CHRISTIAN DÖRGE
RAUCH UND FALSCHE SPIEGEL
EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
RAUCH UND FALSCHE SPIEGEL
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Epilog
Das Buch
München im Jahre 1964.
Für Remigius Jungblut beginnt es wie ein Routinefall: Gustav Leonhard, ein alternder Buchprüfer aus Hannover, wird von seiner jungen Geliebten, der Tänzerin und Schauspielerin Babette König, finanziell ausgenommen und anschließend sitzengelassen; einen kostbaren Ring, den Leonhard der betrügerischen Dame zur Verlobung schenkte, möchte dieser ihr jedoch nicht ohne weiteres überlassen. Also beauftragt er Remigius Jungblut mit der Wiederbeschaffung des Rings.
Als Jungblut das Hotelzimmer von Babette König betritt, findet der Detektiv dort die Leiche des ermordeten Schauspielers Herbert Brandner vor - und aus dem Routinefall wird ein Kreislauf aus Mord, Betrug und Erpressung, in den sogar Susie Laurentius, Jungbluts Sekretärin und Verlobte, hineingezogen wird...
Rauch und falsche Spiegel ist der zweite Roman um den Münchner Privatdetektiv Remigius Jungblut aus der Feder von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Reihe Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace.
Der Autor
Christian Dörge, Jahrgang 1969.
Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.
Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989: Phenomena (Roman), Opera (Texte).
Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung
eigener Werke, u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).
1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.
Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).
Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).
Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.
2021 veröffentlicht Christian Dörge den Giallo-Roman Das rote Trauma und startet drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace sowie München-Krimis um die Privatdetektive Jack Kandlbinder und Remigius Jungblut.
RAUCH UND FALSCHE SPIEGEL
Die Hauptpersonen dieses Romans
Remigius Jungblut: Privatdetektiv aus München. 45 Jahre alt, studierter Jurist.
Susie Laurentius: seine 22jährige Sekretärin und Verlobte, auf die in jeder Situation Verlass ist.
Gustav Leonhard: ein Buchprüfer aus Hannover.
Babette König: Tänzerin und Gelegenheitsschauspielerin.
Herbert Brandner: Schauspieler, Hauptdarsteller im Film Das schreckliche Zimmer.
Sieghardt W. Weber: Leiter der Reklamefilm-Abteilung bei der Filmfirma Sartoria.
Alwin Merz: Assistent von Remigius Jungblut.
Konrad Landeck: ein Kommissar von der Münchner Kriminalpolizei.
Carl Runold: Privatdetektiv.
Hansi Stockl: Wachtmeister bei der Polizeiinspektion Bogenhausen.
Dieser Roman spielt in München des Jahres 1964.
Erstes Kapitel
Der Fall Leonhard fiel mir in den Schoß – buchstäblich. Das war zu jener Zeit, als die Berliner Filmfirma Sartoria dem Gründer der Agentur eine märchenhafte Summe für das Recht offerierte, seine Lebensgeschichte in prächtigstem Schwarzweiß auf der Kinoleinwand erzählen zu dürfen. Der Chef – ein 80jähriger Herr namens Walfried Jakobsen – spricht davon, sich in der nahen Zukunft zurückzuziehen, aber keiner von uns nimmt ihm das ab. Er ist ein zäher alter Mann, der Whisky und starke Christo-Zigarren liebt, und für Geld ist er zu allem bereit – na ja, zu fast allem. So hat er vor etwa fünfzig Jahren die Agentur in Hannover gegründet. Heute aber ist er eine hochachtbare Erscheinung von geradezu erschreckender Anständigkeit. Sein Reich regiert er von einem Schreibtisch in Hamburg aus mit eiserner Hand. Er ist ein echtes Nordlicht, wie es im Buche steht. Trotzdem waren wir alle verdutzt, als wir erfuhren, dass er durch den Film zu einer Legende werden sollte. Sämtliche Zweigstellen der Agentur wurden beauftragt, komplette Abschriften ihrer Archive nach Berlin an die Drehbuch-Abteilung der Sartoria zu senden. Im Hauptbüro liegen kurze Berichte und Resümees der einzelnen Fälle. Die kompletten Akten werden in den Zweigstellen aufbewahrt. Meine Zweigstelle liegt in München.
Susie Laurentius, meine Sekretärin, die ich heiraten werde, sofern sie sich einmal für einen Hochzeitstermin entschließen kann, hatte eine Woche lang ununterbrochen getippt und den Vervielfältigungsapparat betätigt. Außerdem waren Fotos zu kopieren und Fotokopien juristischer Dokumente zu beschaffen, die wir ihres Umfangs wegen nicht im Büro vervielfältigen konnten. Meiner Meinung nach würde es ein großartiger Film werden: Viel Handlung und Lokal-Kolorit, Liebe, Hass, Gier und Mord, Spionage – alles, was das Herz der Kinobesucher begehrt. Aber keine Liebesgeschichte mit dem Helden als Mittelpunkt. Der Chef hatte nie geheiratet, und niemand wusste, ob er überhaupt je in seinem Leben verliebt gewesen war. Darauf kam es auch nicht an. Diese Lücke würden ohne Frage die Filmleute ausfüllen. Und ich war neugierig, wem sie die Hauptrolle anvertrauen würden.
An einem Mittwochabend im November war die Arbeit so gut wie erledigt. Ich ging mit Susie essen, und wir kehrten ins Büro zurück, um noch das eine oder andere zu erledigen. Um elf Uhr merkten wir, dass wir es doch nicht ganz schaffen würden. Also... machten wir Feierabend. Ich fragte Susie, ob sie gern noch etwas trinken würde, bevor sie nach Hause ging, und sie sagte: »Freilich!«
Ich führte sie in eine kleine Bar in Schwabing; leere Straße, ein intimes Lokal, Gisela genannt, wo Schauspieler verkehren und wo wir manchmal zu Mittag essen. Ich gehe gern hin, weil die Drinks erstklassig sind. Der Barmixer, der Nachtschicht hatte, hieß Bernd, ein ernster, junger Mann, der frühzeitig seine Haare eingebüßt hatte. Tagsüber studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität Jura.
Susie nippte an ihrem Scotch mit Soda. »Wer, glaubst du, wird den Chef spielen?«
»Du bist eine Gedankenleserin. Das habe ich mich eben auch gefragt.«
»Siegried Lowitz? Oder vielleicht Karl Schönböck?«
»Boris Karloff«, sagte ich und grinste ein wenig gequält.
»Igitt! Der Chef ist ein netter Mensch.«
»Du kennst ihn doch gar nicht, mein Kind.«
»Ich habe sein Bild gesehen«, erwiderte Susie. »Ein freundlicher alter Herr.«
»Ha.« Ich nahm ein paar gesalzene Erdnüsse aus einer Schale und spülte sie mit einem Schluck Bourbon hinunter.
»Herbert Brandner könnte ihn spielen«, sagte Susie.
»Wer ist Herbert Brandner?«
»Erinnerst du dich nicht? Wir haben ihn neulich im Kino in Das schreckliche Zimmer gesehen. Er spielte eine der Hauptrollen – den Inspektor von Scotland Yard. Du fandest ihn gut.«
»Ach ja. Ein energischer Mann. Das Haar vielleicht nicht grau genug. Aber ein guter Schauspieler. Vielleicht alte Schule, aber er beherrscht jede Szene. Der Held modernen Formats – diskret, gedämpft, aber hart. Brandner ist okay.«
»Auch der Chef ist ganz alte Schule«, betonte Susie. »Und hart. Die Rolle liegt Herbert Brandner.«
»Schreib nach Berlin«, erwiderte ich. »Ich bin überzeugt, sie engagieren ihn sofort.«
Und in diesem Moment fiel mir die junge Dame in den Schoß.
Mein Mund war plötzlich voller Haare, meine Nase voller Blumenduft. Warme Lippen streichelten meine Wange. Beinahe hätte ich meinen Drink verschüttet. Ich hatte mit übereinandergeschlagenen Beinen seitlings am Tisch gesessen, wie das in Restaurants und Bars meine Gewohnheit ist, sofern ich genug Platz habe, und es war ihr nicht schwergefallen, sich mir auf den Schoß zu setzen. Ich nahm die Beine auseinander. Sie machte sich’s bequem. Glatte nackte Arme erdrückten mich fast. Undeutlich sah ich Susies entrüstete Miene, während Lippen mein rechtes Ohr kitzelten und eine schnurrende Stimme sagte: »Ach, wie schön, dich wiederzusehen!«
Hilflos packte ich sie bei den schlanken Handgelenken und sah flehend Susie an, die mich über den Rand ihres Glases hinweg höhnisch musterte. Dann beugte die fremde junge Dame sich tief zu mir herab. Ich verirrte mich in den dunklen Tiefen blaugrauer Augen. Ich sah hellblondes Haar, eine gerade kleine Nase, volle rote Lippen, weiße Zähne, schimmernde nackte Schultern über einem achselfreien schwarzen Kleid. »Bitte, machen Sie mit«, flüsterte eine leise, heisere Stimme. »Spielen Sie den guten Freund. Ich werde es Ihnen später erklären,«
Bevor ich etwas erwidern konnte, spürte ich weiche, warme Lippen auf meinem Mund. Dann ließ sie mich los, lachte leise, glitt mit einer graziösen Bewegung von meinem Schoß und setzte sich neben mir auf einen Stuhl. »Verzeihen Sie«, sagte sie zu Susie. »Es ist nur ein Scherz.«
»Ja, selbstverständlich«, erwiderte Susie.
Die fremde Frau sprach aus dem Mundwinkel zu mir wie eine waschechte Gangsterbraut. »Da kommt er. Jetzt heißt es: Komödie spielen. Bitte, bitte!«
»Passen Sie mal auf«, sagte ich, »ich bin...« Ich verstummte, weil ich plötzlich eine drohende Gestalt am Tisch stehen sah. Ich blickte in die zornigen Augen eines hochgewachsenen älteren Mannes in einem glatten, grauen Fischgrätanzug. Ich strich mir das Haar aus der Stirn, versuchte zu lächeln und sagte erstaunlich vergnügt: »Schönen guten Abend.«
Mit finsterer Miene nickte er mir und Susie zu. Dann wandte er sich zu der Frau neben mir. »Gehen wir, Babette?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich bleibe noch etwas bei meinen Freunden.«
Er legte die Hand auf ihren Arm. »Ich möchte jetzt gehen.« Seine Stimme klang scharf.
Sie schüttelte seine Hand ab und sah mich bittend an.
Ich rührte mich nicht. Ich wollte nichts mit der Sache zu tun haben. Vorwurfsvoll verzog sie den Mund, drehte sich zu Susie um, die ruhig ihren Scotch trank.
»Bitte!« Die Stimme des alten Mannes klang nicht mehr hart, sondern fast flehend.
Denkbar unerwartet sagte Susie: »Bleib noch ein bisschen, Babette. Es ist so lange her, seit wir uns zuletzt getroffen haben.«
Ich sah sie ärgerlich an. Warum musste sie sich wegen eines wildfremden Menschen aufs Glatteis begeben? Sie wich meinem Blick aus und fügte hinzu: »Vielleicht will dein Freund sich zu uns setzen?«
»Nein«, antwortete die junge Frau. Sie blickte zu dem hochgewachsenen alten Mann auf. »Ich habe dir gesagt, Gustav, wie es ist. Bitte, mach mir keine Schwierigkeiten.«
Der Mann presste die Lippen zusammen. Er griff nach dem rechten Handgelenk der jungen Frau und wollte sie hochreißen.
Sie sträubte sich. Die anderen Gäste drehten sich zu uns um. Das passte mir nicht. Ich hasse Szenen in Lokalen. Außerdem war ich hier bekannt. Susie gleichfalls. Ich stand auf. »Die junge Dame will nicht gehen. Wenn Sie Lust haben, sich zu uns zu setzen, schön. Wenn nicht, dann machen Sie gefälligst, dass Sie wegkommen.«
Er ließ ihr Handgelenk los und sah mich mit betrübter, gekränkter Miene an. Er hatte schütteres graues Haar, einen adretten angegrauten Schnurrbart, glattrasiertes Gesicht. Im Ausschnitt eines gestärkten weißen Hemdkragens sah der Knoten einer diskreten Seidenkrawatte, Farbe bankiersgrau, hervor.
Die goldene Nadel einer Studentenverbindung schmückte den linken Rockaufschlag. Er machte einen soliden und respektablen Eindruck. Ich schätzte ihn auf mindestens sechzig. Er sagte ganz ruhig: »Es ist nicht nötig, einen solchen Ton anzuschlagen, mein Herr.«
»Verzeihung. Mein Name ist Jungblut.« Ich streckte die Hand aus, um ihm zu zeigen, dass ich es nicht böse meinte. Während er meine Hand nahm, deutete ich mit einem Kopfnicken auf Susie. »Das ist meine Frau.« Ich zwinkerte ihr zu.
Der Mann murmelte: »Gustav Leonhard.« Aber weder wir noch unsere Namen interessierten ihn. Ihn interessierte nur die junge Dame namens Babette. Er sagte zu ihr: »Bitte, lass dich nach Hause bringen, ins Hotel.«
»Danke, nein, Gustav. Ich fühle mich hier sehr wohl.« Sie wich seinem Blick aus, Eigensinn und Unwille prägten ihre Miene.
Mit einem Seufzer wandte er sich unvermittelt zum Gehen. Ich sah ihm nach, wie er sich zur Garderobe am anderen Ende des Lokals begab und einen braunen Mantel sowie einen dunkelbraunen Hut mit rundherum hochgeschlagener Krempe in Empfang nahm. Er warf noch einen letzten Blick auf unseren Tisch. Dann hatte ihn die Novembernacht verschluckt.
Die junge Frau in dem schulterfreien Kleid seufzte tief und sagte zu Susie: »Vielen Dank. Das war wirklich lieb von Ihnen.« Sie blinzelte mir zu. »Auch von Ihnen.« Dann wirkte sie schlagartig verängstigt und unsicher. Sie schlug die Augen nieder, öffnete eine schwarze Perlhandtasche, nahm eine Zigarette aus einer zerknüllten Schachtel und zündete sie nervös mit einem Streichholz aus einem Heftchen mit der Aufschrift Gisela an.
»Ihr Mann?«, fragte Susie.
»Ach, du lieber Gott, nein. Der alte Herr?« Sie schnippte die Asche von ihrer Zigarette. »Er würde mich gern heiraten – aber nie im Leben...«
»Warum nicht?« warf ich ein. »Vielleicht ist er ein bisschen zu alt für Sie, aber er wirkt solide und anständig.«
»Um Gottes willen!«, sagte die junge Dame. »Machen Sie Witze? Er könnte mein Vater sein. Mein Großvater. Dieser weißhaarige Mummelgreis?«
Ich zuckte die Achseln. »Weißes Haar, heißes Herz.«
Der Spruch war bereits so alt, dass ich mir selbst glatt alt vorkam. Sie lächelte, um zu beweisen, dass sie mir meinen kläglichen Scherz nicht übelnahm. »Herr Jungblut und Frau, ja? Ich bin Ihnen wohl eine Erklärung schuldig.«
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich höflich.
»Einen doppelten Martini, bitte, extra dry.«
Ich winkte Bernd, dem Barmixer, zu, und er schickte eine Kellnerin an unseren Tisch. Ich bestellte Scotch für Susie, Bourbon für mich, einen Martini für die junge Dame. Sie sagte: »Ich heiße Babette König.«
Ich überlegte mir, wo ich sie schon einmal gesehen haben mochte.
»Ich habe Gustav vorigen Sommer in Paris kennengelernt. Ich gehörte einer Varietégruppe an – bis der Direktor mit der Kasse durchging. Ich bekam ein Engagement in einem kleinen Pariser Nachtlokal und tanzte dort unbekleidet herum. Es war kein besonderes Engagement, und es dauerte nicht lang, aber ich lernte Gustav kennen. Er war geschäftlich in Paris und hatte wohl Lust, mal ordentlich einen draufzumachen.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Jedenfalls war er sehr nett zu mir. Als er Frankreich verließ, zahlte er mir den Flug in derselben Maschine, mit der auch er flog. Er hat eine Buchprüfungsfirma in Hamburg. Wir waren in Hamburg viel beisammen. Ich trat ein paarmal im Fernsehen auf und tanzte im Ballett der Revue Singende Herzen, die nach drei Wochen abgesetzt wurde. Gustav kennt einen Produzenten und verschaffte mir eine Rolle in Das schreckliche Zimmer.« Sie lächelte strahlend. »Und nun bin ich hier gelandet und spiele in dem Stück Blut auf dem Herzen.«
»Wir haben den Film und auch das Theaterstück gesehen«, sagte ich. »Jetzt erinnere ich mich an Sie. Sie spielen in Das schreckliche Zimmer die jüngere Schwester von Margot Trooger.«
»Wie habe ich Ihnen gefallen?«
»Gut«, erwiderte ich, obwohl ihre schauspielerische Leistung nicht der Rede wert war. »Sind Sie in München zu Hause?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich bin ich nirgends zu Hause, aber ich bin hier in München aufgewachsen. Meine Eltern sind geschieden. Soviel ich zuletzt gehört habe, wohnen sie beide in Regensburg.«
»Und Herr Leonhard ist Ihr Reisebegleiter?«
»Nein. Er ist mir nachgereist. Nach Kassel, nach Frankfurt und hierher. Ich kann ihn nicht abschütteln.« Sie schnitt eine Grimasse. »Er geht mir auf die Nerven.«
»Mhm«, sagte ich. »Sie brauchen ihn nicht mehr.«
Ihre Augen funkelten. »Ich habe ihn nicht gebeten, mir die Rückreise aus Frankreich zu bezahlen. Er hat darauf bestanden. Ich habe mich bemüht, nett zu ihm zu sein. Jetzt aber habe ich Gustav Leonhard bis oben satt.« Sie hielt einen Finger unters Kinn.
Endlich brachte die Kellnerin unsere Getränke.
Babette König nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Was stört Sie daran? Halten Sie mich für undankbar?«
»Vielleicht. Aber es geht mich nichts an. Kann Herr Leonhard so lang aus seinem Büro wegbleiben?«
»Ich sagte doch schon, dass die Firma ihm gehört. Seine Angestellten führen den Betrieb. Heute Abend hat er mich nach der Vorstellung abgeholt, und ich konnte ihn nicht loswerden.«
»Armer Leonhard«, sagte Susie.
»Ach was...!« Die junge Dame warf einen Blick auf ihre winzige Armbanduhr. »Ich musste ihn loswerden, weil ich um zwei verabredet bin. Ihr beide habt mir einen netten Eindruck gemacht, also habe ich euch benutzt, um Gustav loszuwerden. Nochmals schönen Dank.«
Ich sagte zu Susie: »Nun wollen wir aber gehen. Du weißt, der Babysitter nimmt nach Mitternacht fünfzig Prozent mehr.«
Susie schnalzte mit den Fingern. »Richtig. Das Gespräch war so interessant, dass ich den kleinen Remigius ganz vergessen habe.«
»Müssen Sie wirklich schon gehen?«, fragte Babette König. »Wird der kleine Remigius nicht auch ohne Sie auskommen?«
»Ja, freilich«, erwiderte ich, »aber ich muss morgen früh um sechs zur Arbeit.«
»Ach? Was haben Sie denn für einen Beruf?«
»Ich arbeite in einer Schuhfabrik«, sagte ich, Susies empörten Blick ignorierend.
»Wie interessant! Aber um sechs Uhr morgens?« Babette König tat so, als schauderte sie. »Gott sei Dank brauche ich erst zur Nachmittagsvorstellung aufzustehen... Wenn Sie sich die Aufführung ansehen wollen, kann ich Ihnen zwei Karten besorgen. Zum Dank dafür, dass Sie mir geholfen haben, Gustav abzuwimmeln.«
»Das ist nicht nötig.« Ich leerte mein Glas, sagte zu Susie: »Sind wir fertig, Mutti?«
Susie nickte mit todernster Miene.
Wir erhoben uns gleichzeitig und mit eckigen Bewegungen. »Gute Nacht, Fräulein König.«
»Gute Nacht. Schönen Dank für den Martini. Ich bleibe hier sitzen und warte auf Herbert.« Sie zögerte, fügte dann wie nebenbei hinzu: »Sie wissen schon – Herbert Brandner.«
Susie und ich wechselten einen Blick. Wieder Herbert Brandner, der Schauspieler, der für seine Rolle in Das schreckliche Zimmer glänzende Kritiken erhalten hatte. Wie gesagt, er war gut. Und es schadete nicht gerade seinem Ruf, dass sein Co-Star Roland Bender war, ein alterndes und alkoholisiertes ehemaliges Film-Idol. Der Gegensatz war jammervoll. Die Kritiker stellten ganz offen die Frage, wie lange Bender die Rolle behalten würde.
»Sieh an«, lächelte ich. »Brandner? Ich bewundere ihn.«
Sie lächelte stolz. »Er ist viel besser als Bender, finden Sie nicht?«
»Viel besser. Wie ich vermute, hat man ihm ein weiteres Filmangebot gemacht?«
Ihre blaugrauen Augen wurden sanft. »Ja, aber es ist vorläufig noch streng geheim. Ein siebenjähriger Vertrag mit der Sartoria.« Sie senkte den Blick und spielte mit ihrem Glas. »Wir wollen heiraten.«
»Großartig!«, sagte ich. »Gratuliere.«
Sie blickte zu mir auf. »Jetzt verstehen Sie, warum es mir nicht passt, dass Gustav mir nachläuft, ja?«
»Weiß er Bescheid?«
»Freilich. Ich habe es ihm erzählt. Aber er gibt nicht nach. Er lässt mich nicht in Ruhe.«
»Immerhin hat er Sie aus Frankreich nach Hause gebracht. Und Ihnen die Rolle verschafft. Ich muss sagen, er war immer zur Stelle – wenn Sie ihn brauchten.«
Babette König sah mich lächelnd an. Es war eigentlich kein Lächeln, sie verzog nur die Lippen. »Danke. Wo haben Sie sich denn die Wunde am Kinn geholt? In der Schuhfabrik?«
»Ja«, erwiderte ich. »Ich hatte Fußballschuhe zu testen, ein neues Modell, und bin dicht vor dem Tor ausgerutscht. Der eine Schuh ging entzwei, und ein Nagel traf mich am Kinn.«
Ich zahlte an der Bar, verabschiedete mich von Bernd, ließ mir von einer zierlichen Brünetten namens Annabelle unsere Mäntel geben und ging mit Susie in die kalte Novembernacht hinaus. Der Mercedes, der der Agentur gehörte, war einen Block weiter vorn geparkt. Als wir die Straße entlanggingen, hielt ein Taxi vor dem Lokal. Ein großer, schlanker Mann stieg aus und zahlte. Er hatte einen Kamelhaarmantel an mit hochgeschlagenem Kragen und einem weißen, unter dem Kinn geknüpften Schal. Das Licht aus den Fenstern der Bar glitzerte auf seinem dichten blonden Haar.
»Sie hat nicht gescherzt«, sagte ich zu Susie. »Das ist Herbert Brandner. Willst du sein Autogramm haben?«
»Sei nicht albern. Aber er sieht gut aus, nicht?« Susie seufzte. »Armer Leonhard.«
Seite an Seite steuerten wir auf den Mercedes zu. Aus der Tür einer kleinen Kneipe tauchte eine Gestalt auf und blieb leicht schwankend vor uns stehen. Ein matter Lichtschein fiel auf das Gesicht. Es war Gustav Leonhard. Er war betrunken. Er sagte mit schwerer Zunge: »Einen Augenblick. Ich möchte mit Ihnen reden.«
»Gern«, erwiderte ich freundlich. »Nichts könnte mir an einem Mittwoch um Mitternacht willkommener sein. Was haben Sie denn auf dem Herzen, guter Mann?«
»Hat sie von mir erzählt?«
»Klar.«
»Sind Sie wirklich mit ihr befreundet?« Er wackelte hin und her, die Hände in den Taschen des braunen Mantels, den braunen Hut in kessem Winkel schief auf dem Kopf.
»Natürlich nicht. Sie wollte Sie nur loswerden.«
Er glotzte mich an. »Ist das wahr?«
»Ja.« Susie drückte meinen Arm. Ich ignorierte ihre Warnung. »Seien Sie doch vernünftig, Leonhard.«
»Ich muss mit ihr reden«, murmelte er und wollte davonstolpern. Ich hielt ihn zurück. »Lieber nicht. Sie ist nicht allein.«
»Brandner?«
»Ja.«
»Der Schmierenkomödiant.« Er hob einen wackligen Finger. »Da muss ich dazwischenfunken. Der Kerl ist ein Taugenichts. Ich bin bereit, sie zu heiraten. Bei mir findet sie...«
»Wo sind Sie abgestiegen?«
»Im Vier Jahreszeiten.«
Ich winkte kurzerhand ein Taxi heran, das soeben vorbeikam. Ohne Widerrede ließ Leonhard sich von mir über den Bürgersteig und ins Auto bugsieren. Ich nannte dem Fahrer die Adresse. Er fuhr los.
Dann drehte ich mich zu Susie um. Lächelnd sagte sie: »Das war aber nett von dir. Warum hast du dich derart angestrengt?«
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht tut er mir leid.« Ich zögerte. »Vielleicht...« Ich unterbrach mich, nahm Susies Arm, und wir machten uns endgültig auf den Heimweg.
Zweites Kapitel
Um halb zehn Uhr vormittags betrat ich mein Büro in der Walter-Gropius-Straße durch eine Hintertür, die neben dem Lift in den Korridor führt. Das mache ich oft, besonders morgens, damit Susie Gelegenheit hat, mich über eventuelle Besucher zu informieren, die in dem kleinen Empfangszimmer kampieren mögen. Außerdem ermöglicht mir diese Tür im Notfall einen bequemen, streng privaten Abgang. Nachdem ich Hut und Mantel weggehängt hatte, öffnete ich die Tür zu Susies Arbeitsraum. Sie saß am Schreibtisch, sah die Post durch, und als ich »Servus!«, sagte, drehte sie sich um.
»Guten Morgen, Chef.« Ein Sonnenstrahl zeichnete kupferbraune Striche in ihr Haar und streifte die Sommersprossen auf der kleinen Nase. Ich hätte ihr gern einen Kuss gegeben, hielt mich aber zurück. Im Büro benahmen wir uns streng sachlich. Meistens. Sie legte den Finger an die Lippen, deutete mit einem Kopfnicken auf die geschlossene Tür des Empfangsraums und reichte mir eine maschinegeschriebene Seite, an der zwei Fotos im Format 12 x 18 befestigt waren. »Erkennst du die Frau auf dem oberen Bild wieder?«, fragte Susie mit gedämpfter Stimme.
In der Tat. Es war Babette König, die junge Dame, die wir am Abend zuvor kennengelernt hatten. Sie trug ein Ballettkostüm und nahm die dritte klassische Pose ein, die Arme graziös emporgestreckt, den rechten Fuß vom Spann des linken nach außen gekehrt. Ihre Figur war mehr als gut. Weit mehr. Auf dem zweiten Foto waren ein Mann und eine Frau zu sehen. Sie saßen an einem Tisch in einer Bar oder einem Restaurant und steckten vertraulich die Köpfe zusammen. Auf dem Tisch zwischen ihnen standen Cognacgläser, Tassen und ein Aschenbecher. Das Bild war offenbar bei schlechter Beleuchtung und ohne Blitzlicht, aber mit einem guten Objektiv bei weit geöffneter Blende und mit langer Belichtungszeit aufgenommen worden. Die Gesichter waren recht deutlich zu sehen. Der Mann war älter als die Frau, zum Teil kahlköpfig und an den Schläfen angegraut. Die Frau war blond, attraktiv und schien heimlich über eine Bemerkung des Mannes zu lächeln. Ich kannte beide nicht.
Dann sah ich mir den Text an. Das Datum lag über ein Jahr zurück. Die Überschrift lautete:
An R. Jungblut. Vertraulich. In Sachen Sieghardt W. Weber.
Ich hatte Sieghardt W. Weber total vergessen. Nun erinnerte ich mich plötzlich an einen etwas schäbigen Mann, einen blassen, ehemals recht hübschen Mann mit schlechten Zähnen, schütterem Haar und der falschen Sicherheit eines Menschen, der unten durch ist und seiner Umgebung etwas vortäuschen will. Er bezeichnete sich als Bühnenagent, aber ich merkte gleich, dass er bestimmt nicht Karin Dor oder Blacky Fuchsberger vertrat. Sein Problem indes war ein recht Alltägliches: Er wusste, dass seine Frau ihn betrog, konnte es aber nicht beweisen. Er wollte sich scheiden lassen. Sie weigerte sich. Er brauchte stichhaltige Beweise, die das Gericht anerkennen würde. Ob ich ihm behilflich sein wolle...
Ich erklärte höflich, dass die Agentur prinzipiell keine solchen Aufträge übernehme. Er machte ein betrübtes Gesicht, aber ich versicherte ihm, noch sei Polen nicht verloren. Ich kannte einen Mann, der ihm gerne helfen würde – übrigens nicht nur einen, sondern mehrere. Ich gab ihm Namen und Adresse eines der vertrauenswürdigen Dritten, des Privatdetektivs Carl Runold, der von Zeit zu Zeit gewisse heikle Aufträge für mich erledigt hatte, die ich als Vertreter der Jakobsen-Agentur nicht durchführen konnte. Ich gestattete Herrn Weber, sich auf mich zu berufen, und er bedankte sich tausendmal.
Nun las ich Carl Runolds Bericht. Er beteiligte mich zwar nie an seinem Honorar, und ich rechnete auch nicht damit. Aber er war immer so höflich, mir ein kurzes Resümee der Fälle zuzuschicken, die ich ihm zugeschanzt hatte. Dieser Bericht war in seinem üblichen Telegrammstil abgefasst und lautete:
Beschattungsauftrag. Ehebruchsverdacht. Routine. Verdacht tausendprozentig berechtigt. Gattin hat Liebhaber. Wichtiger Mann. Nach dem Hotelregister identifiziert. Wilfried Lohmann, Generaldirektor der Sartoria Film- und Fernseh-GmbH. Kommt mit Flugzeug aus Berlin, wenn Klient verreist. Gattin verständigt Lohmann telefonisch oder telegrafisch. Stichhaltige Beweise. Klient hat Foto – Kopie beigefügt – und eidesstattliche Versicherung erhalten. Klient zufrieden. Merkwürdig aber: Klient hat uns weder damals noch seither ersucht, in einem Scheidungsverfahren vor Gericht auszusagen.
An den unteren Rand hatte Carl Runold mit Bleistift hingekritzelt:
Ach, noch etwas, Remmi. Ich kontrolliere doppelt. Du verstehst, was ich meine. Klient hat gleichfalls geschwindelt. Kleine Puppe namens Babette König. Singvogel und Tänzerin. Aus München. Zweitklassig. Aber toll gebaut. Siehe Foto. Klient nicht informiert. Wurde nur für Beobachtung seiner Frau bezahlt. Geht mich nichts an. Schönen Dank, Remmi, für die Überweisung des Auftrags. Carl.
Ich sah Susie an und klopfte mit dem Zeigefinger auf Babette Königs Foto. »Ich hatte gleich das Gefühl, ich müsste sie schon früher einmal gesehen haben – ich meine, bevor wir sie in dem Film sahen.« Ich deutete auf die Tür zum Empfangszimmer. »Sitzt sie draußen?«
»Nein. Es ist Herr Weber.«
»Hol ihn herein.«
Das Telefon klingelte. Susie antwortete. Dann legte sie die Hand über die Muschel. »Carl Runold.«
Ich nahm das Gespräch an meinem Schreibtisch entgegen. »Servus, Carl.«
»Pass auf, Remmi. Ich muss dich warnen. Erinnerst du dich an diesen Weber, den du vor etwa einem Jahr zu mir geschickt hast? Scheidungsfall?«
»Ja...«
»Vor ein paar Minuten war er hier bei mir. Ich glaube, er ist zu dir unterwegs.«
»Schon da.«
Carl seufzte. »Vielleicht habe ich eine Dummheit begangen und dir etwas eingebrockt. Aber ich kann nichts dafür.«
»Wieso?«
»Weber kam zu mir und wollte den Bericht sehen, der in meinem Archiv liegt. Ich versicherte ihm, er hätte einen kompletten Bericht erhalten, aber er wollte meine Archivkopie sehen. Ich zeigte sie ihm. Aber ich vergaß, dass das Resümee, das ich dir zuzuschicken pflege, an der Kopie befestigt war. Er regte sich schrecklich auf und wollte wissen, warum ich dir eine Kopie geschickt habe. Ich sagte ihm, aus reiner Höflichkeit. Er wurde böse.«
»Weil ich eine Kopie besitze?«
»Ja. Ich finde es kindisch, aber er machte mir Vorwürfe, dass ich dir vertrauliches Material zugeschickt habe, das sich auf seine Privatangelegenheiten bezieht. Er sagte, ich hätte ihn verraten.«
»Schwamm drüber, Carl. Lass dir keine grauen Haare wachsen. Weber hat mir seine intimen Probleme anvertraut, bevor ich ihn zu dir schickte. Ich bin im Bilde.«
»Aber du wusstest nicht, dass Webers Frau mit Wilfried Lohmann herumpoussiert. Du hast es erst durch mich erfahren.«
»Na und?«
»Das ist es, was ihm sauer aufstößt«, erwiderte Carl. »Er wird deine Kopie sehen wollen.«
»Vergiss nicht, dass du eine Notiz über Webers außereheliche Eskapaden mit einer kleinen Tänzerin namens Babette König unten angefügt hast.«
»Du meine Güte, das hatte ich vergessen. Wirst du ihm die Kopie zeigen?«
»Ich werde zunächst abwarten, wie der Hase läuft.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich Susie an und bat sie, Weber hereinzuschicken. Im nächsten Augenblick erschien er auf der Schwelle meiner Bürotür. Ich stand auf, um ihm die Hand zu reichen. Er hatte sich seit dem letzten Mal sehr verändert. Er trug jetzt eine dicke gelbe Hornbrille und einen blauen Tuchanzug mit zarten Streifen. Auch das Hemd war blau, zart pastellblau wie ein Rotkehlchenei. Die Kragenzipfel wurden unter dem Knoten einer mausgrauen Satinkrawatte durch eine goldene Nadel zusammengehalten. Die Schuhe waren von schwarzem Korduan-Leder. In der Hand hielt er einen schwarzen Filzhut, über dem Arm einen dunkelblauen Mantel mit Samtkragen.
»So sehen wir uns also wieder, Herr Jungblut.« Sein Händedruck war fest und voller Zuversicht. Mir kam es vor, als klinge seine Stimme tiefer, ich konnte mich aber auch irren. Ich hatte ihn ja nur ein einziges Mal vor über einem Jahr gesehen. Dass sich jedoch sein Äußeres sehr zum Vorteil verändert hatte, war deutlich zu sehen. Sein Teint war nicht mehr blass, sondern sonnengebräunt.
»Ja. Was kann ich diesmal für Sie tun?« Ich nahm ihm Hut und Mantel ab und deutete auf den für Klienten bestimmten Stuhl.
Er setzte sich, zog sorgfältig die scharfen Bügelfalten hoch, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Ich sah, dass er nicht so wie ich kurze Socken, sondern lange schwarze Seidenstrümpfe trug. Als er aus der Innentasche ein silbernes Zigaretten-Etui hervorholte, funkelte an seiner linken Hand ein Brillant, von der Größe eines Radiergummis. Mit einem goldenen Feuerzeug zündete er sich eine lange, schmale Goldmundstückzigarette an. Das üppige Aroma türkischen Tabaks stieg mir in die Nase. Aus Notwehr zündete ich mir eine amerikanische Filterzigarette an und wartete höflich.
»Sie fragen sich wohl, Herr Jungblut, warum ich Sie aufgesucht habe.« Er lächelte. Ich sah, dass er sich die Zähne entweder hatte renovieren oder durch eine Prothese ersetzen lassen.
»Nicht unbedingt. Es freut mich stets, einen früheren Klienten begrüßen zu dürfen.«
»Ich war nicht Ihr Klient, Herr Jungblut. Sie wollten den Fall nicht übernehmen, erinnern Sie sich?« Er paffte an seiner Zigarette und neigte mit einer fast schelmischen Geste den Kopf auf die Seite.
Seine gönnerhafte Art irritierte mich. Aber ich versuchte, meine Stimme zu beherrschen. »Ich habe Sie an einen Kollegen verwiesen. Hat er den Auftrag erledigt?«
»Ja – schönen Dank«, erwiderte Weber. »Aber seine Geschäftsmoral gefällt mir nicht.« Ohne sich um die Bronzeschale auf meinem Schreibtisch zu kümmern, stäubte er Asche auf den Teppich. »Ich habe soeben von Herrn Runold erfahren, dass Sie in Ihrem Archiv einen ausführlichen Bericht über seine Nachforschungen besitzen, die er vor ungefähr einem Jahr im Zusammenhang mit meiner – wie soll ich sagen? – unangenehmen Affäre durchgeführt hat.«
»Was spielt das für eine Rolle? Ihr Wunsch wurde erfüllt. Sie haben Beweise für die Untreue Ihrer Gattin erhalten.«
»Darüber wünsche ich mich nicht zu unterhalten«, erwiderte er kalt und streute abermals Asche auf den Teppich. Ich schob ihm den Aschenbecher hin, aber er beachtete ihn nicht.
»Sie haben damit angefangen«, sagte ich. »Und was haben Sie sonst auf dem Herzen?«
Er nahm die Beine auseinander und beugte sich vor. »Ich bin gestern Abend aus Berlin hierhergeflogen. Ich will den Bericht und das Foto haben.« Er zog eine kalbslederne Brieftasche hervor. »Wieviel?«
»Nicht so hastig.« Ich hob die Hand. »Wohnen Sie nicht mehr in München?«
»Nein. Ich lebe jetzt schon seit fast einem Jahr in Berlin – ich arbeite bei der Sartoria.« Er hielt inne, fuhr dann fort: »Ich leite die Reklamefilmabteilung!«
»Gratuliere, Herr Weber. Warum aber wollen Sie den Bericht und das Foto haben?«
»Das geht Sie gar nichts an.«
»Doch«, erwiderte ich. »Leider. Unsere Archive sind vertraulich.« Natürlich wusste ich schon, aus welchem Grund er den Bericht und das Foto mit seiner Frau in Gesellschaft Wilfried Lohmanns, des Generaldirektors der Firma Sartoria, haben wollte. Aber er sollte es mir selbst sagen.
Schweißtropfen traten an seinen Schläfen hervor. Er wich meinem Blick aus. Seine Stimme klang gepresst. »Schön. Wie Sie wissen, bereitet die Sartoria einen Spielfilm mit der Lebensgeschichte jenes Mannes vor, der Ihre Organisation gegründet hat. Ihre Zweigstelle hat ebenso wie alle anderen Stellen den Auftrag erhalten, Abschriften Ihrer Akten nach Berlin zu schicken, wo unsere Manuskriptabteilung sie studieren wird.«
»Und?« Ich schämte mich ein wenig,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Christian Dörge/Signum-Verlag.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Nicole Pai.
Korrektorat: Nicole Pai.
Satz: Signum-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9100-3
Alle Rechte vorbehalten