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Silence


1. Kapitel


»Du kannst Gedanken lesen, Lisa. Das ist eine Gabe, kein Fluch«, raunzte mich Kate an.
Meine schlimmsten Sommerferien waren vorbei. Wir trödelten dem ersten Schultag entgegen. Für Kate ein erfreuliches Ereignis, weil Schule für sie hieß, dem langweiligen Kleinstadtleben zu entfliehen und sich wieder auf das Cheerleadern konzentrieren zu können.
Für mich ein Albtraum, weil meine Mitschüler mich mieden wie die Pest. Ich hatte es im letzten Schuljahr an nur einem Tag von der Schulqueen zur Ausgestoßenen geschafft. Was, wenn es nicht so traurig wäre, eine erstaunliche Leistung war. Gestern hieß es noch; Lisa, Kapitän der Cheerleader. Heute; Lisa, die Todesfee, was nur eine etwas nettere Bezeichnung für Mörderin war.
Begonnen hatte mein rapider Abstieg mit der Diagnose Lungenkrebs. Nicht für mich. Für Mariana, unsere Haushälterin und die einzige Person, die wirklich wie eine Mutter für mich war. Meine eigentliche Mutter, eine Karrierefrau, wie sie im Buche steht, war für jeden in Silence da, außer für mich. Denn Familie steht nun mal nicht an erster Stelle auf der To-Do-Liste, wenn man die Frau des Bürgermeisters ist und das auch bleiben will.
Kate – meine beste Freundin – war überzeugt davon, dass ich meine neue Gabe mehr würdigen sollte. Das Einzige, was ich zu würdigen wusste, war Kates neue Garderobe, die sie sich in den Ferien zugelegt hatte. Passend zum Herbst, der langsam Einzug in Silence hielt, trug sie einen langen mokkabraunen Wollrock, der sich eng an ihre schlanke Figur schmiegte, und einen Poncho in ähnlichem Farbton.
»Glaub mir, wenn dein Kopf unfreiwillig zugestopft wäre mit all dem Zeug, das anderen so durch den Schädel geistert, dann würdest du anders denken. Ich werde schon kaum mit meinen Problemen fertig, da brauche ich nicht noch die pubertären Sorgen aller Teens aus Silence.«
Kates Versuche mich aufzubauen, scheiterten an den Nebenwirkungen meiner neuen Gabe – Migräne. Was ich aber eigentlich fürchtete, waren nicht die Sorgen der Teenager, sondern das, was sie über mich denken könnten.
Die Monate nach meinem Zusammenbruch hatte ich in einer psychiatrischen Klinik verbracht. Eine Maßnahme, für die ich meiner Mutter ausnahmsweise einmal dankbar war, bewahrte sie mich doch davor, den Menschen in die Augen blicken zu müssen, die früher einmal meine Freunde waren. Nicht, dass ich es ihnen verübeln könnte, dass sie sich von mir abgewandt hatten. Nein, ich verstand sie sogar sehr gut.
Kates dunkelgrüne, dick mit Kajal umrahmte Augen funkelten mich an. »Du hättest eben auf mich hören sollen. Wenn du öfters mal unter Menschen gegangen wärst, müsstest du es jetzt nicht mit dem Vorschlaghammer lernen. Wahrscheinlich könntest du diese Fähigkeit jetzt schon kontrollieren.«
Kate zupfte ihre Kleidung zurecht und kämmte ihre dunkelbraune Victoria-Beckham-Frisur mit den Fingern durch, bevor sie das Klassenzimmer betrat. »Bereit?«
Den Kommentar auf meiner Zunge schluckte ich hinunter und zog stattdessen eine Grimasse hinter Kates Rücken. Sie hatte recht, das wusste ich. Statt zu versuchen, mit dieser neuen Fähigkeit irgendwie umzugehen, hatte ich es vorgezogen mich in meinem Zimmer zu verbarrikadieren. Nicht zuletzt, um den Kopfschmerzen zu entgehen, die dieser Fluch mit sich brachte. Aber zu allererst, weil ich nicht hören wollte, was die Einwohner von Silence über mich dachten.
Die ersten Stimmen hatte ich auf Mariana Beerdigung gehört. Anfangs war es nur ein leises Flüstern, fast als summe etwas in mir. Ich hatte versucht, dieses Geräusch zu ignorieren. Doch dann wurden die Stimmen deutlicher und das, was sie sagten, verständlicher. Ich konnte hören, wie die Verkäuferin überlegte, was sie am Abend mit ihrem Freund unternehmen könnte, während sie Kate eine Hose heraussuchte. Die Stimmen flüsterten mir zu, was Kate durch den Kopf ging, wenn sie darüber nachsann, wie sie Matt auf sich aufmerksam machen könnte. Oder wenn ich eine neue Jeans anprobierte und sie bemerkte, dass ich etwas dicker geworden war, es aber nicht aussprach.
Erst wagte ich nicht, es ihr zu sagen, weil es einfach zu verrückt war. Ich konnte es selber kaum fassen und war eher bereit zu glauben, dass ich den Verstand verlor – was, wenn man bedenkt, was ich in dem letzten Jahr alles durchmachen musste, nicht verwunderlich gewesen wäre. Doch dann, als es immer deutlicher wurde, dass ich wusste, was sie sagen würde, bevor sie es aussprach, da musste ich es ihr einfach gestehen. Auch auf die Gefahr hin, dass einer der wenigen Menschen in Silence, der überhaupt noch mit mir sprach, sich dann ebenfalls von mir lossagen würde.
Erstaunlicherweise nahm Kate mein Geständnis locker auf. Ich hatte damit gerechnet, sie würde mich für verrückt erklären, schließlich hatte ich vor nicht allzu langer Zeit einige Monate in einer psychiatrischen Klinik in Brevard verbracht. Aber Kate zuckte mit den Schultern und dachte: Das erspart uns die Zettelschreiberei im Unterricht und das Nachsitzen, wenn wir erwischt werden.
»Was habe ich gerade gedacht?«, fragte sie dann und war hocherfreut, als ich ihre Gedanken Wort für Wort wiedergab.
Kate war die Einzige, der ich mein Geheimnis anvertraute. Natürlich hätte ich auch Larissa einweihen können – meine andere Freundin -, aber nachdem ich zum Teil mit schuld daran war, dass auch sie in Brevard gelandet war, beschlossen Kate und ich, dass es besser wäre, Larissa nicht einzuweihen. Larissa war seit einiger Zeit psychisch sehr labil und das Risiko, dass ein solches Geständnis ihr schaden könnte, war einfach zu hoch.
Schon kurz darauf bemerkte ich trotzdem, dass Kate kontrollieren konnte, was ich hören durfte und was nicht. Aber ich sprach sie nicht darauf an, wie sie das machte. Mir war es sogar recht so. Schon die Vorstellung, dass jemand anderer jederzeit in mir lesen konnte wie in einem Buch, war mir unangenehm. Also verstand ich nur zu gut, dass Kate versuchte, wenigstens ein paar Geheimnisse für sich zu behalten.
Ich straffte die Schultern, holte tief Atem und betrat hinter Kate den Klassenraum.
Die meisten Tische hatten schon ihre neuen Besitzer gefunden. Für Kate und mich blieb nur noch ein Platz in zweiter Reihe Mittelgang oder erster Reihe selber Gang. Ich brauchte Kates Gedanken nicht zu lesen, um zu wissen, dass sie die hintere Sitzbank vorzog. Der beste Platz war immer dort, wo man nicht direkt vor der Nase von Mrs. Walsh saß.
»Schon was Interessantes aufgefangen?«, wollte Kate wissen, nachdem sie ihre Hefte und Bücher fein säuberlich auf dem Tisch platziert hatte. Kates Sinn für Ordnung grenzte an Wahnsinn. In ihrem Zimmer besaß jeder Gegenstand einen festen Platz. Larissa und ich hatten uns gerne einen Spaß daraus gemacht, etwas wegzunehmen und es woanders wieder hinzustellen, wenn Kate mal kurz aus dem Zimmer gegangen war. Dann hatten wir gewettet, wie lange es dauern würde, bis es ihr auffiel. Es dauerte selten länger als fünf Atemzüge.
»Warte.« Ich machte eine künstliche Pause und tat, als würde ich den Gedanken unserer Mitschüler lauschen. »Nein«, zischte ich.
Kate ignorierte meine schlechte Laune und musterte die Klasse. Ihr Blick blieb auf Michelle hängen, die einen Platz in der Fensterreihe ergattert hatte. Michelle war meine ewige Konkurrentin und jetzt die neue Queen auf der Silence High. Sie war schon immer scharf auf diesen Job gewesen. Mit der Sache auf ihrer letzten Party hatte ich sie selbst auf den Thron gehoben. Zum Dank achtete sie jetzt darauf, dass ich blieb, wo ich mich derzeit befand.
»Michelle hat vor, dich und Larissa zu ihrer Party einzuladen. Oh, und mich möchte sie gerne persönlich ausladen, um mir ein paar beleidigende Dinge an den Kopf zu werfen«, flüsterte ich Kate zu.
Kate kicherte. Sie warf Matt einen sehnsüchtigen Blick zu, der am Tisch vor Michelle saß und munter mit ihr plauderte. In seinen Gedanken konnte ich lesen, dass er glaubte, er wäre Michelle in den Sommerferien näher gekommen.
Kate kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. »Also hat sie noch immer vor, uns zu entzweien?«, fragte sie mit leicht zittriger Stimme.
Matt so hinter Michelle hinterher winselnd zu sehen, machte meiner Freundin mehr zu schaffen, als mir lieb war. Ich hatte wirklich gehofft, dass sie diese Verliebtheit in den Ferien etwas abgelegt hatte. Schon im letzten Schuljahr litt sie sehr darunter, dass der Junge ihres Herzens sie kaum beachtete. Noch mehr litt sie, als Matt sich ohne zu zögern auf Michelles Seite stellte, nachdem ich den netten Beinamen Todesfee bekommen hatte.
Ich zuckte zur Antwort mit den Schultern und stellte meine Schultasche neben dem Tisch ab. Als ich mich wieder aufrichtete, kollidierte ich fast mit Kirsty.
Ihre rot geränderten Augen bohrten sich in meine. Sie sah müde aus – und schlampig. Aber irgendwie sah sie immer so aus. Kirsty machte sich wenig aus der Meinung anderer. Sie räusperte sich, weil ich noch immer mit meinem Oberkörper im Gang zwischen den Tischreihen ragte und ihr den Weg zum Lehrerpult versperrte. Ich richtete mich auf und starrte auf die grüne Tafel.
Insgeheim zählte ich die Sekunden bis zum Unterrichtsbeginn, denn dann würden zumindest ein paar Stimmen verstummen. Die, die über meine Ohren in meinen Kopf drangen. Das Durcheinander an gesprochenen und gedachten Worten ließ meinen Kopf hämmern und ich rieb mir verzweifelt die Schläfen. Nach einem verstohlenen Blick in Kates Richtung fischte ich eine Packung Tabletten aus der Tasche meiner Jacke, nahm gleich zwei und spülte sie mit einem Schluck aus meiner Wasserflasche hinunter.
Es wunderte mich, dass Michelles Eltern es erlaubten, dass wieder eine Party in ihrem Haus gegeben wurde, nach dem, was ich auf der Letzten verschuldet hatte. Vielleicht hatten sie beschlossen, dass nur Normalität die seelischen Wunden zu heilen vermochte. Vielleicht lagen sie sogar richtig mit dieser Vermutung, nur nicht, was mich betraf. Nicht, weil mich dort sowieso niemand haben wollte, sondern weil ich nicht zulassen würde, dass meine seelischen Wunden heilen würden. Die Schuld, die ich auf mich geladen hatte, war zu schwer, als dass ich irgendwann zulassen konnte, dass ich mir vergab. Selbst wenn meine Mitschüler jemals bereit sein würden zu vergessen, ich würde es nie sein.
Das Thema der ersten Stunde war die Frührenaissance. Für eine amerikanische Highschool legte man auf der Silence High sehr viel Wert auf das Erlernen der europäischen Vergangenheit, da die Geschichte von Silence eng verbunden war mit der Europas. So sagte man zumindest. Aber welche amerikanische Stadt konnte das nicht auch von sich behaupten? Schließlich stammte ein Großteil der amerikanischen Einwanderer aus Europa.
Ich kämpfte mit den verschiedenen Gedankenstimmen, um etwas von dem zu verstehen, was Mrs. Walsh erklärte, gab es aber nach nur wenigen Versuchen auf. Dafür konnte ich feststellen, dass ich nicht mehr Hauptthema meiner Mitschüler war. Hatte das Vergessen so schnell eingesetzt, oder war mein Vergehen nur zu einer Art Hintergrundrauschen verklungen, das im passenden Moment wieder lauter ertönte und die Vergangenheit aufleben ließ?
Die meisten sprachen noch immer nicht mit mir, aber sie dachten auch nicht mehr an die Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass sie nicht mehr mit mir sprachen.
Neues Lieblingsthema in den Köpfen der Mädchen waren zwei überaus gut aussehende neue Schüler.
Neues Lieblingsthema in den Köpfen der Jungen war; herausfinden, welchen Stylingberater die Neuen engagiert hatten.
Selbst hatte ich noch nicht das Vergnügen, die beiden zu sehen, aber wenn ich mich auf das verlassen konnte, was ich in den Köpfen derer lesen konnte, die sie schon getroffen hatten, waren sie es wohl wert, von ihnen zu träumen, statt dem Unterricht zu folgen.
Mrs. Walsh, eine hochgewachsene, kräftige Frau – von den Schülern wurde sie aufgrund des weißen Kittels, den sie immer trug, nur der weiße Riese genannt – ließ einige Fotos durch die Klasse gehen mit Bauwerken der Renaissance; der Dom von Florenz, mit der ersten frei hängenden Kuppel, der Petersdom in Rom und der Dom von Pisa.
Ich nahm die Bilder von Kate entgegen und reichte sie in die Nachbarreihe weiter, ohne einen Blick darauf zu werfen. Wer in Silence lebt, der braucht nur aus dem Fenster zu sehen, um Gebäude sämtlicher europäischer Zeitepochen zu sehen. Dieses ganze Theater, das hier um Europa veranstaltet wurde, war mir ziemlich egal. Ich lebte in North Carolina, was bekanntlich in den USA liegt. Was interessierte mich, was in Übersee los war? Auch Amerika hatte eine nicht zu verachtende Geschichte, die es wert war, erforscht zu werden.
»Florenz ist …« Mrs. Walsh wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Die Stirn gerunzelt wegen der dreisten Störung, öffnete sie die Zimmertür. »Oh, Direktor Snyder. Die zwei neuen Schüler. Hätte ich fast vergessen«, stammelte sie. Verlegen strich sie sich durch das wellige rötlich blonde Haar.
Zwei Jungen mit dunkelbraunen Lederjacken betraten hinter Direktor Snyder das Klassenzimmer. Ich musste meinen Mitschülern zustimmen; die beiden sahen wirklich gut aus, sie hatten eine Ausstrahlung, die jeden im Raum gefangen nahm. Gespräche, die gerade noch geführt wurden, verstummten genauso wie alle anderen Hintergrundgeräusche. Die Aufmerksamkeit galt den Neuankömmlingen, die genauestens gemustert und in Gedanken bewertet und in Schubladen sortiert wurden.
»Das sind Ermano und Giovanni Visconti. Sie gehen seit heute auf diese Schule«, stellte Mr. Snyder die Neuankömmlinge vor.
Er reichte Mrs. Walsh ein paar Unterlagen und watschelte schwerfällig aus dem Raum. Mr. Snyder ließ in mir immer das Bild eines zu dicken Pinguins aufflackern. Er war klein und hatte die körperlichen Attribute eines Hühnereis mit Armen und Beinen.
»Vielleicht mögt ihr kurz etwas über euch erzählen«, forderte Mrs. Walsh die Jungen auf und musterte die Neuen mit der gleichen Neugier wie jeder andere Anwesende im Raum. Sie machte es sich auf dem Rand ihres Schreibtisches bequem und wartete mit schief gelegtem Kopf.
»Ich bin Giovanni«, sagte der etwas Größere von beiden.
Sein glattes, glänzend schwarzes Haar war etwa kinnlang und verdeckte einen Teil seines Gesichtes, was ich wirklich traurig fand, denn soweit ich das sehen konnte, hatte er die dunkelsten Augen, die ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte.
»Das ist mein Bruder Ermano.«
Ermano, der mit dem lockigen Haar, nickte nur. Er machte ein verbissen ernstes Gesicht und schien gar nicht erfreut zu sein. Ganz anders Giovanni, der glücklich strahlend vor der Klasse stand. Im Vergleich zu seinem Bruder machte Ermano einen schüchternen Eindruck. Er war der Typ Junge, den man auf Anhieb als sympathisch und nett einstufen würde.
Giovanni wiederum gehörte zu der Sorte Jungen, die mit einem bloßen Zwinkern einem Mädchen den Kopf verdrehen konnten, ihren Eltern aber wahre Albträume bescherten. Wie ein Rockstar stand er vor dem Lehrerpult, grinste selbstsicher in die Klasse und wirkte dabei noch ziemlich heiß.
»Geboren wurden wir in Venedig, leben aber schon unsere ganze Kindheit in den USA. Mal hier, mal da«, führte Giovanni fort und warf mir einen Blick zu, der mir eine Gänsehaut über den Körper jagte, eine Mischung aus Arroganz und Begehren.
»Danke Giovanni. Ihr könnt euch hier vorn hinsetzen.« Mrs. Walsh wies den Zwillingen den Tisch vor Kate und mir.
Die Brüder folgten der Aufforderung. Und während sie sich setzten, wichen Giovannis Augen keine Sekunde von meinem Gesicht. Kurz blieb er vor mir stehen, strich seine Haare hinter die Ohren und gab wunderschöne, hohe Wangenknochen und Grübchen frei.
Kate stupste mir in den Oberarm und hüstelte. Dein Mund steht offen, dachte sie.
Ich klappte den Mund zu und spürte, wie mein Gesicht heiß wurde.
Giovanni grinste, zwinkerte mir zu und setzte sich auf den Stuhl vor mir.
»Wir waren gerade bei der Frührenaissance«, nahm die Lehrerin das Thema wieder auf und riss mich aus meiner Verblüffung. »Lisa, vielleicht kannst du kurz zusammenfassen, was wir bisher hatten.«
Ich schluckte heftig. Von dem, was Mrs. Walsh vorhin erklärt hatte, hatte ich nicht viel mitbekommen. Ich war damit beschäftigt gewesen, die Gedanken meiner Mitschüler zu belauschen. Seufzend holte ich Luft und stemmte mich schwerfällig von meinem Stuhl hoch. Bereit, mich der Schmach der Unwissenheit hinzugeben.
In meinem Kopf rauschten die Stimmen aller Anwesenden durcheinander; Michelles selbstverliebtes Gackern, Larissas Mitleid und Mrs. Walsh, die sich schon ihre Fragen zurechtlegte. Mühsam schloss ich die Stimmen in meinem Kopf aus, um mich besser konzentrieren zu können. Ich hätte zugeben können, dass ich nicht aufgepasst hatte, aber das wagte ich nicht. Noch mehr negative Aufmerksamkeit konnte ich nicht gebrauchen. Ich stellte mir vor, dass alle außer Mrs. Walsh von einer Ziegelwand umschlossen waren.
Die virtuelle Mauer war eine Sache, die Kate mir beigebracht hatte. Sie hatte mit mir meditiert und mir gezeigt, wie ich diese Mauer in meinem Kopf entstehen lassen konnte. Ich vermutete, dass sie sich so auch davor schützte, dass ich, wann immer ich wollte oder nicht, in ihren Kopf rutschte und dort las. Offenbar war es Kate gelungen, diese Methode zu perfektionieren, denn bei ihr funktionierte sie besser als bei mir. Ich hatte nur für wenige Minuten die Kraft, die Mauer aufrechtzuerhalten, bevor sie zusammenbrach und die Stimmen wieder auf mich einstürmten.
Zum ersten Mal, seit diese Gedankenleserei begonnen hatte, bemerkte ich jetzt, dass es außer Migräne und den Psychosen meiner Mitmenschen auch nützliche Nebenwirkungen gab. Noch während Mrs. Walsh eine Frage auf mich abfeuerte, konnte ich die Antwort darauf in ihrem Kopf lesen.
»Die Frührenaissance folgte auf die Gotik und nahm ihren Anfang wann und wo?«, wollte Mrs. Walsh von mir wissen und dachte: 1420 bis 1500 in Florenz.
»Das war in Florenz. So um 1420 bis 1500«, antwortete ich und grinste erleichtert.
»Was ist Renaissance?«
»Ein Begriff, der das kulturelle Aufleben der griechischen und römischen Antike umschreibt.«
»Du kannst dich wieder setzen, Lisa.«
Mrs. Walsh hüstelte verlegen, steckte ihre Hände in ihre Kitteltaschen und spielte mit etwas, das sich darin befand. Keiner wusste, was ihre Finger immer dann kneteten, wenn sie nervös, verwirrt oder gar wütend war. Aber natürlich gab es Vermutungen; ein Stofftuch, Knete oder sämtliche Kaugummis, die sie den Mündern ihrer Schüler im Laufe der Jahre entwendet hatte.
Ich beschloss, das Rätsel zu entschlüsseln, und tauchte in die Gedanken der Lehrerin ein, weil das ja gerade eben auch so gut funktioniert hatte. Außerdem wollte ich mich gerne auf alles Mögliche konzentrieren, nur um die giftigen Flüche, mit denen Michelle mich gerade gedanklich bedachte, nicht hören zu müssen. Die Neuen waren gerade erst an unserer Schule aufgetaucht und Michelle betrachtete sie schon jetzt als ihren Eigentum. Durfte mich Giovanni nicht einmal anlächeln? Ich widmete mich Augen rollend wieder Mrs. Walsh. Eigentlich war es weniger ein Eintauchen als ein Zuhören, wenn ich in die Köpfe anderer Menschen eindrang. Die Gedanken flogen mir ja die meiste Zeit einfach so zu. Aber wenn ich nur die Stimme einer einzigen Person herausfiltern wollte, musste ich mich auf diese konzentrieren und stellte mir dann vor, wie ich in ihren Kopf glitt. Das fühlte sich dann an, als würde ich mich durch eine wabbelige Masse kämpfen.
Es überraschte mich, dass Mrs. Walsh mir die Antwort auf meine Frage prompt lieferte. Bisher war es so gewesen, dass ich nur die Gedanken hören konnte, die in diesem Augenblick gedacht wurden. Doch ich bezweifelte, dass sie, obwohl sie ja gerade mit dem kleinen Säckchen in ihrer Tasche spielte, auch an dieses dachte. Meiner Meinung – und wahrscheinlich auch der von Freud – nach, ist so etwas eine unbewusste Handlung. Konnte es also sein, dass sie wollte, dass ich es wusste? Nur was war an einem Duftsäckchen mit Kräutern so besonders?
Ich schüttelte den Kopf und verdrängte diese Vermutung gleich wieder. Es wäre doch absurd zu glauben, meine Lehrerin würde auch nur ahnen, welche Fähigkeit ich seit Neuestem besaß. Dafür war diese Gabe einfach zu verrückt.
Giovanni saß noch immer zu mir umgedreht und grinste frech. Ich ignorierte ihn und konzentrierte mich auf das, was Mrs. Walsh sagte. Mit Erfolg, denn Giovanni wandte sich mit einem letzten Zwinkern wieder der grünen Tafel zu, auf der Mrs. Walsh gerade die Hausaufgaben notierte.
Es klingelte und die Mädchen bemühten sich alle, den Raum über die Mittelgänge zu verlassen, um den Neuen so nahe wie möglich zu kommen. Man sind die heiß, dachte Michelle im Vorbeigehen. »Giovanni, warte doch mal kurz!«, schrie sie mit ihrer quietschhohen Stimme, als dieser vor ihr aus dem Zimmer stürmte.
Unwillkürlich musste ich die Augen verdrehen. Es war zu erwarten gewesen, dass Michelle sich bei der erstbesten Gelegenheit auf die Neuzugänge stürzen würde. Die beiden taten mir jetzt schon leid.
Ich hatte keine Lust mir das anzusehen, darum verkrümelte ich mich zu Kunstgeschichte in die entgegengesetzte Richtung.
Die kommende Stunde zog sich wie Gummi. Also beschäftigte ich mich wieder mit den Gedanken meiner Mitleidensgenossen. Niemand war mit seinen Gedanken bei den alten Künstlern Europas. Kate dachte an Matt. Melanie dachte an das Kleid, das sie auf Michelles Party tragen wollte. Und Matt war mit seinen Gedanken bei den Brüdern, weil Michelle nur noch von ihnen schwärmte. Armer Matt.
Matt himmelte Michelle schon an, solange ich ihn kannte. Und ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang. Um genau zu sein; siebzehn Jahre lang. Seit wir im Kindergarten noch Kuchen aus Sand gebacken hatten, war er in Michelle verliebt. Matt würde alles für Michelle tun, nur hatte Michelle kein Interesse daran, dass er etwas für sie tat. Kate dagegen würde alles tun, damit Matt sie beachtete. Doch der war in dieser Hinsicht blind wie ein Maulwurf.
Im Kindergarten und auch auf der Juniorhigh waren Matt, Kate, Michelle und ich einmal die besten Freunde gewesen. Dann kam die Highschool und für Michelle gab es keine Freunde mehr, nur noch Michelle und das Ziel, den Highschool-Thron zu besteigen. Ganz sicher hatte das auch etwas mit dem Streben von Michelles Eltern zu tun, die Führung über die High Society von Silence zu übernehmen.
Die Mittagspause wollte ich gerne irgendwo im Freien verbringen, aber der Himmel hatte sich vorgenommen, mir dieses bisschen Erholung nicht zu gönnen. Das Grau der Wolken glich meiner inneren Verfassung und die Regentropfen waren die Tränen, die ich selbst nicht vergießen konnte. Ich befürchtete, mein Auftauchen in der Cafeteria würde unnötig die Aufmerksamkeit auf mich lenken, und hatte Angst, dem Andrang so vieler Stimmen in meinem Kopf nicht gewachsen zu sein. Aber Kate duldete kein Nein und zog mich unerbittlich auf die Cafeteria zu.
Kate war ständig darauf bedacht, mich dazu anzuhalten, zu lernen mit der Gedankenleserei umzugehen. Manchmal fühlte ich mich dabei, als würde sie mich Beglucken wie eine Henne ihr Küken. Aber ich sagte ihr das nicht, denn im Grunde war ich dankbar für jede Aufmerksamkeit, welcher Art auch immer, die mir zuteilwurde. Und davon bekam ich seit Mariana Tod wirklich nicht viel.
Wie erwartet stürmten zahllose Bilder und Gedanken auf mich ein. Drängten sich in meinen Kopf zu einem Wirbel aus Farben und einem Kanon aus unzähligen Stimmen. Zu meinem Glück konnte ich aus dem heillosen Durcheinander nichts herausfiltern. Zu meinem Pech wurde die betäubende Wirkung meiner Kopfschmerztabletten mit diesem Ansturm nicht fertig. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blieb ich zögernd an der Tür der Cafeteria stehen und wollte gerade die Flucht ergreifen, als Kate vorwurfsvoll mit dem Kopf schüttelte und sich bei mir unterhakte.
»Du schaffst das«, sagte sie aufmunternd und schleppte mich an unseren Stammtisch, an dem Larissa schon wartete.
Die Schulcafeteria war nicht besonders groß, aber das war auch nicht nötig, denn die Silence Highschool verfügte über nur 262 Schüler, die zu unterschiedlichen Zeiten ihre Mittagspause hatten. Die Schüler der oberen Jahrgangsstufen hatten den Speisesaal in drei Bereiche aufgeteilt: den Bereich für die Außenseiter, den Bereich für die Normalos und den Bereich für die Angesagten. Ich saß in Letzterem. Aber nicht weil ich dazugehörte, sondern weil ich zwei Freundinnen hatte, die dazugehörten – Kate und Larissa.
Larissa schwärmte schon die halbe Mittagspause von den Neuen. Ich nickte nur hin und wieder, gab an Stellen, die mir wichtig vorkamen, ein »Hmm« zum Besten, beschäftigte mich aber in Wirklichkeit damit, Larissas Sommersprossen zu zählen. In den Ferien hatten sich noch ein paar mehr auf ihre Nase verirrt. Manchmal war ich fast ein bisschen neidisch auf diese süßen, braunen Flecken, die Larissa so besonders aussehen ließen. Ihr fuchsfarbenes Haar fiel in langen warmen Wellen um ihr herzförmiges Gesicht. Ihre Nase war klein und einfach perfekt. Dazu hatte sie noch zwei wundervoll geschwungene dunkle Augenbrauen und volle Lippen.
Meine Nase war einen Tick zu lang und die Spitze neigte sich etwas nach oben. Fast wie bei einer Skischanze. Meine Augenbrauen waren etwas zu voll – da nutzte auch alles zupfen nichts. Ich hielt noch nie viel davon, meine Brauen zu zupfen, bis nur noch ein schmaler, kaum sichtbarer Strich aus einzelnen Haaren zurückblieb, aber jedem das Seine.
»Hallo ihr zwei!« Das war Michelle und sie steuerte den freien Platz an unserem Tisch an. Kurz blieb sie stehen, um uns einen respektvollen Blick auf ihre neuen Klamotten zu gestatten; ein kurzer Faltenrock im Schulmädchenlook, der gerade so bis über ihre Pobacken reichte, und eine weiße Bluse mit Spitzenkragen. Ihre dünnen rötlichen Haare hatte sie zu zwei langen Zöpfen geflochten, die wie Rattenschwänze bis auf ihre Brust fielen. Ich mühte mich mit einem Lächeln ab und ignorierte ihre Stimme in meinem Kopf, die schrie: Nun sagt schon, dass ich toll aussehe.
Statt ihr diesen Gefallen zu tun, knabberte ich an einer Fritte herum und warf meine frisch gefärbten, kastanienfarbenen Locken schwungvoll zurück über die Schultern. Da Michelle in früheren Zeiten einmal zu meinem Hofstaat gehörte (eigentlich hasse ich diese Bezeichnung, aber es ist nun mal so, dass ich einmal die Stellung genoss, die jetzt Michelle besetzte), wusste ich, dass sie ihre dünnen, fransigen Haare hasste und sie Larissa und mich um unsere warmen Wellen beneidete. Es war mir also eine Genugtuung, das kurze Aufblitzen in Michelles Augen zu beobachten, als sie registrierte, wie sich meine Haare weich auf meinem Rücken ausbreiteten.
Michelle rückte ihren Stuhl zurecht und achtete peinlich genau darauf, ihre Beine seitlich am Tisch vorbei auszurichten, so dass jeder der zufällig vorbeikommen würde, in den Genuss käme, einen Blick auf diese werfen zu können.
»Ich hab mich vorhin mit Giovanni unterhalten. Gott ist der toll. Wie er da an seinem Spind lehnte. Und diese Lederjacken, die die beiden tragen. Die müssen von einem italienischen Designer sein.« Michelle richtete ihre Worte gezielt nur an Kate und Larissa. Genau wie bei ihrer Begrüßung »Hallo ihr zwei«, war ich auch jetzt nicht vorhanden für sie.
Klar, dachte Kate. Die können sie auf keinen Fall irgendwo in North Carolina gekauft haben.
Ich verschluckte mich an meinem O-Saft bei dem Versuch, ein Lachen zu unterdrücken.
»Jedenfalls, Giovanni will auf meine Party kommen, die ich immer am ersten Wochenende im neuen Schuljahr gebe. Ihr kommt doch auch?« Michelle warf mir einen kurzen Seitenblick zu und ihre Augen sprühten Funken.
Für mich galt diese Einladung nicht. Wenn Kellys Tod nicht so tragisch wäre, könnte man den Eindruck gewinnen, Michelle genoss es, dass mir ein solcher Fehler unterlaufen war. Aber da Kelly ihre beste Freundin gewesen war, hatte sie natürlich alles Recht der Welt, mich abgrundtief zu hassen. Und weil ich wusste, dass ich all diesen Hass verdient hatte, konnte ich ihr eigentlich gar nicht wirklich böse sein.
Du kommst doch mit?, dachte Kate gerade.
Trotzig schob ich meine Lippen vor und schüttelte zaghaft den Kopf. Schon die Vorstellung allein war ein Albtraum. Dort hin zu gehen, hieße, mein Schicksal geradezu herauszufordern. Mich in die Höhle des Löwen zu begeben. Und davon abgesehen, wer war schon so beschränkt, auf eine Party zu gehen, wo neunzig Prozent aller Gäste dich für eine Irre hielten?
Stell dich nicht so an, schimpfte Kate in meinem Kopf. Die Sache war nicht deine Schuld. Mach den Anfang, und gib ihnen eine Chance zu vergessen.
Ich senkte den Blick auf mein Tablett. Vergessen? Wie sollte man so etwas vergessen können? Kates ständige Versuche, mich wieder unter Gleichaltrige zu schleifen, waren nervenaufreibend. Ich wünschte, sie würde endlich aufgeben. Selbst, wenn sie es schaffte, mich wieder zu integrieren, meine Schuldgefühle würde sie niemals ausschalten können. Mein vorsichtiges Augenrollen sollte ihr verdeutlichen, dass ich nicht bereit war, über diesen Aspekt meines Lebens zu verhandeln.
Auf dem Weg von der Cafeteria zum Chemiesaal stolperte ich fast über die Zwillinge, die im Flur vor den Spinden standen und eine angeregte Diskussion zu führen schienen. Als ich mich ihnen näherte, verstummten beide plötzlich und warfen mir merkwürdige Blicke zu.
Um Haltung bemüht, lief ich an ihnen vorbei, bog um die Ecke und ließ mich gegen einen Spind fallen. So wie es aussah, hatten auch die Zwillinge schon von mir gehört. Einige tiefe Atemzüge lang genoss ich die Ruhe im leeren Korridor, dann stieß ich mich vom Schrank ab und ging auf meinen Spind zu, um meine Bücher zu holen. Ich fingerte ein wenig an dem Schloss herum, bis es endlich klickte und die Tür sich öffnen ließ. Mit zusammengekniffenen Lippen kramte ich mein Chemiebuch aus meinem Spind und versuchte, meine Gedanken darauf zu richten, wie gut Larissa heute aussah. Keine Spur von labil oder den anderen Problemen, die sie immer mit sich herumwälzte. Es schien ganz so, als würde sich ihre Therapie endlich bemerkbar machen.
»Hallo! Ich bin Giovanni«, ertönte es in meinem Rücken.
Erschrocken drehte ich mich um.
Der größere Zwilling grinste mich an.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Du musst nicht zufällig auch zu Chemie?«
»Zufällig muss ich das«, murmelte ich etwas ungehalten.
»Dann könntest du mir ja zeigen, wo ich hin muss.«
Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich in Richtung Chemiesaal und erwähnte nicht das Schild mit dem Pfeil, auf dem Chemie 104 stand, das deutlich sichtbar neben uns an der Wand hing. Ohne Zweifel hatte Giovanni es auch nicht übersehen.
»Du sprichst nicht viel«, stellte Giovanni nach wenigen Schritten fest.
»Nicht, wenn es nichts zu sagen gibt.«
Ich lief stur weiter, die Augen nach vorne gerichtet, und gab mir Mühe, Giovanni zu zeigen, wie wenig ich an einem Gespräch interessiert war.
»Du könntest mir ja deinen Namen verraten«, sagte Giovanni und nahm mir meine Bücher ab.
Murrend klaubte ich meine Sachen wieder aus Giovannis Armen, der mich trotzdem weiter angrinste, als wäre ich nicht vollkommen unfreundlich zu ihm. »Lisa«, antwortete ich knapp und beschleunigte meinen Schritt etwas, um Giovanni hinter mir zu lassen.
Im Klassenraum angekommen, suchte ich mir einen Platz in der letzten Reihe. Ein Vorteil, den man hat, wenn alle anderen noch beim Mittag sind. Giovanni hätte die gleiche Auswahl gehabt. Vielleicht irgendwo auf der anderen Seite des Raumes, aber er zog den Sitzplatz neben mir vor.
»Was ist der Grund für die miese Laune?«
»Wie kommst du da drauf?«, fragte ich und starrte an die Tafel.
»Nur so ein Gefühl. Es liegt doch nicht an mir?«
»Migräne.« Ich tat beschäftigt und blätterte in meinem Buch. Es freute mich zwar irgendwie, dass Giovanni sich mit mir unterhielt – und vielleicht hatten die mürrischen Blicke der Beiden vorhin nichts mit mir zu tun gehabt -, aber ich war mir sicher, früher oder später würden sie doch erfahren, warum keiner auf der Schule etwas mit mir zu tun haben wollte. Warum sollte ich mir also erst die Mühe machen, mit jemandem Freundschaft zu schließen, wenn der sich sowieso bald von mir abwenden würde.
Giovanni schwieg, stützte seinen Kopf auf einer Hand auf und beobachtete mich. Ich wagte es, ihn kurz von der Seite zu mustern. Sein Pony hing ihm wieder über die Augen. Trotzdem konnte ich sehen, dass diese fast schwarz waren. Die Iris war fast so dunkel wie die Pupille. Sein Gesicht war kantig, fast markant. Über seiner linken Augenbraue entdeckte ich eine winzige Narbe, die ein wenig blasser war als sein Teint, der an sich für einen Italiener schon blass war.
Er trug ein enges Baumwollshirt unter seiner Lederjacke, die er vorhin auch im Unterricht nicht ausgezogen hatte, und das wohl auch jetzt nicht vorhatte. Er hatte eine enge Jeans an, unter deren Stoff sich deutlich muskulöse Oberschenkel abzeichneten.
Giovanni hüstelte und erst jetzt bemerkte ich, meine kurze Musterung war deutlich länger als geplant ausgefallen. Verlegen wandte ich mich wieder meinem Buch zu und versteckte die Hitze in meinem Gesicht hinter meinen Haaren.
Nach und nach trudelten auch die anderen Mitschüler ein. Amüsiert stellte ich fest, dass an unseren Nachbartischen nur Mädchen Platz genommen hatten. Rechts von Giovanni saß Michelle. Kaum hatte sie sich häuslich eingerichtet, versuchte sie, Giovanni in ein Gespräch zu ziehen. Ich nahm das gleichgültig zur Kenntnis.
Mr. Tanner, ein großer breitschultriger Mann, der gut der Vater der Zwillinge hätte sein können, begrüßte uns mit einer kurzen Rede im neuen Schuljahr. Danach folgte die alljährliche Sicherheitsbelehrung zum Umgang mit gefährlichen Stoffen.
Ich schielte zu Michelle rüber, die sich übertrieben interessiert gab. Sie hatte sogar ihr Buch zwischen sich und Giovanni geschoben, so dass beide es nutzen konnten. Natürlich musste sie zu diesem Zweck näher an Giovanni heranrücken.
Ein Zettel wurde in mein Blickfeld geschoben. Als ich nicht gleich reagierte, hüstelte Giovanni leise.
Gespielt genervt griff ich nach dem Schreiben. Mir wäre es lieber gewesen, wenn du dein Buch mit mir geteilt hättest, stand darauf.
Schockiert schnappte ich nach Luft und hörte Giovanni leise kichern. Erst wollte ich nicht darauf antworten, doch dann überlegte ich es mir anders: Du müsstest gar nicht in ein Buch schauen, denn die Belehrung steht da nirgends drin. Ich schob den Zettel rüber und grinste frech.
Erwischt.
Mr. Tanner frischte unsere Erinnerungen auf, indem er quer durch die Klasse das Periodensystem abfragte. Als Giovanni an die Reihe kam, leierte er alle Elemente herunter, die noch nicht abgefragt wurden.
Angeber, dachte ich.

Impressum

Texte: Savannah Davis
Bildmaterialien: Elke Sawistowski / pixelio.de Chaoss / Fotolia.de Design: Nicole Döhling, F. Riedel
Lektorat: Savannah Davis
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

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