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Leseprobe Kapitel 1-3

1.  Auflage Juni 2013

Copyright 2013 by Savannah Davis

Coverfoto: © Chariclo - Fotolia.com

Coverdesign: Nicole Döhling

Lektorat: Rhona White

 

Alle Rechte Vorbehalten, einschließlich das

des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks

in jeder Form.

 

Email: nicole.doehling@web.de

www.savannahdavis.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Savannah Davis

 

Für immer Du

 

 

 

Für meine Schwester, die die Romantik zurück in ihr Leben geholt hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 Oh wüsstest du, wie sehr dein Antlitz sich verändert, wenn du mitten in dem Blick, dem Stillen, Reinen, der dich mir vereint, dich innerlich verlierst und von mir kehrst! Wie eine Landschaft, die noch eben hell, bewölkt es sich und schließt mich von dir aus. Dann warte ich. Dann warte schweigend ich oft lange. Und wär ich ein Mensch wie du, mich tötete verschmähter Liebe Pein. So aber gab unendliche Geduld der Vater mir und unerschütterlich erwarte ich dich, wann immer du kommst. Und diesen sanften Vorwurf selber nimm als Vorwurf nicht, als keusche Botschaft nur. (C. Morgenstern)

 

 

 

Prolog

 

 

Adrian wusste, das, was jetzt kommen würde, war unvermeidlich. Sanft bettete er Anna auf den Altar. Ließ sich Zeit damit, ihr einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Wenn er sie schon im Leben nicht geküsst hatte, so wollte er sich das im Tod nicht nehmen lassen. Ihre Lippen fühlten sich weich an, noch immer warm. Fast wollte Adrian glauben, dass das Herz in ihrer Brust noch schlug. Aber es war nur der Wunsch eines Verlorenen. Er selbst hatte ihr die Scherbe aus dem Leib gezogen. Ihr Blut klebte an ihrer Kleidung, auf dem Altar, an seinen Händen. Ja, an seinen Händen. Er hatte die Frau getötet, die er liebte. Adrian trat rückwärts vom Altar weg und wandte sich dem Erzengel Irial zu. Dieser hielt sein Flammenschwert in der Hand und stellte sich hinter Adrian. » Du wirst dazu verurteilt, auf Erden zu wandeln. Du wirst sein, was du eigentlich bekämpfen solltest. Ein Ausgestoßener.« Schreiend fiel Adrian zu Boden, als das Schwert seines Bruders ihn seiner Flügel beraubte.

 

 

 

1.Kapitel

 

 

Ein Poltern riss mich aus dem Schlaf. Ich tastete nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe. Der blaue Plastikbär aus Kindertagen leuchtete auf und hüllte mein Schlafzimmer in viel zu helles Licht. Ich sollte endlich eine schwächere Glühbirne besorgen. Mürrisch rieb ich mir die Augen. Mein kleiner Wecker zeigte 6.32 Uhr an. Ich fluchte innerlich.

Noch einmal rieb ich meine Augen und blickte mich nach dem Grund für die frühmorgendliche Störung um. »Tigger!«, schrie ich den roten Kater an. »Was hast du jetzt wieder angestellt?«

Mein Kater warf mir einen kurzen Seitenblick zu und stolzierte erhobenen Hauptes aus dem Zimmer. Ich schlug die Decke zurück und tapste barfuß zu meinem Schreibtisch rüber. Mein Stubentiger hatte die Vase mit den gelben Rosen umgeworfen, die mir Oma gestern zum Einzug geschenkt hatte. Das Wasser tropfte von der Schreibtischplatte und bildete unten auf dem dunklen Laminat eine Pfütze. Schimpfend hastete ich in mein Badezimmer, zerrte den Putzlumpen unter dem Waschbecken hervor und beeilte mich, die Sauerei aufzuwischen, bevor sie dem neuen Laminat Schäden zufügen konnte.

Erst vor wenigen Tagen waren wir in das kleine Haus am Rande von Linden gezogen – in der Nähe von München, nicht Wiesbaden, das die letzten vier Jahre mein Zuhause gewesen war. Mein Stiefvater hatte das Haus selbst ausgebaut. Er war stolzer Eigentümer einer kleinen Baufirma.

Vor ein paar Jahren hatte Opa meiner Mutter dieses Haus und einen Teil seines Landes vermacht, wohl in der Hoffnung, dass es uns dann bald von der schönen Großstadt in das langweilige Dorf Linden, aus dem wir ursprünglich stammten, zurückziehen würde. Seine Hoffnungen hatten sich nun dank mir erfüllt.

Und ich – Skyler Doyle, sechzehn Jahre, Realschülerin – hatte in diesem Haus eine eigene kleine Wohnung im Dachgeschoss; Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer, Küche und Balkon. Eine kleine Freiheit, um die mich meine Freundinnen beneidet hätten, wäre da nicht die Gegensprechanlage mit Kamera, die täglich mehrere Male aus der Wohnung meiner Eltern betätigt wurde. So wollte meine Mutter mir sagen: »Wir vertrauen dir genug, um dir ein eigenes Leben zu ermöglichen, aber nicht genug, um dir vollkommen die Kontrolle über dieses zu überlassen.« Typisch für Mutters Erziehungsstil. Wenn ich etwas falsch machte, dann machte sie einen Schritt in Richtung Bestrafung, und dann aus Mitleid und – wie ich annehme – einem schlechten Gewissen heraus, zwei Schritte auf mich zu zur Wiedergutmachung.

Der Umzug nach Linden und die katholische Mädchenschule, auf die ich bald gehen sollte, waren die bisher einzigen Strafen, die sie bis zum Ende durchgezogen hatte. Die Wohnung im Dachgeschoss der Versöhnungsversuch, der an der Steinmauer, die ich um mich herum errichtet hatte, gescheitert war.

Ich konnte mit den Kameras leben, sie funktionierten nur, wenn ich das Gespräch entgegennahm, also war es eine recht harmlose Sache, dafür, dass ich eine eigene Wohnung hatte. Was ich nicht akzeptieren konnte, war dieser Umzug. Nur weil ich meine kleine Rebellion etwas zu weit getrieben hatte. Genau deswegen führte ich so etwas wie einen Krieg gegen meine Mutter. Und weil sie meinen Bruder Tom vertrieben hatte.

Jetzt war ich also zurück in dem spießigen, bayrischen Dorf meiner Kindheit. Fernab von David und meinen Freunden, fernab von Wiesbaden. Gefangen in der Einöde und hilflos überholten Traditionen ausgeliefert, die so sinnlos waren, wie der sogenannte Krampuslauf, bei dem ein paar vermummte Männer mit Routen auf Dorfbewohner einschlugen, um sie auf dem Marktplatz zusammenzutreiben, wo der Nikolaus dann Geschenke verteilte und eine Rede hielt.

Ich war für unsere Rückkehr nach Linden verantwortlich. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Entscheidungen mich an diesen Punkt führen würden, hätte ich sie niemals getroffen. Meine kleine Rebellion war das alles hier nicht wert. Nicht Linden, nicht die katholische Mädchenschule, nicht den Abschied von David.

Ich stellte die Blumen zurück in die Vase und nahm diese mit in mein kleines Bad. Nur Dusche, keine Badewanne, dafür im Schachbrettmuster gefliester Boden. Sollte Tigger also noch einmal das Bedürfnis verspüren, die Vase umzuwerfen, würde ich wenigstens keine Wasserflecke befürchten müssen.

Aus der Sprechanlage ertönte die Stimme meiner Mutter. Ich warf dem Wecker einen misstrauischen Blick zu: 6.45 Uhr. Wütend tapste ich zur Wand neben der Tür. »Ja?«, fragte ich genervt.

»Hast du noch geschlafen? Deine Haare stehen in alle Richtungen ab.« Meine Mutter grinste in die Kamera der Anlage.

»Nein«, sagte ich.

»Das Frühstück ist fertig.«

»Keinen Hunger.«

»Wir wollten doch zu Ikea«, kam es knackend aus der Anlage.

Stimmt, überlegte ich. Es hieß dreihundert Euro auf den Kopf zu schlagen, die mir meine Oma zum Einzug geschenkt hatte. Zumindest hatte dieser Umzug einen kleinen Vorteil. Seine Großeltern in der Nähe zu haben, war für jeden Teenager eine Bereicherung. »Ich bin gleich unten«, rief ich jetzt schon freudiger in die Sprechanlage. Geldausgeben war einer der wenigen Lichtblicke in meinem neuen Leben.

Geldausgeben und meine beiden verrückten Freundinnen Jennifer und Melanie. Auch genannt Jenny und Mel. Die einzigen Freundinnen, die ich hier noch hatte. Ein Überbleibsel aus der Zeit, bevor wir Linden verlassen hatten und in das wundervolle, belebte Wiesbaden gezogen waren. Das war jetzt vier Jahre her. Vier Jahre, die ich in einer Stadt gelebt hatte, die eine andere Welt zu sein schien. Vier Jahre in denen ich ein anderes, lebhafteres Leben kennengelernt hatte. Und jetzt wurde ich in das alte, mittlerweile ungeliebte, Leben zurückgedrängt. Wie sollte ich mich nur je wieder daran gewöhnen, in einem Dorf zu leben?

Vor einiger Zeit hatten Mel, Jenny und ich uns auf Facebook wiedergefunden. Als Kinder waren wir die besten Freundinnen gewesen. Es hatte mich gefreut, sie auf diesem Wege wiederzutreffen, aber es fühlte sich auch komisch an. Wir waren älter geworden, hatten lange keinen Kontakt mehr, nur in den wenigen Ferien, die wir in Linden verbracht hatten. Hatten uns verändert. Wir waren unserer Sandkastenfreundschaft lange entwachsen. Unsere ersten Nachrichten waren daher sehr zaghaft gewesen. Erst langsam kamen wir uns wieder näher. Jetzt, wo ich zurück in Linden war, fühlte es sich ein wenig an, als könnte sich ein lange aufgebogener Ring wieder schließen. Zumindest freute ich mich auf sie, vielleicht auch, weil da nur noch wenig anderes geblieben war, was mich erfreuen konnte. Ich fühlte mich schon seit Tagen in diesem Haus eingezwängt. Irgendwie war mir die Gegenwart meiner Mutter ständig bewusst. Es fühlte sich an, wie nicht richtig durchatmen zu können, was vielleicht auch daran liegen mochte, dass Mutters schlechtes Gewissen sie kaum von meiner Seite weichen ließ. Ich brauchte mal ein paar andere Menschen um mich herum. Keine Erwachsenen, sondern Teenager, die mich verstehen würden.

Heute Nacht planten wir eine Einweihungsparty in meiner schnuckeligen kleinen Wohnung. Ich war ziemlich aufgeregt. Ständig kreisten mir Fragen durch den Kopf: Haben sie sich sehr verändert? Sind sie noch so verrückt wie früher? Sehen sie aus wie auf den Fotos, die sie mir geschickt hatten? Werde ich sie auseinanderhalten können?

Mel und Jenny sind Zwillinge und früher war es kein Problem für mich, sie zu unterscheiden. Ich war sogar eine der Wenigen, die das konnte. Aber würde ich das nach all der Zeit noch können?

Ich drehte die Dusche aus und nahm mir eins der Handtücher aus Omas Fundus von der Waschmaschine, die ebenfalls aus Omas Besitz stammte. Während ich meine Haare trocken rubbelte, machte ich mir in Gedanken eine Liste mit Dingen, die ich noch benötigte. Ganz oben stand ein Spiegel. Denn wenn ich nur einigermaßen annehmbar aussehen wollte, musste ich jetzt mit Föhn und Kamm bewaffnet hinunter in die Wohnung meiner Eltern.

Etwas, was ich zu vermeiden versuchte, außer es ging um Frühstück und Mittag und Abendbrot. Ansonsten hielt ich den Kontakt zu meinen Eltern so knapp wie möglich, um sie dafür zu bestrafen, dass sie mich hier her geschleppt hatten.

Ich stieg in meine Fetzenjeans, suchte ein Tank Top aus meinem Schrank, das meinen Rücken komplett verdeckte, und stapfte eine Etage tiefer.

Meine Mutter begrüßte mich mit einem fröhlichen, aber aufgesetzten, »Guten Morgen«. Ich murrte etwas Unverständliches zurück und stürzte in das Badezimmer meiner Eltern.

Der Blick in den Spiegel ließ mich aufstöhnen. Meine tiefschwarz gefärbten Haare standen um mein Gesicht herum wie das Stroh auf dem Kopf einer Vogelscheuche. Mein Aussehen war mir schon immer wichtig; täglich saubere Kleidung - perfekt gebügelt -, frisch gewaschene Haare, gepflegte Nägel. Meine Oma hatte immer gesagt: »Am Auftreten eines Menschen, erkennt man seinen Sinn für Ordnung.« Mein Sinn für Ordnung war sehr ausgeprägt; kein Staub auf den Regalen, kein dreckiges Geschirr in der Spüle und ein Bad sollte bitte täglich geputzt werden. Mein Bruder Tom hatte mich gerne als übertrieben pingelige Kuh beschimpft, wenn ich ihm ständig alles hinterherräumte. Aber eigentlich war er froh über meine Putzsucht gewesen, er vertraute sogar darauf, dass ich alles aufräumte, was er so liegen ließ.

Nach einer geschätzten Ewigkeit hatte ich es tatsächlich geschafft, meine Haare in Form zu bringen, sodass meine lila Spitzen, die einzigen waren, die jetzt noch abstanden. Meine Haare waren etwa kinnlang, die Spitzen nach außen gerichtet, der Pony Audrey-Hepburn-kurz. Ich war nicht hübsch. Dave, mein Mentor und Freund (nicht Freund im Sinne von Freund, sondern Freund im Sinne von Kumpel – richtig guter Kumpel), meinte Mal, ich wäre elfenhaft niedlich.

Ich hasste es, niedlich zu sein. Das ließ mich jünger aussehen, als ich wirklich war, zumal ich noch nicht einmal über Hüften verfügte. Deswegen gab ich mir alle Mühe älter zu wirken. Ich umrandete meine dunkelgrünen Augen dick mit Schwarz und trug meist Sachen, die eng an meinen Körper anlagen, damit jeder sehen konnte, dass ich tatsächlich eine Brust hatte und kein feminin wirkender Junge war. Meine Wangenknochen waren kaum ausgebildet, mein Kinn war einen Tick zu spitz, und weil meine Naturhaarfarbe eigentlich ein helles Braun mit einem Kupferstich war, saßen auf meiner Nase überflüssiger Weise auch noch ein paar Sommersprossen. Nicht viele, genau einundzwanzig, ich hatte sie mal gezählt.

 

Mit meiner Mutter einkaufen zu gehen, war so ziemlich das Letzte, was ich wollte, weil das nämlich hieß, dass ich gezwungen war, mit ihr zu kommunizieren. Ich konnte einfach nicht vergessen, dass Tom wegen ihr das Land verlassen hatte.

Ja! Mein Bruder hatte sogar das Land verlassen, um von unserer Mutter wegzukommen! Okay, wenn ich ehrlich bin, lag es vielmehr am neuen Mann meiner Mutter. Nach der Trennung unserer Eltern war Tom drei jahrelang der Mann im Haus. Für mich war er sogar viel mehr Vater gewesen, als unser leiblicher Vater. Der war nämlich Soldat bei der US-Armee und hier in Deutschland stationiert, und selten mal zuhause gewesen. Bis er plötzlich beschlossen hatte, nach New York zurückzugehen. Mutter wollte in Deutschland bleiben, also trennte man sich einvernehmlich. Wir zogen nach Wiesbaden, weil Mutter dort ein neues Leben beginnen wollte, weit weg von den Erinnerungen, die an Linden hafteten, wo sie viele Jahre glücklich mit Vater gewesen war. In Wiesbaden traf sie ihren zweiten Ehemann und Tom fühlte sich wohl verdrängt. Jedenfalls brach ab da die Hölle in unserer Familie los. Jeden Tag flogen zwischen den Männern die Fetzen, bis auch Tom nach New York ging. Was sagte das über meine Mutter und mich aus? Die wichtigsten Männer in unserem Leben hatten uns verlassen.

»Dieser Spiegel würde doch ganz wundervoll in deinen kleinen Flur passen«, meinte sie gerade überfreundlich und zeigte auf ein Monstrum mit dickem Goldrahmen, das eher den Geschmack meiner Oma getroffen hätte. Ich war jemand, der es schlicht und einfach mochte. Nachdem ich fast eine Stunde die nett gemeinten Ratschläge meiner Mutter hatte ertragen müssen, war ich kurz davor, es aufzugeben und mich mit dem Spiegelschrank für das Bad zufriedenzugeben, der gerade groß genug war, um mein Gesicht zu zeigen.

Doch da war er plötzlich. Mein Spiegel, ohne Schnörkel. Nur mit einer Lampe am oberen Ende versehen. Genau dieser Spiegel musste es sein, oder gar keiner. Was meine Einrichtung anging, legte ich genauso viel Wert auf Perfektion, wie bei meinem Sinn für Ordnung. Ich hatte sehr genaue Vorstellungen und diese wollte ich erfüllt haben. Also ging ich keine Kompromisse ein. In meinem Kopf war alles schon genau durchgeplant, jedes einzelne Detail. Ein Punkt, in dem ich meiner Mutter sehr ähnlich war, auch wenn sich unsere Geschmäcker doch deutlich unterschieden.

»Der ist wirklich schön, aber denkst du nicht auch, dass er zu teuer ist, dafür, dass er wirklich nur aus einer Scheibe ohne Rahmen und einer Lampe besteht? Der kostet ja mehr als der mit dem Goldrahmen«, meinte meine Mutter, statt mir dabei zu helfen, das Teil in den Wagen zu hieven.

»Den nehme ich«, sagte ich nur und ging nicht weiter auf sie ein. Insgeheim freute ich mich sogar, über mein eigenes Geld verfügen zu können. So konnte ich kaufen, was mir gefiel. Und um es meiner Mutter erst richtig zeigen zu können, würde dieser Einkauf gleich in einigen Favole-Postern gipfeln. Ich hoffte, dass es die mit den Vampiren gab. Etwas, was meine Mutter so wenig leiden konnte, wie meinen Hang zu schwarzer Kleidung.

»Das Regal sieht wirklich toll aus, findest du nicht auch?« Meine Mutter versuchte wieder, mich dazu zu bringen, mit ihr zu reden. Sie wusste ziemlich genau, dass ich keine Lust dazu hatte, und doch konnte sie es nicht lassen. Glaubte sie wirklich, dass eine eigene kleine Wohnung alles wieder in Ordnung bringen würde? Meine Rebellion hatte ihr Ende noch nicht gefunden.

Ihren Anfang nahm sie mit einer gepiercten Zunge, weil ich wusste, dass sie Piercings verabscheute. Mutter wäre fast durch die Decke gegangen, als sie die kleine silberne Perle auf meiner Zunge entdeckt hatte. Zuvor hatte ich es mit bunten Haaren, zerrissenen Jeans und einer Menge dicken Ketten versucht. Aber sie hatte diese Versuche, sie zu provozieren, kaum bemerkt oder absichtlich ignoriert. Erst das Piercing hatte die gewünschte Wirkung erzielt. Sie war so wütend geworden, wie noch nie zuvor. Knallrot im Gesicht hatte sie auf mich eingeschrien. Ihre Fäuste hatte sie fest geballt und ihre Stimme hatte gezittert. Für mich war es ein kleiner Sieg, ihr einmal Gefühle abgerungen zu haben. Nicht einmal Toms Auszug hatte sie so hochfahren lassen. Ich hatte damals einfach das Bedürfnis, meiner Wut auf sie irgendwie Luft zu machen. Irgendwie glaubte ich, wenn ich ihr Gefühle abringen könnte, wäre meiner Rache genüge getan und sie würde endlich aufwachen und etwas unternehmen, um Tom zurück in mein Leben zu holen. Leider hielt die Wirkung nicht lange an und mein errungener Sieg verebbte allzu schnell wieder. Aber dieser Erfolg, so klein er auch war, hatte mir einen Weg gezeigt.

Wir hatten wirklich mal ein gutes Verhältnis. Sie war fast meine Freundin gewesen. Und dann hatte sie Tom einfach gehen lassen, hatte ihn regelrecht ausgetauscht. Damit konnte ich nicht leben. Das konnte ich nicht hinnehmen. Der einzige Ausweg war, fortzusetzen, was Tom begonnen hatte. Nur setzte ich dort an, wo ich wusste, dass es sie verletzen würde, dass sie es hassen würde. Tom hatte seine Attacken auf den neuen Mann im Leben meiner Mutter beschränkt, doch für mich war klar, nicht Stefan war der Feind. Ich wollte meine Mutter treffen.

Meine Mutter war konservativ erzogen. Nichts war in ihren Augen schlimmer, als seinen Körper zu verschandeln. Die bunten Haare, die schwarze Kleidung hatten ihr ein mürrisches Grummeln entlockt, aber nicht mehr. Das Zungenpiercing hatte sie toben lassen, aber das hatte mir noch nicht gereicht. Es hatte den Schmerz über den Verlust meines Bruders nicht gestillt. Ich wollte sie leiden sehen, so wie ich litt seit Tom weg war.

Ich lief neben ihr her, während sie den Einkaufswagen zur Kasse schob. An der Kasse gab es Aschenbecher, die aussahen wie Schädel. Ich legte einen zu meinen Gothikpostern in den Wagen.

»Aber, du rauchst doch gar nicht«, sagte sie entrüstet. Ich hatte die Unsicherheit in ihrer Stimme nicht überhört. Die unterschwellige Frage: »Oder vielleicht doch?«

Diese Frage zeigte, wie wenig meine Mutter mich kannte. Wie wenig sie sich für mein Leben interessiert hatte, bis es plötzlich kompliziert geworden war. Doch bis dahin war es einfacher gewesen, die Verantwortung Tom zu überlassen und sich auf das eigene berufliche Voranschreiten zu konzentrieren. Und dann hatte sie mir Tom genommen, die einzige wirkliche Familie, die ich kannte seit Vater uns verlassen hatte.

»Nein«, sagte ich und grinste. »Aber, vielleicht bekomme ich ja mal Besuch. Man muss auf alles vorbereitet sein.«

»Nein, auf keinen Fall!« Sie wurde rot im Gesicht.

Ich zuckte mit den Schultern, wandte mich der Kassiererin zu und freute mich, weil meine Mutter sichtlich schockiert war. Eins zu null für mich.

Im Supermarkt landeten Chips, Cola und eine Unmenge Süßkram in meinem Korb. Alles, was schön viele Kalorien beinhaltete und meiner Mutter ein paar Falten mehr bescherte.

»Willst du nicht auch Mineralwasser mitnehmen? Vielleicht mögen Mel und Jenny so ungesunde Sachen nicht?«, murmelte sie und fasste ihre rostbraunen Haare mit einer Spange zusammen. Sie konnte sich morgens nie für einen Zopf entscheiden, weil sie fand, dass sie mit offenen Haaren besser aussah. Doch im Laufe des Tages band sie ihr Haar immer zusammen, weil sie es nicht leiden konnte, wenn ihr die Strähnen ins Gesicht fielen.

»Warum lässt du sie nicht schneiden?«, fragte ich genervt. Ich hasste es, wenn sie das machte. Diese Geste erinnerte mich immer an die Lehrerin in ihr. Mutter hatte die gleiche Haarfarbe wie ich, weswegen ich meine gefärbt hatte. Ich wollte sie damit verletzen.

Meine Mutter zuckte mit den Schultern und packte einige Flaschen Mineralwasser in den Wagen. Sie trug eines ihrer Kostüme, die sie auch im Unterricht anhatte. Der wadenlange, gerade geschnittene Rock sollte ihre Pölsterchen kaschieren. Weswegen sie auch solange ich zurückdenken kann, noch nie eine Hose getragen hatte. Nicht einmal zu Hause, einfach nur eine Trainingshose.

»Ist es nicht schön, wieder mal in München zu sein?«

»Ist Wiesbaden nicht viel schöner?«, fragte ich mürrisch, musste ihr aber Recht geben. Etwas hatte ich München in den letzten Jahren schon vermisst. Es ist ja nicht so, dass ich mit München und Linden überhaupt keine schönen Erinnerungen verband.

Mel, Jenny und ich, wir hatten ein paar wunderschöne Jahre in Linden gehabt. Mel und Jenny waren als Kinder kaum zu bändigen gewesen. Es verging nicht ein Tag, an dem wir nicht irgendeine Dummheit anstellten. Im Wald hatten wir unsere erste gemeinsame WG gegründet; eine windschiefe Hütte aus Abfallsäcken, Brettern und Dingen, die man in der Natur so findet. Wir hatten sogar ein Haustier, einen kleinen Hamster, den wir in einem Käfig hielten, der aus Zweigen und Paketschnur bestand. Diesen Hamster hatte Jenny von einem Besuch bei Alexander mitgebracht. Seine Eltern hatten eine Zucht.

»Einer weniger fällt da nicht auf, hatte Alexander gemeint.« Wir waren sehr stolz auf unseren kleinen Mitbewohner gewesen. Leider durfte keine von uns zu Hause ein Haustier haben. In Kinderzeit gemessen war unser Pooh auch alt geworden, aber wahrscheinlicher war, dass er nicht mal die erste Woche geschafft hatte. Eines Tages war er einfach nicht mehr auffindbar.

Ein junger Mann mit dunklen Haaren ging an mir vorbei. Er zog eine gepiercte Augenbraue hoch und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen fast schockiert an. Verwirrt blickte ich an mir herunter, konnte aber nichts finden, was diesen erschrockenen Gesichtsausdruck hervorgerufen haben konnte. Ich überlegte kurz, ihm meine gepiercte Zunge herauszustrecken, tat es dann aber doch nicht, als ich von den Tattoo auf seinem linken Oberarm abgelenkt wurde. Es zeigte ein Schwert, an dessen Seiten sich Flügel wie die eines Engels befanden. Ich hatte das Tattoo nur kurz gesehen, aber es sofort in meinem Gedächtnis abgespeichert. Sobald ich zu Hause war, würde ich es zu Papier bringen.

Tattoos zu zeichnen und zu entwerfen war ein Hobby von mir. Und Dave liebte meine Entwürfe. Er war sich sicher, ich würde eines Tages eine herausragende Künstlerin sein und ein eigenes Studio haben.

Dave war, was Tattoos betraf mein großes Vorbild. Keiner konnte so gut Zeichnen wie er. Unter seinen Händen entstanden die wundervollsten Meisterwerke; Tribals, Florals, bunt und einfarbig, es gab nichts, was er nicht zustande brachte.

David war gut fünfzehn Jahre älter als ich. Aber eine vierzehnjährige interessiert das Alter nicht. Ein Blick in sein hübsches Gesicht hatte gereicht, und ich war verknallt gewesen. Ich war so besessen von ihm gewesen, dass ich nachts sogar von ihm träumte. Es waren irre Träume darunter, in denen er mit einem Schwert gegen das Böse kämpfte. Aber auch Träume, die Dave zeigten, wie er wirklich war: hilfsbereit, freundlich und der Freund und Retter vieler hoffnungsloser Jugendlicher. Vielleicht hatte gerade diese Hilfsbereitschaft diese Träume in mir geweckt, weil er genau das für mich war: ein Ritter in schimmernder Rüstung. Ein Held.

Der junge Mann war nicht weit von mir vor einem Regal mit Büchsensuppen stehen geblieben. Er hielt eine Konservendose in der Hand und tat so, als würde er die Beschriftung lesen. Aber ich konnte sehen, wie er mich unter seinem Pony hindurch musterte. Etwas regte sich in mir, als ich ihn beobachtete. Das dunkle, fast schwarze Haar und diese Augen! Was hatte es nur mit diesen Augen auf sich? Sie schienen dunkel, aber auf die Entfernung konnte ich ihre Farbe nicht bestimmen. Dennoch hatte ich das Gefühl, zu wissen, welche Farbe sie hatten. Und seine Haare, ein wenig länger würden sie ihn älter aussehen lassen, das wusste ich. Wärme durchströmte mich, je länger ich ihn ansah. Etwas rief er in mir wach, eine Erinnerung, fast wie ein Traum, den ich einmal hatte, an den ich mich aber nicht erinnern konnte. Ich schüttelte den Kopf und sah weg.

Er hatte Ähnlichkeit mit Dave. Schien ein paar Jahre jünger als dieser, vielleicht zwanzig, aber ansonsten, war er eine zweite Ausgabe meines Mentors. Sicher lag es an dieser Ähnlichkeit, dass er etwas in mir auslöste. Ich fragte mich, ob er auch in einem Haus wie dem wohnte, in dem ich in den letzten Jahren einen Großteil meiner Freizeit verbracht hatte?

Dave hatte das Haus von seinem Vater geerbt, der sehr früh gestorben war. Es war eins der typischen Mehrfamilienhäuser, der vorletzten Jahrhundertwende. Hundert Jahre, die man dem guten Teil auch ansah. Es gab vier Etagen mit je zwei Wohnungen. In jeder Wohnung wohnten zwei bis vier Leute, die Dave von der Straße geholt hatte. Die meisten waren etwa siebzehn bis fünfundzwanzig Jahre alt. Einer dieser Bewohner war Jimmy Blue, eigentlich hieß er Sven, aber er fuhr total auf die Wilden Kerle ab. Jimmy ging mit Tom in eine Klasse. Ich kannte ihn schon viele Jahre. Seine Mutter trank und schlug ihn, also war Jimmy weggelaufen und bei Dave gelandet. Und da Tom versuchte ihm zu helfen wo es ging, lernte er bald das ganze Haus kennen und nahm mich mit und eins führte zum anderen und jetzt war ich hier in Linden.

Meine Eltern waren anderer Meinung, aber für mich war Dave ein Held. Er hatte die Jugendlichen bei sich aufgenommen und ihnen eine Perspektive geboten, indem er ihnen ein zu Hause und eine Arbeit gegeben hatte. Die meisten von ihnen arbeiteten in Daves Restaurant. Dort lernten sie kochen, servieren und alles, was man sonst noch so in der Gastronomie wissen musste.

Dave erdrückte sie nicht mit Regeln. Er war einfach nur für sie da. Es gab nur vier Sachen, an die sich jeder im Haus halten musste;

 

Du arbeitest.

Du trinkst nicht.

Du nimmst keine Drogen.

Du provozierst keine Schlägereien.

 

Die meisten hielten sich daran, denn sie waren froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Ich hatte nie rausgefunden, warum Dave sein Leben für die Straßenkids aufopferte, aber ich vermutete, dass er vielleicht mal in einer ähnlichen Situation wie diese Jungs gewesen war. Vielleicht hatte er dringend Hilfe benötigt und keine gefunden, und beschlossen, dass anderen so etwas nicht wiederfahren durfte. Freilich konnte er nicht allen Kids helfen, aber dass er half, war alles, was in meinen Augen zählte.

Ich warf dem jungen Mann einen letzten Blick zu, bevor ich den Wagen zur Kasse schob. Ich fand ihn ganz süß. Das dunkle Haar, ein Piercing in der linken Augenbraue, eins in der Mitte seiner Unterlippe. Einen Moment kam in mir der Wunsch auf, seine Lippe zwischen meine Zähne zu saugen. Wie würde es sich anfühlen ihn mit diesem Piercing zu küssen? Ich schüttelte die Gedanken ab, als ich bemerkte, dass ich ihn anstarrte. Lag es an seinem Aussehen, oder war es das Gefühl, ihn irgendwoher zu kennen? Er hatte etwas an sich, das ein warmes Gefühl in mir auslöste. Zu schade, dass München so groß war und ich ihn nie wieder sehen würde.

 

Mein neues Bücherregal war aufgebaut, die Bücher einsortiert und die Deko in der Wohnung verteilt. Zufrieden betrachtete ich mein kleines Reich. Langsam nahm es Gestalt an: afrikanische Elemente im Wohnzimmer, Muscheln, Sand und Steine im Badezimmer. Tine Wittler wäre stolz auf mich, wenn sie wüsste, dass sie in mir eine begierige Schülerin hatte. Ich war gerade dabei, das letzte Buch in mein Regal zu stellen, als es klingelte.

Am Tag unseres Einzugs hatte ich Mel schon kurz gesehen, trotzdem ging ich dem heutigen Abend mit gemischten Gefühlen entgegen. Sich über das Internet zu unterhalten war etwas anderes, als sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Was, wenn wir uns gar nicht mehr verstanden? Oder, wenn es nichts gab, worüber wir uns unterhalten könnten? Alle wichtigen Ereignisse meines Lebens hatte ich mit ihnen über Facebook geteilt. Um über die Dinge, die ich nicht mit ihnen geteilt hatte, zu sprechen, war ich noch nicht bereit.

Mel stand breit grinsend und mit einer großen Schüssel in den Händen vor der Tür.

»Hast du Essen mitgebracht?«, fragte ich erstaunt.

»Mel und kochen? Die weiß doch nicht Mal, wo die Küche ist.« Jenny lugte um ihre Schwester herum. »Hi!«, kreischte sie und schob sich an Mel vorbei in den kleinen Flur. Sie zog mich in ihre Arme und drückte mich ganz fest. Ich stellte mich etwas steif an – ich war nicht der Mensch, der vier Jahre einfach so vergessen konnte. Ich brauchte etwas Vorlaufzeit, bevor ich wieder mit jemandem warm wurde. Trotzdem ließ ich es zu, dass auch Mel mich umarmte.

»Deine Haare!«, platzte es aus mir heraus als ich Jenny genauer betrachtete, während sie ihre Jacke an die Garderobe hängte.

Jenny griff sich in die Locken. »Ja, sie sind schwarz«, sagte sie verlegen und grinste unsicher. »Es wurde Zeit für eine Veränderung.«

»Sie wollte anders aussehen als ich.« Mel zuckte mit den Schultern. »Ehrlich, ich find es gut. Es ist ziemlich nervig, dieses Zwillingsdasein.«

»Und da hat sie sich für schwarz entschieden«, sagte ich völlig überrascht, weil dieser Schritt vom früheren weißblond der Schwestern ein so heftiger war. Aber ich verstand es, weswegen ich mich sofort mit dieser Veränderung anfreunden konnte.

Mel und Jenny fanden es schon als Grundschüler schlimm, von ihrer Mutter in immer die gleichen Kleider gesteckt zu werden. Ihre Mutter hatte dieses Zwillingsding exzessiv betrieben: gleiche Haare, gleiche Kleidung, gleiche Schulranzen … Mir taten die beiden immer leid. Es muss sich angefühlt haben, als wären sie eine einzige Persönlichkeit. Als existierte weder Mel noch Jenny als einzelnes Individuum.

Beide schienen einen Weg aus diesem Teufelskreis herausgefunden zu haben. Jenny hatte sich die Lockenmähne schwarz gefärbt, während Mels Haare noch immer blond waren, dafür aber nur kinnlang. Jenny war etwas fülliger geworden und trug kurze Jeans und ein Tank Top. Mel hatte eine Karobluse und einen Faltenrock an. Während die eine eher lässig wirkte, wirkte die andere bodenständig.

»Ist das toll!«, schwärmte Jenny. »Deine eigene Wohnung.«

Ich rollte mit den Augen und nahm Mel die grüne Plastikschüssel ab.

»Was?« Jenny zuckte mit den Schultern. »Ist doch toll, oder nicht?«

»Du hast die Überwachungsanlage noch nicht gesehen.« Ich lotste die Mädels in die Küche, die wegen der Dachschräge gerade Mal genug Platz für zwei Schränke, einen Herd und den Geschirrspüler bot. Ja, ich besaß einen Geschirrspüler.

Die Schüssel stellte ich auf die Arbeitsfläche und nickte mit dem Kopf zur Wand neben der Tür. Mel und Jenny wandten

sich um und erstarrten zeitgleich. »Eine Sprechanlage?«

»Mit Kamera, ja. In jedem Raum eine, damit ich auch wirklich keinen Anruf verpasse, egal wo ich mich gerade aufhalte.«

»Können sie uns jetzt sehen?«

»Nein, nur wenn ich ein Gespräch annehme.«

»Das ist ja wie in einer dieser TV-Shows.« Mel klappte ungläubig den Mund auf.

»Ungefähr. Meine Mutter dachte, eine eigene Wohnung würde mich glücklich stimmen und sie könnte mir beweisen, dass sie mir vertraut«, sagte ich. Ich hob den Deckel von der Schüssel und wusste nicht, ob ich wohlig seufzen oder genervt stöhnen sollte. Mutters Kartoffelsalat. Ich liebte den Kartoffelsalat meiner Mutter, aber auch, wenn sie es nur nett gemeint hatte, hatte sie es doch schon wieder geschafft, sich ungefragt in mein Leben zu drängen. Ich hatte mich bei unserem Einkauf heute Vormittag für eine Menge Süßkram und gegen richtiges Essen entschieden und sie hatte nichts Besseres zu tun, als Kartoffelsalat zu machen.

Jenny untersuchte die Sprechanlage genauer. »Mit dem Vertrauen scheint es nicht weit her zu sein.« Sie klopfte mit dem Zeigefinger gegen die kleine durchsichtige Kuppel, unter der die Kameralinse verborgen war. »Was hast du nur angestellt, dass sie dir so misstrauen?«

»Mir die falschen Freunde ausgesucht?«

Mel lehnte sich gegen einen der Schränke. »Also, nach allem, was du uns von diesem Dave erzählt hast, ist er ein toller Kerl.«

»Das ist er auch. Es liegt auch nicht wirklich an Dave und den Jungs, eigentlich bin ich selber schuld«, sagte ich zögernd und wandte mich von Mel ab, damit sie nicht in mein Gesicht blicken konnte. Ich war noch nicht wirklich bereit zuzugeben, dass meine Mutter nicht ganz Unrecht hatte mit ihrer Entscheidung, mich von Wiesbaden wegzubringen und auf eine Mädchenschule zu stecken. Natürlich wusste ich, dass sie alles Recht der Welt hatte, mich zu bestrafen, aber mein Stolz ließ nicht zu, es einzugestehen. Ich hatte diesen Krieg etwas zu weit getrieben. Trotzdem war ich nicht fähig, mich geschlagen zu geben.

»Cappuccino?«, warf Jenny ein und zog eine Dose lösliches Pulver aus einer Reisetasche.

»Ich besitze keinen Wasserkocher. Wir müssen das Wasser auf dem Herd warm machen«, sagte ich und beförderte einen kleinen Topf aus einem der Schränke.

»Was wollen wir heute anstellen?«

»Supernatural schauen!«, rief Mel und zog einen Stapel DVDs aus der Tasche. Wir hatten es uns mit unseren Tassen und dem Kartoffelsalat im Wohnzimmer bequem gemacht.

Jenny rollte mit den Augen. »Du musst meiner Schwester verzeihen, aber sie ist Jensen Ackles total verfallen. Ich steh ja mehr auf Jared Padalecki. Man hat der Muskeln.«

»Also, Supernatural klingt gut.« Mel reichte mir eine DVD und ich schob sie in den Spieler. Bisher lief alles ganz gut. Es war fast so, als hätte es unseren Umzug nach Wiesbaden gar nicht gegeben. Jenny und Mel waren genauso locker, wie sie es früher schon waren und diese Stimmung übertrug sich auch auf mich. Für einen Augenblick konnte ich den Groll auf meine Mutter vergessen.

»Wir haben dir noch etwas mitgebracht.« Mel kramte eine Plastiktüte aus der Reisetasche. »Sozusagen unser Begrüßungsgeschenk in doppelter Hinsicht.«

Ich zog fragend die Augenbrauen hoch und erstarrte, als Mel einen karierten Rock und eine weiße Bluse vor mir auf den Tisch legte.

»Deine Schuluniform.«

Jenny kicherte.

Ich kaute auf meinem Zungenpiercing herum. Das machte ich immer, wenn ich meine Unsicherheit überspielen wollte. Vielleicht, weil ich dachte, ein Zungenpiercing ist ziemlich cool, also musste auch diese Geste so wirken. Keine Ahnung, irgendwie hatte ich mir das einfach angewöhnt, in der Hoffnung, dass es von mancher Gesichtsregung ablenken würde, die mich als nicht ganz so selbstsicher entlarven könnte, wie ich nach außen hin gerne wirken wollte.

»Eine Schuluniform?« Die Marienschule hatte den Ruf strenger Moralvorstellungen, weswegen viele gut betuchte Eltern ihre missratenen Töchter dort hinschickten, um aus ihnen junge Frauen von Wert machen zu lassen. Aber Uniformen, das ging wirklich zu weit. »Ihr wollt mich reinlegen, stimmt´s?«, fragte ich grinsend. So musste es einfach sein. Ich und Schulmädchenlook, das ging gar nicht.

Mel und Jenny lachten gleichzeitig auf. Natürlich, dachte ich. Sie waren ja schon früher immer diejenigen, die sich mit anderen gerne Späße erlaubt hatten.

»Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen.« Mel rieb sich mit dem Zeigefinger über ihre Sommersprossen auf der Nase.

»Das ist kein Spaß. Die hat die Direktorin vor einem Jahr eingeführt.«

»Das ist vielleicht eine Hexe«, jammerte Jenny. »Diese Frau findet immer einen Grund, dich durch die Mangel zu drehen.«

Dass diese Frau eine Hexe war, darüber wollte ich noch nicht nachdenken. Meine Rebellion hatte sich nicht nur auf meine Klamotten und meinen Körper bezogen, sondern auch auf mein Verhalten in der Schule. Was naheliegend war, da meine Mutter auf eben dieser auch arbeitete und ich hoffte, sie so vor ihren Kollegen bloßstellen zu können. Leider hatte mir das eine Menge Ärger mit der Direktorin eingebracht und schlussendlich einen Schulverweis, der mich dann auf die katholische Mädchenschule katapultiert hatte.

»Warum geht ihr eigentlich auf diese Schule? Gibt es dafür einen bestimmten Grund? Habt ihr euch etwa auch daneben benommen?« Ich riss gespielt theatralisch die Augen auf, als ich in die schmunzelnden Gesichter meiner Freundinnen schaute. »Ihr habt!«

Mel und Jenny kicherten, und ich glaube, Mel wurde sogar etwas rot im Gesicht. »Wir haben geknutscht, auf der Jungentoilette.«

Mein Mund klappte auf. »Ihr zwei habt geknutscht?«

Jenny schlug sich vor Lachen auf die Oberschenkel und schnappte verzweifelt nach Luft. »Wir zwei doch nicht. Also schon wir, aber jede von uns mit ihrem Freund.«

»Und deswegen hat man euch von der Schule geworfen?« Dieses Vergehen war harmlos gegen das, was ich mir geleistet hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so eine Kleinigkeit zum Schulverweis führen konnte.

»Nein«, sagte Jenny langgezogen und japste immer noch nach Luft. »Aber wenn es nach unserer Mutter geht, folgen wir ihrer Schwester ins Kloster.«

»Ja, und als sie wegen dieser Sache in die Schule kommen sollte, ist ihr bewusst geworden, welche Gefahren eine gemischte Schule für ihre Töchter mit sich bringen könnte«, meinte Mel. »Da kam ihr die Marien-Schule gerade recht.«

»Ja, genau. Und seitdem sind Jungs tabu. Denkt sie zumindest.« Jenny grinste mich breit an. »Wir nutzen ihre Nachtschichten im Krankenhaus aus.«

»Los, du musst die Uniform anprobieren. Wenn die Sachen nicht passen, können wir sie morgen noch umtauschen.« Mel fuchtelte mit dem karierten Rock vor meiner Nase herum.

»Das können wir doch nächste Woche immer noch«, sagte ich in der Hoffnung, dass die Uniform zu klein war. Das verschaffte mir vielleicht noch etwas Aufschub.

»Vergiss es«, meinte Jenny ernst. »Du darfst das Schulgelände ohne Uniform nicht betreten, außer du bist Lehrer.«

»Ja, da ist die Dietrich ziemlich streng.«

»Aber, ich bin doch neu«, widersprach ich. »Das sollte mir doch ein paar Tage geben, um alles nötige zu besorgen. Auch eine Schuluniform.«

Mel schüttelte den Kopf.

Jenny stand vom Sofa auf und kam um den Tisch herum zu mir herüber. Sie zog den Saum meines Tops ohne zu zögern hoch. »Los, runter damit!«

Ich wollte mich wehren, gab es aber auf. Jenny zumindest hatte sich kein Stück verändert. Sie nahm die Dinge noch immer in die Hand. Das überforderte mich etwas, aber im Grunde meiner finsteren Seele war ich froh, dass sich zwischen uns in den Jahren der Trennung nichts geändert hatte. Es hatte nicht einmal einen Wimpernschlag gedauert, und es war wieder genau so wie früher, bevor meine Mutter beschlossen hatte, es in Wiesbaden zu versuchen.

»Na gut.« Ich befreite mein Top aus Jennys Fäusten und zog es über meinen Kopf.

Mels überraschtes Keuchen hinter mir ertönte, noch bevor mir überhaupt klar war, welchen Fehler ich gerade begangen hatte. »Oh mein Gott! Wo hast du das denn her?«

Mein Herz hämmerte wie bei einem Kind, das bei etwas Verbotenem erwischt wurde. Verlegen machte ich einen Schritt zurück, um meinen Rücken außer Sichtweite von Mel zu bringen. Jetzt war die Katze doch aus dem Sack, und das deutlich früher, als ich gewollt hatte.

»Tut mir leid, das wollte ich euch noch gar nicht zeigen.«

Jenny lief um mich herum, um auch einen Blick auf meine Rückfront werfen zu können. Sie sog zischend die Luft ein. »Schämst du dich deswegen?«, fragte sie mit dünner Stimme.

»Nicht direkt, nein. Es ist mehr der Ärger, den ich deswegen hatte.«

Auch Mel war aufgestanden und betrachtete jetzt die Engelsflügel, die meinen Rücken zwischen den Schulterblättern zierten und sich von dort bis hinunter zu meiner Taille zogen, wo ihre Spitzen im Bund meiner Hose verschwanden. »Das sieht wunderschön aus, Sky«, sagte sie ernst, und ihrem erstaunten Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie das auch so meinte.

»Danke, ich habe es entworfen und Jimmy Blue, einer der Jungs, die bei Dave gewohnt haben, hat es gestochen. Sozusagen in Heimarbeit«, sagte ich unsicher. Es war gerade ein paar Wochen her, dass ich Jimmy deswegen angefleht hatte. Dave hatte Jimmy das Tätowieren beigebracht. Aber, da Dave mich niemals tätowiert hätte, bevor ich nicht volljährig war, hatte ich mich an Jimmy wenden müssen.

»Es sieht wirklich toll aus.« Ich wandte mich zu den Zwillingen um und starrte nervös in ihre Gesichter. Bisher hatte mir dieses Tattoo nichts als Ärger eingebracht. Deswegen verbarg ich es auch so gut es ging. Dabei hatte ich es eigentlich auf Ärger abgesehen gehabt. Denn dieses Tattoo war nur die nächste Steigerung zum Zungenpiercing gewesen. Besser wäre gewesen, wenn mein nächster Schritt der Rebellion nicht ganz so extrem ausgefallen wäre. Nicht, dass ich unglücklich mit diesem Tattoo gewesen wäre, es gefiel mir nach wie vor. Aber bei einem Mädchen meines Alters rief es zu viele Reaktionen in meiner Umgebung hervor. Als meine Mutter es entdeckt hatte, war sie regelrecht explodiert. Genau das hatte ich bezweckt, dass sie wütend würde, dass es sie zerreißen würde, dass sie mich vielleicht auch nach New York schicken würde. Aber das hatte sie natürlich nicht getan. Das Sorgerecht hatte sie, und solange ich nicht volljährig war wie mein Bruder, würde ich bei ihr bleiben müssen. Statt mich nach New York zu bringen, hatte sie mich nach Linden gezerrt. Ein weiterer Grund für diesen Entschluss war mein Schulverweis gewesen, weil ich in sämtliche Mädchentoiletten im Schulgebäude Handtücher gestopft hatte und damit eine riesige Sauerei verursacht hatte. Nicht zu vergessen die Graffitis an den Wänden.

Meine Mutter verlor daraufhin sogar ihre Stelle als Lehrerin an der Schule. Sie war deswegen verständlicherweise ziemlich sauer auf mich gewesen. Deswegen hatte ich auch wirklich ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte diesen Job geliebt.

Aber eigentlich war diese Liebe zu ihrer Arbeit erst das gewesen, was mich zu einer solch übertriebenen Handlung gebracht hatte. Solange ich mich erinnern konnte, galt ihre Liebe ihrem Beruf und ihren Schülern. Niemals hatte sie sich gefragt, wo ihre eigenen Kinder dabei blieben. Und dann trat Stefan in ihr Leben und beanspruchte eine Liebe, die wir nie bekommen hatten. Und auch, wenn ich es ihr gegenüber niemals zugeben würde, es tat mir wirklich leid. Ja, ich hatte mein Ziel erreicht, sie war regelrecht durch die Decke gegangen, und ich glaube, zwischen uns wird es nie mehr so sein wie es war, als wir noch allein mit ihr waren. Noch nie zuvor hatten wir uns dermaßen gestritten, wie an dem Tag, an dem sie mein Tattoo entdeckt hatte. Und sie hatte so hilflos gewirkt, während sie geschimpft hatte. Und je mehr sie in ihrer Hilflosigkeit ertrunken war, desto mehr hatte ich sie mit all meinen Verwürfen konfrontiert. Mit all dem, was seit Jahren an mir gezerrt hatte. Ich hatte nie damit gerechnet, dass ihre Strafe für mich Linden sein würde und die Trennung von Dave, der seit Toms Wegzug mein einziger Halt gewesen war.

Andererseits hatte sie jetzt, da ihre Traumkarriere vorbei war, wieder einmal Zeit für ihre eigene Tochter. Ich war schon immer etwas neidisch auf die Schüler meiner Mutter gewesen, die so viel mehr ihrer Aufmerksamkeit bekamen. Natürlich war diese Eifersucht schlagartig verflogen, als ich dann mehr Zeit mit meiner Mutter hatte, die sich zum Kontrollfreak entwickelt hatte und ihre Argusaugen nun gar nicht mehr von meiner Person nehmen wollte.

Und ich verdiente ihre Bestrafung, auch das wusste ich. Aber ich war noch nicht bereit, meinen Stolz herunterzuschlucken. Vielleicht war es auch die Scham, die mich davon abhielt, mich meiner Mutter wieder anzunähern. Aber wenn ich an Tom dachte, der unerreichbar für mich war, und an Dave, den ich nie wiedersehen würde, dann stieg der Zorn erneut in mir auf. Dann spürte ich, wie etwas sich um meine Brust schlang, sich immer weiter zuzog, bis ich mir Luft machen und dieses Gefühl in einer dummen Entscheidung explodieren lassen musste.

Vielleicht war es ganz gut, dass Mutter und Stefan, der neue Ehemann, den ich eigentlich ganz gerne mochte, in ein paar Tagen noch einmal für kurze Zeit nach Wiesbaden fahren würden, um noch einige letzte Dinge zu erledigen. Vielleicht würde diese kurze Auszeit uns allen gut tun. Und auch wenn ich Stefan mochte, konnte ich das ihm und meiner Mutter gegenüber nicht eingestehen, denn das würde bedeuten, dass sie gewonnen hatte. Aber um Toms Willen, konnte ich sie nicht gewinnen lassen.

»Ich nehme an, das ist der Grund für deine Sorgen?«, fragte Mel.

 

 

 

2. Kapitel

 

 

Den letzten Tag vor Schulbeginn wollte ich mit Katie, meiner Shagya-Araber-Stute verbringen. Katie hatten wir damals, als wir nach Wiesbaden gezogen waren, in Linden zurücklassen müssen. Seither stand sie bei meinen Großeltern im Stall unter. Und ich hatte sie nur selten sehen können, da wir nach unserem Wegzug gerademal zwei Urlaube hier verbracht hatten. Die Trennung von Katie war die einzig negative Sache für mich gewesen. Ansonsten hatte ich Wiesbaden so schnell in mein Herz geschlossen, dass Linden kaum noch eine Rolle in meinem Leben gespielt hatte.

Katie kam freudestrahlend auf mich zugetrabt, als ich mich dem Holzzaun näherte, der ihre Weide umgab, die direkt an unser Grundstück anschloss. Unser Haus war das letzte in unserem kleinen Ort. Danach folgte nur noch eine schmale unbefestigte Straße, die einen kleinen Berg hinaufführte, vorbei am Hof meines Großvaters und der Marienhöhe. Einem alten Bauerngut.

Das Bauerngut stand leer, solange ich denken konnte, und man sah ihm seine mehr als zweihundert Jahre an. Als ich klein war, hatte ich oft auf dem Grundstück verstecken gespielt. Opa hatte es mir verboten, weil er es für gefährlich hielt, aber irgendetwas dort hatte mich immer angezogen. Es hatte sich angefühlt wie ein Zauber, der mich umgab, sobald ich das Grundstück betreten hatte. Manchmal war mir, als hätte ich die Stimmen der Vergangenheit hören können. Wie sie mir leise zu wisperten. Aber es war nur der Wind, der mit den Blättern der alten Eiche spielte, die in der Mitte des Hofes stand.

Ich striegelte Katies rotbraunes Fell, putzte ihre Hufe aus und legte ihr dann ihr Zaumzeug und den Westernsattel an. Mein Opa zog mich gerne mit meinem Westernreitstil auf. Das sei kein Reiten. Es wäre völlig formlos, sagte er immer. Er würde mich viel lieber im vornehmen englischen Stil reiten sehen. Aber in meinen Augen sah dieses Auf und Ab des Reiters im Sattel einfach albern aus. Der Westernstil ließ einen nicht halb so lächerlich aussehen. Und da Katie im Westernstil dressiert war, wäre es sowieso müßig, sich darüber zu streiten. Katie schnaufte, warf ihren Kopf hoch und wieder runter, als hätte sie meine Gedanken gelesen und würde mir zustimmen.

Ich schwang mich in den Sattel und ritt auf die unbefestigte Straße hinaus. Katie wollte sofort in einen schnellen Galopp verfallen. Ungeduldig zog sie an ihrem Zaumzeug und warf ihren Kopf hoch und runter, doch ich bremste ihren Tatendrang erst einmal. Sie sollte sich langsam daran gewöhnen, mich wieder auf ihrem Rücken zu tragen. Vielleicht mussten wir beide uns auch erst wieder daran gewöhnen, miteinander zurechtzukommen.

In Schrittgeschwindigkeit bewegten wir uns den kleinen Hügel hinauf. Vorbei an den Feldern meiner Großeltern, auf denen das frisch gemähte Gras in der Vormittagssonne trocknete und einen herrlich würzigen Duft verströmte. Vorbei am Hof meines Opas und der kleinen Gruppe Kühe, die auf einer Weide vor sich hindöste. Und vorbei an der Marienhöhe, die sich auf der linken Seite der Straße auf dem höchsten Punkt dieser kleinen Anhöhe erstreckte. Stolz wie eine Königin blickte sie hinunter auf das Tal – eine alternde Königin, die trotz ihrer Falten nichts von ihrer Schönheit verloren hatte.

Vor dem breiten gemauerten Torbogen des Gutes stand zum ersten Mal seit ich mich erinnern konnte ein Auto - ein in der Sonne blitzendes schwarzes Cabrio. Paletten mit Baumaterialien stapelten sich unter den großen Kastanienbäumen, die rechts der von wilden Wein überwucherten Statue eines Engels standen, der in seinen Händen ein Buch hielt. Vielleicht war es dieser Engel aus meiner Kindheit, der meine Liebe zu diesen Geschöpfen geweckt hatte.

Ich schielte hinüber auf die Stapel, drosselte Katies Schrittgeschwindigkeit noch ein wenig und sah neugierig zum Gut hinüber. Ich fragte mich, wer die Marienhöhe gekauft haben könnte? Ein winziger eifersüchtiger Stich traf mich in der Brust. Früher habe ich mir gerne vorgestellt, dass die Marienhöhe eines Tages mir gehören würde.

Ich hoffte, dass wer auch immer jetzt der Besitzer dieses schönen Hofes war, er die Höhe bald in neuem Glanz erstrahlen lassen würde. Vielleicht würde das von Erosion angegriffene Dach mit leuchtend roten Ziegeln neu gedeckt werden, die Kapelle wieder hergerichtet und das zerbrochene Buntglasfenster erneuert.

Schon seit ich klein war, zog die Marienhöhe mich in ihren Bann. Jedes Mal, wenn ich dorthin gelaufen war, um zu spielen, war es, als würde ich dort hingehören. Auch heute verlockte sie mich wieder, rief mich zu sich. Mein Blick glitt hinüber zum Stall, dessen verwittertes Dach trostlos wirkte. Zu sehen, dass die Höhe nicht mehr leer stand, löste gemischte Gefühle in mir aus. Zum einen freute ich mich darüber, dass sie nicht weiter verrotten würde. Zum anderen hatte ich das Gefühl, etwas zu verlieren, das mir gehörte. In den letzten Jahren hatte ich nicht viel Zeit auf die Höhe verschwendet, aber manchmal hatte ich an das alte Gut gedacht und mich dorthin zurückgesehnt.

Es gab eine alte Geschichte, die sich um das Gut rankte. Meine Großmutter hatte sie mir erzählt. Ob sie wahr ist, weiß keiner so genau. Angeblich hatte eine der Bewohnerinnen Anna geheißen. Eine Frau, die ein großes Herz gehabt haben soll. In Zeiten der Not hatte sie ihre Tür für jeden geöffnet, der daran geklopft hatte. Sie teilte ihre Habe mit jedem Bedürftigen. Meine Oma hatte erzählt, es wäre so gewesen, dass die Hungrigen bald von überall herkamen; arme Dorfbewohner, obdachlose Kinder und Landstreicher. Sie alle klopften an der Tür zur Küche, weil es hieß, dass der Herr jeden vom Hof prügeln würde, den er erwischte. Doch an der Küchentür hätte man sie immer mit offenen Armen empfangen. Bis eines Tages die bedauernswerte Anna tot in der Kapelle aufgefunden worden war. »Von diesem Tage an wäre das Unglück im Haus eingezogen, sagt man.« Meine Großmutter hatte mir geheimnisvoll zugenickt und gelächelt, weil ich ihrer Erzählung mit großem Interesse gefolgt war. Nicht wegen dieser Geschichte an sich, sondern weil ich immer gerne zugehört hatte, wenn meine Oma mir Geschichten erzählte. »Es heißt, die Tochter hätte sich mit dem Teufel persönlich eingelassen und die Krieger des Herren hätten sie dafür gerichtet. Und den Alten von Falkenberg, den soll man heute noch öfters in der Gegend sehen.«

Als wir an den Höfen vorbei waren, ließ ich Katie freien Lauf. Sofort beschleunigte sie in einen schnellen Trab. Ich beugte mich nach vorne über ihren Hals, schlang meine Finger in ihre dichte Mähne und genoss den Wind in meinem Gesicht, das Trommeln von Katies Hufen auf dem steinigen Untergrund und die Geschwindigkeit, die mein Herz zum Hämmern brachte. Wir beide hatten es vermisst, gemeinsam in diese Höhen hinaufzuschwingen.

Wir ritten auf den Wald zu, der durch eine Straße, die gerade breit genug für die Traktoren der Bauern war, geteilt wurde. Diese Straße war der einzige Weg zu dem Bauernhof auf der anderen Seite des Waldes. Danach folgte eine Lichtung, auf der die Bienenvölker meiner Großeltern standen – ja, bei uns gab es Honig aus eigener Produktion -, dann wieder Wald und irgendwo dahinter ein kleiner See. Genau genommen wohnten wir zwischen dem Forstenrieder Park und dem Grünwalder Forst – Natur pur.

Wenn uns nach Baden zumute war, war da der Starnberger See oder der Ammersee, und wenn uns doch eher nach Klettern war, hatten wir die Alpen vor der Tür. Klettern war nicht mein Ding, weshalb meine Eltern es früh aufgegeben hatten, mich auf solche Touren mitnehmen zu wollen. Ich war mir sicher, dass sich das auch in den letzten Jahren nicht geändert hatte.

Das Blätterdach über uns war so dicht, dass nur ein diffuses Licht bis zu uns hinunterreichte. Ganz in der Nähe klopfte ein Specht gegen den Stamm eines Baumes. Das Geräusch drang hallend zu uns herüber. Ich verlangsamte Katies Tempo wieder, weil ich wenig Lust hatte, mir den Kopf an einem der herabhängenden Zweige zu stoßen. Verträumt betrachtete ich die Bäume, die links und rechts von uns standen und sich über unseren Köpfen erhoben wie Wächter, als ein Ruck durch Katies Körper ging.

Katie riss die Vorderbeine hoch, stieg und wieherte so gellend, dass es mir in den Ohren wehtat. Mit aller Kraft zog ich an den Zügeln, presste meine Beine um ihren Körper, um nicht abgeworfen zu werden und das Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich einen Blick auf das werfen, was Katie so erschrocken hatte. Vor uns auf dem Weg stand ein junger Mann. Er schien völlig ungerührt von dem, was gerade vor seinen Augen passierte.

Immer wieder stieg Katie nach oben und nur mit Mühe konnte ich mich noch im Sattel halten. Ich wusste, wenn ich fallen würde, wäre die Gefahr groß, dass Katies Hufe auf meinen Körper niedersausen würden. Also krampfte ich meine Schenkel noch fester um die Rippen der Stute, krallte meine Finger in ihre Mähne und versuchte sie mit sanfter Stimme zu beruhigen.

Die Stute wich einige Schritte rückwärts aus und machte dann einen Satz nach vorne. Und rannte los. Direkt auf den Mann zu, der noch immer auf der Straße stand.

»Katie, nein!«, brüllte ich das Pferd an, denn es war im Begriff, den Unbekannten einfach zu überrennen. Im letzten Augenblick erkannte ich in ihm den jungen Mann aus dem Supermarkt.

Doch Katie reagierte weder auf die Kommandos, die ich ihr mit meinem Körper sandte, noch auf meine Schreie. Ich schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als Katie schon fast aus dem Wald heraus und auf der Lichtung mit den Bienenvölkern angekommen war. Mir war es unmöglich zu unterscheiden, ob das Hämmern in meinen Ohren von Katies Hufen herrührte, oder von meinem Herzen.

Erst auf der Lichtung blieb Katie endlich stehen. Keuchend und mit zittrigen Muskeln ließ ich mich aus dem Sattel in das hohe Gras gleiten. Katie tänzelte nervös auf der Stelle, schnaufte ein paar Mal und schüttelte sich dann aus. Ich streichelte sie sanft, klopfte ihr den Hals und ließ mich in die Wiese fallen, um selbst auch wieder zu Atem zu kommen.

Einige Augenblicke lag ich ausgestreckt im hohen Gras und hatte die Augen geschlossen. Durch das Rauschen in meinen Ohren hindurch, konnte ich Katies aufgeregten Atem hören. Erst als sie mich mit ihren warmen Nüstern im Gesicht anstupste, öffnete ich die Augen. »Oh Gott, ich glaube, wir haben ihn überrannt«, schoss es aus mir heraus. »Wir müssen zurück«, redete ich auf das Pferd ein, als würde es verstehen, was ich da von mir gab.

Ich stand etwas zu schnell auf, denn meine Muskeln vibrierten noch immer von der Anstrengung, mich im Sattel zu halten. Vor meinen Augen flimmerte es, ich schloss die Lider, konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen. Mir wurde übel. Ich konnte spüren, wie das Blut von meinem Kopf in meine Beine sackte, als mir klar wurde, dass wir ihn vielleicht getötet hatten. Mein Herz begann ganz unregelmäßig zu schlagen, und in meinen Ohren rauschte ein Wasserfall. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst gehabt. Was, wenn wir ihn getötet hatten?

Als das Schwirren in meinem Kopf nachgelassen hatte, stellte ich meinen Fuß in den Steigbügel und schwang mich mit etwas mulmigem Gefühl im Magen wieder in Katies Sattel. Kurz schrak ich davor zurück, mich wieder auf Katies Rücken zu setzen, aber zu Fuß würden wir einfach zu lange brauchen. Und der Mann brauchte jetzt Hilfe. Wenn er überhaupt noch lebte.

Ich ritt zurück. Meine Augen suchten jeden Zentimeter des Waldbodens ab und fanden nichts. Vielleicht war es noch ein Stückchen weiter, sagte ich mir und ritt langsam fast bis aus dem Wald hinaus. Nein, hier kann es nicht gewesen sein.

Ich musste Katie zwingen, noch einmal umzukehren und wieder in den Wald hineinzureiten. Sie hatte es mit einmal sehr eilig, nach Hause zu kommen.

Ich suchte den Waldboden noch genauer ab. Und dann sah ich es. Mein MP3-Player musste mir aus der kleinen Tasche meiner Jacke gefallen sein. Er lag fast am Rand der Straße, dort wo die breiten Reifen der Traktoren sich tief in den Waldboden gegraben hatten. Es konnte also nur hier passiert sein. Nur, wo war der Fremde? Meine Augen suchten die Umgebung ab. Ich rutschte aus dem Sattel und suchte nach irgendwelchen Hinweisen. Ich suchte nach Blut, auch wenn der Gedanke daran, dass ich hier wirklich welches finden würde, mir die Tränen in die Augen trieb.

Vielleicht war er verletzt und in seiner Verwirrung in den Wald gekrabbelt, lag irgendwo unter einem Baum? Ich fand aufgewühlte Erde, Abdrücke von Katies Hufen aber kein Zeichen von diesem Mann. Panisch lief ich zwischen den Bäumen umher und suchte nach dem Unbekannten, bis ich mir eingeredet hatte, dass er unverletzt davon gekommen sein musste. Aber glauben konnte ich es nicht. Schließlich hatte ich gesehen, wie Katie direkt auf ihn zugehalten hatte. Und der Unglaube in seinem Gesicht, als er das Pferd sah, hatte sich in mein Hirn gebrannt. Er konnte unmöglich noch rechtzeitig ausgewichen sein. Er war wie erstarrt gewesen.

Diesmal stieg ich nicht wieder auf Katies Rücken. An ihren Zügeln führte ich sie aus dem Wald heraus. Die ganze Zeit fragte ich mich, wohin der Fremde verschwunden war. War er verletzt? Hatte er rechtzeitig ausweichen können? Lag er doch irgendwo im Unterholz?

Als ich an der Marienhöhe vorbeikam, hatte ich für ihre Schönheit kaum einen Blick, so sehr hielten mich Zweifel und Sorge in ihren Klauen gefangen. Doch auf Höhe der Kapelle nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, die mich aus meinen Gedanken riss.

Ich blickte hinüber, wo die Statue des Engels fast komplett von der Gestalt eines Mannes verdeckt wurde. Nur die steinernen Flügel ragten rechts und links an seinen Schultern vorbei. Einen Augenblick war die Illusion vor dem Hintergrund der untergehenden Sonne so perfekt, dass die Engelsflügel wirkten, als wären sie ein Teil des Fremden. Dann wandte er sich von mir ab und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Ich zögerte, weil ich mir nicht sicher war, ob er es war, da sich vor dem flammenden Rot des Abendhimmels nur eine schwarze Silhouette abhob. Aber etwas in mir flüsterte mir zu, dass nur er es sein konnte. Unsichtbare Fäden schienen an mir zu zerren. Meine Füße bewegten sich wie von Zauberhand auf ihn zu. Erst Katies nervöses Reißen an den Zügeln schreckte mich aus meiner Trance auf. Katie sträubte sich auch nur einen Schritt weiter, in Richtung des Fremden zu gehen. Ich ließ ihre Zügel hängen und stapfte allein durch das wadenhohe Gras. Wenn mein Opa die Wiesen rund um die Marienhöhe nicht hin und wieder abmähen würde, wäre es hier noch viel verwilderter.

Als ich näher kam, sah ich ihn. Er hockte am Fuße der Statue und befreite den niedrigen Sockel des Engels von Ranken und Unkraut.

»Hallo«, sagte ich vorsichtig. Ich starrte auf die breiten Schultern hinunter und ließ meinen Blick dann von seinem Rücken über den rechten Oberarm schweifen, wo das Tattoo mit dem Schwert und den Engelsflügeln saß.

Er reagierte nicht. Sah nicht einmal von seiner Arbeit auf, also redete ich einfach weiter auf seinen Rücken ein. »Das vorhin tut mir leid. Ich weiß nicht, was in Katie gefahren ist. Eigentlich ist sie ein ruhiges Pferd.«

»Du nennst dein Pferd Katie?«, murmelte er den Füßen der Statue entgegen.

Ich betrachtete den Engel, das Buch in seinen Händen und dann die Flügel, und fühlte mich etwas unbehaglich: nervös mit einem leichten Flattern in der Magengegend. »Ja, eigentlich heißt sie Katharina.«

Ich konnte sehen, wie seine Muskeln sich unter dem schwarzen Shirt kurz anspannten, er in seiner Arbeit einen winzigen Augenblick innehielt. Die Sehnen an seinem Hals traten hervor und er fuhr sich durch sein ohnehin schon wirres ebenholzfarbenes Haar. »Hast du ihr diesen Namen gegeben?«

»Ja, das war der erste Name, der mir eingefallen war, als ich sie gesehen habe, Katharina. Ich weiß nicht warum. Es war ein Gedanke, der plötzlich da war«, sagte ich schulterzuckend und erinnerte mich an den Tag kurz vor meinem zehnten Geburtstag. Mein Großvater hatte mich an der Hand in den Stall geführt, wo Katie neben ihrer Mutter in einer der Boxen stand. Sie sah so wundervoll aus und sie wirkte noch überwältigender auf mich, als mein Opa sagte, dass sie mir gehörte.

Wieder schwieg er. Ich tippelte von einem Fuß auf den anderen und überlegte, ob es besser wäre, zu gehen. Aber da war so ein merkwürdiges Gefühl, das sich in mir ausbreitete, schwach unter meiner Haut kribbelte. Ein Gefühl der Nähe. Es juckte mich in den Händen, dieses dunkle Haar zu streicheln, das im letzten Sonnenlicht kupfern schimmerte. Und ich wusste, wenn ich es berühren würde, wäre es seidig weich.

»Jedenfalls«, sagte ich schnell, »wollte ich mich nur entschuldigen.« Ich wandte mich ab, um zu gehen, weil ich nicht damit rechnete, dass er noch etwas sagen würde. »Ach ja.« Ich hielt noch mal inne. »Mein Name ist Sky. Schönes Tattoo.«

»Warte!«

Ich drehte mich um. Mir stockte der Atem, als er nahe vor mir stehen blieb und mich mit seinen schwarzblauen Augen musterte, den Augen, die auf mich wirkten, wie aus einem fernen Traum. »Ich bin Adrian.«

Er lächelte. In seinen Wangen bildeten sich dabei kleine Grübchen. Seine Haut war blass und schien im letzten Tageslicht zu schimmern. Seine Nase schien einmal gebrochen gewesen; sie hatte einen leichten Knick, was seinem Aussehen etwas noch Düstereres verlieh. Auf seinem Kinn befand sich ein leichter Bartschatten. Seine Wangenknochen waren ausgeprägt, sein Unterkiefer scharfkantig geschnitten. Er musterte mich genauso aufmerksam, wie ich ihn. Und der weiche Blick, der dabei auf sein Gesicht trat, fühlte sich fast vertraut an.

Ich ergriff die Hand, die er mir hinhielt. In mir kribbelte es bei dem Gedanken, ihn zu berühren. Meine Finger legten sich langsam um seine, und seine schlossen sich mit festem Druck um meine Knöchel. Ich registrierte gerade noch, wie warm er sich anfühlte.

Was dann passierte, war unheimlich und sollte mein Leben, und alles woran ich bis dahin geglaubt oder nicht geglaubt hatte, auf den Kopf stellen. Energie schoss meinen Arm hoch, Lichtblitze zuckten in meinem Hirn, dann flackerten Bilder vor meinen Augen, als würde jemand viel zu schnell durch einen Film spulen. Nichts, was ich hätte erfassen können: Gesichter, manchmal nur Augen, Münder, die etwas sagten, ohne dass ich es hören konnte. Nur Adrians Gesicht tauchte im Chaos immer wieder auf. Mal schien er glücklich zu sein, mal verzweifelt und dann wieder vollkommen verloren.

Plötzlich sammelte sich eine neue Energie in mir, schwoll immer mehr und mehr an und verbreitete sich von meinem Zentrum aus im ganzen Körper. Kroch meinen Arm hinunter und explodierte aus mir heraus. Adrian riss sich von mir los und stolperte einige Schritte rückwärts. Fast schien es, als wäre er von einer unsichtbaren Kraft gestoßen worden.

Erschrocken starrte ich auf meine Hand, dann auf Adrian, der dastand, als wäre nichts passiert.

»Was zur Hölle war das?«, entfuhr es mir heftig fluchend, weil meine Hand noch immer kribbelte.

»Wovon redest du?«

»Es hat sich angefühlt, als hättest du mir einen Stromschlag versetzt.«

Er zuckte mit den Schultern. »Statische Aufladung?«, sagte er und räusperte sich, seine Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. Da war etwas in seinem Blick, ich wusste nur nicht was, aber ich war sicher, dass er log. Und sowieso, das hatte sich ganz anders angefühlt. Und all diese Bilder. Aber vielleicht hatte er wirklich nichts bemerkt? Ich könnte ihm sagen, was ich gesehen hatte. Aber dann würde er mich für vollkommen irre halten, wenn er das nicht ohnehin schon tat, schließlich hatte ich ihn fast umgebracht. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass ihm nichts geschehen war.

Alles in mir fühlte sich komisch an, ich hatte das Gefühl, innerlich zu glühen. Es war, als züngelten kleine Flammen in mir. Verwirrt trat ich einen Schritt zurück, rieb meine Stirn und schüttelte den Kopf. War das eine Nebenwirkung meines kleinen Reitunfalls? Vielleicht hatte mich die Sache zu sehr mitgenommen?

Ich zog die Augenbrauen hoch. Irgendwas musste ich sagen, er sah mich so merkwürdig an. »Das war dann wohl ein ziemlich starker Stromschlag.«

»Ich habe nichts gemerkt.« Ich sah, wie er mit seiner Zunge über seine Unterlippe fuhr, bevor er sie einsog und darauf biss.

»Du hast das nicht bemerkt? Warum bist du dann zurückgewichen?«, hakte ich weiter nach, aber was sollte es sonst gewesen sein? Was glaubte ich denn, was es gewesen sein könnte? Ein Blitz? Hatte uns ein Blitz getroffen? Ich warf dem wolkenlosen Himmel einen zweifelnden Blick zu, unmöglich. Es hatte sich komisch angefühlt, aber vielleicht hatte Adrian Recht.

Meine Knie waren ein wenig zittrig und meine Oberschenkelmuskulatur vibrierte. Mir war ein wenig flattrig im Magen. Gut möglich, dass ich mir die Blitze und Bilder und das elektrische Zucken unter meiner Haut nur eingebildet hatte. Es musste an meinem Beinaheunfall liegen.

Adrian kniete sich wieder vor die Statue und begann, weiter Unkraut vom Sockel zu zupfen, gerade so als wäre ich gar nicht da. Er schien wirklich nichts mitbekommen zu haben. Hatte er mir seine Hand am Ende nur entrissen, weil ihm die Berührung zuwider war? Ich beobachtete ihn noch einen Augenblick dabei, wie er nach und nach eine kleine schmutzig goldene Tafel freilegte. »Anna, gestorben 1913«, stand darauf.

Verwundert starrte ich auf die dunklen, verwitterten Buchstaben. Bisher war mir diese Tafel noch nie aufgefallen. All die Jahre war sie unter dem Unkraut versteckt gewesen. Der Engel war ein Grabstein. So oft war ich als Kind hier gewesen, hatte mich vor Jenny und Mel hinter dem Engel versteckt, niemals war mir diese Gedenktafel aufgefallen. Hatte Adrian von diesem Grab gewusst?

 

 

 

 

3. Kapitel

 

 

Adrian versteckte sich auf dem Heuboden, direkt über den Pferdeboxen. Nur der Vollmond warf sein sanftes Licht durch das weit geöffnete Tor des Stalls. Das würzig duftende Heu stach ihm durch seine schmutzige Kleidung hindurch. Er ignorierte es. Das Abendessen im Herrenhaus war längst beendet. Gleich müsste es soweit sein. Gleich würde sie durch das breite Tor des Pferdestalls treten.

Er wusste, es war falsch. Es war nicht nur falsch, es war verboten. Er hätte sich nie in sie verlieben dürfen. Einer seiner Art sollte gar nicht fähig sein, so zu empfinden. Es wäre richtig gewesen, zu gehen. Einen anderen seinen Auftrag, beenden zu lassen. Doch er konnte nicht. Er war nicht imstande, sie zu verlassen. Wenn er behaupten würde, es wäre so, weil er nicht ertragen konnte, dass sie wegen ihm leiden musste, dann würde er lügen. Seine wahren Beweggründe waren viel egoistischer. Er konnte sie nicht verlassen, weil er die Qualen nicht würde ertragen können. Wie hätte er wieder zurückkehren können in eine Welt ohne Gefühle? In eine Welt ohne sie?

Und es war egoistisch, sie nicht zu verlassen. Wenn sie dahinter kommen würden, was er für sie empfand, dann wären die Folgen grauenvoll.

Adrian zog sich tiefer in die Dunkelheit zurück. Das Stroh unter ihm raschelte. Eines der Pferde schnaubte fast verächtlich. Vielleicht Katharina, Annas geliebte Füchsin mit dem rotbraunen Fell.

»Oh Anna«, flüsterte Adrian gequält. Wenn er doch nur stark genug wäre, sein Versagen einzugestehen. Aber dann würden sie einen anderen schicken. Und Annas Schicksal in die Hände eines anderen seiner Brüder zu legen, war undenkbar für ihn. Noch vor kurzem hatte er anders gedacht. Er hatte sich gesträubt, diesen Auftrag anzunehmen. Schon seit Jahrhunderten beschützten die Seinen die Frauen dieser Familie. Und schon seit Jahrhunderten gab es keinen Grund mehr, das zu tun. Keine Anzeichen, dass sie in Gefahr schwebten. Es schien, als hätte die andere Seite das Interesse an ihnen verloren. Vielleicht hatten sie diese Frauen und das Geheimnis, das sie in sich trugen aber auch nur vergessen.

Adrian hatte Irial seinen Unmut deutlich klar gemacht. »Ich bin ein Krieger und kein Kindermädchen. Ich gehöre auf das Schlachtfeld, nicht auf einen Hof.«

Und bisher hatte Adrian Recht behalten. Anna schien nicht in Gefahr zu sein. Und trotzdem würde ihn jetzt nichts mehr davon abbringen, diesen Auftrag zu erledigen. Nichts würde ihn dazu bringen, von Annas Seite zu weichen. Zumindest solange nicht, bis seine Seite sicher sein konnte, das Anna keine der Auserwählten war und er wieder abberufen wurde. In dem Fall bräuchte sie nicht länger den Schutz eines Kriegers. Sie würden sich zurückziehen und erst wiederkommen, wenn das nächste Mädchen in diese Familie geboren worden war.

Anna betrat den Stall. Ein kurzer Blick über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass niemand sie gesehen hatte. Adrian hielt den Atem an. Duckte sich tief in die Schatten. Die Flamme der Öllampe, die sie in der ausgestreckten Hand hielt, tauchte den Stall in ein warmes Licht. Sie blickte sich suchend um, trat an Katharinas Box heran und hängte die Lampe an einen der Nägel in dem Pfosten vor Katharinas Box.

Adrian beugte sich vorsichtig über den Rand des Heubodens. Er beobachtete wie Annas Hand sanft über die Nase der Stute strich. Sie flüsterte ihr etwas zu. Annas rostbraunes Haar fiel offen über ihren Rücken. Sie trug nichts weiter, als ihren Morgenrock, trotz der kühler werdenden Nächte. Er würde mit ihr über ihren sorglosen Umgang mit ihrer Gesundheit reden müssen. Es wäre sonst leidlich, sie zu beschützen, wenn sie am Ende an einer Lungenentzündung starb.

Langsam ließ er sich vom Heuboden gleiten. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Ein Gefühl, an das er sich noch immer nicht gewöhnt hatte. Er landete direkt hinter Anna, ohne das geringste Geräusch zu machen. Er senkte sein Gesicht zu ihrem Haar und sog tief den blumigen Duft ein. Dann zog er sich einen Schritt zurück. »Sie sollten nicht mehr hier sein, um diese Zeit, Gnädigste.«

Anna fuhr zusammen und drehte sich in einer hastigen Bewegung zu ihm um. Ihr Haar löste sich kurz von ihrem Rücken, schwebte durch die Luft und sank sanft wieder nach unten. Große grüne Augen starrten ihn erschrocken an und leuchteten auf, als sie ihn erkannte. »Adrian, endlich. Wo warst du nur?«

»Ganz in deiner Nähe«, sagte er grinsend und deutete mit den Augen nach oben.

»Oh, du Schuft«, sagte sie lachend und boxte ihm mit einer zarten Hand auf den Oberarm. Sie schmiegte sich in seine Umarmung. Wie jedes Mal, wenn sie bei ihm war, wurde das Glück von der Angst vor Entdeckung getrübt. Wenn jemand sie hier finden würde, wäre sie eine entehrte Frau. Dabei hatte er sie noch nicht einmal geküsst, in all den Wochen, die sie sich schon heimlich trafen. Und sie wollte es, genauso sehr wie er es sich wünschte. Aber er blieb standhaft. Diese letzte Grenze würde er nicht auch noch übertreten.

»Ich bin versprochen«, flüsterte sie in seine Umarmung.

 

Das Klingeln des Weckers riss mich aus diesem Traum. Vor dem Einschlafen hatte ich mir gewünscht, von Adrian zu träumen. Aber dieser Traum war fast schon zu real. Ich konnte das Heu riechen, den Geruch von Pferd und konnte auch jetzt, wo ich wach war, noch immer Adrians Arme fühlen, die sich um meinen Körper gelegt hatten. Nur meine Haare waren anders gewesen: länger, eher so wie ich sie früher getragen hatte. Und ich hieß Anna, wie das Mädchen, das unter dem Engel auf der Marienhöhe begraben zu sein schien. Ich schüttelte den wirren Traum von mir ab. Heute war mein erster Schultag an der Privatschule für Mädchen.

Es fiel mir nicht einfach, aufzustehen, mich in diese Schuluniform zu zwängen, und meiner Mutter am Frühstückstisch gegenüberzusitzen. Schließlich war sie diejenige, die darauf bestand, mich in eine Mädchenschule zu schicken.

Konnte es nicht jede andere Schule im Umkreis von hundert Kilometern sein? Musste es ausgerechnet diese Schule sein? Eine Mädchenschule weckte in mir die schlimmsten Vorstellungen von Zickenkriegen und Machtkämpfen. Und ich, die Neue, würde die volle Aufmerksamkeit bekommen. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie wussten, dass ich diese Schule besuchen musste, weil ich in den Augen meiner Eltern Bestrafung verdiente?

Früher eine Klosterschule, wird auch heute noch viel auf katholische Werte geachtet, hieß es in dem Werbeprospekt, das schon Wochen vor unserem Umzug mit Magneten an das Memoryboard in unserer alten Küche geheftet worden war. Ich wusste ja noch nicht einmal, wie man betete. Und gebetet wurde in dieser Schule wohl häufig, wenn ich dem Flyer glauben durfte. Ich war ungeeignet für eine Schule, an der man regelmäßig den Gottesdienst besuchte. Vielleicht war es aber gerade dieser Hintergrund, der einige Eltern jugendlicher »Problemkinder« dazu bewog, ihren Nachwuchs auf diese Schule zu zwingen.

Ich würgte das Frühstück herunter, ohne ein Wort mit meiner Mutter zu sprechen. Ich sagte auch nichts, als sie mir Geld für die Unterrichtsmaterialien über den Tisch schob. Und ich verabschiedete mich auch nicht von ihr, als es an der Tür klingelte. Das hätte sowieso nicht viel gebracht, da sie heute ihre neue Arbeit als Lehrerin auf der Marien-Schule antrat. Mit einem Schaudern stellte ich mir vor, wie es wäre, meine eigene Mutter in Biologie zu haben. Bei meinem Glück würde es genau so kommen. Unterrichtete man an einer Schule, in der gebetet wurde überhaupt Sexualkunde?

Ich schnappte mir die fast leere Schultasche, die ich an der Tür platziert hatte und stürmte heraus.

»Zieh nicht so ein Gesicht! Neues Schuljahr, neues Glück. Ab jetzt kann es nur noch besser werden.« Mel grinste breit, als ich die Tür extra schwungvoll hinter mir zukrachte.

»Und ich dachte, ihr zwei seid darüber hinaus, die gleichen Klamotten anzuziehen«, sagte ich mit einer Stimme, die vor Sarkasmus nur so troff, als mein Blick auf die Schuluniformen der Zwillinge fiel. Nur gut, dass die beiden jetzt wenigstens unterschiedliche Haarfarben hatten.

»Guten Morgen, Sky. Schön, dass du heute so gut drauf bist.«

Ich schnitt eine Grimasse und schwang mich auf mein Fahrrad. »Das liegt am Wetter und der Tatsache, dass ich Fahrrad fahren muss – am frühen Morgen, in einem Rock«, antwortete ich auf Jennys Kommentar.

Die Schule war früher ein Kloster gewesen und befand sich etwas außerhalb von Linden. Mit dem Fahrrad ungefähr zwanzig Minuten, was eigentlich nicht viel war, wenn sich der Komplex nicht auf einem Berg befinden würde, der schwerer zu erklimmen war, als der Mount Everest.

Ich trat kräftig in die Pedale und strengte mich an, nicht allzu weit hinter Mel und Jenny zurückzubleiben. Die beiden waren eindeutig fitter als ich. Für mich hatte es in den letzten Jahren nur zwei Arten von Sport gegeben: Schulsport und Reiten. Obwohl ich das Reiten seit Monaten sträflich vernachlässigt hatte.

Zuerst kamen die Spitzen Türme der Kirche in Sicht, die zum ehemaligen Kloster dazugehörte, und nach ein paar Metern dann endlich die schmutzig graue Mauer, die das Klostergelände umgab. Ich folgte Jenny und Mel durch den Torbogen, der in den großen Innenhof führte. Ich kannte die Gebäude noch von einer Besichtigung mit meiner damaligen Schulklasse und trotzdem stockte mir der Atem, als ich vor der gotischen Kirche stand. Die Mädels ließen mir aber nicht lange Zeit, um das wundervolle Buntglasfenster zu bewundern, das sich direkt über der Pforte erhob und einen Engel mit weißen Flügeln zeigte.

»Zum Sekretariat geht es dort entlang.« Mel zeigte auf das rechte Gebäude von drei in U-Form stehenden recht schmucklos wirkenden Häusern. »Dort musst du als erstes hin. Links ist das Internat und rechts die Klassenzimmer.« Das war das größte Gebäude. Aber eigentlich war ein Unterschied kaum auszumachen. Graue, dunkle Wände, weiße Fenster, schwarze Spitzdächer. Der Innenhof war zum großen Teil mit Kopfsteinpflaster ausgelegt, nur vor dem Internatsgebäude gab es eine Wiese mit ein paar Bäumen und Bänken. Die meisten Schülerinnen standen dort in mehreren Gruppen. Es waren bis dorthin nur ein paar Meter Luftlinie, aber für mich sahen sie in ihren Uniformen alle gleich aus. Wie eine Armee aus roten und grünen Schottenkaros, weißen Blusen und hin und wieder einer roten Strickjacke. Das einzige, was diese Einheit, die sie bildeten, durchbrach, waren ihre schnatternden Stimmen.

Ich folgte meinen Freundinnen in das rechte Gebäude.

Die Sekretärin, eine ältere, rundliche Dame mit lockig grauem Haar, gab mir ein Formular, in das ich mich eintragen sollte und einen Termin für die zweite Stunde bei der Direktorin.

»Keine Liste mit Materialien, die wir noch brauchen?«, fragte ich, als wir das kleine Büro wieder verlassen hatten.

»Die bekommen wir im Laufe des Tages von den verschiedenen Lehrern«, meinte Mel und strich ihre Bluse glatt.

»Und dann heißt es heute Nachmittag Shoppen.« Jenny zwinkerte. »Du, wir, der Bus und München.«

Ich hatte Glück vor der ersten Stunde. Die Zeit war knapp, als wir das Klassenzimmer betraten, klingelte es auch schon. Ich erntete ein paar misstrauische Blicke meiner neuen Mitschülerinnen, aber das war es auch schon. Die Tatsache, dass es ein neues Schuljahr war und ich nicht die einzige Neue zu sein schien, ersparte es mir, mich vor der Klasse vorstellen zu müssen.

Das Klassenzimmer sah nicht viel anders aus, als die Räume in meiner alten Schule; es gab eine Tafel, die Wände waren mit Formeln und Tabellen beklebt und wir saßen hinter langen Tischreihen. Das einzig ungewöhnliche war das riesige Holzkreuz, das an der Wand hinter uns hing und fast drohend über uns aufragte und das Morgengebet, das mich jetzt wohl jeden Tag vor der ersten Stunde erwarten würde. So etwas in der Art hatte ich schon geahnt, aber nichts konnte schlimmer werden als diese Schuluniformen. Ich hatte das Gefühl, mitten in eine Szene von Braveheart geschlittert zu sein. Überall Karos!

Ganz entgegen meiner Vorstellung war die Lehrerin keine Nonne, zumindest trug sie normale Kleidung. Jenny und Mel saßen zu beiden Seiten von mir, sodass ich mir die Bank nicht mit jemand teilen musste, den ich nicht kannte. Da eine Unterrichtsstunde an der Marienschule immer eine Doppelstunde war, hatte ich neunzig Minuten, mich gedanklich auf mein Gespräch mit der Direktorin vorzubereiten. Mir blieb auch gar nichts anderes übrig, als immer wieder vom Unterrichtsstoff abzuschweifen, denn die monotone Stimme der Lehrerin verhinderte, dass irgendjemand im Raum sich auf sie konzentrierte. Mel füllte ein Kreuzworträtsel aus, Jenny hinterließ auf der Tischplatte kleine Herzchen und vor uns wurden Briefchen ausgetauscht.

 

Das Büro der Direktorin war unerwartet schlicht für eine Privatschule. Als ich gerade die Türklinke herunterdrücken wollte, wurde die Tür von innen aufgerissen. Zwei junge Männer schoben sich an mir vorbei und musterten mich anzüglich. Da das hier eine Mädchenschule war, vermutete ich, dass sie vielleicht Handwerker waren. Ich hatte gesehen, dass einige Fenster im rechten Gebäude ausgewechselt wurden. Frau Dietrich saß hinter einem einfachen Schreibtisch und begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. Ich begrüßte sie mit einem Kopfnicken und fand, dass sie ganz harmlos wirkte, kein bisschen tyrannisch. Vielleicht war die Schuluniform das einzige Verbrechen, das sie begangen hatte.

»Guten Tag, Skyler«, setzte sie an. Frau Dietrich hatte rötlich gefärbte Haare, die bis auf ihre Schultern fielen. Sie sah hübsch aus: schlank, trug ein schwarzes Kostüm, das eher wie ein zweiteiliges, eng anliegendes Kleid aussah. Sie war aufgestanden und vor dem Stuhl, auf dem ich saß, stehengeblieben. Sie schaute auf mich herunter und lächelte. Ich versuchte zu schätzen, wie alt sie war, was wirklich schwer war. Das lange, wellige Haar, die schlanke Figur, ihr angenehmes Lächeln, alles an ihr wirkte jung. Doch die tiefen Falten um ihre Augen und den Mund herum sagten etwas anderes.

»Skyler ist ein ungewöhnlicher Name. Woher kommt er?« Sie musterte mich unter zusammengekniffenen Augen und ich kämpfte gegen den Drang an, auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen.

»Mein Vater ist Amerikaner. Er war hier in Deutschland stationiert.«

»Aha. Und ist Skyler nicht eigentlich ein Jungenname?«

»Ja, vielleicht.« Ich hätte ihr jetzt die ganze lange Geschichte erzählen können, dass meine Eltern schon früh während der Schwangerschaft gesagt bekommen hatten, dass ich ein Junge werden würde, dass sie sich auf diese Aussage des Frauenarztes verlassen hatten, dass ich in ein blaues Kinderzimmer hineingeboren wurde und, dass sie sich letztendlich in den Monaten der Schwangerschaft so an diesen Namen gewöhnt hatten, dass sie beschlossen hatten, dass er auch für ein Mädchen passen würde. Aber stattdessen sagte ich nur: »Ich mag ihn. Wenigstens kein Sammelbegriff wie Janine oder Michelle.«

»Verstehe«, sagte sie knapp und nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz. Die Musterung war wohl beendet.

»Machen wir es kurz.«

Ich schluckte. Ihre Stimme klirrte plötzlich eisig und ihre Augen waren stechend auf mich gerichtet. Sie zögerte noch einen Moment, dann sah ich, wie sich ihre Brust unter einem tiefen Atemzug hob und wieder senkte.

»Diese Schule ist eine besondere Schule. Alle Mädchen, die hier herkommen, wurden von ihren Eltern hier angemeldet, damit sie eine gute Ausbildung und eine besondere Erziehung bekommen.« Die Direktorin beugte sich über ihren Schreibtisch näher zu mir. »Deiner Akte konnte ich entnehmen, dass du in der Vergangenheit die Regeln gebrochen hast.« Sie schob mir die Akte über den Tisch zu, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Ich schielte vorsichtig auf die offene Seite und wusste ohne zu lesen, was da geschrieben stand, um was es ging. Das Foto, das mit einer Büroklammer am Blatt festgemacht war, demonstrierte gut, warum die Dietrich auf gebrochene Regeln zu sprechen kam.

»Du hast Talent.«

Ich schluckte noch heftiger. Hatte ich mich verhört?

»Aber, in dieser Schule wirst du keine Graffitis an Wände sprayen. Trotzdem kannst du dein Talent unter Beweis stellen. Ich möchte, dass du meinen Kurs besuchst. Der findet Montag in der dritten Stunde und Mittwochnachmittag nach dem normalen Unterricht statt.« Sie notierte etwas auf einen Zettel, dann schielte sie zu mir hoch. »Auf deinem Stundenplan findest du den Kurs unter Soziale Integration. Heute entfällt er natürlich«, murmelte sie und schrieb weiter. »Heute finden nur die Vorgespräche statt.«

»Das geht nicht«, protestierte ich, ohne darüber nachzudenken. »Ich muss doch die Arbeitsstunden ableisten.« Ich hatte wenig Lust mehr Zeit in dieser Schuluniform zu verbringen, als nötig.

»Ich bin darüber informiert. Keine Sorge. Du hast noch wie viele Stunden offen?«

»Fünfunddreißig.« Schweißperlen traten auf meine Stirn, als ich das bittere Lächeln im Gesicht der Direktorin sah, die ihrem Ruf alle Ehre machte. Ihr gutes Aussehen mochte darüber hinwegtäuschen, aber diese Frau war Furcht einflößend. Da war etwas an ihr, was mir eine Gänsehaut einjagte. Der erste Eindruck, den ich von ihr hatte, war längst vergessen.

»Das ist nicht mehr viel. Soweit ich informiert bin, machst du die Stunden an den Wochenenden?«

Da war sie richtig informiert. In Wiesbaden hatte ich in einem Altersheim ausgeholfen. Hier würde es eine Küche für Bedürftige in München sein.

»Dann sind wir uns einig. Unterricht bei mir, jeden Montag und Mittwoch. Für Mittwoch bitte ich dich, Zeichenutensilien mitzubringen. Wir beginnen den Kurs mit etwas Kreativität«, sagte Frau Dietrich und setzte ein Lächeln auf, das einen Hai hätte verjagen können.

Mir war danach mit den Augen zu rollen, stattdessen nickte ich. Vielleicht würde ich aus dieser Sache wieder herauskommen, wenn sie sah, was ich mit Kreuzen und Engeln anstellte. Ich könnte ihr meine Interpretation von Adrians Tattoo zeigen, sobald ich sie fertig hatte. In einer Schule, in der jeden Tag gebetet wurde, könnten manche meiner Bilder vielleicht schockieren.

»Dann darfst du jetzt wieder am Unterricht teilnehmen.«

Erleichtert erhob ich mich und ignorierte das köstlich aussehende Wasser, das sie mir hingestellt hatte. Mein Mund fühlte sich zwar ganz trocken und pelzig an, aber ich wollte auf keinen Fall, dass sie merkte, wie anstrengend dieses Gespräch für mich gewesen war.

Ich war schon fast an der Tür, als die schaurige Stimme der Dietrich hinter mir ertönte. »Und Skyler, ich hätte gerne einen Aufsatz über diese Nacht.«

Ich nickte, ohne mich umzudrehen, brannte aber innerlich vor Wut. Mit dieser Nacht meinte sie, die Nacht in der ich die Schule in Wiesbaden neu gestaltet hatte.

 

»Das hat sie wirklich von dir verlangt?« Mel schnaubte fassungslos. »Ich habe dir ja gesagt, sie ist eine Furie.«

Mel, Jenny und ich schlenderten gemütlich durch das Stadtzentrum von München. Sie horchten mich gerade nach meiner ersten Begegnung mit der Direktorin aus.

»Wir könnten da drüben ein Eis essen. Was meint ihr?«, schlug Jenny vor. Sie hatte sich in einem der Drogeriemärkte, die wir heute besucht hatten, eine lila Kunsthaarsträhne gekauft und sie gleich in ihrem Haar befestigt. Die sollte unseren Zusammenhalt demonstrieren, hatte sie gemeint. »Ich brauch eine Pause.«

Die hatten wir wohl alle nötig, nachdem wir uns fast zwei Stunden eine Schlacht um die letzten Schulmaterialien geliefert hatten. Halb München war in den Schreibwarenläden unterwegs, um seine Schullisten abzuarbeiten. Etwas, was mich maßlos aufregte, denn scheinbar war es in der Gegend so, dass alle am ersten Schultag erfuhren, was sie benötigen würden. Was für ein Chaos! An meiner alten Schule bekamen wir mit dem Zeugnis unsere Listen und hatten den ganzen Sommer Zeit, die Dinge darauf zu besorgen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Lehrer in Bayern nicht wussten, was sie im folgenden Schuljahr brauchten.

»Gute Idee«, sagte Mel und hielt auf einen der Tische zu, die vor dem Eiscafé standen. Wir verstauten unsere Einkäufe unter dem Tisch und bestellten alle drei eine Eisschokolade mit viel Sahne. Noch ein Punkt, in dem wir uns nicht geändert hatten. Jenny zupfte nervös an ihrem kurzen Rock herum, weil dieser im Sitzen zu viel von ihren blassen Beinen freigab.

»Ich würde sterben für so schöne braune Beine wie du sie hast«, meinte sie mit Blick auf meine.

Ich zuckte beiläufig mit den Schultern. »Ich mach gar nichts. Ein bis zwei Stunden in der Sonne reichen.« Ich hatte noch nie darauf geachtet, ob ich braun werde oder nicht. Es interessierte mich einfach nicht.

»Darf ich deinen Aufsatz lesen, wenn er fertig ist?« Jenny grinste mich breit an. »Ich weiß, meine Neugier ist nervig, aber ich kann einfach nichts dagegen tun. Ich will alles wissen. Bis ins kleinste Detail. Jede einzelne Minute deiner Schulverschönerung. Und wenn es geht bitte mit Bildern deiner Bilder.«

Mel lachte herzhaft auf. »Du siehst aus, als hättest du was Schlechtes gegessen. So schlimm wird’s schon nicht sein. Du kannst uns ruhig alles sagen.«

Jenny nickte bestätigend. »Auch alles über die Flügel. Wie lange hat das gedauert? Und hat es sehr wehgetan? Hattest du keine Angst? Oh Gott, ich will auch ein Tattoo! Ein chinesischer Drachen von da bis da.« Jenny zeigte die ganze rechte Seite ihres Rückens. »Er soll sich da ganz grazil um meine Kurven winden.«

»Du spinnst«, sagte Mel und schüttelte den Kopf.

»Warum, ist doch sexy. Ich hab letzte Woche eine Frau am Starnberger See gesehen, die war vom Hals bis zum Knöchel mit einer Blumenranke mit Vögeln geschmückt. Die ganze r Seite. Das war total heiß.«

»So was wäre mir viel zu auffällig. Was kleines, vielleicht ein Ring um das Fußgelenk, das wäre schön«, sinnierte Mel.

»Hmm, ist das lecker«, schwärmte Jenny und ich starrte sie verwundert an. Sie nahm gerade einen großen Schluck von ihrer Eisschokolade.

Genüsslich sog ich an meinem Strohhalm und seufzte. »Stimmt. Und wie lange es her ist, dass wir das zum letzten Mal gemeinsam gemacht haben.«

»Stimmt, aber das meinte ich nicht. Ich meinte das.« Jenny nickte zu einem Springbrunnen hinüber, der in der Mitte des Platzes stand, keine fünf Meter von unserem Tisch entfernt. Adrian saß auf dem Rand des Brunnens und beobachtete die vorübergehenden Passanten. In dem Moment, als mein Blick ihn traf, schaute er zu mir. In meinem Magen flatterte es und ich musste an meinen Traum denken und wie sich seine Arme angefühlt hatten. Ob es sich wirklich so gut anfühlen würde, wenn er mich halten würde?

»Du sabberst, Sky!«

»Was?«, sagte ich erschrocken.

»Du sabberst ihn an«, wiederholte Jenny.

»Ist das nicht Adrian?«, wollte Mel wissen und schlürfte an ihrer Schokolade.

»Ihr kennt ihn?«

»Er wohnt in der Marienhöhe.«

Ich musste an meinen Traum denken und die Tatsache, dass er ja eigentlich Anna in den Armen gehalten hatte und nicht mich. Es hatte sich nur so angefühlt, als wäre ich es gewesen. Ein eifersüchtiger Stich durchfuhr mich. Es war nur ein Traum, ermahnte ich mich in Gedanken. Ich blinzelte gegen die Sonne an, die gerade hinter einer Wolke hervorkam. »Ist er schon lange in Linden?«

»Ein paar Wochen, oder?« Mel schaute Jenny fragend an, dann musterten beide Adrian, als würde er ihnen die Antwort liefern. Der hatte sich zwischenzeitlich aber erhoben und entfernte sich von uns, gerade so, als hätte er mich nicht erkannt. Hätte er nicht wenigstens aus der Ferne einmal grüßen können?

»Ja«, bestätigte Mel. Dann grinste sie. »Aber in der kurzen Zeit hat er es zum Dorfgespräch geschafft. Die meisten Mädchen in unserem Alter – und nicht nur die – reden von niemand anderem mehr. Er soll wohl dafür sorgen, dass die Höhe vorgerichtet wird. Vielleicht wird sie verkauft?«

»Wem gehört die Höhe eigentlich?«, fragte ich. »Hat sich da in den letzten Jahren überhaupt mal jemand blicken lassen?«

Mel schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Das ist komisch, findet ihr nicht auch? Wie lange steht sie wohl schon leer?«, überlegte ich laut. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Es freute mich, dass der Verfall des Hauses aufgehalten werden sollte. Aber der Gedanke, dass jemand Fremdes sie vielleicht kaufen könnte, dass jemand dort einziehen könnte, der da nicht hingehörte, machte mich fast rasend vor Wut. Andererseits wohnte Adrian ja auch in der Höhe und bei ihm störte es mich ganz und gar nicht. Im Gegenteil, irgendwie fand ich, dass wenn jemand dort wohnen sollte, dann er.

»Wobei sein Freund, der vor kurzem da war, auch ziemlich heiß ist.« Jenny grinste. Ich hatte wohl einen Teil der Unterhaltung verpasst. »Wir haben die beiden am Ammersee gesehen.«

»Stimmt, aber wie Freunde kamen sie nicht gerade rüber. Die Stimmung schien eher erfroren zu sein.«

Ich schaute Adrian nach, bis ich ihn aus den Augen verloren hatte. Warum hatte er mich nicht einmal kurz angelächelt?

»Sein Freund?«, fragte ich ohne wirkliches Interesse.

»Ja, groß, gut gebaut und geradezu verboten sexy«, hauchte Jenny und Mel rollte die Augen. »Mel hofft jeden Tag, ihn wiederzusehen«, fügte Jenny grinsend hinzu.

»Das stimmt nicht«, gab Mel entrüstet zurück. Ihr Gesicht dagegen überzog sich dunkelrot.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Schwester, die die Romantik zurück in ihr Leben geholt hat.

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