freude, dass du nicht mehr still halten konntest. Du wolltest immerzu laufen. Ich musste dich dauernd einfangen. Und dann bist du mir doch entwischt, bist aus dem Dorf gelaufen und immer weiter. Ich habe dich verzweifelt gesucht. Du bist ins Unterholz geschlüpft, und dort hast du einen kleinen Bären entdeckt. Ich fand dich, als du auf der Erde bei ihm hocktest, die kleine Hand in seinem Fell. Ich wollte dich schnell holen, da tauchte die Bärin auf. Ich war starr vor Schreck. In meinem Kopf wusste ich, ich muss sie ablenken. Aber ich konnte mich nicht bewegen.

Sie hockte sich hin, beschnüffelte ihr Junges und dann dich. Und sie leckte mit ihrer großen Zunge über dein Köpfchen, und du hast gelacht.

Ich war gelähmt vor Angst, aber die Bärin tat dir nichts. Dann wurde sie von einem Geräusch abgelenkt, richtete sich auf, lief ein paar Schritte in die andere Richtung. Ich bin blitzschnell losgelaufen und habe dich in Sicherheit gebracht. Das ist die Geschichte! Deshalb hast du deinen Namen von mir bekommen. Deshalb heißt du Bärenkind. Es ist ein guter, starker Name.«

Die Geschichte gefiel ihm. Er stand auf, ging ins Tipi und zog seine Schuhe wieder an. Auf seinem Mokassin war kein Blut.

»Nimm den Eimer und bring mir Wasser vom Fluss«, trug seine Mutter ihm auf. Er wollte gehen, da hörte er die Rufe. Irgendetwas war im Gange. Er lief nicht zum Fluss, sondern in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Und dann sah er sie, die Männer mit den blauen Jacken, die er fürchtete. Es waren viele, so viele, dass Bärenkind sie nicht zählen konnte. Einige waren zu Pferd, aber noch viel mehr zu Fuß, soweit das Auge reichte Was wollten sie? Es waren so viele!

Sie schwärmten nach beiden Seiten aus, bildeten eine breite Front.

Im Dorf entstand große Aufregung. Little Thunder gelang es, die hitzigen Männer zu beruhigen. Eine Abordnung aus wenigen Soldaten kam nahe ans Dorf heran. Little Thunder ging ihnen entgegen, begleitet von mehreren Kriegern. Worte wurden gewechselt, hitzige Worte.

Ganz plötzlich kam Bewegung in die Reihe der Soldaten, und dann fielen Schüsse. Die Krieger griffen zu den Waffen. Frauen und Kinder schrien, rannten. Das Dorf verwandelte sich in einen Hexenkessel. Bärenkind sah Menschen fallen. Die ersten Blaujacken stürmten das Dorf. Er stand wie erstarrt, wusste nicht, was er tun sollte. Vor seinen Augen brach eine Mutter mit ihrem Säugling von Kugeln getroffen zusammen. Da fühlte er sich gepackt, fortgerissen, wollte um sich schlagen. Es war sein Vater. Er schob ihn ins nächste Tipi und riss ihn zu Boden. »Bleib liegen!« Dann war er verschwunden.

Um ihn herum war Weinen und Jammern. Er presste sein Gesicht auf die Erde, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Aber er konnte das Inferno der Schüsse und Schreie nicht aussperren. Die Hände fest auf den Ohren hämmerten seine Füße auf die Erde. Er merkte nicht, dass er weinte und dass die verzweifelten Schreie aus seinem eigenen Mund kamen.

Eine Ewigkeit schien vergangen, als endlich die Schüsse verstummten und die Schreie in Jammern umschlugen.

Bärenkind bewegte sich nicht. Er wollte nichts hören, nichts sehen, nichts wissen. Er wollte nicht, dass das geschehen war. Ein Traum! Vielleicht war ja alles nur ein Traum.

Das Erwachen war brutal! Eine herrische Stimme, Worte, die er nicht verstand. Eine grobe Hand zerrte ihn auf die Beine. Alle wurden aus dem Tipi getrieben.

Was er draußen sah, war schrecklich. Überall lagen tote Menschen. Und es waren keine Männer mit blauen Jacken. Die liefen umher, schrien und gestikulierten.

Seine Augen suchten zwischen den Toten nach seinen Eltern. Er konnte sie nicht finden. Eine Gruppe Männer war gefesselt. Aber weder sein Vater, noch Little Thunder schienen dabei zu sein. Dann entdeckte er nur wenige Schritte entfernt Taumelnde Krähe. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel. Eine Kugel hatte seine Schläfe getroffen.

Bärenkind bekam einen heftigen Stoß und stolperte über den Körper eines toten Mädchens. Es war Schmetterling Im Haar. Er taumelte zu der Stelle außerhalb des Dorfplatzes, wohin die Blaujacken sie trieben. Er war blind vor Tränen. Dann sah er einen von den Blaujacken am Boden liegen. Aus seinem Hals ragte ein Pfeil. Bärenkind spuckte auf ihn. Der Gewehrkolben eines Soldaten traf ihn so hart im Rücken, dass er stürzte.

Als er wieder auf die Beine kam, sah er, dass die Gruppe der Zusammengetriebenen nur aus Frauen und Kindern bestand. Und dann sah er seine Mutter, drängelte sich zu ihr, und sie schloss ihn in die Arme. Alle standen eng zusammengedrängt umgeben von einem Ring Soldaten. Eine Frau versuchte wegzulaufen. Sie kam nur wenige Schritte weit. Ein Soldat schlug ihr den Gewehrkolben gegen den Kopf, und sie brach zusammen. Die Frauen rührten sich nicht mehr, warteten lange Zeit. Über dem Dorf lag die Stille des Todes. Selbst das Weinen der Kinder war verstummt. Etwas abseits hoben Soldaten eine große Grube aus und warfen die toten Körper wie Abfall hinein.

Dann trieben Soldaten die Frauen und Kinder vom Dorf weg. Sie mussten viele Stunden laufen. Als es Nacht wurde, bestimmten die Soldaten einen Lagerplatz. Die Gefangenen bekamen Wasser, aber nichts zu essen. Sie mussten auf der nackten Erde schlafen.

Bärenkind fror. Er trug nur Lendenschurz und Leggins, und die Nächte waren schon kalt. Er drängte sich eng an seine Mutter.

Die Nacht war hell, der Mond rund, zu hell, um heimlich zu fliehen. Und die Soldaten hatten gedroht: »Wer wegläuft, wird erschossen!«

Am folgenden Morgen bekamen sie trockenes Brot, aber es war steinhart und zu wenig, um auch nur halbwegs satt zu werden. Dann wurden sie weitergetrieben.

»Warum tun sie das?«, fragte Bärenkind. »Jemand hat gesagt, es sei wegen der Sache mit Conquering Bear«, sagte seine Mutter. »Das war vor so langer Zeit. Warum machen sie das jetzt?«

»Ich weiß es nicht, mein Sohn. Aber wir müssen jetzt tapfer sein.« –

Sie liefen mehrere Tage. Ein paar Frauen brachen auf dem Weg zusammen. Dann wurden sie hinter den Palisadenzaun eines Forts gesperrt, bewacht von mehreren Soldaten. Niemand sagte ihnen, was nun werden sollte. Sie hockten dicht aneinandergedrängt, schweigend. Wenn sie sprachen, schrien die Wächter sie an, oder schlugen sie. Auch jetzt bekamen sie nur Wasser und trockenes Brot, das nicht reichte, den schlimmsten Hunger zu stillen.

Roter Sonnenhut gab Bärenkind ihr Stück, aber er bestand darauf, dass sie wenigstens die Hälfte davon aß. Dann presste er sein Gesicht an ihre Brust, und sie legte einen Arm um ihn, um ihn zu wärmen. Sie flüsterte ganz leise mit ihrer Schwester, die sie unter den Frauen gefunden hatte. Dann warf sie einen Blick zum Himmel, beugte sich herab, ganz nahe an Bärenkinds Ohr: »Hör mir jetzt genau zu, mein Sohn. Hinter uns in einem Pfosten der Palisaden ist eine tiefe Kerbe. Man kann einen Fuß hineinstellen und sich festhalten, wo die Hölzer nicht eng aneinander liegen. Wenn du dann auf meine Schultern steigst, kannst du über die Palisaden springen.«

»Die Männer werden schießen.«

»Leise! Wir werden warten, bis es dunkel wird und die Männer schläfrig werden.«

»Aber ich will dich nicht allein lassen Ina – Mutter!«

»Du musst, Bärenkind!« Sie nannte ihn beim Namen, was sie sonst nie tat.

»Du musst gehen! Du musst jetzt ein Mann sein!«

»Aber wohin soll ich gehen? Zurück ins Dorf?«

»Nein, du musst das Miniconjou Dorf finden. Wenn dein Vater lebt, wird er dort hinkommen.«

»Wie soll ich es finden?«, fragte er verzweifelt.

»Du musst immer nach Norden gehen, viele Tage. Dann kommst du zum Elk River, dem Fluss mit den gelben Steinen. Dort, irgendwo, wirst du ein Miniconjou Dorf finden. Aber lass dich nicht erwischen. Wenn du draußen bist, lauf so schnell und so weit, wie du in dieser Nacht laufen kannst. Du schaffst das. Du wirst überleben.«

Bärenkind fragte nicht mehr. Er wusste, er musste gehorchen. Überleben! Das war alles, was er für seine Mutter tun konnte.

Sie warteten auf die Dunkelheit. Roter Sonnenhut blickte immer wieder zum Himmel. Er war zu blau, nur wenige Wolken. Die Nacht würde hell werden.

Bärenkind wünschte sich, dass etwas passieren würde. Kriegsschreie! Angriff! Befreiung!

Die Nacht breitete ihr schwarzes Tuch über die Welt, schweigend, grausam.

Die Sterne funkelten am Himmel. Der Mond schien hell.

Die beiden Wächter redeten und lachten. Ihr Lachen war schrecklich. Warum gab es so viele Wasicu? Warum hatte Wakan Tanka – das Große Geheimnis sie gemacht? Sie waren böse, richteten nur Unheil an. All das ging Bärenkind durch den Kopf.

Dann kam die Ablösung, neue Wachen. Das war nicht gut. Roter Sonnenhut hatte gehofft, sie würden müde und unachtsam werden.

Die Wächter unterhielten sich, dann gingen die beiden ersten. Einer der beiden neuen baute sich vor den Frauen auf. Er sprach Lakota: »Legt euch hin und schlaft. Wer versucht, sich wegzuschleichen, wird erschossen.«

Die Männer setzten sich. Roter Sonnenhut sah immer wieder zum Himmel. Wenn der Mond nur nicht so hell wäre. Sie wartete, beobachtete die Wachen.

Einer der Männer holte eine kleine Flasche aus der Jacke, nahm einen Schluck und gab sie dem anderen. Ja, Feuerwasser! Das war gut, sie sollten sich betrinken.

Es verging noch geraume Zeit. Bärenkind schlief in ihren Armen ein. Die beiden Wachen waren nun miteinander beschäftigt, redeten und achteten nicht mehr auf die Frauen, die sich still aneinander drängten. Die meisten schliefen. Dann begann eine große dunkle Wolke sich vor den Mond zu schieben.

Jetzt! Sie machte Bärenkind wach: »Steh auf! Komm!«

Sie schlichen zum Zaun. Jetzt war es stockdunkel. Roter Sonnenhut hatte sich genau gemerkt, wo die Kerbe war. Ihre Schwester machte mit verschränkten Händen eine Leiter. Sie trat in die Kerbe, steckte die Hände durch die Ritzen und zog sich hoch. Ihre Schwester hob Bärenkind hoch. Er klammerte sich an das Kleid seiner Mutter, kletterte geschickt an ihr hinauf bis auf ihre Schultern, dann schob er ein Bein zwischen den Spitzen über die Palisaden, zog sich ganz hinauf.

»Spring!«, flüsterte seine Mutter. Er konnte auf der anderen Seite nichts erkennen, wusste nicht, was da unten in der Dunkelheit war. Doch er ließ sich fallen, rollte sich zu einer Kugel zusammen. Der Aufprall war hart. Einen Augenblick lang war er benommen, dann kam er auf die Beine. »Geht es dir gut?«, flüsterte seine Mutter von der anderen Seite.

»Ja.«

»Dann lauf! Lauf so schnell du kannst!«

Der Junge wartete noch, aber sie sagte nichts mehr. Es war das letzte, was er von seiner Mutter gehört hatte.

Er rannte los, lautlos, so schnell er konnte, weg vom Fort. Als der Mond hinter der Wolke hervorkam, war er schon ein ganzes Stück gelaufen. Er verschwand blitzschnell zwischen Salbeisträuchern. Als er sich umwandte, konnte er Männer vor dem Tor sehen. Aber sie konnten ihn nicht bemerkt haben. Im Fort blieb alles still, keine Schüsse, keine Schreie. Er rannte weiter, immer weiter, so schnell er konnte.

 

Bärenkind stolperte und fiel hin, blieb liegen und rang nach Luft. Er hatte das Gefühl, Stunden gelaufen zu sein. Niemand war ihm gefolgt. Er war allein.

Als der Mond hinter den Wolken hervorkam, konnte er einen bewaldeten Hügel erkennen. Dort konnte er sich verstecken. Er stand auf und lief weitert, aber nun rannte er nicht mehr so schnell. Als er den Wald erreichte, wurde er noch langsamer. Die Wolken verdeckten wieder den Mond. Er konnte nicht mehr sehen, wohin er trat, nur mit seiner feinen Nase nahm er noch die Umgebung wahr, roch Pflanzen und Bäume und hörte die Laute des schlafenden Waldes. Aber nun kam auch die Angst. Er war allein in der Nacht.

Sein Körper war geschwitzt vom schnellen Laufen, nun begann er zu frieren, nur mit Leggins und Lendenschurz bekleidet. Er hatte nichts, keine Decke, kein Fell, sich zu wärmen und nicht den warmen Körper seiner Mutter mit seinem vertrauten Geruch. Er war todmüde und den Tränen nah.

Du musst jetzt ein Mann sein! Das hatte seine Mutter ihm mit auf den Weg gegeben.

Als der Mond wieder hervorkam, sah er einen Baum am Abhang, unter dessen Wurzeln sich eine Höhle gebildet hatte, groß genug für einen kleinen Jungen. Er brach ein paar dicht belaubte Äste von den Büschen ab, kroch unter die Wurzeln und deckte sich damit zu. Wenigstens war er vor dem kalten Nachtwind geschützt, der in den Bäumen rauschte. Er schloss die Augen fest. Trotzdem fanden ein paar Tränen ihren Weg.

Zusammengerollt, todmüde und erschöpft schlief er schließlich ein.

 

Bärenkind wachte auf, weil er fror und weil er pinkeln musste. Und dann lief er einfach weiter, immer nach Norden, über Hügel, durch Wälder, durch dichtes Gebüsch.

Laufen – laufen – nicht denken! Wenigstens wurde ihm warm. An einem Bach stillte er seinen Durst. Aber der Hunger war schlimm. Wenn er wenigstens ein Messer hätte! Aber die Soldaten hatten ihnen alles abgenommen. Nur die Karte mit den schwarzen Zeichen hatten sie nicht gefunden.

Er konnte nicht mehr so schnell und nicht mehr so lang laufen. Wenigstes zeigte die Sonne ihm die Richtung. Immer wieder musste er sich einen Moment ausruhen.

Du musst jetzt ein Mann sein, hörte er immer wieder die Stimme seiner Mutter. Und dann lief er weiter. Wenn er nur eine Medizin hätte, die ihm Kraft geben konnte. Das einzige, was er hatte, war sein Name, den ihm seine Mutter gegeben hatte. Es war alles, was sie ihm mitgeben konnte. Er nahm sich vor, ihn für immer zu behalten. Matola – Bärenkind!

Mittags fand er einen Strauch mit essbaren Beeren. Er aß so viele er konnte. Dann lief er weiter. Am Abend fand er das Kraut einer essbaren Rübe und grub sie mit einem scharfkantigen Stein aus. Aber roh schmeckte sie bitter und sie machte ihm Bauchschmerzen. Er knabberte ein Stück Baumrinde und trank aus einem Bach. Dann fand er einen Schlafplatz unter zwei übereinander gestürzten Bäumen. Er polsterte sein Bett mit dicken Grasbüscheln und Zweigen. Trotzdem fror er in der Nacht erbärmlich.

Bärenkind lief drei Tage. Manchmal beobachtete er Tiere, ein Rudel Gabelböcke, Dickhornschafe und in der Ferne sogar ein Wolfsrudel. Aber er begegnete keinem Menschen.

Zu essen fand er kaum etwas. Seine Kraft wurde immer weniger und er wurde mutlos.

Wenn er ausruhte, legte er die Hände an den Stamm eines großen Baumes, und bat ihn um Kraft. Er hatte das Gefühl, es half, und dann konnte er weiterlaufen.

Am Abend des dritten Tages brach er einfach zusammen, weinte, fror und schlief schließlich vor Erschöpfung ein.

 

Bärenkind erwachte, als Hufschlag die Erde erzittern ließ. Er fuhr erschrocken hoch. Ein Rudel Rotwild preschte zwischen den Bäumen vorbei.

Ihm tat alles weh. Sein Bauch krampfte und er war schweißnass, obwohl er fror. Er pinkelte an einen Baum und hielt sich einen Atemzug lang an ihm fest. Dann ging er los. Aber rennen konnte er nicht mehr. Er fand eine Birne an einem Baum und aß sie gierig auf. Dann biss er die Zähne zusammen und ging weiter, stand immer wieder auf, wenn er vor Erschöpfung zu Boden sank.

Als es zu dämmern begann, sah er sich nach einem geschützten Schlafplatz um. Tief in seiner Seele wusste er, dass er nicht mehr würde aufstehen können. Er brauchte einen guten, geschützten Platz. Als er sich umschaute, sah er zwischen den Bäumen einen Lichtschein. Ein Feuer! Dort waren Menschen! Aber es konnten Wasicu sein. Doch wo Menschen waren, gab es etwas zu essen. Und Bärenkind wollte leben. Vielleicht konnte er in der Nacht etwas stehlen.

Er nahm seine Kraft zusammen und schlich sich näher an das Feuer heran. Verborgen in einem dichten Beifußgestrüpp konnte er zwei Männer am Feuer erkennen. Er roch Pferde, Schweiß und den Duft von gebratenem Fleisch.

Es waren seltsame Gestalten, keine Leute seines Volkes, keine Männer mit blauen Jacken. Sie trugen lederne Kleidung und Pelzmützen und sie hatten eine Menge Haare im Gesicht, der eine gelb wie die Mittagssonne, der andere leuchtend rot, wie die untergehende Sonne. Sie redeten und lachten.

Bärenkind lauschte und wunderte sich, wie sie sprachen. Das war nicht die Sprache der Wasicu. Obwohl er nur wenige Worte kannte, wusste er, dass sie sich anders anhörte.

Plötzlich strauchelte er. Der Ast, an dem er sich festhielt, brach ab.

Beide Männer blickten auf. Bärenkind machte den Fehler, nicht still zu bleiben. Er lief los. Einer der Männer sprang auf, hatte ihn mit wenigen Schritten eingeholt und packte ihn mit brutalem Griff im Genick.

Bärenkind stieß einen Kriegsschrei aus, strampelte und schlug um sich, aber er hatte keine Chance. Der Mann, der Ähnlichkeit mit einem Bären hatte, zog ihn aus den Büschen und bugsierte ihn zum Feuer.

»Schau her, ein Indianerjunge«, sagte der zweite Mann in seiner Sprache und sprang ebenfalls auf. »Wo ein Kind ist, sind noch mehr Rothäute!«

Der Rothaarige lockerte den Griff, nahm den Jungen am Arm und betrachtete ihn genau

»Glaube ich nicht, Will! Der Kleine ist völlig verdreckt, halb verhungert und ohne vernünftige Kleidung. Ich glaube, er hat Fieber. Ich vermute, er irrt schon lange allein hier in der Wildnis herum.« Will nickte: »Der Junge sieht wirklich völlig fertig aus. Trotzdem sollten wir wachsam sein.«

Bärenkind, der nichts verstand und außer sich war vor Angst, machte noch einen schwachen Versuch, sich loszureißen.

»Hör auf, dich zu wehren! Wir tun dir nichts«, sagte der Rote. Der Junge sah verwundert zu ihm auf. Er sprach seine Sprache.

»Komm, setz dich hin.« Er schob ihn ans Feuer. Die Wärme tat so gut. Er ließ sich zu Boden sinken. Und dann legte der Rote ihm eine Decke um.

Was waren das für Menschen? Bärenkind wusste es nicht. Gelbhaar hielt ihm einen Becher hin. Der Junge zögerte.

»Komm, nimm schon!« Auch er sprach Lakota. Bärenkind griff vorsichtig danach und nippte. Warmes, süßes Wasser mit Kräutern. Es war gut. Er trank den Becher hastig leer. Dann hing sein Blick an dem knusprigen, duftenden Braten. Der Rote sah es, schnitt ein ordentliches Stück ab und gab es dem Jungen. Der wollte es gierig in den Mund stopfen, aber der Rote hielt ihm die Hand fest: »Langsam, kleiner Krieger! Wenn du so schlingst, wirst du gleich alles wieder ausspeien. Ich glaube, du hast sehr lange nichts Richtiges gegessen. Niemand nimmt dir das weg«.

Bärenkind blickte auf, sah ihm zum ersten Mal ins Gesicht. Seine Augen waren blau wie das Wasser. Er begann zu essen. Gelbhaar gab ihm noch ein Stück Maisbrot.

Plötzlich fühlte er sich wieder gut. Ein Feuer, eine warme Decke, ein Stück Fleisch, und ein Stück Brot, groß genug, um satt zu werden.

Die beiden Männer unterhielten sich wieder in ihrer Sprache und ließen ihn in Ruhe, bis er aufgegessen hatte. Warm und mit vollem Magen wurde er sofort schläfrig.

Der Rote legte ihm wieder die Hand auf die Schulter: »Das ist Will und ich bin Peter. Und wie heißt du?« Bärenkind schwieg.

»Gut, dann wirst du erst einmal schlafen. Du brauchst keine Angst zu haben, wir passen auf dich auf.« Er breitete das Winterfell eines Dickhornschafs auf die Erde.

»Komm, leg dich hier hin!« Er half ein bisschen nach, dann wickelte er den Jungen in die Decke und breitete noch ein Bärenfell darüber. Bärenkind schlief sofort ein.

 

Das Knistern des Feuers, Scharren von Pferdehufen, Vogelzwitschern und die leisen Stimmen der Männer brachten ihn in die Wirklichkeit zurück. Er hatte tief geschlafen und er wollte eigentlich gar nicht aufwachen. Ein fremder, eigenartiger Duft stieg ihm in die Nase, und dann öffnete er die Augen.

Die beiden Männer saßen am Feuer und aßen. Will und Peter, er hatte sich die seltsamen Namen gemerkt. Er richtete sich ein wenig auf.

»Gut geschlafen, kleiner Krieger?«, begrüßte Peter ihn, »komm her, es gibt zu essen.«

Peter schöpfte Brei aus einem Topf in einen Blechnapf und dann gab er aus einer Flasche Sirup dazu und reichte ihn Bärenkind. Er setzte sich ans Feuer und wollte die Finger hineintauchen, aber Will gab ihm einen Löffel, und er begann sofort zu essen.

Peter schüttete aus einer Blechkanne eine schwarze Flüssigkeit in einen Becher und trank davon. Das war der eigenartige Geruch.

»Das ist Kaffee«, erklärte Peter, »das ist kein Getränk für Kinder. Es wird dir nicht schmecken, aber du darfst versuchen.«

Er gab Bärenkind den Becher. Er schnupperte daran und nahm einen kleinen Schluck, doch er verzog das Gesicht. Peter lachte und nahm den Becher zurück. Der Junge bekam wieder süßen Tee.

Als er aufgegessen hatte, setzte Peter sich zu ihm: »So, und nun müssen wir reden, kleiner Krieger. Wir wollen dir helfen, aber du musst uns Antwort geben. Du bist doch ein Sioux? Verstehst du das?«

Bärenkind wusste, dass die Weißen und andere Stämme sein Volk so nannten. Er machte eine zustimmende Geste.

»Na also, geht doch! Wo sind deine Eltern?« Der Junge schwieg. »Wo ist dein Vater?«

Er antwortete mit einer ratlosen Geste. »Und deine Mutter?«

Bärenkind brauchte lange, um zu antworten. »Im Fort. Mit anderen Frauen.«

Peter wartete geduldig auf eine Erklärung.

»Die Blaujacken sind in unser Dorf gekommen. Sie haben geschossen. So viele sind tot. Die Frauen und Kinder haben sie mitgenommen und in ein Fort gesperrt.«

»Dich auch?« »Hau – ja.«

»Wie bist du herausgekommen?«

»Meine Mutter – hat mich über die Palisade....«

»Und du bist gelaufen, ganz allein, bis hier her?«

»Ja.«

»Will, erinnerst du dich, was der Jäger uns erzählt hat?« Er redete nun in seiner Sprache.

»Ja, die Sache mit Colonel Harney, diesem Typen, der in Florida vor den Seminolen in der Unterhose um sein Leben gerannt ist und jetzt in diesem Brule’ Dorf sein Mütchen gekühlt hat und die Leute hat gnadenlos niederschießen lassen.«

»Der Kleine muss dabei gewesen sein.«

»Das fürchte ich auch. Frag ihn.«

Peter wandte sich wieder dem Jungen zu: »War das ein Brule’ Teton Dorf?«

»Hau«, Bärenkind biss die Zähne zusammen und versuchte die Tränen wegzublinzeln. Aber Peter sah sie trotzdem.

»Deine Mutter muss dich sehr lieb haben. Sie will, dass du frei bist und lebst. Hat sie dir gesagt, wohin du gehen sollst?«

»Zum Fluss mit den gelben Steinen. Dort gibt es ein Miniconjou Dorf. Da sind meine Leute.«

»Das ist noch ein weiter Weg, kleiner Krieger. Wir müssen auch in diese Richtung. Will und ich wollen zum Yellowstone River. Wir nehmen dich mit und bringen dich in dein Dorf. Du schaffst das alleine nicht. Aber du versuchst nicht wegzulaufen. Gib mir dein Wort darauf.« Peter hielt ihm seine große Hand hin, »und deine Hand drauf. Das ist dann ein Vertrag. Wir müssen dich in dein Dorf bringen, und du darfst nicht weglaufen.«

Bärenkind legte seine kleine Hand hinein. »Hau! – Aber mein Vater sagt, die Weißen lügen. Du bist doch ein Wasicu. Lügst du auch?«

»Ja. Du hast Recht, manche Weißen lügen, aber nicht alle. Ich lüge nicht, kleiner Krieger.«

Dann wandte er sich an Will: »Der Junge braucht was zum Anziehen.«

Will stand auf: »Wir hatten doch dieses Rehleder.« Er zog eine Rehhaut aus dem Gepäck, die am Rand mehrere Löcher hatte, legte sie doppelt und machte einen Schnitt hinein, dann stülpte er sie dem Jungen über den Kopf wie einen Poncho und band sie um die Taille mit einer Lederschnur fest. Dann brachte er noch einen Waschbärpelz zum Vorschein und stülpte ihn Bärenkind auf die gleiche Weise über.  »Jetzt wirst du nicht mehr frieren.«

Das Rehleder reichte ihm bis zu den Knien.

»Du siehst gut aus, kleiner Krieger!«, bewunderte Peter ihn, »sagst du uns jetzt deinen Namen?« Doch der Junge schwieg beharrlich.

»Du willst ihn mir nicht sagen, weil ich ihn nicht aussprechen soll. Gut, ich akzeptiere das. Wir werden einen Namen für dich finden.«

Will löschte das Feuer. Die Männer packten zusammen. Bärenkind wartete. Irgendetwas fiel vom Baum vor seine Füße. Er bückte sich, eine gelbe Feder.

»Was hast du da?«, fragte Peter. Bärenkind hielt sie hoch. »Das ist die Feder von einem Wiesenstärling.« Er knüpfte sie mit einer Lederschnur in sein Haar.

»Du hast sie verdient, tapferer kleiner Krieger. Sie soll dir Glück bringen. – Wo willst du reiten? Hinter mir auf dem Pferd, oder auf dem Packpferd?«

Bärenkind zeigte auf das Packpferd. Will bepackte das Tier so, dass der Junge gut darauf sitzen konnte.

Peter hob ihn auf den Pferderücken, dann machte er in den Führstrick eine Schlinge, legte sie durch die Lücke im Pferdegebiss nach der Art der Indianertrensen und gab dem Jungen die Enden in die Hand.

Zum ersten Mal erschien ein kleines Lächeln auf Bärenkinds Gesicht. Und Peter war sicher, dass ein sieben oder acht Jahre alter Indianerjunge reiten konnte.

Er ritt voraus, hinter ihm der Junge und Will am Ende. Bärenkind fühlte sich gut auf dem Pferderücken. Er fühlte sich viel besser. Trotzdem wusste er, dass er nicht mehr weit laufen konnte. Er wusste auch, dass er mit dem Packpferd nicht flüchten konnte. Aber vielleicht brauchte er es ja gar nicht.

Er war schon wieder müde, schlief mit dem Gepäck im Rücken auf dem Pferde ein. Das Pferd blieb stehen und begann Gras zu rupfen. Will gab ihm einen Klaps mit dem Zügelende.

Sie ritten bis Mittag. Dann machten sie Pause. Peter hob den Jungen vom Pferd. Bärenkind griff sich zwischen die Beine. »Geh schon, wenn du pinkeln musst.«

Sie lagerten an einem Bach. Bärenkind ging ein Stück am Ufer entlang, bevor er sich erleichterte. Dann flatterte vor seiner Nase eine Ente hoch. Er fand das Entennest und drei Eier, nahm sie vorsichtig heraus und brachte sie ins Lager. Peter war erfreut: »Das gibt ein gutes Essen!« Will briet Speck, Zwiebeln und Kartoffeln, und rührte die Eier hinein. Dann verteilte er alles in drei Näpfe. Bärenkind machte große Augen, denn in seinem Napf war die größte Portion. »Hast du verdient«, erklärte Peter, »du hast die Eier gefunden.«

Bis sie wieder aufbrachen, schlief Bärenkind.

Am Nachmittag pfiff ein kalter Wind über die Hügel. Bärenkind war froh, dass er nun warme Kleider anhatte.

Für die Nacht fanden sie einen geschützten Platz vor einer überhängenden Felswand. Peter hob den erschöpften Jungen vom Pferd, da fiel etwas aus seinen Kleidern. Er wollte es aufheben, doch Bärenkind war schneller, hob die Karte mit den schwarzen Zeichen auf und schob sie wieder unter seine Kleider.

»Was hast du da?«, fragte Peter, aber der Junge antwortete nicht.

Peter machte Feuer und Will zog das Kaninchen ab, das er unterwegs geschossen hatte. Der Junge war entsetzt zusammengezuckt, als der Schuss fiel.

Bald briet das Tier über der Glut. Es würde noch eine Weile dauern, bis das Fleisch gar war. Die Männer setzten sich in die windgeschützte Nische unter der Felswand. Peter legte dem Jungen wieder die Decke um. Die roten Flecken auf seinen Wangen sprachen dafür, dass er immer noch Fieber hatte.

Er lauschte dem Gespräch der beiden Männer. Peter ließ ihn nicht aus den Augen und dann fragte er: »Wie geht es dir, kleiner Krieger?«

»Waste – gut«, antwortete er, und dann wagte er zu fragen: »Warum sprecht ihr nicht wie die Blaujacken? Ist euer Sprechen ein Zauber?«

»Nein«, Peter musste lächeln, »das ist kein Zauber, das ist nur eine andere Sprache. Wir kommen aus Deutschland. Das ist ein Land weit weg über dem großen Wasser. Dort sprechen die Menschen so.«

Er wendete den Hasen, dann suchte er in seiner Jacke, fand das Päckchen Spielkarten und legte es gefächert vor Bärenkind auf die Erde. Er machte große Augen. Es waren solche Karten, Wie die, die dem Soldaten aus der Tasche gefallen waren.

»Ist das ein Zauber, eine Medizin?«

»Nein, das ist einfach nur ein Spiel.«

Bärenkind betrachtete die Karten mit den Bildern, Zahlen und Zeichen.

Peter sagte ihm die Namen der Zeichen nun in Englisch.

»Jetzt deine Sprache«, verlangte der Junge. Peter freute sich, dass er begann, lebhaft zu werden, und sagte ihm das deutsche Wort für jede Karte, die Bärenkind ihm zeigte. Am Ende fragte er: »Hast du dir Worte gemerkt?« Peter zeigte auf die Herzdame. Bärenkind schüttelte den Kopf. Auch den Kreuzkönig wusste er nicht. Bärenkind war überfordert. Er konnte die Bilder nicht unterscheiden und sich die Worte nicht merken. Doch dann schob er mit einem Finger den Stapel auseinander und zeigte auf eine der Karten: »Pik sieben!«

»Richtig!«, sagte Peter erstaunt und dann ging ihm ein Licht auf, »das ist doch die gleiche Karte, die du hast.«

Bärenkind kramte unter seinen Kleidern, brachte das zerknitterte Teil zum Vorschein und zeigte es Peter. Es war Pik sieben.

»Wo hast du sie her?«

»Von einer toten Blaujacke. Ich hab sie genommen.«

»Eine Trophäe, ein Coup! Ich glaube, für einen Jungen zählt das.« Bärenkind strahlte. Er war sehr stolz.

»Ich wusste doch, du hast die Feder verdient. Du bist ein mutiger Junge. Und Jetzt habe ich einen Namen für dich! Piksieben!«

»Waste«, sagte Bärenkind.

Und dann war der Hase gar.

 

Sie waren schon lange am Fluss entlang geritten, als Bärenkind in der Ferne die Stangenspitzen der Tipis entdeckte. »Da, das Dorf, das Dorf!«, jubelte er.

Auch Peter sah es nun, und es tat ihm fast ein

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elvira Henning/Der Romankiosk.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Der Romankiosk.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0006-6

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