HELEN NIELSEN
Die Frau auf dem Dach
Roman
Die Mitternachtskrimis, Band 2
Der Romankiosk
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE FRAU AUF DEM DACH
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Das Buch
...Langsam drehte sie sich um. Ein Frösteln befiel sie, ein Gefühl, das sie nur allzu gut kannte. Es war kein Frühlingsabend mehr, und das nette Zimmer kam ihr fremd und feindselig vor. Der Lehnstuhl - hatte sie selbst die Kissen so zerdrückt? Und wessen schmutzige Schuhe hatten ihre Spuren auf dem Teppich hinterlassen?
»Nein, ich will nicht hinschauen!«, rief sie laut. »Ich will nicht etwas sehen, das nicht da ist!«
Um sicher zu sein, drehte sie das Licht aus...
Der Roman Die Frau auf dem Dach von Helen Nielsen (* 23. Oktober 1918 in Roseville, Illinois; † 22. Juni 2002 in Prescott, Arizona) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1955.
Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.
DIE FRAU AUF DEM DACH
Erstes Kapitel
Jeden Abend, wenn Wilma Rathjen von der Arbeit nach Hause kam, spielte sich ein besonderer Ritus ab. Er fing damit an, dass sie nach dem Wandschalter langte und sämtliche Lampen im Wohnzimmer anknipste. Dann verriegelte sie die Tür hinter sich und unternahm eine sorgfältige Inspektionsreise durch die drei Räume mit Bad, die ihre Garagenwohnung ausmachten... Stand der Lehnstuhl an seinem Platz...? Waren die Fensterläden geschlossen...? Hatte jemand die Zeitschriften auf der Sitzbank berührt...? Nichts war zu unbedeutend, dass es nicht die Aufmerksamkeit dieses kleinen Frauchens mit den graumelierten dunklen Haaren und der namenlosen Furcht in den forschenden Blicken beansprucht hätte. Sogar die Schränke wurden durchsucht, ob denn auch die bescheidenen Kleidungsstücke noch, wie sich’s gehörte, in ihren Papiersäcken steckten und die Schuhe keine Spuren zeigten, dass jemand sie unrechtmäßig benützt hätte.
Erst nachdem dieser Ritus vorüber war, nahm sie sich Zeit, eine große gelbe Katze zu begrüßen, die sich eifrig an ihren spindeldürren Beinen rieb und schnurrend ein Loblied auf die Schweineleber in der Einkaufstasche sang.
...Eines Abends aber wurde dieser Ritus verabsäumt.
Die Waggoner war daran schuld. Selbstverständlich war es auch schon vorher ein schwieriger Tag gewesen, noch ehe sie zur Arbeit erschien, aber Leota Waggoner, Leiterin der Filiale Nummer 217 der Old Country, Style Bakeries (Spezialität: Großmütterchens Rezepte), besaß die Augen eines Falken und die Seele eines Inquisitors. Kaum hatte Wilma den Fuß über die Schwelle gesetzt, da fing die Folter an.
»Was ist mit der Geburtstagstorte, Miss Rathjen? Hat die Kundin sie schon geholt?«
Das war eine überflüssige Frage. Deutlich sichtbar prangte zwischen den üblichen Waren eine vierschichtige Torte mit Schokoladenüberguss, roten Zuckerrosen und der Aufschrift Meinem Liebling zum Geburtstag. Und überflüssig war die Besorgnis der Waggoner.
»Hoffentlich haben Sie sich nicht wieder geirrt«, fügte sie in ominösem Tone hinzu. »Sonst wird der Inspektor böse!«
Damit fing es an. Die Waggoner brauchte nur ein Wort zu sagen, und schon wuchsen Wilmas Sorgen ins Unermessliche. Geburtstagstorten wurden extra bestellt, und mit den Bestellungen, die sie auf, nahm, war immer was los - wie zum Beispiel mit den sechs Torten für den Bridgezirkel, die eine Woche zu früh geliefert wurden, und mit den neunzig Dutzend Pfannkuchen für das Fest der Kirchengemeinde, die überhaupt nicht geliefert wurden. Wilma war nicht dumm - im Gymnasium war sie Klassenerste gewesen, bis sie dann abgehen musste aber da in der Welt so viele schreckliche Dinge geschehen (manches Mal vor ihren Augen!), fanden sehr häufig die langweiligen und kleinlichen Wünsche der Kunden keinen Platz in dem Gewimmel ihrer Gedanken. Aber mit der Geburtstagstorte hatte es seine Richtigkeit. An diese Bestellung konnte sie sich sehr gut erinnern!
Es gab Zeiten, da sogar Mutter Natur sich gegen Wilma Rathjen zu verschwören schien. Regen machte sie nervös, und natürlich musste es an diesem Tage regnen. Der tiefhängende Nebel - überall anderswo als in Los Angeles würde man es ein Nieseln genannt haben - entwickelte sich im Laufe des Nachmittags zu einer kleinen Sintflut, so dass die älteren Kunden sich sehnsüchtig an die schönen Winter erinnerten, als die verschrobenen Wissenschaftler noch nicht begonnen hatten, mit Atombomben zu spielen. Wenn Wilma gehofft hatte, ihre Order auf das Wetterkonto abschreiben zu können, sah sie sich schnöde enttäuscht.
»Eine Kundin, die sich eine Torte für fünf fünfundneunzig leisten kann«, dekretierte die Waggoner, »kann auch ein Taxi spendieren. Das bisschen Regen macht keine Geburtstagsfeier zunichte.«
Schon möglich, dachte Wilma, aber es gibt andere Dinge, die eine Geburtstagsfeier zunichtemachen können...
Wie alle Filialen der Firma lag auch Nummer 217 in einer großen Markthalle an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung. Für gewöhnlich ging Wilma, wenn sie nach Hause eilte, den Weg durch die Halle. Es war näher zum Boulevard, und ihren Kolleginnen aus den anderen Ständen einen Gutenachtgruß zuzunicken, gab ihr für einen Augenblick das schöne Gefühl, dass sie zu ihnen gehöre. An diesem Abend aber schlich sie sich durch den hinteren Eingang davon. Der Grund lag auf der Hand. Außer ihrer Einkaufstasche, ihrem Handtäschchen und dem Schirm schleppte Wilma auch noch eine riesige Tortenschachtel mit sich, die den größten Teil des Nachmittags hinter einem Abfallbehälter im Lagerraum gelegen hatte. Besser die fünf fünfundneunzig einzubüßen als ihre Stellung, und die wäre bestimmt futsch gewesen, wenn die Waggoner bei der Schlusskontrolle entdeckt hätte, dass die Torte nicht abgeholt worden war. Die Arbeit bedeutete weit mehr für sie als das tägliche Brot (Curtis würde sie schon nicht verhungern lassen): Eine Zuflucht, damit sie nicht zu Hause zu sitzen brauchte, einsam in der winzigen Wohnung, lauschend, wartend, bis ihr das Gehirn wieder allerlei Possen zu spielen begänne und sie an jenen schrecklichen Ort zurückkehren müsste... Der bloße Gedanke daran ließ sie erschaudern. Gott sei Dank, dass die Waggoner sie nicht hatte weggehen sehen!
Die Hintertür der Bäckerei ging auf einen geräumigen Parkplatz, der die Markthalle von Le Rene’s Place trennte, einem neonbunten Nachtlokal, das noch für ganz andere Dinge als für seine Küche berühmt war. Inzwischen hatten die Hügel über dem Santa Monica Boulevard sich zur Nacht in eine schmutziggraue Regendecke gehüllt, aber die grellen Lichter des Nachtlokals waren bereits eingeschaltet, und die leichtbekleideten Damen auf den Wandplakaten lächelten geistlos in das Unwetter hinaus. Wilma hatte einen schnellen, plattfüßigen Gang, es sah immer so aus, als wollte sie jemanden überholen, und als sie an den lächelnden Dämchen vorüberkam, beschleunigte sie noch ihre Schritte. Sie schienen sie auszulachen, und aus ihren verführerischen Augen funkelte ein böser Blick. Was berechtigte die Schlechten, schön zu sein, da Wilma Rathjen so hässlich war...
Aber solche Gedanken musste sie sich aus dem Kopf schlagen. Sie eilte weiter und versuchte, sich an die Worte eines Lieblingspsalms zu erinnern, die die Spukgesichter verscheuchen würden. Und dann übertönte eine Stimme das Regengetrommel:
»Miss Rathjen! Sind Sie das, Miss Rathjen? Steigen Sie ein, ich fahre Sie nach Hause.«
Kein Grund, sich zu fürchten! Es war eine vertraute Stimme, und Wilma erkannte den Wagen wieder. Dennoch schreckte sie zurück.
»Denken Sie nicht an die Polsterung«, sagte die junge Dame am Steuer, während sie sich über den Vordersitz beugte, um die Tür aufzuhalten. »Ein bisschen Nässe wird der alten Karre nicht schaden.«
Wilma dachte nicht an die Polsterung. Wilma dachte nur an die riesige Tortenschachtel, und was für eine Erklärung sie sich ausdenken sollte, falls Ann Jenner sie fragte, was in dem Paket sei. Ann Jenner wusste genau, dass Wilma persönlich für eine Festtorte, noch dazu solcher Größe, keine Verwendung hatte!
»Ich gehe so gern zu Fuß«, begann sie, aber Ann wollte davon nichts wissen.
»Bei diesem Guss! Es herrscht schon genug Influenza, so dass Sie uns nicht auch noch krank zu werden brauchen!«
Die weiße Uniform unter Ann Jenners Regenmantel würde ihre Bemerkung erklärt haben, wenn nicht Wilma ohnedies gewusst hätte, dass sie Krankenschwester war. Wilma hat nichts für Krankenschwestern übrig. Sie sind ihr zu hurtig, zu tüchtig und zu weltklug - und wer weiß, wie es mit ihrer Moral bestellt ist! Aber Ann Jenner war keine Spitalpflegerin, sondern Schwester und Empfangsdame bei Dr. Fergus, dessen Ordination in einer Privatklinik gleich um die Ecke lag, und sie wohnte in dem Nordflügel desselben Villenblocks, in dem Wilma wohnte. Deshalb - und weil sie sich auf keinen Ausweg besinnen konnte - setzte sich Wilma neben Ann ins Auto und versuchte, die Tortenschachtel mit der Einkaufstasche, dem Handtäschchen und dem triefnassen Schirm zu tarnen.
»Sie sind heute früher dran«, sagte Ann, während sie den Wagen wieder in den Verkehrsstrom lenkte.
»Es ist Mittwoch«, murmelte Wilma.
»Ja, richtig! Sie schließen mittwochs früher! Wie gefällt Ihnen die Arbeit?«
Wilma gab keine Antwort. Gerade heute hatte sie gar keine Lust, über Dinge zu sprechen, die mit der Bäckerei zusammenhingen - und dass sie früher daran war, ja, ohne diesen leidigen Zufall würde die Tortenschachtel ihr nicht so sehr auf die Nerven gehen. Aber wie alle Krankenschwestern, die Wilma kennengelernt hatte, konnte auch diese hier nicht aufhören, drauflos zu schwatzen und ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.
»So ein Zufall!«, sagte sie. »Gerade heute hat Doktor Fergus sich nach Ihnen erkundigt.«
Wilma presste die Lippen zusammen. »Was wollte er wissen?«
»Nichts Besonderes. Er fragte nur, wie es Ihnen geht.«
»Doktor Fergus ist nicht mein Arzt.«
Wilma entging das flüchtige Lächeln, das der recht unansehnlichen Krankenschwester so gut zu Gesicht stand. »Doktor Fergus hat bestimmt nicht die Absicht, Patienten zu angeln. Er hat das Bild Ihres Bruders in der Zeitung gesehen, und da musste er an Sie denken. Haben Sie das Bild gesehen, Miss Rathjen?«
Das sensationsliebende Lokalblättchen lag noch zusammengefaltet in Wilmas Einkaufstasche, aber sie brauchte das Bild nicht zu sehen. Es war eigentlich immer dasselbe Bild: Thronend an einer Bankett-Tafel, das stereotype Lächeln auf dem feisten Gesicht. In der letzten Zeit hatte sie von Curtis kaum noch etwas anderes zu sehen bekommen als seine Bilder. Manchmal fragte sie sich, ob das Lächeln bereits in seinem Gesicht festgefroren sei.
»Er ist auf dem besten Wege, ein großer Mann zu werden!«, fügte Ann hinzu, und Wilma wurde mulmig zumute... Ein großer Mann. Diese selben Worte hatte Curtis an dem Tage zu ihr gesagt, da er sie vom Sanatorium zu ihrer neuen Behausung fuhr. Manche Leute konnten nicht begreifen, warum Curtis Rathjen seine Schwester in dem bescheidensten seiner Mietblocks untergebracht hatte, aber die winzige Wohnung über der Garage war eigens für sie ausgebaut worden. Dort war sie völlig ungestört. Kein Stimmengemurmel hinter dünnen Zwischenwänden, keine Fenster zu ebener Erde, keine unerwarteten Schritte im Flur.
»Hier werden dich keine Nachbarn belästigen«, hatte er versprochen. »Niemand außer dir benützt diese Treppe. Aber nimm dich in Acht! Wenn du noch einmal mit deinen Schauermärchen zur Polizei läufst, kommst du wieder in die Anstalt, und zwar für immer! Ich kann mir keine Skandale mehr leisten. Ich bin dabei, ein großer Mann zu werden.«
Nie würde Wilma diese Worte vergessen. Plötzlich begann sie vor Aufregung zu zittern. War es wirklich nur ein Zufall, dass Ann Jenner sie gerade heute, an dem einen Tage, da sie früher aus dem Geschäft ging, aufgegabelt hatte? War es ein Zufall, dass sie Curtis’ Worte zitierte? Und Dr. Fergus hatte sich nach ihr erkundigt. Sie erinnerte sich dunkel, dass Curtis einmal erwähnt hatte, er habe diesen Dr. Fergus in seinem Club kennengelernt. War das vielleicht mehr als eine zufällige Begegnung gewesen? Sollte der Arzt, weil er seine Praxis in der Nähe der Markthalle hatte, sich von Zeit zu Zeit nach ihr erkundigen? Hatte die Mieterin aus dem Nordflügel den Auftrag erhalten, sie zu überwachen?
»Fühlen Sie sich nicht wohl, Miss Rathjen?«
Wilma blickte auf und sah, wie die Pflegerin ihr hageres Gesicht im Rückspiegel betrachtete. »Ich bin müde«, erwiderte sie schnell. »Es war ein anstrengender Tag.«
»Ich werde aber doch mit Ihnen hinaufgehen und die Temperatur messen. Bei solchem Wetter muss man sich vorsehen.«
Gewiss, dachte Wilma. Ich muss mich bei jedem Wetter vorsehen - besonders, wenn ich es mit so abgefeimten Leuten zu tun habe! Krankenschwestern können ebenso schlimm sein wie Ärzte - oder sogar so schlimm wie die Polizei! Sie hören zu und sind voller Anteilnahme und bitten dich, all das Schrecklidre zu berichten, das du weißt - dabei aber überlegen sie die ganze Zeit, wie sie dich irgendwo einsperren könnten...
Von der Markthalle bis zu dem Villenblock war der Weg nicht weit, und noch bevor die Räder stille standen, hatte Wilma bereits die Autotür geöffnet.
»Fällt mir nicht ein, Sie zu belästigen!«, rief sie, bevor Ann Jenner protestieren konnte. »Ich werde etwas Leichtes essen und dann gleich zu Bett gehen... Nein, nein Sie brauchen mir nicht zu helfen. Ich schaff’s allein!«
Es war nicht sehr klug von ihr, soviel zu schwatzen, aber sie musste verhindern, dass das Frauenzimmer die Tortenschachtel in die Hände bekam. Das würde eine nette Geschichte sein, wenn Curtis davon hörte...
...Ihre Schwester ist wieder krank. Sie hat sich eine große Geburtstagstorte gekauft, und dabei hat sie nicht einmal Geburtstag...!
Ihre Siebensachen zusammenraffend und ohne ein einziges Wort des Dankes machte Wilma kehrt und eilte fluchtartig über den schmalen Weg, der zu der Garagentreppe führte. Sie hörte nicht eher zu laufen auf, bis sie oben angelangt war und sich in ihre kleine Zufluchtsstätte eingeschlossen hatte.
Wilma stand da, starrte die Tortenschachtel an, die sie noch in der Hand hielt, und wusste nicht, wie die Zeit verrann. Sie hatte vergessen, das Licht anzuschalten. Allmählich traten die Umrisse des Zimmers hervor, schwebende Schatten und ein Lichtschein aus dem Hof. Wilma war durchnässt und durchfroren. Der triefende Schirm hinterließ eine hässliche Pfütze auf dem geflochtenen Chenille-Teppich. Aber sie starrte unverwandt die Schachtel an. Jetzt schien sie ihr ein Symbol zu sein für die dümmste Handlung ihres Lebens.
...Wenn du noch einmal mit deinen Schauermärchen zur Polizei läufst, kommst du wieder in die Anstalt, und zwar für immer...!
Curtis’ warnende Stimme aus dem Dunkel...
Aber wie sollte sie sich denn auskennen? Wie sollte sie das Schauermärchen von der Wahrheit unterscheiden können? Wenn die Kundschaft nicht erscheint, um den bestellten Kuchen zu holen und zu bezahlen, wird Wilma ausgescholten. Was aber, wenn die Kundschaft erscheint - jetzt, nachdem Wilma sich mit der Torte aus dem Staub gemacht hat?
Wilma musste sich vergewissern. Der Villenblock bestand aus sechs Häuschen (ausschließlich der Garagenwohnung) - verteilt auf zwei Komplexe, die vorn durch einen Stukkaturbogen miteinander verbunden waren. Drei gleiche Türen blickten auf drei gleiche Türen, und jeder Lichtstreif, der auf den schmalen Rasen in der Mitte fiel, bezeichnete die Salonfenster einer Wohnung. Als Wilma hinausblickte, sah sie Licht in Ann Jenners Fenster. Im gegenüberliegenden Haus war es finster; ein schöner junger Mann wie Tony Carmen lässt selten sein schnittiges Kabriolett in der Garage rosten. Der Lichtstreif neben Ann Jenners Fenster verkündete, dass der alte Wallace Timm wie gewöhnlich zu Hause war, und gegenüber seiner Wohnung ging’s immer lebhaft zu, mit Fernsehen und lärmendem Radio. Dort hauste das Theatervölkchen, wie Wilma sich auszudrücken pflegte, und wollte Gott, Curtis würde sich endlich abgewöhnen, an leichtfertige junge Damen von der benachbarten Varieté-Bühne zu vermieten.
Aber der Block hatte sechs Wohnungen, und es waren die beiden letzten, die Wilma so viel Sorgen bereiteten. Von ihrem hochgelegenen Aussichtspunkt aus sah sie mehr als nur die Lichtstreifen auf dem Rasen: Ihr Blick wanderte in zwei Küchen, in zwei Schlafräume, in zwei Badezimmer. Erschreckend, dass so wenige Menschen daran denken, die Vorhänge zuzuziehen. Zu diesen Menschen gehörte vor allem Ruby Lennox. Ruby machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube und aus ihrem Leben kein Geheimnis... Aber Wilmas ängstlich gespannte Aufmerksamkeit und Neugier galten keineswegs der Wohnung von Ruby Lennox.
Ihre Blicke wanderten über den Hof zu den gegenüberliegenden Fenstern. Ja, das Badezimmer war erhellt: Dies zumindest hatte sie sich nicht eingebildet! Ihr Herz begann hastiger zu pochen. Soeben war ihr ein Gedanke durch den Kopf geschossen wie ein verspäteter Sonnenstrahl. Auch wenn sie sich wieder einmal geirrt haben sollte, gab es einen Ausweg. Sie konnte selbst die Torte abliefern und sagen, wegen des Wetters hätte die Firma einen besonderen Kundendienst organisiert. Schöne Frauen sind es gewohnt, sich bedienen zu lassen, sie betrachten das als ein natürliches Vorrecht - und Jeri Lynn war die schönste Frau, die Wilma je gesehen hatte.
Aber die Scheiben leuchteten hell. Und hinter den Scheiben des Badezimmerfensters war alles genauso, wie sie es den ganzen Tag über in Erinnerung gehabt hatte: Der Kopf zurück geworfen, die goldbraunen Haare im Wasser gelöst, die nackten Schultern braun vor dem grellen Weiß der Wanne...
Mit einem Seufzer der, Erleichterung trat Wilma vom Fenster zurück. Sie hatte also doch recht gehabt. Jeri Lynn würde ihre Geburtstagstorte nicht abholen.
Zweites Kapitel
Weil Ruby Lennox ihre Telefonrechnung nicht bezahlen konnte, wurde die Leiche in der Badewanne am nächsten Vormittag entdeckt. Es war fast schon um die Mittagsstunde, aber als der Mann von der Telefongesellschaft an die Tür klopfte, ging Ruby noch im Morgenrock und in Pantoffeln umher.
»Sie könnten mir wenigstens Zeit lassen, mein Frühstück zu beenden«, murmelte sie über den Rand der Kaffeetasse hinweg, die sie in der Hand hielt. »Es gibt Leute, die nachts arbeiten, müssen Sie wissen!«
Der Telefonmann grinste, denn er hatte seine private Meinung über die Nachtarbeit dieser zerzausten Blondine, und während er in die Wohnung ging, trat Ruby auf die schmale Terrasse hinaus, um mit dem Kaffee auch ein wenig Sonnenschein zu schlürfen. Nach dem vielen Regen tat die Sonne wohl, und Ruby war stets überrascht, wenn sie beim Erwachen einer so sauberen und frischen Welt begegnete, einer Welt ohne Zigarettenrauch, ohne schale Likörgerüche und ohne die Hintergrundmusik klappernder Serviertabletts. Ruby war Kellnerin von Beruf, ihre Schicht dauerte von sechs bis zwei, aber sie ging selten vor sieben zur Arbeit und kam selten vor Tagesanbruch nach Hause.
Hier im Hof an diesem hellen und strahlenden Morgen fühlte man sich keineswegs einsam und verlassen. Das Unwetter hatte sich über Nacht gelegt. Ein alter Mann in ausgebeulten Arbeitshosen und verblichenem blauem Hemd war auf dem schmalen Fahrweg, der die beiden Gebäude trennte, damit beschäftigt, dürres Laub und abgefallene Palmenzweige zusammenzuharken. Der Anblick eines Lebewesens war für Ruby stets das Signal, ein Gespräch zu eröffnen.
»Sie arbeiten zu viel, Papachen!«, rief sie dem Alten zu, und er drehte sich um, das runzelige Gesicht mit den Apfelbäckchen in düstere Falten gelegt.
»Rathjen ist anderer Meinung«, murmelte er. »Rathjen ist der Meinung, dass ich gar nichts tue.«
»So, und was tut Rathjen, außer dass er die Mieten einkassiert?« Der Alte -»für Ruby war er immer nur der Alte, obwohl er ebenso gut fünfzig wie siebzig sein mochte - schien ihre Frage beachtenswert zu finden. Er stützte sich auf die Harke und betrachtete die Türöffnung hinter Rubys Rücken. Was ging da drin vor? Das musste was zu bedeuten haben. Wenn Leute ausziehen, pflegen sie das Telefon abmontieren zu lassen. Wollte Ruby ausziehen? Dann musste Rathjen sofort davon verständigt werden. Curtis Rathjen sah nicht gerne seine Wohnung leerstehen.
»Ist was los?«, fragte er. Es brauchte nicht viel, um Ruby zu veranlassen, beliebige Intermezzi aus ihrem ereignisreichen Leben zu berichten. Jetzt erzählte sie eine traurige Geschichte, die davon handelte, wie es einer Telefonrechnung ergehen kann, wenn eine einsame junge Dame sich einen Schwips antrinkt und ihre sämtlichen Bekannten in sämtlichen Gegenden des Landes anruft. Ferngespräche sind teuer.
»So was von einer Rechnung! Und jetzt nimmt man mir das Telefon weg«, sagte sie traurig und versonnen. »Ich bin ohnedies einsam. Und ohne Telefon kann ich mich überhaupt mit niemand mehr verabreden!«
»Ich habe ein paar Dollar übrig begann der Alte.
»Vielen Dank, Papachen, aber die Rechnung beträgt achtunddreißig Dollar. Welcher Mensch hat denn so viel Geld?«
Der Gedanke wirkte ernüchternd, und sowohl Ruby wie der Alte versanken in gebührendes Schweigen. Dann warf Ruby den silberblonden Kopf zurück und lächelte. Das Leben ist ein ewiges Auf und Ab, da darf man etwas so Triviales wie ein abmontiertes Telefon nicht ernst nehmen.
»Vielleicht hat Rathjen ein bisschen Arbeit für mich«, sagte sie. »...oder ist diese Arbeit schon vergeben?«
Bei diesen Worten wanderten Rubys Blicke zu den gegenüberliegenden Fenstern, und ihr Ton hatte eine gewisse Schärfe, die den Alten in Verlegenheit brachte, so dass er das Gespräch nicht fortsetzen wollte. Er äußerte sich mit undeutlichem Gemurmel über eine schadhafte Regenrinne, legte die Harke weg und stapfte zu der Garage hin. Als er wenige Minuten später mit einer Leiter unter dem Arm zurückkehrte, war der Telefonmann inzwischen bei Ruby fertig geworden, und die beiden standen plaudernd wie zwei alte Freunde auf der Terrasse. Der Anblick der Leiter störte das Tête-à-Tête.
»He, Papachen!«, rief der Telefonmann. »Borgen Sie mir mal die Leiter! Ich muss die Leitung kontrollieren, und da erspare ich mir den Weg zum Gerätewagen.« Der Telefonmann wanderte also mit Papas Leiter zu der Hinterseite des südlichen Flügels, wo die Leitungen angeschlossen waren - und ein paar Minuten später kam er mit hervorquellenden Augen und offenem Munde zurückgaloppiert.
»Eine Tote liegt in der Badewanne!«, schrie er, »Wo ist das Telefon?«
Ja, sie war tot, mausetot. Der übereifrige junge Mann, der einen Sauerstoffapparat anforderte, war um zwei Tage zu spät gekommen. Um das zu wissen, brauchte John Peter Osgood nicht erst auf den Befund der Leichenschau zu warten. Osgood mit seinen vierzig und etlichen Jahren hatte schon eine Menge Leichen gesehen, und bei Jeri Lynn war nur eines ungewöhnlich: Schöne junge Frauen, die in einer schäbigen Mietwohnung tot aufgefunden werden, haben im Allgemeinen kein derart stilles und sauberes Ende genommen. Er war geradezu ein wenig enttäuscht. Ja, ein Mord - das wäre interessant gewesen. Für die hohe Dame mit den verbundenen Augen ist das Morddezernat eine wichtige Domäne, und für Osgood wiederum ist die hohe Dame mit den verbundenen Augen eine Art persönlichen Mündels. Sie vertritt die Stelle aller der Frauen, die er nie geliebt hat.
Dann sagte Kollege Frenchy: »Immer heißt es: Im Badezimmer kommen mehr Menschen um als sonstwo. Deshalb bin ich lieber schmutzig.«
Frenchy Bartel war alles eher als schmutzig. In kariertem Sportjackett und heller Flanellhose sah er sehr elegant aus, zum Unterschied von dem unscheinbaren Osgood, Man hätte ihn eher für einen Kuppler, für einen jungen Gangster, für einen Heroinschmuggler gehalten - und er hatte auch sonst noch seine Seiten. John Peter Osgood aber mit seiner stämmigen Statur und den derben Zügen - wenn man ihn ansah, glaubte man durch die Tasche seines dunkelgrauen Kammgarnanzuges die Polizeidienstmarke zu erspähen. Vielleicht lag es daran, dass Osgood seinen Beruf ererbt hatte. Ein Porträt seines Vaters in voller Uniform stand heute noch auf dem Kaminsims an derselben Stelle wie an jenem Tag, da ein schießwütiger Gangster die Gattin des Osgood Senior zur Witwe gemacht hatte, und späterhin hatte Osgood Junior neunzehn Jahre Pensionsberechtigung zusammengescharrt in dem Bemühen, eine Rechnung zu begleichen, die alle anderen längst vergessen hatten. Mit der Zeit hatte er es bis zum Sergeant gebracht, und viel mehr hoffte er eigentlich nicht zu erreichen. Mit seinem Gehalt und Mamas Pension brauchten sie beide keine Not zu leiden. Er hatte es nicht nötig, extravaganten Schönheiten, gleich der Toten in der Wanne, Nerzpelze und französische Parfüms zu kaufen...
Es schien ein recht einfacher Fall zu sein. Die Wanne war ein altmodisches Modell mit vergipsten Wänden, damit es so aussähe, als ob. sie eingebaut sei. Dort wo das schmale Ende an die Eckwand stieß, bildete der Gipsputz einen etwa dreißig Zentimeter breiten Sims. Über dem Sims war ein Steckkontakt mit eingekoppelter Verbindungsschnur, und auf dem Boden der Wanne lag ein Fön, der sich schlecht mit dem feuchten Element vertrug. Es roch nach Kölnischwasser und ah den Mittelchen, mit denen Frauen ihren Schönheitskult betreiben. Über dem Korb mit schmutziger Wäsche hing ein hauchdünner Morgenrock, und in dem anstoßenden Schlafzimmer war auf dem Bett ein faltenreiches Abendkleid zurechtgelegt. Eine Frau, die sich anschickt, groß auszugehen, mag es eilig haben, und dann passiert es, dass sie allzu unvorsichtig mit ihren zeitersparenden Apparaten hantiert: So lautete das Ergebnis des vorhandenen Beweismaterials.
»Warum musstest du dir die Haare waschen, mein schöner Schatz!«, sagte Frenchy seufzend. Dann trat er beiseite, um die Mordkommission einzulassen.
Osgood hatte nie viel zu sagen. Ob Mord, Selbstmord oder reine Unvernunft, stets waren allerlei Schreibereien zu erledigen. Seine Blicke registrierten dieselben Einzelheiten wie Frenchy und vielleicht noch einiges mehr, gleichzeitig aber beschäftigten sich seine Gedanken mit dem amtlichen Rapport...
Name: Jeri Lynn, das hatte er von den aufgeregten Mietern erfahren,... weiblichen Geschlechts... weiße Hautfarbe... Alter 20 bis 22... Angehörige...
»Angehörige«, sagte er laut. »Ob jemand weiß, was für Verwandte sie hat?«
Inzwischen hatte sich die halbe Nachbarschaft auf dem länglichen Hof versammelt, und es war nicht leicht, die Bewohner des Blocks von den Neugierigen zu unterscheiden. Zu guter Letzt aber schleppte Frenchy einen alten Mann an, der erklärte, er heiße Wallace Timm und sei so etwas wie Hausmeister im Dienste des Eigentümers.
»Ich weiß nur, dass sie allein hier gewohnt hat«, erklärte der Alte, »Manchmal hat sie Besuch gehabt, aber ich glaube nicht, dass das Verwandte waren.«
»Männer?«, fragte Frenchy.
Der Alte kratzte sich den angegrauten Kopf mit einer Hand, an der zwei Finger fehlten. »Meistens«, antwortete er. »Aber sie war auch mit den jungen Damen nebenan befreundet. Sie hatten den gleichen Beruf.«
»Was für einen Beruf?«, erkundigte sich Osgood.
»Bühne. Ich glaube, manchmal hat sie auch Modell gestanden. Und einmal hat sie mir erzählt, dass sie ein Starlet war.«
»Ein Starlet«, murmelte Frenchy. »Aus der Hollywoodsprache übersetzt: Beschäftigungsloses Filmgesicht.«
In solchen Dingen war Frenchy Fachmann. Osgood runzelte die Stirn. Die Wohnung machte einen recht billigen Eindruck, aber das Kleid auf dem Bett und das hauchdünne Zeug im Badezimmer hatte sie nicht mit der Arbeitslosenunterstützung bezahlt.
»Wo kommt sie her?«, fragte er.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich habe nicht oft mit ihr gesprochen, außer wenn was zu reparieren war - so wie neulich, als das Schloss im Badezimmer sich verhakte. Ich musste den Schnapper losschrauben. Sie hatte Angst, dass sie plötzlich nicht mehr aus dem Badezimmer herauskann.«
»Sie scheint überhaupt nicht viel von Schlössern gehalten zu haben. Wie ich höre, standen alle Türen offen, als man sie fand.«
»Richtig. Sie hat nur abgesperrt, wenn sie wegging... Jedenfalls erinnere ich mich - wie ich mit der Tür beschäftigt war, habe ich den Fön im Badezimmer liegen sehen. Ich habe ihr gesagt, dass das gefährlich sei, aber sie hat nicht hingehört. Junge Menschen denken nicht an Gefahren.«
»Noch an sonst was«, murmelte Osgood. »Schön, Frenchy, hör zu glotzen auf und hol die Mädels von nebenan.«
Frenchy nahm den Alten mit, und Osgood blieb allein in der Wohnung zurück. Er ging ins Badezimmer, um sich noch einmal den Haartrockner anzusehen. Es war ein simpler Handapparat, aber der Griff, erweiterte sich unten zu einer Standfläche. Das Ding war nicht schwer. Trotzdem fuhr er mit den Fingern über den gestrichenen Gips-Sims und suchte nach eingedrückten Vertiefungen. Dann legte er den Apparat beiseite und begab sich ins Schlafzimmer, um einen Blick in die Kleiderschränke zu werfen. Wie er es nicht anders erwartet hatte, waren sie mit dem Allerfeinsten angefüllt, das zu dem Abendkleid passte, ein Nerzpelz mit eingeschlossen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein junges Geschöpf jeden Groschen, den es verdient, in Kleidern investiert, aber ein Nerzpelz kostet eine ganze Menge Groschen.
Die Möbel stammten allesamt aus Ausverkäufen. Neben dem Bett stand ein Tischchen mit einer Lampe, einem Telefonapparat und einem Nummernverzeichnis. Osgood öffnete das Büchlein und blätterte es rasch durch. Eine Sammlung von männlichen Vornamen und hier und dort zwischen den Seiten ein paar Geschäftskarten: Ein Arzt, ein Theateragent, ein Reklamefotograf.
In der Ferne heulte die Mittagssirene. Automatisch blickte Osgood auf seine Armbanduhr. Es sah so aus, als würden Jeri Lynns nächste Anverwandte schwer zu finden sein, aber seine eigene nächste Anverwandte wartete jetzt auf den täglichen Anruf. Er steckte das Büchlein mit den Telefonnummern ein und langte nach dem Hörer.
Als Frenchy zurückkehrte, war Osgood noch immer nicht mit seinem Gespräch fertig. »...Aber sicher, Mama! Ich habe alles aufgeschrieben: Eier, Apfelsinen - und für dich die Nerventropfen aus der Apotheke. Wenn du keine Lust hast, brauchst du mir kein Essen zu richten. Ich kann auf dem Heimweg irgendwo einkehren.«
Das Gespräch nahm jäh ein Ende, als Osgood aufblickte und drei Paar Augen auf sich gerichtet sah. Er knallte den Hörer hin, ohne sich um Frenchys schiefes Grinsen zu scheren. Frenchy konnte sich anscheinend nicht damit abfinden, dass ein Mann neunzehn Jahre lang jeden Mittag Punkt zwölf seine Mutter anruft.
»Na?«, sagte er schroff, und man ging zur Tagesordnung über.
Die beiden Damen, die Frenchy mitgebracht hatte, waren recht ansprechend, aber sie hatten die Backfischjahre hinter sich. Die eine hatte lange Beine und rote Haare und hieß Sharl, die andere war eine kleine Brünette namens Denise. Beide waren voller Feuereifer und überaus hilfsbereit. »Arme Jeri! Süße Jeri! Natürlich haben wir sie gut gekannt!« Aber gut bedeutete in ihrem Jargon, dass sie ihr drei Monate lang flüchtig begegnet waren, hie und da ein Wort mit ihr gewechselt hatten und überhaupt nicht wussten, wo sie herkam oder wo ihre Verwandten lebten.
»Vielleicht weiß es der Trompeter«, meinte Sharl. »Tony Carmen, der vorne wohnt. Er ist manchmal mit ihr ausgegangen.«
»Oder Ann Jenner!«, fügte Denise hinzu. »Sie wohnt auch nach vorne hinaus - auf der anderen Seite. Sie ist Krankenpflegerin und war schon hier, als Jeri einzog.«
Osgood gab Frenchy ein stummes Zeichen, und Frenchy seufzte. »Gerade wenn ich anfange, die Aussicht zu bewundern!«, murmelte er.
»Nimm die Aussicht mit!«, sagte Osgood. »Nein, warte einen Augenblick. Wann habt ihr beide eure gute Freundin das letzte Mal gesehen?«
Zwei gerunzelte Stirnen grübelten über die Frage nach. Denise antwortete zuerst. »Am Dienstagnachmittag. Ich war zu einer Probe unterwegs, und da sah ich sie zu Elaine hineingehen - das ist ein Schönheitssalon am Boulevard. Wir probten dann bis zur Abendvorstellung, und nachher habe ich sie nicht mehr gesehen. Du, Sharl?«
»Nein. Aber ich habe das Badewasser einlaufen hören. Die Rohre in diesem alten Gerümpel sind ganz schrecklich. Man braucht nur irgendwo einen Wasserhahn aufzudrehen, und der ganze Block fangt zu rumoren an.«
»Und wann war das?«
»Am Dienstagabend. Es muss gegen halb sieben oder sieben gewesen sein, Jeri pflegte immer ein Bad zu nehmen, bevor sie essen ging, und sie war immer zum Essen eingeladen. Du meine Güte - wenn man sich vorstellt, dass sie die ganze Zeit tot hier gelegen hat!«
Frenchy bugsierte die jungen Damen hinaus, bevor sie Gelegenheit hatten, ihr ganzes dramatisches Ausdrucksvermögen vorzuführen, aber was die Informationen betraf, die er einholen sollte, lief er sich vergebens die Hacken ab. Die Krankenschwester arbeitete bis nach fünf, der Trompeter Tony Carmen spielte nebenbei auch noch ein Instrument, das unter dem Namen Rennwetten bekannt ist, und während der Rennsaison ging er stets früh von Zuhause weg - das war die Quintessenz des Berichts, den Frenchy von seiner Rundreise mitbrachte. Inzwischen hatte Osgood seine Inspektionstour durch die Wohnung beendet. Er hatte in die Küche hineingeguckt, wo ein paar schmutzige Teller im Ausguss lagen und eine frisch geöffnete Whiskyflasche auf dem Abwaschtisch stand, hatte die Hintertür besichtigt und festgestellt, dass sie nicht versperrt war - wie es in dem Bericht stand, den er schnell nachkontrollierte - und war schließlich in das kleine, muffige Wohnzimmer zurückgekehrt. Auf einem spindelbeinigen Schreibtisch lagen ein Stoß unbezahlter Rechnungen, ein Bankauszug über die Summe von drei Dollar und sechzig Cent und eine Auswahl blank schimmernder Reklamefotos, mit denen wenig anzufangen war, da sie alle nur die Züge der Toten zeigten. Das kam ihm nicht geheuer vor. Es fehlte ihm etwas: einige Amateurfotos mit Gesichtern, zu denen er dann die passenden Namen würde aufstöbern können, und ein paar Privatbriefe mit einer Absenderadresse in der oberen Ecke.
»Sind damit sämtliche Mieter erfasst?«, fragte er Frenchy.
»Nein. Da haben wir erstens noch eine alte Jungfer auf dem Dach.«
»Auf dem Dach?«
»Auf dem Garagendach. Eine neugebaute Garage mit einer aufgestockten Wohnung. Aber sie ist nicht zu Hause. Außerdem wohnt gleich dort drüben eine Blondine, die mich an etwas erinnert.«
»Alle Blondinen erinnern dich an etwas.«
»Nein, im Ernst! Sie sagt, sie sei Kellnerin, aber mir ist immerzu, als hätte ich sie schon wo ohne Schürze gesehen. Aber sie wohnt erst seit ein paar Wochen hier und behauptet, dass sie Jeri nur vom Sehen kannte. Ab und zu sei sie ihr auf dem Hof begegnet - unter anderen am Dienstagabend gegen halb sieben. Das scheint das letzte Mal gewesen zu sein, dass jemand sie lebend gesehen hat.«
Dienstagabend, halb sieben... Osgood blickte wieder auf seine Uhr. Es war jetzt Donnerstag, etwas nach zwölf. Von der Tragödie im Badezimmer waren keine anderen Spuren zurückgeblieben als ein Ring von Seifenschaum rund um die Wanne und auf dem Bett ein elegantes Abendkleid, das nie mehr tanzen gehen würde. Jetzt, da man die Leiche weggeschafft hatte, verkrümelten sich auch die neugierigen Nachbarn, und Frenchys akrobatische Augenbrauen schienen zu murren: Was haben wir hier noch zu suchen? Osgood gab ihm keine Gelegenheit, die Frage zu stellen, da er keine Antwort wusste. Er hatte nur das unbehagliche Gefühl, dass hier etwas nicht stimme, dass nicht alles so sei, wie es aussah. Aber Gefühle haben nun wieder in einem Routinebericht nichts zu suchen.
Auf dem Wege zur Tür nahm er ein paar Reklamefotos mit. An einem ereignislosen Tag kann ein Lokalredakteur mit einer schönen Toten in einer Badewanne allerlei hermachen, egal, auf welche Weise sie umgekommen ist. Es gibt verschiedene Methoden, um Angehörige aufzuspüren.
Drittes Kapitel
Obwohl Wilma den großen Wirbel versäumte, den nur eine gelbäugige Katze von ihrem Aussichtspunkt auf dem Garagendach beäugt hatte, brauchte sie nicht auf die Abendblätter zu warten, um von Joris Schicksal zu hören. Kaum war das Sirenengeheul in den Straßen verstummt, da kamen auch schon in Scharen die freiwilligen Kuriere in die Bäckerei gewandert - und alle wollten sie Wilma sprechen. »Haben Sie schon gehört?« Begannen sie alle, und dann beeilten sie sich, die Geschichte mit farbigen Ausschmückungen zu berichten, die stets in der fast neiderfüllten Frage gipfelten: »Ist das nicht der Block, in dem Sie wohnen, Miss Rathjen? Sind das nicht die Häuser Ihres Bruders?« Wilma war zuerst ganz ängstlich zumute, dann aber kam sie sich wichtig vor. Dass man ihr ungewohnterweise so viel Aufmerksamkeit schenkte, stieg ihr zu Kopf. Sie fühlte sich versucht, den Leuten zu gestehen, dass sie das alles schon viel früher gewusst habe als die andern, aber nein, Finger an die Lippen! Auch Geheimnisse sind aufregend und nicht annähernd so gefährlich...
»Jeri Lynn?«, sagte die Waggoner, nachdem sie die Neuigkeit zum vierten Mal gehört hatte. »Der Name muss mir schon mal begegnet sein.«
»Sie war Schauspielerin«, sagte Wilma.
»Das besagt mir gar nichts. Die einzige Schauspielerin, die ich kenne, ist Greta Garbo, und Sie werden mir nicht einreden, dass man sie in der Badewanne Ihres Bruders gefunden hat!«
Wilma wollte protestieren, dass es ja nicht eigentlich die Badewanne ihres Bruders gewesen sei, aber dann wurde ihr klar, worüber die Waggoner sich ärgerte. Eifersucht! Sämtliche Kunden wollten von Wilma bedient werden und kauften mehr als gewöhnlich, nur um das Gespräch hinauszuziehen. Wenn es in diesem Tempo weiterging, würde das Lager noch vor Ladenschluss ausverkauft sein! Wilma kam sich fast wie eine Berühmtheit vor!
Und dann wurde ihr sehr wohl zumute. Natürlich nicht etwa, weil Jeri Lynn tot war - obwohl Jeri zweifellos den Zorn. Gottes auf sich herabbeschworen hatte sondern weil Wilma diesmal nicht auf den Holzweg geraten war. Sie hatte es sich also doch nicht bloß eingebildet, es war wirklich passiert! Die düsteren Befürchtungen, die Ann Jenner am Tage zuvor in ihr wachgerufen hatte, lösten sich in Nichts auf. Sie würde nicht wieder krank werden. Man würde sie nicht wieder aus ihrer reizenden Wohnung wegholen und ihr jeden Stolz rauben, jedes Fürsichsein! Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne schien, und die ganze Welt schien zusammen mit ihr diesen einzigartigen Sieg zu feiern. Sie begann sich zu überlegen, was sie morgen, an ihrem freien Tag, unternehmen würde. Vielleicht würde sie die Bibliothek aufsuchen oder einen Stadtbummel machen. Für gewöhnlich würde sie sich eine Nachmittagsvorstellung angesehen haben, denn obwohl sie die Meinung jener Leute teilte, welche die meisten Filme wegen ihres unmoralischen Inhalts verschmähen, war sie der Ansicht, man müsse die Schlechtigkeit der Welt kennenlernen, um vor ihr auf der Hut zu sein. Diese Woche aber konnte sie sich keine Eintrittskarte leisten, da sie die Geburtstagstorte hatte bezahlen müssen. Das war das einzige, was sie Jeri Lynn immer noch übelnahm.
Es war am späten Nachmittag, als Wilma sich der nächsten Kundschaft zuwandte, nachdem ihr die Sensation der Gegend zum soundsovielten Male serviert worden war, und da sah sie sich einer Person gegenüber, die die Geschichte nicht berichten, sondern hören wollte. Ein einziger Blick auf die weiße Tracht vor dem Ladentisch, und sie langte nach den Himbeertörtchen. Ann Jenner pflegte oft um diese Zeit zu erscheinen und vier Törtchen zu kaufen. Sie und Dr. Fergus machten nachmittags eine Teepause, sofern die Patientenliste es gestattete.
»Was sagten Sie eben über Jeri Lynn?«, fragte die Krankenschwester.
Wilma wollte kaum ihren. Ohren trauen. »Haben Sie nicht gehört, was passiert ist? Heute Morgen hat man sie tot in ihrer Badewanne aufgefunden. Es heißt, sie ist schon seit mindestens zwei Tagen tot gewesen.«
Die Papiertüten lagen auf einem Regal hinter dem Ladentisch, deshalb konnte Wilma Anns erste Reaktion nicht beobachten. Aber als sie sich wieder umdrehte, war das Gesicht der Pflegerin so weiß wie ihre Schwesterntracht.
»Seit zwei Tagen?«, wiederholte sie.
»Angeblich.«
»Oh, nein!«
Die Worte waren Ann entschlüpft, bevor sie es verhindern konnte. Sie sah erschrocken und verdutzt aus.
»Waren Sie mit Miss Lynn befreundet?«, fragte Wilma. Aber sie bekam keine Antwort. Keine Antwort, keine Fragen, keinerlei Neugier - anders als bei den anderen, die sich eifrig über den Ladentisch beugten und alle möglichen Einzelheiten wissen wollten. Im Gegenteil, Ann wandte sich zum Gehen.
»Ihre Törtchen, Miss Jenner!«, rief Wilma ihr nach.
»Törtchen?« Sie hätte ebenso gut Einhörner oder Rapunzeln sagen können. »Oh, vielen Dank!«
»Das macht dreißig Cent, bitte.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Helen Nielsen/Der Romankiosk. Mit freundlicher Genehmigung des Apex-Verlags.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx/Pixabay.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Paul Baudisch und Christian Dörge (OT: The Woman On The Roof).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4212-8
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