1. Kapitel
Schon eine halbe Stunde über der Zeit. Ich konnte nur hoffen, dass dieser Anwalt Mr Ferguson nach mir nicht noch andere Termine hatte. Es war aber auch wie verhext. Heute war einer dieser grauenhaften Tage, an denen alles schief ging. Erst hatte das Museum in letzter Minute eine andere Restauratorin eingestellt, eine mit mehr Erfahrung. (Wie konnte eine frisch von der Universität kommende Restauratorin bitte Erfahrungen sammeln, wenn keiner ihr eine Chance gab?) Und dann hatte ich auch noch den Bus zurück in mein kleines Zwei-Zimmer Apartment verpasst und musste laufen. Ein Taxi konnte ich mir einfach nicht leisten. Nicht von den wenigen Reserven, die sich noch auf meinem Bankkonto befanden.
Die letzten Überbleibsel aus dem Erbe meiner Eltern. Wenn ich nicht bald eine Arbeit fand, dann würde ich auf der Straße sitzen – oder ich musste wieder bei meiner Großmutter einziehen, was ich absolut nicht in Betracht ziehen wollte. Alice Kent war einer dieser kontrollsüchtigen Menschen, die immer und zu jedem Zeitpunkt über das Leben anderer informiert sein wollten. Gleichzeitig aber mit Ignoranz und Gefühlskälte bestraften. Ich war bei ihr aufgewachsen, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück in der Nähe von London gestorben waren. Damals war ich vierzehn, und vielleicht war ich auch nicht besonders umgänglich. Trotzdem war das Zusammenleben mit meiner Großmutter alles andere als angenehm.
Ich lief die lange Villenstraße hinunter und suchte mit den Augen nach der Hausnummer 143. In diesem Gebäude hatte der Anwalt, der mir eine Einladung geschickt hatte, sein Büro. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Auf meine Nachfrage am Telefon hatte er nur geäußert, es ginge um eine wichtige Angelegenheit über die er nicht sprechen dürfe, nur wenn ich persönlich vor ihm erscheinen würde.
Ich hatte also zähneknirschend den Bus bis ans andere Ende von London genommen und war hergefahren und lief jetzt auf der Suche nach dem richtigen Haus durch den Regen. Die Absätze meiner Kaufhausschuhe klackerten auf den Steinplatten, Pfützenwasser spritzte mir an die Waden und drang durch meine Seidenstrumpfhosen. Ich hätte mir gerne etwas anderes angezogen, aber dafür war nicht mehr genug Zeit geblieben, obwohl ich vom Museum aus noch einmal nach Hause musste, um das Schreiben des Anwalts zu holen, weil ich es liegen gelassen hatte und die Adresse nicht im Kopf hatte.
Ich konnte nicht sagen, dass es mich sonderlich interessierte, warum Mr Ferguson mich unbedingt persönlich sehen wollte, bei meinem Glück hatte ich irgendwann irgendwo eine rote Ampel überfahren und die Strafe nicht bezahlt. Trotzdem befand ich mich jetzt auf dem Weg in die Kanzlei, weil ich, wenn auch nicht zuverlässig, zumindest pflichtbewusst war. Und wenn ich tatsächlich eine Rechnung übersehen hatte, dann würde ich diese zahlen, solange ich noch dazu in der Lage war.
Endlich stand ich vor dem Haus Nummer 143. Wie alle anderen Gebäude hier, stammte es aus der Viktorianischen Ära und war sehr gut in Schuss. Dunkelrot verputzte Wände, weiße Rahmen um die Fenster, ein niedriger schwarzer gusseiserner Zaun und Blumenkästen, in denen Stiefmütterchen blühten, vor den hohen Fenstern. Ich ging die Stufen zur Eingangstür hoch, betätigte die Klingel und während ich wartete, verschloss ich meinen Regenschirm mit den süßen Pudeln, richtete meinen anthrazitfarbenen Bleistiftrock und die dazugehörige Kostümjacke, die ich extra für die Vertragsunterzeichnung im Museum angezogen hatte.
Eine Dame mittleren Alters öffnete mir, lächelte mich leicht verschnupft an und musterte mich mit hochgezogener Stirn.
»Sie sind Ms Sands?«
Ich nickte unsicher und unterdrückte ein Schnauben, weil mir ein Regentropfen an der Nasenspitze hing.
»Kommen Sie rein, bitte. Mein Mann wartet in seinem Büro auf Sie. Sie sind spät dran«, sagte die Dame unter deren perfekten kastanienbraun gefärbten Haaren sich sicher schon graue verbargen. Sie trug ein hellblaues Kostüm von der Art, wie sie die Queen gerne trug. Dieses war mit Sicherheit auch in einer ähnlichen Preisklasse wie die der Queen.
Sie trat beiseite und ließ mich in einen geräumigen Eingangsbereich treten. »Stellen sie ihren Regenschirm bitte dort hinein.« Sie wies auf einen Schirmständer, ich kam ihrer Bitte mit einem unechten Lächeln nach. Es kam selten vor, dass mir jemand vom ersten Augenblick an unsympathisch war, doch diese Frau war es. Ihr arroganter Blick, der mich immer wieder taxierte, das aufgesetzte Lächeln, das nur gerade so um ihre Lippen spielte und ihre stolze Haltung aus der sprach, dass sie sich als etwas Besseres fühlte. Zumindest sah ihre Hochsteckfrisur besser aus als meine, was nicht daran lag, dass ich eben noch durch die Straßen von London gehetzt war, sondern weil meinen Kopf nur ein einfacher Dutt zierte, während ihre Frisur aussah wie die eines Profis mit vielen Haarnadeln, einem kunstvoll verzierten Kamm am Hinterkopf und einer dunkelgrünen Seidenblüte über ihrem Ohr.
Ein kurzer Kontrollblick in den Garderobenspiegel offenbarte mir, dass sich zahllose hellrote Strähnen aus meinem Dutt gelöst hatten und wirr um mein Gesicht herumstanden. Zudem war der Kajal um meine moosgrünen Augen herum verlaufen und ich sah aus wie ein Waschbär, was nicht am Regen lag, sondern an der Tatsache, dass ich irgendwann zwischen meiner Wohnung und hier im Bus angefangen hatte zu heulen, weil es mit der Anstellung im Museum nicht geklappt hatte.
Gemälde zu restaurieren war schon mein Traum, seit ich als kleines Mädchen einmal meiner Mutter bei der Arbeit zugesehen hatte. Wie sie eingetaucht war in ihre Aufgabe, in das Antlitz einer Frau, die schon Jahrhunderte zuvor gestorben war. Es hatte auf mich gewirkt, als holte meine Mutter mit ihrer Arbeit diese Frau aus einem langen Dornröschenschlaf in unsere Zeit. Ganz so, als würde sie eine Zeitreise in die Zukunft machen. Und sie würde uns von ihrem Leben in der Vergangenheit erzählen. Noch heute sah ich die dunklen Augen und die schwarzen Haare der jungen Lady of Chamberlain vor mir und meine Mutter, die diesem Gesicht Stück für Stück wieder Leben einhauchte.
Ich strich schnell mit meinen Händen über mein Haar und steckte ein paar der Strähnen hinter meine Ohren. Zumindest fülle ich meinen Rock besser aus, als die etwas zu dünne Mrs Ferguson, dachte ich zufrieden mit meiner Sanduhrenfigur.
Mögen dünne Frauen gut in engen Hosen aussehen, aber ein paar Kilo mehr schaden nicht, wenn man einen eng anliegenden Rock trägt, fand ich schon immer. Andere lassen sich einen Hintern wie J.Lo. ihn hat viel Geld kosten, ich hatte ihn von Natur aus. Mrs Ferguson sollte ruhig sehen, dass ich zufrieden mit mir war, also straffte ich meine Schultern, drückte meine üppige Brust etwas heraus und schritt an der älteren Dame vorbei auf die Tür am Ende des Ganges zu, an der ein goldenes Schild angebracht war, auf dem in schwarzen Buchstaben Kanzlei Mr Ferguson stand. An der Tür angekommen klopfte ich an. Ohne auf Mrs Ferguson zu warten, trat ich ein, als von innen ein »Herein« ertönte, und schloss mit einem Lächeln auf den Lippen die Tür direkt vor der Nase der unfreundlichen Dame.
»Ms Sands«, begrüßte mich ein kahlköpfiger Herr in den Fünfzigern. Er stand von seinem großen Ohrensessel auf, der sich perfekt in das dunkel gehaltene Büro einfügte. Alle Regale, Schränke und auch der Schreibtisch waren aus dunkelbraunem massiven Holz gefertigt und hatten bestimmt ein Vermögen gekostet. So wie wohl auch der Rest des Hauses. Vielleicht hatte ich einfach den falschen Beruf gewählt. Aber bei der Vorstellung an die vielen trockenen Paragrafen, die man als Anwalt zu lernen hatte, schüttelte es mich innerlich.
»Guten Tag«, entgegnete ich und trat weiter in den Raum, mir dessen unangenehm bewusst, dass meine dreckigen Schuhe nasse Flecken auf dem glänzenden Parkett hinterließen. Es war angenehm warm im Raum, was mich freute, weil ich etwas durchgefroren war. Eine leise Stimme in mir hoffte, dass mein Aufenthalt hier lange genug dauern würde, um mich aufwärmen zu können. Der Sommer war dieses Jahr eher ein Spätherbst, was nicht nur mich, sondern auch sämtliche Schulkinder Englands enttäuschte. Die Sommerferien waren eine Katastrophe.
»Setzen Sie sich«, forderte Mr Ferguson freundlich lächelnd und wies mir einen von zwei Sesseln in der Nähe des Kamins.
Ich nahm Platz und sah verlegen in die zuckenden Flammen, meine Hände im Schoß gefaltet. Jetzt fühlte ich mich doch etwas nervös mit leichten bis mittelstarken Krämpfen im Magen. Was konnte ein so gut betuchter Anwalt von mir wollen? Eigentlich war ich mir sicher, dass ich mir nichts zuschulden kommen lassen hatte. Verwandte, die mir irgendwelche Reichtümer vererben könnten, hatte ich auch keine mehr.
Meine Eltern waren vor acht Jahren ums Leben gekommen und hatten mir das wenige hinterlassen, mit dem ich mein Studium finanziert hatte. Meine Großmutter, meine einzige noch lebende Verwandte, war, soweit ich wusste, in den letzten Stunden nicht verstorben – ich hatte sie heute Vormittag erst telefonisch gesprochen. Und Geld hatte sie ohnehin kaum. Auch hier galt: soweit ich wusste. Somit war ich ziemlich einsam auf der Welt.
Mr Ferguson beugte sich über das Sprechgerät auf seinem Schreibtisch. »Alie, bring uns doch bitte etwas Tee. Unser Gast sieht mir ein wenig unterkühlt aus.« Dann griff er nach einem großen Umschlag, trat um den Tisch herum und setzte sich auf den anderen Ledersessel.
»Gut, dass ich vorhin noch das Feuer gemacht habe. Ich mag es gern gemütlich hier drin.« Er lächelte freundlich, hielt mir seine Hand hin, ich ergriff sie. »Leonard Ferguson, und Sie dürften also Linda Sands sein«, stellte er fest und musterte mich aufmerksam, ohne den abschätzigen Blick, den seine Frau vorhin hatte. »Sie sind vierundzwanzig?«
Ich nickte.
Mr Ferguson war leicht untersetzt, seine Augen grau und er trug einen schwarzen Anzug. Auf dem weißen Hemd, dessen oberster Knopf offenstand, prangte ein rostfarbener Fleck in Höhe seiner Brust. Er musste sich beim Essen bekleckert haben. Ich unterdrückte ein Grinsen. Zumindest wirkte er auf mich viel sympathischer als seine Frau, die gerade zur Tür hereinkam und einen Servierwagen vor sich herschob, auf dem das Porzellan leise klirrte. Sie schob den Wagen zwischen unsere Sessel, warf ihrem Mann ein kurzes Lächeln zu und ging wieder, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Mr Ferguson goss Schwarztee in unsere Tassen. »Milch? Zucker?«
»Ja, bitte.«
Er reichte mir meine Tasse, nachdem er fertig war, ich nahm sie nickend und pustete in den dampfenden Tee.
»Dann wollen wir mal.« Er zog Papiere aus dem Umschlag, musterte mich kurz, dann die Papiere und lächelte ein weiteres Mal zufrieden. »Das sind dann wohl Sie?«
Er hielt mir ein Foto von mir hin, von dem ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wann das gemacht wurde, aber es zeigte mich auf dem Campus der Universität unter dem Baum, unter dem ich bei gutem Wetter gerne saß und las. Es musste kurz vor Beginn des letzten Semesters gemacht worden sein. Ich trug auf dem Bild nur eine Bluse und einen dünnen Sommerrock.
»Ja, das bin ich«, sagte ich und sah Mr Ferguson verwirrt an.
Er legte das Foto beiseite. »Dann können wir weitermachen. Er blickte ernst auf das cremefarbene Papier in seinen Händen. »Sie wissen, wer Mr Robert MacLeod ist?«
Ich war noch verwirrter. »Sie meinen Professor MacLeod?«
»Genau.«
»Er war für zwei Semester mein Professor an der Universität.« Professor MacLeod war nur Gastdozent gewesen. Aber ich hatte ihn als sehr netten, aufgeschlossenen und um seine Schüler bemühten Mann kennengelernt. Er war schon älter gewesen. Ende sechzig vielleicht? Er hatte etwas von einem Adligen an sich. Er war immer sehr vornehm gewesen, hatte sich sehr gewählt ausgedrückt, war dabei aber nie arrogant rübergekommen.
»Mr MacLeod hat mir dies hier zukommen lassen, bevor er von uns gegangen ist.«
»Er ist …?« Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter. Obwohl ich ihn nur kurz gekannt hatte, versetzte mir diese Nachricht einen Stich.
»Ja, bedauerlich. Ich bin schon seit vielen Jahren Anwalt der Familie. Es ist … nun ja, ein etwas außergewöhnliches Schreiben. Ich lese Ihnen am besten vor, was da steht.« Er machte eine kurze Pause, musterte mich, wohl um sich zu vergewissern, dass ich ihm zuhörte. Dann rückte er seine Brille auf der Nase zurecht und schielte mich über die kleinen runden Gläser hinweg abwartend an.
»Lesen Sie«, forderte ich ihn auf und nippte an meinem Tee.
»Liebe Ms Sands, es wird Sie überraschen, dass ich mich gerade an Sie wende, aber glauben Sie mir bitte, wenn ich Ihnen sage, dass ich wichtige Gründe habe. Es wäre vielleicht leichter gewesen, Sie einfach wegen einer Arbeit nach Glenoak Hall zu bitten, aber das wäre nicht der wirkliche Grund. Ich hoffe, Sie verzeihen es mir, wenn ich es trotzdem so angehe und Sie bitte, nach Glenoak Hall zu kommen, wo Sie einige Gemälde restaurieren sollen, die von großer Wichtigkeit für meine Familie sind. Und wenn ich es bemerken darf, auch für Sie, Ms Sands.
Als Dank für Ihre Mühen werden Sie gut bezahlt. Mein Anwalt wird alles in die Wege leiten. Aber ich möchte noch einmal betonen, dass diese Gemälde, wenn es auch die wertvollsten Besitztümer auf Glenoak Hall sind, nicht der eigentliche Grund für ihre unbedingte Anwesenheit auf dem Familienbesitz sind.
Bitte richten Sie sich auf einen längeren Aufenthalt ein und machen Sie sich keine Sorgen wegen eventueller Verpflichtungen in London, Mr Ferguson wird sich um alles kümmern, auch um sämtliche finanzielle Belange.
Mit ergebensten Grüßen, Ihr Professor MacLeod.«
Hatte ich Mr Ferguson mit offenem Mund angestarrt? Ich kann es nicht sagen, aber einige Augenblicke lang, war ich unfähig zu sprechen oder zu denken. Dann setzte ich mich auf und sah den Anwalt zweifelnd an. »Ich soll nach Glenoak Hall kommen? Wieso soll ich die Gemälde restaurieren? Er wird nie erfahren, ob sie restauriert worden sind? Ich verstehe nicht ganz.«
»Ich kann ihnen leider nicht viel mehr sagen. Er betont in seinem Brief an mich nur noch einmal, wie äußerst wichtig es ist, dass sie seiner Bitte nachkommen.«
»Und Sie sollen für alles aufkommen? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich bin so gut wie pleite.«
»Na dann kommt das hier doch gerade recht«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Wir reden hier von einer Bezahlung für Sie in Höhe von fünfhunderttausend Pfund.«
Schockiert riss ich die Augen auf. »Fünfhunderttausend Pfund? Aber das kann ich nicht annehmen. Das geht nicht.« Mein Herz schlug so schnell, dass es mir aus der Brust zu springen drohte.
»Warum nicht? Sagten Sie nicht gerade Sie wären pleite?«
»Ja, aber das Geld würde für die Restaurierung einer ganzen Galerie reichen.«
»Es handelt sich um eine ganze Galerie. Sie sollten wirklich annehmen, Professor MacLeod war das sehr wichtig. Er hat auf Ihr Können vertraut. Und das ist wirklich viel Geld.« Er zog die Stirn kraus und sah mich ernst und aufmunternd an.
Ich dachte darüber nach. So genommen hatte der Anwalt recht. Es sah nicht danach aus, als würde ich in den nächsten Wochen Arbeit finden. Dieser Auftrag würde mich einige Zeit über Wasser halten. Und, wenn diese Gemälde auf dem Anwesen der MacLeods waren, einer sehr alten Familie, dann mussten es wirklich großartige Gemälde sein. Solche Kunstwerke zu restaurieren, würde mir nicht nur einiges an Erfahrung einbringen, vielleicht auch einen Namen machen. Und mal ehrlich, welche andere Option hatte ich schon?
»Wo befindet sich Glenoak Hall?«
»Auf der Isle of Skye, in der Nähe von Dunvegan. Etwa zwölf Stunden von London.«
Zwölf Stunden. Das war nicht gerade nebenan. Aber andere Pläne hatte ich nun mal nicht. Und ich wollte schon immer mal Schottland sehen, überlegte ich mir. Und was hatte ich schon zu verlieren? Eigentlich konnte ich nur gewinnen, auch wenn ich nicht wirklich wusste, was ich von all dem halten sollte. Aber Professor MacLeod war immer ein Mann gewesen, dem ich vertraut hatte. Ich hatte keinen Grund, damit jetzt aufzuhören, trotzdem musste ich noch einen Punkt klären.
»Im Brief steht, die Gemälde wären nicht der wahre Grund, was dann?«
»Dazu darf ich leider nichts sagen. Der Professor möchte sie in der Angelegenheit nicht beeinflussen, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es weder kriminell noch gefährlich ist.«
Ich dachte darüber nach und versuchte dabei, das ungute Gefühl in meiner Brust zu ignorieren. Mich reizte dieses Angebot sehr, wen nicht? Hier ging es um eine enorme Summe Geld. Ich knabberte auf dem Nagel meines kleinen Fingers, eine nervige Angewohnheit, aber das half mir beim Nachdenken. »Wann soll es losgehen?«
»Morgen wird Sie ein Fahrer abholen. Können Sie bis dahin all Ihre Angelegenheiten geklärt haben?«
So viel gab es da nicht zu klären. »Ja.«
2. Kapitel
Der Wagen, der mich abholte, war überraschenderweise kein Taxi. Nein, ich durfte nobel in einem Mercedes Benz mit Extraausstattung reisen. In der Bar befanden sich gekühlter Saft und Champagner und einen DVD-Spieler gab es auch. In meiner unscheinbaren Kleidung fühlte ich mich dem Chauffeur gegenüber im Nachteil und auch in dem Auto fühlte ich mich fehl am Platz. Aber all dieser Luxus – und zwei Gläser des köstlichen Champagners – ließen mich meine Fehlplatzierung schnell vergessen.
In meinen zwei Koffern befand sich dann auch nicht wirklich viel, nur die wenigen Kleidungsstücke, die ich als tragbar erachtet hatte. Den restlichen Raum vereinnahmten meine Arbeitsutensilien. Die Fahrt verbrachten der Fahrer und ich in einvernehmlichem Schweigen. Das bot mir die Gelegenheit, die wundervolle ländliche Gegend, die Skye ausmachte, in mich aufzunehmen. Wälder wurden von Weiden abgelöst auf denen Schafe vor sich hindösten. Kleine Ortschaften lagen ruhig und verträumt zwischen Hügeln und Bergen. Unser Weg führte uns an der Küste vorbei und an mehreren Lochs; Loch na Cairidh, Loch Ainort, Loch Sligachan und Loch Harport, um nur die größeren zu nennen. Der Himmel war hier genauso grau wie der über London, aber das Wetter konnte mir egal sein, da ich die meiste Zeit sowieso im Haus mit meiner Arbeit verbringen würde. Schließlich war ich nicht zur Erholung hier, sondern um die so oft erwünschten Erfahrungen zu sammeln.
Dunvegan war die Art Kleinstadt, die ich mir immer vorgestellt hatte, wenn ich an die Highlands dachte. »Lange Zeit war die Stadt eine wichtige Hafenstadt, mittlerweile ist sie eher Touristenmagnet. Fast alle Touristen kommen hier her, um Dunvegan Castle zu besuchen«, klärte mich mein Chauffeur auf. »Sie sollten sich die Burg auch anschauen, solange sie hier sind. Viel mehr gibt es hier auch nicht. Ein oder zwei nette Restaurants, ein paar Andenkenläden und Hotels. Oh, vielleicht noch eine Bootstour zu einer der Robbeninseln.«
Im Großen und Ganzen wirkte Dunvegan romantisch und verträumt. Es gab ältere Häuser, aber die meisten schienen mir keine hundert Jahre alt. Eine gewöhnliche Kleinstadt ohne Besonderheiten, fast schon ein wenig enttäuschend, denn eigentlich hatte ich viel mehr historische Gebäude erwartet. Das Leben steppte definitiv woanders. Nach nur fünf Minuten, einem Bäcker, einem Fleischer und einem Pub hatten wir Dunvegan durchquert und befanden uns wieder auf freiem Gelände. Hier und da stand noch ein einsames Haus.
Es ging eine recht angenehme Straße entlang, die manchen Motorradfahrer dazu veranlasste an uns vorbeizupreschen. Nach wenigen Minuten nahm unser Auto eine Abzweigung auf eine unbefestigte Straße, die sich einen recht steilen Hügel hinaufschlängelte auf dessen Spitze ein großes Anwesen thronte, das umgeben war von grünen Hecken, so dass man erst nur das dunkelgraue Dach sah und zwei eckige Zinnen bewehrte Türme, die zu beiden Seiten des Gebäudes aufragten. Das eigentliche Haus, ein großer, rechteckiger Kasten mit hohen Fenstern, unzähligen Erkern und einem von Säulen eingefassten Eingang, konnte man erst erblicken, nachdem wir das hohe gusseiserne Tor durchquert hatten. Eine lange Auffahrt führte an einem alten, bemoosten Springbrunnen vorbei, in dessen Mitte ein wenig bekleideter Held einen Drachen erlegte.
Grundstück und Haus machten einen gepflegten Eindruck, aber etwas anderes hatte ich auch nicht von Professor MacLeod erwartet. Das Auto hielt vor dem Haus und ich war gespannt, wer und was mich in Glenoak Hall erwarten würde.
Der Fahrer öffnete den Kofferraum und nahm mein Gepäck. Mit einem Nicken wies er mich an, ihm zu folgen, was ich tat. Wir hatten die drei Stufen, die zur prachtvoll mit Schnitzereien verzierten Eingangstür führten, noch nicht ganz erreicht, als ein älterer Herr in Smoking und mit runder Nickelbrille auf der Nase die Tür öffnete.
Nach kurzer Musterung lächelte er freundlich, und dieses Mal hatte ich den Eindruck, dass dieses Lächeln ernst gemeint war. »Ms Sands, schön Sie begrüßen zu dürfen.« In seinen Augen funkelte etwas, das, wenn ich es nicht besser wüsste, mich an sexuelle Bewunderung erinnerte. Was natürlich eine Täuschung meinerseits war, denn nachdem ich geblinzelt hatte, und den Herren unter zusammengekniffenen Lidern hervor ansah, musste ich feststellen, dass er eher kühl wirkte.
»Mein Name ist Alfred, ich bin der Butler im Haus. Treten Sie ein.« Er nahm dem Fahrer die Koffer ab, bedankte sich knapp bei ihm und schickte ihn zurück nach London.
Ich folgte Alfred eine breite Treppe hinauf in das Obergeschoss. Das Klacken meiner Absätze wurde von einem dunkelroten Teppich geschluckt, der jede einzelne Stufe umhüllte und auch den langen Flur oben zierte, auf dessen einer Seite mehrere Türen abgingen. Der Flur wurde von gedämpften Lampen erhellt, die über Kommoden oder Gemälden an den Wänden angebracht waren.
»Das Badezimmer befindet sich am Ende des Ganges. Das ist das einzige im Haus, sonst gibt es nur noch eins im Schlafzimmer des Herren. Aber das dürfte kaum ein Problem darstellen.« Schwang da Sarkasmus mit in der heiseren Stimme des Butlers? »Im Erdgeschoss gibt es noch zwei Toiletten; das Gäste-WC und das für die Angestellten. Sie können das Gäste-WC gerne benutzen, wenn Sie sich unten aufhalten. Dann müssen Sie nicht immer nach oben.«
Da ich nicht annahm, dass er keine Antwort von mir erwartete, entgegnete ich nichts. Ein kalter Luftzug streifte meine Wange und meinen Nacken. Irgendwo zog es. Ich hoffte, dass es in meinem Zimmer wärmer war als hier im Korridor. Ich mochte es nicht, wenn es kalt war. Meine Muskeln fühlten sich dann ganz steif an und ich konnte nicht gut arbeiten.
Alfred öffnete eine dunkle Holztür und ließ mich vor sich eintreten. »Ihr Zimmer. Ich hoffe, Sie werden sich wohlfühlen. Scheuen Sie sich nicht, zu bitten, wenn Sie noch etwas benötigen.«
Bemüht, meine Begeisterung über das atemberaubende Zimmer nicht nach außen dringen zu lassen, sah ich mich um. Ein großes, breites Holzbett dominierte das Zimmer, das passend zum altmodischen Stil des gesamten Hauses mit Blumentapeten verziert war. Ein riesiger Kleiderschrank stand hinter mir direkt neben der Tür, mir tat derjenige leid, der dieses Monstrum vielleicht einmal aus dem Haus tragen musste, wenn der Schrank nicht mehr der Zeit trotzte. Er wirkte wie aus einem Stück geschaffen, so massiv war er. Das Holz an einigen Stellen schon rissig, die aufgemalten Blumen verblasst, aber er war noch immer schön. Damals wurden Möbel noch für die Ewigkeit gebaut. Wenn ich so gut erhaltene alte Dinge sah, musste ich oft den Kopf über unsere schnelllebige Zeit heute schütteln, in der nichts mehr lange hielt. Dieser Kleiderschrank hier hielt schon gut zweihundert Jahre.
An der Wand über dem Bett hing ein Landschaftsgemälde, das, wenn ich mich nicht täuschte, den Wald zeigte, der hinter dem Anwesen anschloss. Ein Waschtisch mit einer Metallschüssel und einem Keramikkrug stand zwischen zwei Rundbogenfenstern und dem Bett gegenüber befand sich ein Sekretär, der mich vor Neid erblassen ließ. Vielleicht sollte ich fragen, ob ich dieses Schmuckstück mitnehmen durfte, wenn ich wieder abreiste. So einen wundervollen Schreibtisch wollte ich schon immer besitzen.
In einem kleinen schwarzen gusseisernen Ofen brannte ein Feuer, ich konnte die Flammen durch eine Scheibe hindurch tanzen sehen. Jemand hatte das Zimmer für mich geheizt. Wahrscheinlich Alfred. Sehr umsichtig von ihm.
Alfred stellte meine beiden Koffer in der Mitte des Zimmers ab. »Ich werde sie sofort ausräumen. Ich möchte nur Molly, meine Frau, schnell fragen, wann das Essen bereit ist. Sicher sind Sie hungrig nach der langen Fahrt.«
Jetzt, wo Alfred es ansprach, verspürte ich tatsächlich ein flaues Gefühl im Magen. »Sie müssen die Koffer nicht auspacken. In dem sind ohnehin nur Arbeitsmittel. Ich schaffe das alleine, danke.« Er war es vielleicht gewohnt, sämtliche Arbeiten für seine Arbeitgeber zu erledigen, aber ich wiederum war es nicht gewohnt, bedient zu werden. Es war mir unangenehm. Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass ich einige Dinge lieber selber machen wollte.
»Dann werde ich nach Molly sehen. Dort gibt es eine Sprechanlage, mit der können Sie mich rufen, sollten Sie etwas wünschen. Früher gab es einen Klingelzug, aber der wurde schon vor Jahren abgeschafft. Drücken Sie einfach den Knopf. Es gibt in jedem Zimmer ein Gegenstück, ich werde Sie also hören.« Ich nickte, wusste aber, dass ich das bestimmt nicht tun würde. Schon die Vorstellung, meine Stimme würde durch jedes Zimmer im Haus tönen, jagte mir Schauer den Rücken hinunter.
»Oh und Ms Sands, die Maske dort auf dem Bett«, er deutete auf eine Karnevalsmaske, wie ich sie aus Venedig kannte, wenn ich den historischen Filmen und Dokumentationen trauen durfte, die ich gesehen hatte, »ist für den Maskenball, den der Herr heute Abend gibt. Er möchte, dass sie daran teilnehmen. Sie haben doch ein Kleid mitgebracht?« Alfred sah mich unter hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
Eigentlich wollte ich alles andere als an einem Maskenball teilnehmen, ich war nicht gerne unter vielen Menschen, aber abzulehnen erschien mir als unhöflich, zumal der Butler mich so eindringlich anblickte, dass ich gar nicht wagte, abzusagen. Ich nickte überrumpelt und zugleich nicht in der Lage, meine gute Erziehung zu vergessen. Das einzige Kleid, das ich eingepackt hatte, wäre zwar denkbar schlecht für eine solche Veranstaltung, aber es musste ausreichen. Mehr als ein schlichtes Kleid für eventuelle Restaurantbesuche konnte man von mir nicht erwarten, schließlich war ich nicht zum Vergnügen hier.
Nachdem Alfred das Zimmer verlassen hatte, das in der nächsten Zeit meines sein würde, untersuchte ich alles genauer. Der dunkelbraune Kleiderschrank war leer und roch leicht muffig, was wohl am Alter lag. Über dem Bett lag eine weiße geblümte Tagesdecke aus glattem Stoff ausgebreitet, unter der Decke befand sich die wohl fülligste Daunendecke, die ich je gesehen hatte. Unter der würde ich sicher nicht frieren. Im weißen Sekretär lagen Briefpapier und Stifte bereit und warteten darauf, von mir benutzt zu werden. Ich legte ein paar meiner eigenen Notizblöcke und Stifte dazu. Als ich meine Erkundung beendet hatte, beschloss ich, die lange Autofahrt von meinem Körper zu duschen und mich für diesen Maskenball einigermaßen vorzeigbar herzurichten.
Das Badezimmer am Ende des Ganges war ganz im Gegensatz zum Rest des Hauses modern, aber schlicht eingerichtet. Den Boden zierten schwarze Fliesen und die Wände weiße mit kaum sichtbaren grünen Marmorierungen. Es gab eine Dusche mit breitem Kopf, der das Wasser über mich rieseln ließ wie sanften Regen, und eine Eckbadewanne. Alles schien noch nicht allzu alt zu sein.
Frisch geduscht fühlte ich mich gleich viel besser und zu allem bereit. Ich ging, nur mit meinem schlichten schwarzen Kleid bekleidet, in mein Zimmer zurück, um meine Haare zu machen. Nachdem ich eine Weile probiert hatte, entschied ich mich für locker aufgestecktes Haar. Ein Blick auf die Uhr meines Handys zeigte, dass es bereits acht Uhr am Abend war. Ich lauschte auf Geräusche von unten, konnte aber nichts hören, was darauf hinwies, dass die Gäste schon eingetroffen waren.
Mit der Maske in der Hand wand ich mich vor dem Spiegel, der über dem Waschtisch angebracht war und strich zufrieden über meine Rundungen. Das schwarze, eng anliegende Kleid betonte gut, worauf ich ohnehin schon stolz war. Das ausgeschnittene Dekolleté gab nicht zu viel preis, betonte aber trotzdem meine Körbchengröße C genau richtig. Die Länge des Kleides war gerade so lang, dass es meine Oberschenkel verdeckte, die mein einziger Makel waren. Sie waren etwas zu dick.
Ich betrachtete aufgeregt aber auch mit einem leicht mulmigen Gefühl die Maske. Sie war mit schwarzem Samt bezogen, der Rand war mit Pailletten besetzt, die silbern im Licht der Deckenbeleuchtung funkelten. Am oberen Rand waren weiße weiche Daunenfedern befestigt, die sanft wogten, wenn man die Maske bewegte oder darauf atmete.
Ich setzte die Karnevalsmaske zögernd auf und sah in den Spiegel. Mir stockte der Atem. Sie verdeckte mein Gesicht und hob zugleich meine grünen Augen auf eine geheimnisvolle Weise hervor. Sie ließ sie regelrecht leuchten und verlieh ihnen einen wundervoll anziehenden Glanz. Und sie betonte meine dezent rot geschminkten Lippen. Diese Maske verlieh mir eine Schönheit, die mir fremd war, mich aber faszinierte. Und sie machte mich anonym.
Ich konnte mich unter den Gästen bewegen, ohne dass sich danach jemand an mich erinnern oder mich wiedererkennen würde, wenn er mir mal begegnete. Das Wissen um diese Anonymität verlieh mir Mut, den ich sonst nicht hatte, wenn ich mich unter Menschen bewegte. Eine mir unbekannte Selbstsicherheit breitete sich in mir aus.
Ich war vielleicht stolz auf meine Figur, die ich immer gerne betonte, aber das tat ich nur, um von meinem offensichtlichen Makel abzulenken; der Unsicherheit im Umgang mit Menschen. Irgendwann hatte ich mitbekommen, dass die Menschen dir Fehler verziehen oder sie gar nicht erst bemerkten, wenn du hübsch warst. Sie ließen dir mehr durchgehen, wenn du in ihren Augen schön warst. Nur bei der Person, bei der dieser Trick am allermeisten hätte funktionieren sollen, funktionierte er gar nicht – bei meiner Großmutter.
Versagen war für sie undenkbar. Wenn ich versagte, wurde ich mit Missachtung bestraft. Missachtung, die je nach Schweregrad meines Versagens über Tage hinweg reichte. Das hieß: keine Worte, die sie an mich richtete. Kein Essen, das sie für mich kochte. Keine Wäsche, die sie für mich wusch. Sie tat einfach so, als gäbe es mich nicht. Dieses Verhalten meiner Großmutter hatte mich dazu gebracht, mir immer alles abzuverlangen. Ich war nie zufrieden, aber immer darauf bedacht, alles perfekt zu machen. Es hatte mich zu jemanden gemacht, der sich von allen zurückzog, um immer noch besser zu werden. Ich besaß keine Freunde und kannte nur mein Fortkommen. Mein Leben bestand aus Arbeit und dem Versuch, in allem fehlerfrei zu sein. Dieser Lebensstil in der selbstauferlegten Einsamkeit wiederum war schuld daran, dass ich mich unter Menschen unwohl fühlte. Ich war dann immer leicht nervös, was sich in aufgeregtem Plappern niederschlug.
Ich sah die Maske in meinem Spiegelbild an und lächelte. Zeit einmal auszubrechen, einmal jemand anders zu sein. Mich bis zu dem Punkt treiben zu lassen, wo mein Mut mich verließ.
Mein Herz klopfte aufgeregt, als ich die Tür öffnete und nun doch leises Stimmengewirr von unten heraufdrang. Ich ignorierte das ängstliche Ziehen in meinem Magen, atmete tief ein und trat in den Flur hinaus. Eine kichernde Frau in einem sehr kurzen grünen Kleid mit blonden Haaren bis zur Taille kam die Treppen hinaufgerannt, wandte sich laut kreischend zu einem Mann in weißem Hemd, dunkler Anzugjacke und Kilt um, der hinter ihr herkam und unter seiner Maske hervor grinste. Sie liefen eilig an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Die Frau verschwand im Bad, warf dem Mann die Tür vor der Nase zu und dieser blieb seufzend vor der Tür stehen.
Ich lachte leise vor mich hin, weil ich die Szene romantisch fand. Vielleicht waren sie ein Paar. Dann wandte ich mich ab und steuerte in meinen silbernen Riemchensandalen die Treppe an. Von unten kam noch mehr Gekicher nach oben. Zwei Männer in Kilts standen unten an der Treppe und unterhielten sich. Einer von ihnen sah zu mir hoch, sein Blick verweilte etwas länger auf meinem Körper als auf meinem Gesicht, aber ich nahm es ihm nicht übel. Die Maske verbarg alles, was wichtig wäre. Als ich an den Männern vorbeiging, wandte ich mein erhitztes Gesicht ab. Ich wollte nicht schon jetzt zeigen, dass ich nicht halb so sicher war, wie ich versuchte, zu erscheinen.
Den anderen Stimmen folgend betrat ich eine große Halle, die fast so wirkte, wie der Ballsaal eines Schlosses oder die »Halle« einer Burg, in der die Krieger vor Jahrhunderten saßen und sich mit Wein, Weib und Gesang vergnügt hatten. Ungefähr fünfzig maskierte Menschen standen in Gruppen beieinander und schwatzten, tanzten oder flirteten. Keiner sah zu mir her, also konnte ich sie alle in Ruhe einer Musterung unterziehen. Die Frauen schienen fast alle schlank, deutlich weniger rund als ich es war. Hätte ich ein Problem mit meinem Körper gehabt, wäre meine geborgte Selbstsicherheit wohl spätestens jetzt verloren, aber da ich noch immer der Meinung war, dass nur Rundungen eine Frau weiblich aussehen ließen, störten mich die dünnen Mädchen nicht. Die Männer waren bunter gewürfelt, dünn und schlaksig, dick oder muskulös und breitschultrig. Einige trugen Kilts und andere Anzughosen oder Jeans.
Ich blieb weiter in der Tür stehen und spielte mit mir selbst das Spiel: wer ist dein Gastgeber? Ich schloss die Frauen aus, denn aus dem Brief des Professors wusste ich, dass er einen Sohn hatte. Ich schloss auch die Männer aus, die grauhaarig waren. Mein Blick blieb an einem Mann in dunklen Jeans hängen, der seine Hose wirklich perfekt ausfüllte. Er stand mit seinem breiten Rücken zu mir und hielt ein Tablett mit Gläsern in der Hand. Da ich sonst niemanden außer Alfred sah, der bediente, nahm ich an, dass er der Sohn des Professors sein musste. Ich beobachtete ihn eine Weile, er flirtete lautstark mit mehreren Frauen, die sich wie verliebte Hennen um einen Hahn gescharrt hatten.
Und verlieben musste man sich in ihn. Als er sich umwandte und zur Tür sah, umspielte ein Lächeln seine Lippen, das jede Frau erzittern lassen würde. Und diese hellen eisblauen Augen, die mich aus der Maske heraus ansahen … Solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Sie wirkten wie poliertes Eis auf einem Wintersee oder wie die eines Huskys und standen damit in so starkem Kontrast zu seinem schwarzen Haar, dass mir der Atem stockte und mein Herz einen Satz machte, als dieser Mann mich ansah. Eine seiner Hennen klopfte ihm auf die Schulter und verlangte seine Aufmerksamkeit zurück.
Ich riss mich von ihm los, nur um gerade rechtzeitig zu bemerken, dass der Zwilling dieses Mannes gerade auf mich zukam. Er hatte das gleiche Lächeln aufgesetzt, das sofort ein Ziehen zwischen meinen Schenkeln auslöste und mich nervös werden ließ, und diese markanten Augen sahen mir fest ins Gesicht. Das einzige, was die beiden unterschied, war der Kilt in den grün-blauen Farben der MacLeods, den dieser Mann trug. Einen winzigen Moment lang wünschte ich, er würde auch enge Jeans tragen, damit ich das Spiel seiner Oberschenkelmuskeln sehen konnte, während er immer näher kam.
»Ich habe gesehen, wie du meinen Cousin gemustert hast«, stellte er breit grinsend fest und entblößte weiße gerade Zähne.
Soweit ich das trotz der Maske beurteilen konnte, war er nicht im klassischen Sinne attraktiv, aber diese vollen Lippen, diese unfassbaren Augen und die breiten Schultern machten ihn interessant. Ihr kennt das doch, wenn man einen Mann sieht und denkt, der ist nicht hübsch im Sinne von hübsch, aber er hat etwas, das macht aus ihm Sex aus zwei Beinen. Lag es an der Maske oder dem dunklen Bartschatten auf seinen Wangen? Jedenfalls war es genau so bei diesem überaus maskulin wirkenden Exemplar der Gattung Mann. Man sah ihn an und konnte nicht anders, als Verlangen zu empfinden. Und ich war niemand, der so empfand, nur weil ich einen Mann vor mir hatte.
Wer konnte sich dieser ungewöhnlichen Augenfarbe schon entziehen? Man musste einfach hinsehen. Genau wie auf alles andere, was diesen Mann ausmachte; eine gerade schlanke Nase, der Bartschatten, den die Frauen dieser Welt auch lechzend Dreitagebart nannten, der scharfkantige Unterkiefer und das breite Kinn, das sich just in dem Moment anspannte. Ich hob das Gesicht hin zu diesen funkelnden Diamanten und bemerkte nur nebenbei das wissende Grinsen, das seine Lippen umspielte.
Sein Anblick und die Art, wie seine Augen über meine Rundungen wanderten, zauberten dieses Prickeln in meinen Körper, von dem meine Großmutter behauptete, dass es selbst intelligenten Frauen das Denken raubt. Und ja, meine Denkfähigkeit schien deutlich eingeschränkt, denn ich wurde mir meiner offensichtlichen Musterung dieses Prachtstücks erst bewusst, als er vernehmlich hüstelte. Hatte er nicht etwas gesagt, das mich verärgert hatte?
»Ich habe ihn nicht gemustert, ich habe in die Runde geblickt«, verteidigte ich mich bissig. Etwas zu bissig, denn ich entlockte diesem Schotten nur ein lautes Lachen, das alle Anwesenden zu uns schauen ließ.
»Eine Engländerin«, sagte er schließlich mit seiner tief tönenden Stimme. Ich unterdrückte den Drang, mir über meine Arme streichen zu wollen, denn diese Stimme legte sich wie Seide auf meine Haut. Sie jagte mir ein Kribbeln durch meinen Unterleib und ich musste das Verlangen unterdrücken, mir genüsslich über die Unterlippe zu lecken.
Als mir auffiel, dass ich ihn fast sabbernd anstarrte, spürte ich die Hitze auch schon in mein Gesicht schießen. Sofort nahm ich Verteidigungshaltung an und warf dem Typen einen giftigen Blick zu. Ich hoffte nur, dass meine Augen genug Funken sprühten, damit er das auch sehen konnte, denn mit einer Maske auf dem Gesicht zornig auszusehen, war bestimmt nicht einfach.
»Und nicht die Einzige hier«, entgegnete ich schroff. Irgendwie störte es mich, dass er Engländerinnen vielleicht nicht mochte. Obwohl ich nicht sagen konnte, warum mich das interessieren sollte? Und überhaupt, lag es an der Maske, dem Ball, der neuen Umgebung, dass ich mich wegen des Anblicks eines Mannes in ein sabberndes Häufchen verwandelte? Männer ließen mich nicht grundlos kalt. Ich hatte gelernt, sie nicht zu registrieren, aber bei diesem hier schienen sich meine Blockaden in Luft aufzulösen.
»Nein, aber die einzige mit solchen Hüften.« Seine Augen glitten abermals über meinen Körper und der Ausdruck in seinen Augen ließ mich meinen Zorn vergessen, stattdessen entfachte er ein Verlangen in mir, das ich für einen Fremden nicht empfinden sollte. Aber dieser abtastende Blick fühlte sich an, als würde er mich wirklich berühren. Als er wieder zu mir aufsah, hatten sich seine Iris verdunkelt und er sah mich mit unverhohlener sexueller Begierde an. »Nicht zu verachten.«
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013
Alle Rechte vorbehalten