1. Kapitel
Hastig warf ich einen Blick auf das Display meines Handys; viertel nach vier. Noch knapp zwei Stunden, bis ich am Bahnhof sein musste, wenn ich meinen Bus nach Dunvegan nicht verpassen wollte.
»Bist du dir wirklich sicher, dass du das alles alleine schaffst?«, fragte ich meine Freundin und Geschäftspartnerin zweifelnd.
Summer warf ihr pechschwarzes Haar mit den zwei lila Strähnen über ihre Schulter zurück und sah mich genervt an. »Du tust gerade so, als würdest du mich zum ersten Mal alleine mit dem Laden lassen, Emma.«
Ich lächelte sie entschuldigend an und widmete mich wieder der Bestellung auf dem Computermonitor vor mir. »Und wie sieht es mit der Signierstunde von Jonathan Crown in zwei Tagen aus? Schaffst du das auch? Du weißt, er ist ziemlich exzentrisch und nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt.«
Wir hatten vor einer Weile schon mit Crown zu tun gehabt und der Mann war alles andere als umgänglich, aber seine Leserinnen liebten seine Romane. Ich für meinen Teil verstand diesen Hype um seine Sexromane kein bisschen und das, obwohl ich selbst ganz gerne einmal mit einem Liebesroman ein Wochenende im Bett verbachte. Vielleicht mochte ich seine Bücher auch nur nicht, weil ich den Autor kannte.
»Vergiss nicht, er will seinen Kaffee ...«
»... mit zwei Stückchen Zucker, ich weiß.«
»Und könntest du bitte keine Bücher bestellen, die auch nur entfernt mit SM zu tun haben? Du bist die Einzige, die dieses Zeug überhaupt liest.«
Summer grinste und schob sich von der Schreibtischplatte, dabei rutschte ihr schwarzer Minirock noch ein Stückchen weiter ihre Oberschenkel hinauf und entblößte noch mehr von ihrer zerrissenen Seidenstrumpfhose. Der Kunde, der jetzt schon eine Weile vor dem Regal mit den Science Fiction-Romanen stand, schielte lächelnd auf Summers lange, schlanke Beine und sah schnell weg, als er bemerkte, dass ich seine Musterung mitbekommen hatte.
»Wenn irgendetwas ist, rufe ich dich an. Versprochen.« Summer lächelte mich mit ihren schwarz geschminkten Lippen an und ich konnte nicht umhin, zu bewundern, wie sexy sie trotz ihres Faibles für all diesen Gothikkram aussah. Meine Geschäftspartnerin war noch nicht allzu lange meine Partnerin, dafür aber schon seit vier Jahren meine beste und einzige Freundin hier in Edinburgh.
Die letzten drei Jahre hatte ich diesen Laden zusammen mit meiner Tante Lucy geführt, die eigentlich meine Großtante gewesen und vor einem Jahr gestorben war. Sie hatte mir den kleinen Buchladen vermacht, eigene Kinder hatte sie nicht. Für mich war dieser Buchladen alles. Nicht nur, weil er meine einzige Geldquelle war, nachdem ich mein Studium zur Anwältin abgebrochen hatte. Er war auch ein Teil von Lucy, die für mich, nach meiner Mutter, die wichtigste Person in meinem Leben gewesen war. Besonders, weil sie trotz, dass ich mein Studium aufgegeben hatte, um mich von dem Druck zu befreien, immer an mich geglaubt hatte. Ganz anders als mein Vater, der von meiner Mutter getrennt mit seiner neuen Frau in Hallifax lebte und immer davon überzeugt war, dass ich es nie zu etwas bringen würde.
»Also, du rufst an, wenn du etwas nicht weißt. Und sollte mein alter Herr anrufen, sag ihm ... Dir fällt schon etwas Passendes ein.«
Ich warf mein Handy in meine Handtasche und sah traurig zu Summer auf, die den Blick senkte und sich abwandte, um ein paar Bücher im Regal zu sortieren. Ich wusste, dass sie Abschiede hasste. Auch wenn es nur ein paar Wochen waren. »Und gieß die Pflanzen in unserer Wohnung!«, fügte ich bedrückt an. Ich hasste Abschiede genauso.
»Ach, jetzt mach schon, dass du fortkommst!«, murmelte sie mit wässrigen Augen und schlang beide Arme um mich. »Und sag deiner Mutter, alles Liebe von mir! Und sie soll sich schnell wieder erholen, damit ich nicht so lange auf dich verzichten muss.« Summer schniefte an meiner Wange und schob mich von sich. Sie blinzelte ein paar Tränen aus ihren tiefgrünen Augen und ich musste gegen einen Kloß in meiner Kehle anschlucken.
Der Kunde von vorhin kam mit einem Buch an die Kasse und ich stahl mich schnell davon, während Summer den Mann abkassierte.
Auf der Fahrt von Edinburgh nach Dunvegan hatte ich genug Zeit, um über die letzten Wochen nachzudenken. Bei meiner Mutter hatte man Myome in der Gebärmutter entdeckt, die eine Hysterektomie – eine Entfernung des Uterus – zur Folge hatten. Natürlich hatte meine Mutter Hilfe strikt abgelehnt. Trotzdem war ich jetzt auf dem Weg nach Dunvegan, um sie zu unterstützen.
Es fühlte sich immer wieder komisch an, zurückzukehren. Seit ich vor vier Jahren nach Edinburgh gegangen war, war ich nur drei Mal hier gewesen. Außer zu meiner Mutter hatte ich zu niemandem mehr Kontakt, was nicht verwunderlich war, denn viele verließen Dunvegan nach dem Schulabschluss. Und die meisten, die mit mir gemeinsam auf der Schule waren, waren irgendwo auf der gesamten Insel verstreut. Aber dass ich mit keinem meiner Mitschüler noch Kontakt hatte, störte mich eigentlich nicht. Ich hatte ohnehin nur eine einzige richtige Freundin in der Schule gehabt: Kathrin. Nur bei ihr bedauerte ich, dass wir uns aus den Augen verloren hatten.
Genauso, wie ich meinen Vater aus den Augen verloren hatte. Nur mit dem Unterschied, dass es mich bei Kathrin ein klein wenig melancholisch stimmte, wenn ich an sie dachte und mich fragte, was sie jetzt wohl tat und wo sie lebte? Bei meinem Vater spürte ich nur Wut und Entsetzen darüber, dass er meine Mutter einfach so über Nacht verlassen hatte und mit einer Frau, die meine Schwester hätte sein können – wohlgemerkt meine zwei Jahre jüngere, gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alte Schwester – nach Halifax abgehauen war. Dass er meiner Mutter das angetan hatte, hatte unsere Vater-Tochter-Beziehung so stark zerrüttet, dass wir nicht einmal mehr miteinander sprachen. Genau genommen sprach ich nicht mehr mit ihm, denn er rief mich regelmäßig an. Ich fragte mich, wann er es satt haben würde, dass ich jedes Mal fluchend das Telefon auflegte, wenn ich seine Stimme am anderen Ende vernahm. Er war die eine Person, die schuld daran war, dass ich kein Vertrauen zu Männern aufbauen konnte. Ian MacLeod war die andere.
Lächelnd öffnete meine Mutter mir die Tür, doch ihrer zerfurchten Stirn und den zuckenden Wangen konnte ich entnehmen, dass ihr das Stehen erhebliche Schmerzen bereitete. »Emma! Ich freue mich so sehr, dich endlich wiederzusehen«, meinte sie und ihre Augen leuchteten.
»Ich mich auch, Mom.« Ich nahm sie kurz in die Arme, wagte aber nicht, sie zu fest zu drücken. Und das nicht nur, weil ich nicht wusste, ob ich ihr damit Schmerzen zufügen würde, sondern auch, weil sie so schrecklich dünn aussah. Meine Mutter war schon immer schlank, von ihr hatte ich meinen zarten, elfenhaften Körperbau. Wir waren beide nur 1,65 groß, sehr feingliedrig und für meinen Geschmack viel zu dünn. Aber seit Vater gegangen war, hatte sie noch mehr an Gewicht verloren. Und sie jetzt so zu sehen und zu halten, machte mir Angst. Sie sah erschöpft und kränker aus, als ich gedacht hatte. Plötzlich war ich froh, dass ich mich nicht von ihr hatte überzeugen lassen, in Edinburgh zu bleiben.
Ich schob meine Mutter schnell wieder von mir und in die Wohnung hinein, in der ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht hatte.
»Wir können uns drinnen noch genug begrüßen«, sagte ich ernst und konnte meine Besorgnis wohl nicht verbergen, denn das Leuchten stahl sich aus Mutters Augen. »Wir sorgen erst mal dafür, dass du wieder in dein Bett kommst. Du sollst dich doch schonen«, fügte ich hastig an.
Meine Mutter nahm meine Hand und zog mich in das Wohnzimmer, in dem sich nichts geändert hatte. Es war noch immer schlicht, mit gelb weiß gestreiften Tapeten an den Wänden, einer dunkelbraunen Kommode, auf der ein kleiner Fernseher stand, und einem geblümten Sofa. Sie setzte sich langsam und zog ein Plaid über ihre Beine.
»Es ist schön, dass du da bist«, wiederholte sie und zupfte an einer Strähne meiner langen Haare. »Du trägst es wieder in deiner Naturfarbe.« Sie lächelte zufrieden.
»Ja, mir ist blond irgendwie ausgegangen.« In Wirklichkeit hatte ich das Blond einfach rauswachsen lassen. Jetzt waren meine Haare wieder kupferfarben wie die meiner Mutter. Und wie es sich für Rothaarige gehörte, war unser beider Haut blass und sommersprossig. Meine Mutter hatte noch einige Sommersprossen mehr als ich, aber ich war sicher, dass ich bald aufholen würde.
Ich nahm das Haargummi, das ich immer um mein Handgelenk gebunden hatte, und band meine langen Locken zu einem Zopf zusammen. Dann sah ich meiner Mutter tief in die stahlgrauen Augen – meine waren dunkelgrün, etwas, das ich von meinem Vater geerbt hatte. »Und erzähl, wie fühlst du dich? Ich will alles genau wissen, auch wie hübsch dein Arzt war und wann ihr euch zum Kaffee treffen wollt«, sagte ich scherzend, ließ meine Reisetasche einfach neben dem Sofa stehen und schenkte uns beiden Tee ein, den meine Mutter in einer Kanne auf einem Stövchen warmgehalten hatte.
Wir machten uns einen schönen Abend, unterhielten uns über Tante Lucy, Mutters Operation und ihre Arbeitsstelle, die sie in den nächsten Wochen nicht aufsuchen konnte. Wir unterhielten uns nicht über Vater. Das Thema war für uns beide zu schmerzlich.
Es war schön, nahe neben ihr zu sitzen und einfach zu plaudern. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich das vermisst hatte.
»Du putzt jetzt also auf Glenoak Hall?«, hakte ich erstaunt nach.
»Ja, hast du von der Sache mit den Serienmördern gehört?«, wollte sie wissen.
Ich runzelte die Stirn und schluckte. »Serienmörder?« Mrs Theresa Finnley sah mich aufgeregt aus funkelnden Augen an.
»Sag bloß, du hast nichts von unserem ureigenen Ripper in Dunvegan gehört?« Meine Mutter setzte sich etwas aufrechter hin, ich stopfte ihr ein weiteres Kissen in den Rücken und legte ihre Füße auf meinen Oberschenkeln ab.
»Nein«, sagte ich ehrlich erstaunt.
Meine Mutter lachte. »Das kommt davon, wenn man seine Nase nur in Bücher steckt und keine Zeit für das reale Leben aufbringt.«
Damit hatte sie Recht. In Summers und meiner Wohnung gab es keinen Fernseher und auch den Laptop, den wir besaßen, nutzten wir eher für Abrechnungen, Bestellungen und Mailkontakte, als um Nachrichten aus aller Welt zu lesen. Keine von uns beiden hatte auch nur im Entferntesten Interesse an Nachrichten, Politik oder Tratsch über Hollywoodsternchen und die neuesten Hits der Hitparaden.
»Dann musst du mich jetzt wohl aufklären«, meinte ich und nippte an meinem Earl Grey, während ich meine Mutter erwartungsvoll ansah und mich insgeheim freute, weil sie sich freute, dass sie mir den neuesten Tratsch aus Dunvegan erzählen konnte.
»Adam MacLeod, du kennst ihn doch noch?«
»Du meinst diesen Macho, der in Glenoak Hall lebt?« Und der mit der Schulschönheit verheiratet war?, fügte ich in Gedanken an. Die beiden waren ein paar Klassenstufen über mir und damals das Stadtgespräch schlechthin gewesen, weil sie gleich nach der Schule geheiratet und sie ihn betrogen hatte. Alle hatten Mitleid mit Adam, aber der hatte sich recht schnell mit anderen Frauen getröstet. So war das auch noch gewesen, als ich von hier fortging.
»Genau. Er hat wieder geheiratet und lebt jetzt in Edinburgh.«
Erstaunt sah ich meine Mutter an. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, bei dem Gedanken, dass der Cousin von Ian MacLeod ganz in meiner Nähe wohnte. Natürlich war Edinburgh nicht gerade klein, aber man konnte ja nie wissen.
»Jedenfalls, bevor es dazu kam, dass er mit seiner neuen Frau wegging, gab es hier einige grauenvolle Morde an jungen Touristinnen.« Meine Mutter sah mich geheimnisvoll an und nickte bedeutungsschwanger. »Alles Frauen, die mit Adam geschlafen haben. Und seine neue Frau wäre auch fast eins der Opfer geworden. Erst haben alle gedacht, Adam wäre der Mörder. Aber ich hab das nie geglaubt. Er war vielleicht ein Macho, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er im Grunde nur ein verletzter Mann war.«
»Und diese Frauen sind ermordet worden?«, hakte ich nach und war wirklich überrascht. Dunvegan war eine unschuldige kleine Stadt. Hier passierte so etwas nicht.
»Nicht nur das, ausgeweidet und gefoltert. Und im Internet zur Schau gestellt.«
»Die Leichen?« Ich erschauderte.
»Nein. Im ganzen Haus hatten die Mörder Überwachungskameras und haben dann Videos ins Internet gestellt, in denen man Adam beim Sex mit den Opfern gesehen hat.« Meine Mutter nickte und sah mich mit großen Augen an. Fast bekam ich das Gefühl, dass sie begeistert war, mir die grausamen Details dessen erzählen zu können, was hier geschehen war. Ich konnte es ihr nicht mal verübeln, denn viel passierte hier wirklich nicht. Und so grauenvoll diese Morde vielleicht auch waren, für eine Stadt wie Dunvegan waren sie mit Sicherheit ein Gesprächsthema, das noch lange vorhalten würde.
Ich keuchte erschrocken auf. Das musste schrecklich für diese Frauen und auch Adam gewesen sein. So entblößt zu werden, unvorstellbar. Aber ermordet zu werden war sicher noch grauenvoller für sie, als sich nackt beim Sex im Internet wiederzufinden, berichtigte ich meine Gedankengänge schnell. Und ein wenig enttäuschend für mich, denn ich hatte leider keins dieser Videos zu Gesicht bekommen. Den Cousin von Ian nackt zu sehen, wäre fast so gewesen, wie Ian selbst nackt zu sehen. Ich schüttelte innerlich den Kopf darüber, wo meine Gedanken mich hinführten. Ich hatte angenommen, dass meine Schwärmerei für Ian vorbei wäre. Aber wieder in Dunvegan zu sein, holte wohl auch meine Schulschwärmerei in meinen Kopf zurück und das, obwohl ich ihn eigentlich hassen sollte, nach dem, was er mir angetan hatte. Und überhaupt, wie konnte ich mich darüber ärgern, Adams Hintern nicht im Internet gesehen zu haben, wenn es dabei doch darum ging, dass diese Frauen getötet wurden?!
Ian war eine Klassenstufe über mir gewesen und, nachdem sein Cousin die Schule verlassen hatte, offiziell der heißeste Typ. Natürlich hatte er nicht einmal gewusst, dass ich existierte. Anfangs. Doch dann fing er aus heiterem Himmel an, mit mir zu flirten, mir brennende Blicke zuzuwerfen oder mich mit funkelnden Augen zu mustern, wo auch immer ich ihm begegnete. Ganz plötzlich schien ich sein Interesse geweckt zu haben und das, obwohl er eine feste Freundin hatte. Einmal steckte er mir sogar ein Briefchen zu, in dem er schrieb: »Wenn ich dein feuriges Haar sehe, und deine grünen Augen auf mir ruhen, schlägt mein Herz schneller, als bei jedem anderen Mädchen.«
Von diesem Tag an brannte jedes Mal, wenn wir uns begegneten, mein Gesicht und mein Puls schlug mir bis zum Hals. Über Wochen hinweg warf er mir heimliche Blicke zu und ich genoss sein Interesse voller Inbrunst und fragte mich nie, warum er mich nicht um ein Date bat oder Michelle den Laufpass gab. Es genügte mir, zu wissen, dass er mich endlich zur Kenntnis genommen hatte. Ich fieberte jeder Schulpause entgegen in der Hoffnung, ihm auf den Gängen zu begegnen. Manchmal lief ich die Gänge sogar nur entlang, um ihm ganz zufällig über den Weg zu laufen. Ich lechzte nach jedem Lächeln, das er mir schenkte.
Und dann kam dieser Tag in der Schulcafeteria, an dem er vor mir stehen geblieben war, mich angesehen hatte mit diesem Blick, der mir das Gefühl gab, vollkommen unter Strom zu stehen. So als wäre ich die einzige Frau auf der Welt und es gäbe nur ihn und mich. Diese Sekunden, in denen er vor mir stand, ließen mein Herz hoffnungsvoll in meiner Brust hämmern. Endlich würde er mich fragen, ob ich mit ihm ausgehen wollte. Oder er würde wenigstens ein paar Worte mit mir wechseln. Das Flirten aus der Ferne, die Heimlichkeiten würden endlich vorbei sein. Innerlich zitterte ich, so nervös war ich.
Auch seine Freunde, ich nannte sie immer seine Anhängsel - Kerle die ihn, den großen Sporthelden und coolen Gitarrenspieler, vergötterten -, waren stehengeblieben und sahen mich und ihn fragend an. Dieser Moment hatte etwas Magisches, sein Blick tief versunken in meinem. Ich werde nie vergessen, wie hektisch meine Atmung ging, wie mein Gesicht heiß wurde und ich nicht wusste, was ich mit meinen Händen tun sollte oder was ich sagen sollte. Und dann flackerte sein Blick, der Moment war weg, er sah seine Freunde an und Michelle, die hinter mir aufgetaucht war. Dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen.
»Du meinst sie? Schätzchen, hast du sie dir mal angesehen? Selbst wenn sie auf mich steht, die kommt doch nie an dich ran.«
Ich werde die abgrundtiefe Scham, den pulsierenden Schmerz in meiner Brust und die brennenden Tränen in meinen Augen nie vergessen. Und das Gelächter der anderen. Ich war einfach losgerannt. Raus aus dem Schulgebäude in den Wald gegenüber, wo ich mich unter einen Baum setzte und den Rest des Schultages heulte. An jedem anderen Tag danach hatten seine Freunde gelacht und getuschelt, wenn sie mich sahen, und er hatte immer diesen Blick; die Lippen aufeinander gepresst, die Augen leicht zusammengekniffen. So sah er mich immer an, während ich an ihm und seinen Freunden vorbeirannte, um so schnell wie möglich von ihnen weg zu kommen. Später an diesem Tag kam Michelle zu mir. Ihre schokoladenbraunen Haare glänzten im Sonnenlicht und sie sah mich spöttisch an. Ihre beiden Freundinnen standen neben ihr, und sie grinste breit.
»Hast du wirklich geglaubt, Ian würde auf dich stehen? Das war alles nur ein riesen Spaß. Du warst sein Spielzeug. Er würde mich nie verlassen. Schon gar nicht für so ein graues Mäuschen wie dich.«
Er hatte mit mir gespielt, das zu wissen war fast noch schmerzhafter als die Schmach in der Cafeteria.
Dieses Erlebnis mit Ian MacLeod war Nummer 2 auf meiner Liste für Gründe, Männern gegenüber immer misstrauisch zu sein. Lange Zeit hatte ich immer, wenn ein Mann Interesse an mir gezeigt hatte, darauf gewartet, dass er so einen Spruch wie Ian bringen würde. Es hatte einige Jahre gebraucht, um genug Selbstbewusstsein aufbauen zu können, um Männern ohne Misstrauen zu begegnen. Auch das hatte ich Tante Lucy zu verdanken, die mir immer wieder vor Augen geführt hatte, dass ich eine attraktive Frau war, die sich vor keinem Mann der Welt verstecken musste.
Heute, mit dreiundzwanzig Jahren, ging ich mit mehr Selbstsicherheit denn je durch mein Leben. Immerhin gehörte mir ein erfolgreicher kleiner Buchladen in dem unter anderem auch ein von mir verfasstes Buch im Regal stand.
Ja, ich hatte einiges geschafft. Kein Grund sich weiter abzukapseln. Ob von dieser Selbstsicherheit noch genug übrig bliebe, wenn ich eines Tages noch einmal vor Ian stehen würde, das bezweifelte ich. Aber zum Glück war die Chance, ihn je wiederzusehen, so gering wie die Chance, dass ich jemals Nessie zu Gesicht bekommen würde. Dennoch kribbelte es in meinem Magen bei der Vorstellung. Und es war kein ängstliches Kribbeln. Trotz allem, was er mir angetan hatte, hatte ich meine Gefühle für ihn nie überwunden. Es hatte sich immer so angefühlt, als wäre da etwas zwischen uns unerledigt. Ich hatte mich immer gefragt, was gewesen wäre, wenn ich doch nicht nur sein kleines Spaßprojekt gewesen wäre. Und allem Anschein nach schaffte er es auch heute noch, meinen Puls zu beschleunigen. Und das allein beim bloßen Gedanken, er könnte ganz unerwartet vor mir stehen.
»Und dein Job? Wie sieht es damit aus?«, wechselte ich das Thema.
»Ich denke, die MacLeods müssen sich wohl eine andere Haushälterin suchen. Hoffentlich keine Mörderin wie meine Vorgängerin«, meinte meine Mutter und lächelte traurig. Arbeit gab es in Dunvegan leider nicht an jeder Straßenecke. Daher wäre es wirklich schade, wenn meine Mutter ihre Stelle verlieren würde, nur weil sie ein paar Wochen ausfiel.
»Denkst du nicht, sie kommen kurz ohne dich zurecht? Und stopp! Die Haushälterin? Du meinst die alte Molly?« Ich kannte Molly. Eine nette, mütterlich wirkende ältere Dame.
Meine Mutter nickte. »Das hat uns alle überrascht. Sie war eine von uns.«
Ich war schockiert. Dieser Frau war ich so oft begegnet: am Sonntag in der Kirche, auf dem Markt, beim Hafenfest. Und auch in der Schule hatte sie oft ehrenamtliche Aufgaben übernommen. Molly konnte unmöglich eine Mörderin gewesen sein.
»Ist das ganz sicher?«
»Ja, man hat sie sozusagen in flagranti erwischt. Ihr Mann, der alte Alfred, hat sich die Sexvideos reingezogen und sie hat die Frauen danach getötet. Vielleicht war sie eifersüchtig? Ich weiß nicht. Wer weiß schon, was Mördern im Kopf herumgeht.« Meine Mutter winkte ab und wechselte das Thema. »Unmöglich können die MacLeods über mehrere Wochen auf eine Haushälterin verzichten. Du hast ja keine Ahnung. In dem Haus wohnt jetzt eine Rockband!« Meine Mutter stöhnte gespielt entrüstet.
2. Kapitel
Ich fuhr im alten Fiesta meiner Mutter die Kiesstraße zum Anwesen der MacLeods hoch. Ein wenig aufgeregt war ich schon. Das lag nicht nur an den Tagträumen, die sich immer wieder ungewollt in meinen Kopf geschlichen hatten, seit ich beschlossen hatte, für meine Mutter als Haushälterin einzuspringen, damit sie ihren Job nicht verlor, sondern auch an der Tatsache, dass ich gleich zum ersten Mal das Haus der MacLeods betreten würde. Ein Haus, das für mich immer verschlossen geblieben war. Nicht, dass es irgendeinen Grund gegeben hätte, warum die MacLeods mich je hätten einladen sollen, schließlich kannten sie mich ja gar nicht. Zumindest nicht privat. Für sie war ich nur ein Gesicht, dem sie beim Spaziergang durch Dunvegan begegneten oder am Sonntag in der Kirche. Und ich gehörte auch nicht zu den beliebten Schülern der Schule, die Adam auf seine Partys einlud, wenn seine Eltern nicht im Haus waren.
In meinen Tagträumen war ich Ian auf Glenoak Hall begegnet. Ich sah natürlich umwerfend gut aus. So gut, dass es ihm unmöglich entgehen konnte. Und natürlich blieb ihm nichts anderes, als mich heiß und innig zu begehren. Und ich hatte ihn eiskalt abblitzen lassen. Ihn ausgelacht, mich abgewandt und ihm meine sexy Kehrseite zugedreht. Eine sexy Kehrseite, die ich gar nicht besaß, weil ich dafür viel zu dünn war.
Als ich um die letzte Kurve bog und das riesige gusseiserne Tor des Anwesens in Sicht kam, blieb mir fast die Luft weg. Vor dem Tor drängelten sich gut fünfzig Menschen, die Plakate in die Luft hoben, Fotos machten und sich gegenseitig wegdrängten, um die eigene Sicht auf das Haus zu verbessern. Ich runzelte die Stirn und las eines der Plakate, auf dem, so vermutete ich, der Name der Band stand, die meine Mutter erwähnt hatte: Wild Novel. Klangvoll aber nicht gerade kreativ, fand ich. Am Namen lag es wohl kaum, dass die Band ganz offensichtlich nicht gerade unbekannt war. Auch wenn ich zugeben musste, dass ich noch nie etwas von Wild Novel gehört hatte. Was aber nichts heißen musste, denn musikalisch war ich selten auf dem neuesten Stand. Dazu schaltete ich zu selten das Radio an. Früher hatte ich Musik geliebt, aber das war bevor mein Vater beschlossen hatte, uns zu verlassen, um sich eine junge Frau zu suchen.
Seither bevorzugte ich Ruhe. Wenn ich nach Hause kam, dann wollte ich es gerne still haben. Musik verband ich mit meinem Vater, weswegen mich Summer auch nie hatte überreden können, dieses alljährliche Rockereignis in der Nähe von Edinburgh mit ihr zu besuchen. T in the Park, genau, so hieß das. Ich konnte mir wirklich Besseres vorstellen, als eingepfercht zwischen tausenden fremden, schwitzenden, trinkenden und grölenden Menschen, viel zu lauter Rock and Roll-Musik zu lauschen.
Ich hielt langsam auf die Einfahrt zu und hoffte zum einen, dass die Fans mir ausweichen würden, und zum anderen, dass man mich überhaupt reinlassen würde. Aber meine Mutter hatte heute Morgen extra angerufen, um mich anzumelden.
Als ich gerade feststellte, dass die Fans mir nicht ausweichen wollten, kam auf einmal Bewegung in die Menschengruppe. Die Schreie wurden noch lauter, das Gedrängel noch stärker. Dann schwang das Tor nach außen auf und teilte die Menschenmasse wie Moses das Rote Meer. Eine Limousine verließ das Anwesen, und die Fans, überwiegend Frauen, drängten sich an die verdunkelten Fenster und kreischten. Als der sperrige Mercedes mein kleines Fahrzeug passiert hatte und die kreischenden Frauen dem Auto weiter folgten, nutzte ich die Gelegenheit, um an den restlichen, noch vor der Einfahrt stehenden Fans vorbeizufahren. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie eine junge Frau mir den Finger zeigte und wütend gegen die Seite des Fiestas trat. Wahrscheinlich fand sie es nicht so toll, dass ich einfach auf das Anwesen fuhr. Mich machte es auch etwas unruhig. Was, wenn ich doch nicht hier sein durfte? Oder wenn dort drin Bodyguards warteten, die mich für einen Fan hielten und mich wieder vor die Tür setzten? Vielleicht hätte ich vorher klingeln sollen.
Ich warf einen Blick auf die Sprechanlage, an der ein Mann um die dreißig lehnte, der ein schwarzes T-Shirt trug auf dem in weißen Buchstaben »Rest in Peace, Ripper« stand. Ich schüttelte den Kopf, als mir der Gedanke kam, dass damit Molly gemeint sein könnte. Dann wischte ich den Gedanken aber weg und nahm an, dass das Zufall war und diese Worte sich wohl eher auf etwas bezogen, das mit der Band zu tun hatte. Der gruselige Blick des Mannes ließ mich trotzdem erschauern, als dieser mich direkt ansah.
Ich wandte meinen Blick ab und fuhr, ohne weiter zu zögern, auf das Anwesen. Im Rückspiegel sah ich, wie das Tor sich schloss und das Menschenmeer sich wieder zusammenfügte.
Ich fuhr bis vor die Eingangstür, die sich in dem Moment öffnete, da ich den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. Ein muskelbepackter Mann in schwarzem T-Shirt und Anzughose kam die fünf Stufen herunter und hielt mit wütender Miene direkt auf mich zu. Mein Magen verknotete sich. Wahrscheinlich hätte ich doch klingeln sollen. Ich stieg aus dem Wagen und sah dem Berg von einem Mann entgegen, der vor mir stehen blieb.
Ohne abzuwarten, was er sagen würde, begann ich stotternd, mich zu verteidigen. »Tut mir leid. Ich hätte mich wohl anmelden müssen. Ich bin die Tochter der Haushälterin, Theresa Finnley. Mein Name ist Emma Finnley. Meine Mutter hat angerufen.« Wollte ich ihm noch meinen Lebenslauf auf die Nase binden?
»Habe ich mir gedacht«, brummte der Mann mit dunklem Bariton. Die kurz geschorenen Haare ließen ihn noch bulliger wirken, als er wahrscheinlich wirklich war. »Diese Rostlaube ist unverwechselbar. Wenn Sie das nächste Mal kommen, hupen Sie einfach, dann können wir sofort aufmachen und die da unten machen Ihnen Platz«, sagte er und wies auf die Fans vor dem Tor.
»Oh«, sagte ich. »Ich dachte nur, Sie wollten mich vielleicht wieder fortschicken, weil Sie so angestürmt kamen.«
»Habe ich Sie erschreckt? Tut mir leid. Ich habe auf dem Monitor gesehen, dass wieder einer dieser durchgeknallten Serienmörderfans hier ist. Diese sensationsgeilen Arschlöcher, die hier herkommen, um das Ripperhaus zu sehen, habe ich gefressen.« Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der flachen Hand über das kantige, glattrasierte Kinn. »Ich war auf dem Weg, diesen Blödmann von hier wegzujagen. Gegen diese kreischenden Weiber, die hier ständig rumlungern und darauf hoffen, einen meiner Jungs zu Gesicht zu bekommen oder sogar in ihren Betten zu landen, habe ich eigentlich nichts, aber diese Dreckschweine, die sich an dem aufgeilen, was hier passiert ist, die sind mir zuwider. Gehen Sie doch schon mal rein. Kathrin ist in der Küche. Sie kann Sie einweisen.«
Der Mann stürmte an mir vorbei, ich zuckte mit den Schultern und hielt auf das Haus zu.
Da der Riese von Mann gesagt hatte, ich solle schon mal reingehen und die Eingangstür offen stand, betrat ich das Haus einfach und hielt ehrfürchtig die Luft an. Ich stand in einer geräumigen Halle und blickte auf eine breite Treppe, die von einem dunkelroten Teppich umschmeichelt wurde. Die Geländer rechts und links der Treppe bestanden aus dunklem, geschwungenem Holz. Die Halle selbst war recht düster, da die einzigen Lichtquellen die offene Tür in meinem Rücken und das Licht, das aus einem Durchgang fiel, waren.
Ich legte meine Handtasche auf einer Kommode ab, die mindestens so alt schien wie das Haus selbst. Sie sah nicht abgenutzt oder heruntergekommen aus, aber erweckte den Anschein, dass sie aus der Viktorianischen Ära stammte. Ich strich über das glatte Holz und konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken.
»Emma?«, kam es aus Richtung des Durchgangs. Ich zuckte zusammen und blickte auf. Ein blonder Schopf schaute um die Ecke und sah mich erfreut und verwundert zugleich an.
»Kathrin?« Diese Kathrin also. Meine ehemals beste Freundin Kathrin? Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Ich sah die Blondine mit offenem Mund an, als sie auf mich zustürmte. Schlank und rank wie ich sie in Erinnerung hatte. Das blonde Haar, früher trug sie es bis zu den Hüften, reichte nur noch bis zum Kinn und stand fransig ab, was ihr ein freches, aber auch niedliches Aussehen verlieh. Auch die Kleidung, die sie trug, unterschied sich von den Blümchenkleidern, die sie zu Schulzeiten trug; ein schwarzes Tank-Top mit einem weißen Totenkopf auf der Brust und an den Knien zerrissene Jeans.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich nochmal zu Gesicht bekomme«, sagte sie laut lachend und zog mich in ihre Arme.
»Das kann ich wohl von dir auch sagen. Ich dachte, du wolltest mit deinen Eltern zurück nach Deutschland?« Kathrin war in Deutschland geboren worden und kam mit ihren Eltern in die Highlands, als sie im Grundschulalter war. Ihre Eltern beschlossen irgendwann, dass die Highlands doch nichts für sie waren und wollten zurück nach Deutschland.
»Deutschland ist nichts für mich.«
Ich schaffte es gerade noch, mein Handy aus meiner Handtasche zu angeln, bevor sie mich in eine geräumige und völlig chaotische Küche schleifte. Fassungslos starrte ich die Berge Geschirr an, die sich auf jedem Zentimeter der Arbeitsplatte stapelten. Zumindest war der große Tisch in der Mitte der Küche freigeräumt.
»Was ist denn hier passiert?« Meine Mutter hatte mich vorgewarnt, aber das hier überstieg meine schlimmsten Vorstellungen.
»Deine Mutter war ein paar Tage nicht mehr hier und ...« Kathrin lächelte mich entschuldigend an. »Wir hatten gestern eine Party hier. Darren hatte Geburtstag.«
Ich nickte, konnte aber noch immer nicht glauben, was ich hier sah.
»Ach, jetzt guck nicht so! Jetzt setz dich erst mal! Das hat doch noch Zeit.« Kathrin schob mich zu einem der Stühle hin und zwang mich, mich zu setzen. Erstaunlicherweise fand sie in einem der hellen Küchenschränke noch eine Tasse, die sie vor mir hinstellte, und goss mir Kaffee ein. Dann schenkte sie für sich auch noch eine Tasse ein und setzte sich mir gegenüber.
»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist«, meinte sie und strahlte mich so begeistert an, dass ich verlegen den Blick auf das Porzellan zwischen meinen Händen senkte. »Weißt du, wie langweilig es hier ohne dich war?«
Ich sah sie zweifelnd an, dann ließ ich den Blick durch die Küche gleiten. »Das glaube ich dir.«
»Du hast recht. Es war langweilig, bevor die Jungs hier eingezogen sind.« Sie nippte an ihrer Tasse und musterte mich nachdenklich. »Zwischenzeitlich war es sogar mal gruselig hier.«
»Ich habe davon gehört«, entgegnete ich, denn ich wusste, was sie meinte. Ich war völlig überrascht und überwältigt, meine Freundin hier anzutreffen. Aber dieses Gefühl der Freude mischte sich mit einem Unbehagen, ausgelöst durch das Wissen, dass hier in diesem Haus Menschen getötet wurden. Mir saß seit dem Betreten des Hauses ein unangenehmes Gefühl im Nacken.
»Ich weiß, ich bin zum Putzen hier«, meinte ich und wechselte das Thema. »Aber was machst du eigentlich hier? Meine Mutter hat gar nicht erwähnt, dass du hier bist.«
Kathrins dunkelgrüne Augen leuchteten auf und ich war mir sicher, ihre Wangen überzogen sich mit einer sanften Röte. »Ich bin auch erst seit ein paar Monaten wieder hier.« Sie zögerte und leckte sich über ihre schmalen Lippen und zog ihre winzige Stupsnase kraus. Ich hatte sie wegen ihres unglaublichen Aussehens schon in der Schule beneidet. Sie musste ein Klassenzimmer nur betreten und alle Blicke klebten an ihr. Ich dagegen war immer die unscheinbare Rothaarige.
»Ich habe bis vor Kurzem in London gejobbt. Nichts Großartiges. Und dann hat es mich hierher zurückgezogen.«
Ich riss erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ist das dein Ernst? Du hast nicht studiert? Als meine Mutter mir erzählt hat, du bist in London, hatte ich angenommen, du studierst.«
»Nein«, sagte sie und lächelte verlegen.
»Und jetzt?«, hakte ich nach und trank meine Tasse leer.
»Jetzt mach ich Urlaub und dann, wer weiß?« Sie zuckte lässig mit den Schultern. »Und du?«
»Ich habe mein Studium abgebrochen und bin jetzt Buchhändlerin. Ich habe einen kleinen Buchladen in Edinburgh.«
»Oh«, machte Kathrin. »Das klingt aber interessant. Ich träume auch schon eine Weile von meinem eigenen Buchladen. Ich liebe den Geruch von Büchern.«
Ich stand vom Tisch auf und öffnete den Geschirrspüler, der zu meiner Erleichterung leer war. Zwar würde ich bei Weitem nicht alles Geschirr in die Maschine bekommen, aber zumindest einen kleinen Teil. Den Rest musste ich mit der Hand abwaschen. Aber das störte mich gar nicht mehr. Ich würde Gesellschaft haben und das freute mich. Es war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ich Kathrin vermisst hatte, aber mich jetzt mit ihr zu unterhalten, war wie in unserer Schulzeit, als wären keine Jahre seit unserer letzten Begegnung vergangen.
Kathrin half mir beim Einräumen, dann machten wir uns gemeinsam an den Abwasch und unterhielten uns über Männer, die gemeinsame Schulzeit und meine Mutter.
»Und was hat dich nun in dieses Haus getrieben? Sag bloß, du bist mit einem von ihnen zusammen? Wie kommt es eigentlich, dass jetzt eine Rockband hier wohnt?«
»Nun ja, Adams neue Frau wurde unten im Keller von der Haushälterin gefangen gehalten. Sie hat sich hier nicht wohlgefühlt. Und ehrlich, manchmal, wenn ich daran denke, dass dort unten Frauen gefoltert und ausgeweidet wurden und sich der alte Alfred an den Sexvideos aufgegeilt hat, überkommt mich auch eine Gänsehaut. Das ganze Haus war mit Kameras übersät!«
Ich schüttelte mich. Wohl fühlte ich mich bei der Vorstellung auch nicht. Ich war mir sicher, dass dieses Gefühl nie verschwinden würde. »Also hat Adam das Haus vermietet?«
Kathrin nahm mir einen Teller aus der Hand, den ich gerade gespült hatte, und trocknete ihn ab. »Mehr oder weniger.«
»Und du bist mit einem echten Rocksänger zusammen«, stellte ich fest und musste mir eingestehen, dass das mehr war, als ich Kathrin zugetraut hatte. Ich hatte sie mir immer mit einem Anwalt oder einem Manager einer großen Firma vorgestellt. Aber ein tätowierter, lederbekleideter Musiker?
»Ich weiß nicht, was es ist. Aber ich mag ihn.«
»Redest du von mir?«, erklang es rau hinter unseren Rücken. Wir wandten uns beide um. Und während Kathrin auflachte, erstarrte ich zu Eis.
»Ian?«, stammelte ich und mein Herz sprang hart gegen meine Rippen, Schweiß trat auf meine Stirn und ich wünschte mich so weit es geht fort von hier. Was für eine dumme Idee, für meine Mutter hier einzuspringen. Aber woher konnte sie auch wissen, dass Ian MacLeod zu begegnen das Letzte war, was ich tun wollte?
Er musterte mich abschätzig und die Kälte, die dabei in seinem Blick lag, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war genau der gleiche Blick, den er mir damals in der Cafeteria der Schule zugeworfen hatte. Und noch immer wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Und dann öffnete er diese vollen, geschwungenen Lippen und was er sagte, verwirrte und schockierte mich gleichermaßen. »Kennen wir uns?«
Ob wir uns kannten? Konnte er sich wirklich nicht an mich erinnern? Aber dieser Blick? Er musterte mich abwartend mit diesen eisblauen, leuchtenden Augen, die mich schon immer fasziniert hatten, die meinen Puls flattern ließen, sobald ich sie irgendwo erblickt hatte. Seine Stirn war gerunzelt, dann wandte er sich Kathrin zu und strich sich über seinen dunklen Dreitagebart.
»Aus der Schule«, krächzte ich niedergeschlagen und doch auch erleichtert. Wenn er mich wirklich nicht erkannte, dann wusste er auch nichts mehr von diesem unglaublich verletzenden und doch auch peinlichen Vorfall, der mir bis heute in den Gliedern steckte und der gerade jetzt wieder dafür sorgte, dass meine Knie zitterten und sich alles in mir beengt anfühlte.
Kathrin ging auf ihn zu und legte eine Hand auf seine gut ausgeprägte muskulöse Brust. Das musste ich eingestehen, er war nicht mehr der schlanke, hochgewachsene Junge. Er war zum Mann geworden. Sein Gesicht war kantiger, sein Kinn schärfer geschnitten, die Nase gerade und schmal, die Wangenknochen hoch. Sein rabenschwarzes Haar trug er wirr und kinnlang, was ihm etwas Verwegenes gab. Das, gepaart mit den Tattoos auf seinen wohlgeformten Unter- und Oberarmen, verlieh ihm wahrhaftig das Aussehen eines Rockstars. Nicht zu vergessen die zerrissenen Jeans, die den Eindruck noch verstärkten. Ein T-Shirt trug er nicht.
Sein Oberkörper war nackt und ich war froh, dass Kathrin sich an ihn schmiegte, sonst würde mir längst der Sabber über das Kinn laufen, denn ich stand auf einen ordentlichen Waschbrettbauch. Ja, Ian hatte sich wirklich zum Frauentraum entwickelt. Aber ein Traum war er schon immer gewesen, zumindest meiner. Und er gehört Kathrin, ermahnte ich mich.
Ich wandte mich wieder dem Geschirr zu und versuchte, nicht weiter daran zu denken, dass er hinter mir stand. Leider war er so präsent, dass er mir die Luft zum Atmen nahm. Ich konnte ihn körperlich spüren. Es fühlte sich an, als würden sich seine Augen in meinen Rücken bohren, dabei war das unmöglich, denn ich konnte das schmatzende Geräusch gieriger Küsse hören. Und Kathrins wohliges Stöhnen. Ich klapperte mit dem Geschirr, um es zu übertönen, was nicht half.
Warum zur Hölle musste es ausgerechnet er sein? Konnte es nicht jeder andere sein? Andererseits, was hatte ich gedacht, wer hier wohnen würde? Die MacLeods hatten hier schon immer gewohnt. Und außer Ian waren da kaum noch MacLeods übrig, die hier hätten einziehen können. Die meisten anderen MacLeods hatten ebenso prachtvolle Anwesen wie dieses. Verdammt, ich hätte es wissen müssen. Ich ärgerte mich über mich selbst.
Ian tauchte neben mir auf. Sein Unterarm streifte meine Wange, als er in den Hängeschrank vor mir griff, um sich eine Tasse herauszuholen. War die Zeit stehengeblieben oder hatte er für eine Sekunde gezögert? Ich sah zu ihm auf, aber er hatte die Lippen fest aufeinander gepresst und goss sich Kaffee ein, ohne mich auch nur zu beachten. Hinter mir kicherte Kathrin, dann schmatzte es wieder. Verwirrt wandte ich mich um und sah meine Schulfreundin die Küche verlassen, einen Arm um die Taille eines anderen Mannes geschlungen.
»Das ist Kiran, er hat es nicht so mit Fremden«, sagte Ian. Er hatte wohl meinen fragenden Blick bemerkt und sich auch umgewandt.
»Und dann ist er in einer Rockband, die vor Publikum auftritt?«, fragte ich erstaunt.
»Er meint, auf der Bühne ist er allein. Da gibt es nur ihn und die Musik.« Irgendwie leuchtete mir das ein. Wenn ich vor Publikum aus meinem Buch las, dann half es mir auch, so zu tun, als gäbe es nur mich und das Buch. Ich nahm mir den nächsten Teller.
»Du bist also die Tochter«, murmelte er.
Ich nickte, als er abwartend auf mich herabschaute. War er schon immer so groß gewesen? Vielleicht lag das an seiner ganzen beeindruckenden und erdrückenden Erscheinung. Neben niemand anderen hatte ich mich je so winzig gefühlt. Wenn ich mich aufrichten würde, würde ich gerade bis an seine Brust reichen.
»Ja, dann willkommen.« Seine Augen blitzten auf, als amüsierte er sich, und seine Mundwinkel zuckten leicht. »Ich würde mich ja für dieses Chaos entschuldigen, aber dann müsste es mir leidtun, dich hier zu sehen mit den wilden Strähnen im Gesicht und den roten Wangen. Und ganz ehrlich, das kann mir nicht leidtun.«
Ich schluckte. War das eine Art Kompliment oder machte er sich schon wieder lustig über mich? Erschrocken sah ich mich nach Kathrin um, aber ich war noch immer allein mit Ian in der Küche. Hatte sie denn vergessen, was er mir angetan hatte? Mein Puls beschleunigte sich und ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Nervös schnappte ich mir einen weiteren Stapel Teller, damit es so aussah, als wäre ich nur zu beschäftigt, um auf das einzugehen, was Ian gesagt hatte.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte er und seine tiefe heisere Stimme streichelte wie Seide über meine Haut und brachte mein Innerstes zum Klingen. Mit zitternden Fingern tauchte ich meine Hände in das inzwischen kalte Spülwasser, um den Stöpsel zu ziehen und frisches ins Becken zu lassen.
»Es geht ihr gut. Sie wird sich noch ein paar Tage ausruhen müssen, bevor sie sich wieder diesem Chaos stellen kann, aber sie kommt wieder auf die Beine«, sagte ich und war froh, dass meine Stimme nicht so zitterte, wie meine Hände.
»Ehmm«, machte Ian. »Das ist gut. Nicht, dass du nicht ein ...«, er zögerte und sein Blick glitt über meinen Körper, »... netter Ersatz wärst.«
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2014
Alle Rechte vorbehalten