Prolog
Es ist Mittag, als das Dröhnen eines Motors ihr Kommen ankündigt. Die Sonne steht hoch im Zenit und brennt auf unsere Kolonie herunter. Mutter jätet in ihrem kleinen Garten das Kräuterbeet. Kräuter, für die sie manchmal Mehl, Eier oder Reis eintauscht. Sie hat Geschick im Umgang mit Pflanzen. In der ganzen Kolonie gibt es niemanden sonst, der so saftig grüne Minze, Petersilie oder Kresse besitzt. Bald sind auch die Kerne der Sonnenblumen wieder soweit, die eine Art Zaun zu den Nachbarhütten bilden. Und an den Johannisbeersträuchern reifen die roten und schwarzen Beeren schon. Ich lecke mir über die Lippen und stelle mir den Geschmack von Mutters Marmelade auf meiner Zunge vor; süß, fruchtig und schmackhaft wie der Sommer selbst. Manchmal träume ich, unser Garten wäre so groß wie fünf Hütten, dann könnten wir den Sommer über genug anpflanzen, um auch im Winter damit handeln zu können. Aber das Stückchen Garten, das jede Hütte umgibt, ist gerade einmal zwei Schritte breit. Nicht genug Platz für noch mehr Pflanzen und Kräuter.
Die Hupe reißt mich aus meinen Gedanken. Ich greife nach Kaylas Hand und laufe mit meiner Schwester im Schlepptau zum Versammlungsplatz. Der vom Sommerregen aufgeweichte Boden drückt sich zwischen meine Fußzehen und macht schmatzende Geräusche. Ich liebe dieses Gefühl. Der Matsch ist warm und geschmeidig, und umspielt meine Sohlen. Kayla kichert und springt von Pfütze zu Pfütze. Auch sie ist Barfuß. Im Sommer tragen die meisten von uns keine Schuhe, um sie für den Winter zu schonen.
Wir schlängeln uns zwischen den eng nebeneinanderstehenden Holzhütten hindurch, die in sieben nach außen hin immer größer werdenden Kreisen, um den Versammlungsplatz angeordnet sind. Eine Hütte sieht wie die andere aus. Nur anhand der Schäden kann man sie unterscheiden; kaputte Türen, herabhängende Fensterläden, Löcher in den Wänden, ein undichtes Dach. Manches Heim hat von seinen Bewohnern etwas Individuelles bekommen; einen Blumentopf neben der Tür, ein Gemälde an der Wand, dessen Farben längst verblasst sind, den Namen der Familie über der Eingangstür. Doch für alle Wohnhütten gilt dasselbe; sie befinden sich in einem jämmerlichen Zustand, denn es fehlt uns an Werkzeugen und Materialien, um sie instand halten zu können. Besonders groß sind sie auch nicht. Sie bieten kaum genug Platz für zwei Betten. Mutter kocht auf dem Herd, der uns mit seinem Feuer im Sommer aus der Hütte vertreibt und im Winter wärmt. Ein paar von ihnen sind mittlerweile unbewohnbar, ihre Dächer eingestürzt oder abgebrannt. Sie dienen den wenigen Hühnern der Kolonie als Heim oder den Einwohnern als Feuerholz. An die Wohnheime schließen sich im Norden die Felder an und im Süden ein kleines Stück Wald in das sich schon lange kein Wild mehr verirrt hat.
Kolonisten, die Hühner besitzen gelten als wohlhabend. Ihre Besitzer stehen unter dem Schutz des Oberaufsehers. Eier sind ein wertvolles Tauschgut. Wie auch alles, was man von den Lieferungen, die in unregelmäßigen Abständen die Kolonie erreichen, bekommen kann.
Man muss zuerst auf dem Versammlungslatz sein, um gute Nahrungsmittel und vielleicht Kleidung, zu ergattern. Die Laster kommen immer seltener. Nahrung, Garderobe und auch sonst alles, was man zum Leben nötig hat, wird knapp. Jeder Tag ist ein Kampf um das eigene Überleben.
Wir schaffen es noch vor allen anderen. Ich bin erleichtert und stelle mich mit Kayla so, dass wir die hintere Öffnung des Gefährts im Blick haben und wir von den Leibsklaven gut gesehen werden, wenn sie die ersten Bewohner zu den Waren rufen. Das Ungetüm steht in der Mitte der ebenen Fläche. Viele Füße haben die Erde im Laufe der Jahre festgetreten. So entstand ein Platz auf dem wir nicht nur zusammengetrieben werden, wenn unsere Besatzer kommen, sondern auch, wenn die Aufseher jemanden bestrafen müssen oder wir das alljährliche Sommerfest feiern.
Die Ladefläche des Lasters steht offen. Ich sehe in das gähnende Dunkel und kann deutlich erkennen, dass es nichts als Leere gibt. Hoffnungslos lasse ich die Schultern nach unten sacken. Wir werden weiter mit dem Wenigen zurechtkommen müssen, das Mutters Garten für uns bereithält. Es wird keine Säcke mit Reis, Mehl oder Hafer geben.
Einer von ihnen steht vor der heruntergeklappten Rampe, in der Hand einen Lichtspeer. Um den Platz herum stehen noch fünf weitere, auch sie sind bewaffnet. Nicht, dass es jemand von uns wagen würde, sich ihnen zu widersetzen. Ich habe einmal gesehen, wie einer von ihnen einen Speer auf einen Jungen abgefeuert hat, der kaum acht Sommer alt war. Der kleine Körper ist innerhalb eines Wimpernschlags in Asche verwandelt worden.
Auch die anderen Bewohner der Kolonie kommen jetzt auf den Platz – wenn die Hupe ertönt, muss jeder erscheinen, Zuwiderhandlung wird mit dem Tod bestraft. Unsere Besatzer sind streng. Man sagt, sie könnten nicht fühlen. Wie kann ein Lebewesen nicht fühlen? Ich kann es mir nicht erklären. Muss man nicht hassen, um eine ganze Welt auszulöschen? Muss man nicht hassen, um Milliarden Menschen zu töten?
Mutter bleibt neben mir stehen. Sie trägt noch immer das schmutzige Leinenhemd, das sie für die Gartenarbeit anzieht, damit sie ihre Alltagskleidung nicht beschädigen muss. Kleidung ist Mangelware in unserer Welt und wird meistens von einem zum anderen weitervererbt. Meine löchrigen Hosen haben mit Sicherheit mehr Vorbesitzer, als ich Sommer zähle.
Der Tesar beim Laster zerrt einen Mann aus dem Inneren des Laderaums. An den Pfeilspitzen, die man ihm auf der Stirn eingebrannt hat, erkennt man, dass er ein Leibsklave ist. Die Narben erheben sich als weiße, unregelmäßige Wülste auf seiner Haut, die Spitzen der Pfeile zeigen auf die Nasenwurzel. Leibsklaven leben in der Stadt der Tesare oder haben in den Kolonien die Aufsicht. Der Mann trägt ordentliche Kleidung und sieht wohlgenährt aus. Aber Marco, unser Ältester, ist früher ein Leibsklave gewesen. Von ihm weiß ich, dass die Aliens ihre Menschen grauenvoll misshandeln. Sie ernähren sie nur gut, um sie widerstandsfähiger zu machen. Der Tesar hebt einen Ausleser über seinen Kopf und macht glucksende Geräusche.
»Wir brauchen neun«, übersetzt der Sklave.
Ein Raunen geht durch die Ansammlung Kolonisten. Schon wieder holen sie jemanden fort. Auf das Raunen folgt drückende Stille. Die Angst ist fast greifbar. Niemand weiß, was es bedeutet, geholt zu werden. Wir wissen nur, wer geholt wird, kommt selten zurück.
»Sie wollen neun«, flüstere ich Kayla zu und schlinge meine Finger um ihr Handgelenk. Sie hebt den Kopf und schaut mich aus dunkelgrünen Augen fragend an. Ihr ist noch weniger bewusst als mir, was das zu bedeuten hat. Kaum jemand weiß, was mit den Menschen passiert, die sie mitnehmen. Wir wissen nur, sie gehen für immer.
Ich bin zehn Sommer älter als Kayla. Mit sieben Sommern wird sie das Ausmaß kaum einschätzen können. Wird sie kaum begreifen, was es bedeutet, wenn jemand, den sie kennt, nie wiederkommen wird. Ich kann es, ich war alt genug, als Vater von uns gegangen ist.
Einer von ihnen schiebt sich durch die Menge. Ich habe keine Probleme, ihm mit den Augen zu folgen. Sie sind größer als wir. Sein Kopf überragt die Bewohner von Kolonie D. Er hat einen Ausleser bei sich, den er hier und da einem von uns an den Arm drückt, genau über die Stelle, wo der Chip mit unseren Daten sitzt. Er scheint nach keinem Muster vorzugehen, die Menschen, die er zum Gefährt schickt, könnten nicht unterschiedlicher sein. Da ist die alte Maja, die schon mindestens fünfundvierzig Sommer gelebt hat. Der Bruder meiner Freundin Kati, nur einen Sommer älter als meine Siebzehn. Und Jona, der in seiner Hütte Katzen züchtet, die er gegen gute Ware tauscht.
Bei uns hat es noch nie Katze zu Essen gegeben, weil wir nie genug zusammenbekommen haben, um Jona zufriedenzustellen. Mutter hat erzählt, früher wären Katzen in den Straßen herumgelaufen, man hätte sie jederzeit fangen können. Früher hätte man sie auch noch nicht gegessen, sondern wie ein Familienmitglied im Haus gehalten. Ich kann es mir kaum vorstellen, in einer Katze etwas anderes, als Nahrung zu sehen. Den anderen in der Kolonie geht es wohl genauso, weswegen es keine Katzen mehr in den Straßen gibt, hat Mutter gesagt. Wie es auch sonst keine Tiere mehr in der Kolonie gibt – nur gut bewachte Hühner. Aber keiner würde es wagen, ein Huhn zu stehlen. Stehlen wird mit dem Tod bestraft.
Ein Kloß kriecht meine Kehle hinauf, als sich der Tesar in unsere Richtung bewegt. Meine Mutter schiebt mich hinter sich und ich nehme Kayla in meinen Rücken. Sie drückt ihr Gesicht in meine Hüfte und wimmert leise. Ich kann noch andere Kinder wimmern hören. Viele der ganz Kleinen haben noch nie einen Tesar zu Gesicht bekommen. Sie kommen nicht oft persönlich her. Die meiste Zeit, haben wir nur mit ihren Sklaven zu tun.
Der Außerirdische kommt näher, sein dunkelgrünes, schuppiges Gesicht starr, vollkommen reglos. Die großen Löcher, die bei ihm da sitzen, wo unsere Nase mit der Stirn verschmilzt, blähen sich auf. Tesare haben keine Lippen, nur einen Schlitz, da wo der Mund ist. Vielleicht sieht man sie deshalb nie lächeln, weil das ohne Lippen nicht geht. Sein ganzer Körper ist mit grün, blau und braun schimmernden Schuppen überzogen, die im Sonnenlicht blitzen.
Er bleibt vor meiner Mutter stehen, mit einer wortlosen Geste fordert er sie dazu auf, ihm den Arm hinzustrecken. Ich halte die Luft an, wage nicht zu atmen. In meiner Brust klopft mein Herz heftig gegen die Rippen. Ich schiele vorsichtig um meine Mutter herum, kann sehen, wie der Chip unter ihrer Haut rot aufleuchtet, als der Ausleser ihn scannt. Meine Finger krallen sich in ihr grobes. Geh weiter, flehe ich in Gedanken. Geh einfach weiter! Kayla drückt ihre Fingernägel in meine Unterarme. Sie ist still geworden. Nur an ihrem zuckenden Körper, der sich nahe an mich drängt, merke ich, dass sie noch immer weint. Sie hat Angst, ein Geräusch von sich zu geben.
Mit seinen schwarzen runden Augen schaut der Tesar mich an. Seine Nasenlöcher öffnen und schließen sich, als schnüffle er nach meinem Geruch. Ich schlucke, löse die Umklammerung meiner Hand von Mutters Arm und halte dem Alien meinen Chip zum Scannen hin. Ich mache die Augen zu, zähle in Gedanken; eins, zwei, drei. Als nichts passiert, hebe ich vorsichtig die Lider. Der Tesar steht noch immer vor mir, schaut mich aus seinen großen leeren Augen an. Augen, die bis in den letzten Winkel finster wie die Nacht sind.
Seine Finger legen sich in meine Haare, ziehen und zerren mich von meiner Mutter weg. Kayla hängt noch immer an meinen Armen. Mit Gewalt stoße ich sie von mir. Wenn er mich haben will, dann soll er nur mich bekommen. Kayla strauchelt, fällt, aber darauf kann ich keine Rücksicht mehr nehmen. Ich konzentriere mich nur, nicht zu stolpern und den Unmut des Wächters zu wecken.
Meine Mutter klammert sich an mich und schreit. »Nicht meine Tochter! Nicht Brenna!« Sie taumelt, stürzt auf die Knie und umklammert meine Beine.
Ich will auch schreien, kann es aber nicht. Die Panik hat meine Stimme geschluckt. Um den Schmerz in meiner Kopfhaut zu verringern, greife ich in mein Haar. Ich möchte die Fingernägel in die ledrige Schuppenhaut des Tesars treiben, aber ich wage es nicht. Ich mache mich schlaff, wehre mich nicht. Ich war noch nie besonders mutig, wenn die außerirdischen Besatzer in der Nähe waren. Es gibt kaum jemanden in der Kolonie, der sie nicht fürchtet.
Der Außerirdische stößt mich plötzlich weg. Ich lande vor den Füßen eines Mannes, der keine Anstalten macht, mir zu helfen. Ich verstehe warum, er will die Aufmerksamkeit des Wächters nicht auf sich ziehen. Mit der Hand reibe ich über meinen Kopf, um den Schmerz zu vertreiben. Noch bevor ich wieder auf meinen Füßen stehe, schnappt sich der Tesar meine Mutter und stößt sie in Richtung des Lasters.
Kayla scheint ihre Angst, vergessen zu haben. Sie schreit aus vollem Hals nach unserer Mutter. Ich kann sie gerade noch zurückhalten, als sie nach vorne stürzen will. Der Wächter am Laster hebt schon seine Waffe und zielt auf meine Schwester. Ich zerre sie zurück in die Menge, wo sie außer Sicht des Aliens ist. Kayla kämpft gegen meine Umklammerung an, sie strampelt und schreit immer weiter. Es ist mir fast unmöglich, sie festzuhalten. Keuchend versuche ich, meine Arme um ihren Oberkörper zu schlingen. Luca, ein Junge in meinem Alter, hilft mir. Gemeinsam schaffen wir es, meine Schwester zu fixieren. Meine Mutter nickt mir zu. Sie blickt mich direkt an, formt mit ihren Lippen meinen Namen.
Ich weiß, was sie mir sagen will. Sie will sagen: »Pass gut auf deine Schwester auf. Sie ist noch so klein. Du musst jetzt erwachsen sein. Sieh nicht zurück. Ich vertraue dir.«
Am liebsten würde ich zu ihr rüber brüllen: »Das kann ich nicht. Verlang das nicht von mir. Wie soll ich auf Kayla aufpassen?« Ich bin wütend auf Mutter. Wie kann sie einfach gehen? Warum lässt sie uns allein? Ich möchte sie hassen, sie bestrafen, obwohl ich weiß, sie kann nichts dafür. Was könnte sie denn schon ausrichten gegen die Speere der Tesare?
Mein Herz hämmert in meiner Brust, klopft gegen das Band aus Panik an, das sich um meinen Oberkörper geschlungen hat. Ich kann kaum atmen, aber ich versuche, mich zusammenzureißen – für Mutter, für Kayla. Ich hole tief Luft und wage es nicht, meinen Blick von ihrem Gesicht zu nehmen. Ich weiß, ich werde sie niemals wiedersehen.
Ich strenge mich an, mir jede Einzelheit einzuprägen. Die Farbe ihres Haares; rotbraun wie der lehmige Boden am östlichen Rand der Kolonie, nur wenig dunkler als mein eigenes. Mutter hat ihre Haare schon immer lang getragen, bis auf die Schultern. Meine sind kurz, im Nacken abgeraspelt mit Vaters stumpfer Schere. Das macht weniger Arbeit. Ihre dunkelgrünen Augen, in der Farbe des Karam, das wir für die Tesare anbauen. Kayla sagt, meine hätten die gleiche Farbe. Ich weiß es nicht, ich habe mich noch nie gesehen. Nur manchmal eine verzerrte Spiegelung im Metall unseres Kochtopfes oder im Fenster beim Oberaufseher. Das Haus des Oberaufsehers ist das einzige in der ganzen Kolonie aus Stein, mit richtigen Glasfenstern.
Ich kann es kaum ertragen, unsere Mutter dort stehen zu sehen, zusammen mit den anderen Kolonisten, die die Aliens ausgewählt haben. Die meisten von ihnen kenne ich gut. Unsere Kolonie ist nicht besonders groß. Ich will nicht glauben, dass ich niemanden von ihnen mehr wiedersehen soll. Was soll nur ohne Mutter aus uns werden? Wer soll sich um uns kümmern? Ich kann nicht mal mich versorgen, wie soll ich mich da um meine Schwester kümmern?
Ich möchte die vielen ängstlichen Gedanken aus meinem Kopf vertreiben, damit ich mich nur auf Mutter konzentrieren kann. Damit ich die letzten Augenblicke, in denen unsere Leben noch miteinander verbunden sind, tief in mich aufsaugen kann. Ich will jedes Lächeln sehen, jedes Zwinkern, jede Bewegung ihrer Haare, wenn der Wind sich in ihnen verfängt. Aber die Gedanken wollen nicht weichen. Sie hämmern auf meinen Schädel ein, weil ich weiß; ich werde mich niemals so gut um Kayla kümmern können, wie sie es getan hat. Ich werde versagen.
Mit dem Handrücken wische ich über meine feuchte Wange, dann schlucke ich den Kloß im Hals herunter. Das letzte, was Mutter jetzt sehen sollte, ist die Verzweiflung in meinem Gesicht. Also straffe ich die Schultern und ziehe meine Schwester näher an mich.
Kayla ist ganz ruhig geworden. Sie starrt jetzt auch zum Gefährt hin. Ihre kleinen Finger umschließen meine. Sie zittern. Meine Mutter wirft ihr einen Handkuss zu. Sie möchte tapfer auf uns wirken, will, dass wir glauben, es würde ihr gut gehen. Aber ich kann es in ihren Augen sehen; nichts ist gut. Ich kann ihre Lippen beben sehen; nichts ist gut! Ich kann das Wissen in ihrem Gesicht sehen; es wird nie wieder gut.
Die Wächter verlassen ihre Posten. Sie stoßen ihre Gefangenen auf die Ladefläche, steigen dann selber hinterher. Einen letzten Blick werfe ich auf Mutters rostbraunes Haar, ihre ausgemergelte Figur, ihr sanftes, freundliches Lächeln. Sie winkt, als sie davonfahren, dann wird die Plane heruntergelassen. Mutter ist aus unserem Leben verschwunden.
1. Kapitel
Sieben Vollmonde ist es jetzt her seit Mutter geholt wurde. Sieben Monate, in denen ich uns nur geradeso am Leben gehalten habe. Kayla, meine kleine Schwester, sieht schlecht aus. Ihre Wangenknochen sind hervorgetreten, unter ihren moosgrünen Augen sind die Schatten noch dunkler geworden. Mit der Schere kann ich nicht so gut umgehen wie Mutter, weswegen Kaylas rötliche Haare schartig und fransig in alle Richtungen abstehen. Ihr Leinenhemd ist zerrissen, ihre Hose an den Knien durchgescheuert.
Mutters Garten hat uns gut über den Sommer gebracht, aber im Winter fiel es uns schon immer schwer, genug zum Tauschen zu finden. Bisher war das auch nicht so nötig, wie in diesem Winter. Die Tesare haben so gut wie keine Nahrungsmittel geliefert. Das Lager des Oberaufsehers ist fast leer. Es ist nichts da, das er uns geben könnte. Nichts, womit er den Bewohnern von Kolonie D helfen könnte. Noch nie war die Stimmung innerhalb der Kolonie so schlecht. Noch nie standen wir uns feindlich gesinnt gegenüber. Aber der Hunger treibt uns an, und es ist die Tage gefährlich, anderen zu begegnen. Besonders seit erste Kolonisten am Hunger gestorben sind. Innerhalb unserer kleinen Welt geht das Gerücht um, dass die Außerirdischen das Interesse an uns verloren haben. Vielleicht brauchen sie uns nicht mehr. Das hätte fatale Folgen, weil niemand von uns die Kolonie verlassen kann. Wir sind hier eingesperrt, auf das Wenige, das die Tesare uns bereit sind zu geben, angewiesen.
Ich ziehe Kayla noch näher an meinen Körper heran, weil ihre Lippen vor Kälte beben. Das Feuer im kleinen Ofen schafft es nicht den Frost, der durch die Lücken zwischen den Holzbrettern ins Innere der Hütte dringt, zu vertreiben. Draußen tobt der Wind und bläst Schneeflocken durch die Ritzen. Sie tanzen im Schein der alten Öllampe und sind geschmolzen, bevor sie den Dielenboden erreichen. Es kann unmöglich noch lange dauern, bis der Winter vorbei ist. Er muss einfach bald vorbei sein. Im Frühling kehren die Vögel zurück. In ihren Nestern werden Eier liegen. In Mutters Beeten werden Kräuter und Beeren wachsen. Aber jetzt im Winter, wo soll ich zu Essen finden für Kayla?
Aus meiner Hosentasche ziehe ich einen Haferkeks. Ich lege ihn ihr in die kleine Hand. Karla hat ihn mir gegeben, im Tausch für Mutters Sommerkleid. Es wäre mehr wert gewesen, wenn ich es fertiggebracht hätte, das Loch auf der Schulter zu flicken. Aber immer wenn Mutter mir das Nähen beibringen wollte, habe ich abgewinkt und gesagt, dass ich noch jede Menge Zeit haben würde, um es zu lernen. Mutter hat dann immer gelächelt und gemurmelt: »Du denkst nie an morgen, Brenna.«
Und ich habe gesagt: »Doch, morgen ist auch noch ein Tag.«
Es gab kein Morgen mehr. Da war so viel, was Mutter mir hätte beibringen müssen; wie versorge ich ihren Garten? Wie koche ich eine nahrhafte Suppe aus dem wenigen, was die Tesare uns zur Verfügung stellen? Wie kümmere ich mich gut um meine Schwester?
Wenn ich das kleine knochige Bündel in meinen Armen spüre, treibt es mir die Tränen in die Augen. Wenn ich keinen Weg finde, uns Essen zu besorgen, wird Kayla den Winter nicht überleben. Sie wäre nicht das erste Kind, das in diesen Tagen stirbt. Der kleine Sohn der Feldarbeiterin Mara ist vor fünf Tagen gegangen. Ich habe gesehen, wie sie ihn hinaus an die Grenze getragen haben. Dann haben sie ein Feuer gemacht. Der Gestank von brennendem Fleisch steckt mir noch immer in der Nase. Der Rauch hat sich über die Kolonie gelegt, wie eine unheilvolle schwarze Decke.
Niemand hier weiß, warum sie uns keine Nahrung mehr bringen. Warum sie mehr als vierhundert Menschen hungern lassen. Vor drei Monaten kam die letzte Lieferung mit Mehl, Reis und einigen Medikamenten. Restbestände aus einer Welt, die ich nur aus Geschichten kenne. Eine Welt, die seit fünfundsiebzig Jahren nicht mehr existiert. Was, wenn die Tesare gar nicht mehr kommen? Ich mag nicht daran denken, was das bedeuten würde. Eingesperrt innerhalb der Lichtgrenzen, keine Möglichkeit, zu entkommen.
Es gab eine Zeit, selbst ich habe sie noch miterlebt, da haben wir zusammengehalten, uns gegenseitig gestützt. Da war einer für den anderen da. Damals schon waren Güter knapp, aber keiner musste befürchten, zu verhungern. Mutter hat gesagt, wenn es um das eigene Überleben geht, kennt der Mensch keine Freunde. Es stimmt, alle Katzen aus Jonas Hütte sind tot. Die Kolonisten haben sie eingefangen, sobald sie sich aus Jonas Heim befreit hatten. Nun wird es für niemanden mehr Katzen zu Essen geben – nie wieder. Erst jetzt wird mir klar, wie schlau es von Jona war, immer nur so viele Katzen fortzugeben, wie er entbehren konnte, ohne befürchten zu müssen, dass er keine mehr nachzüchten könnte.
Plünderei und Diebstahl werden mit dem Tod bestraft. Da der alte Jona jedoch nicht wiederkommen wird, war es keine Straftat, sich zu nehmen, was er nicht mehr braucht. Also hat der Oberaufseher nicht eingreifen müssen. Die Oberaufseher bürgen mit ihrem eigenen Leben dafür, dass alles in der Kolonie so läuft, wie es die Tesare wünschen.
Als ich jünger war, habe ich einmal gesehen, wie einer von ihnen bestraft wurde, weil er einen Aufstand in der Kolonie nicht hatte verhindern können. Ein Tesar hat ihn vor allen Einwohnern auf dem Versammlungsplatz ausgepeitscht. Danach hat man ihn an ein Holzkreuz geschlagen und hängen lassen, bis er tot war. Unser Ältester hat damals gesagt, sie verhöhnen uns. »An`s Kreuz geschlagen wie der Heiland.«
Ich weiß nicht, wer der Heiland war, aber die Älteren, die haben genickt.
Kayla ist in meinen Armen eingeschlafen. Vorsichtig schiebe ich mich unter ihr hervor, hebe sie auf und trage sie in unser gemeinsames Bett. Mutters Bett habe ich zerlegt. Es war aus Holz und hat uns in diesem Winter einige Stunden Wärme geschenkt. Ihre Matratze habe ich getauscht. Von Mutters Besitz ist kaum noch etwas da. Nur das kleine Kästchen, in dem sie eine Strähne von Vaters hellrotem Haar aufbewahrt hat, habe ich nicht anrühren können. Sie hat es ihm damals abgeschnitten, als er mit Lungenentzündung im Bett lag. Wenige Stunden, bevor der Tod ihn sich geholt hat. Ich kuschele mich an Kayla und beobachte, wie das Feuer im Ofen langsam erlischt.
Am Morgen sage ich Kayla, dass sie die Hütte nicht verlassen soll. Ich habe Angst um sie. In den letzten Tagen hat es häufiger Unruhen in der Kolonie gegeben. Die schlechte Stimmung ist fast greifbar. Es fühlt sich an, als würde die Luft knistern. Nicht mehr lange, dann können auch die Waffen der Aufseher den Menschen hier nicht mehr genug Furcht einflößen. Die Angst vor dem Hungertod wird sie zu Dingen treiben, die sie eigentlich nicht tun wollen. Bevor ich hinausgehe, bete ich zu Mutter, sie möge dafür sorgen, dass die Tesare Nahrungsmittel schicken. Seit Mutter fort ist, spreche ich oft zu ihr. Ich weiß, sie hört mich, sie ist immer bei uns. Ich kann ihre Nähe spüren. Da ist manchmal dieses Gefühl von Wärme und der Duft ihrer Haare, der durch unsere Hütte weht. Das Wissen, dass sie da ist, gibt mir wieder Kraft.
In der Nacht sind die Wege gefroren. Der Frost beißt mir in Wangen und Nase. Die Ärmel meines Baumwollpullovers ziehe ich über die Finger, um die eisige Luft fernzuhalten. Ich rutsche ein paar Mal aus und lande auf meinem Hintern. Meine Schuhe, mit ihren abgelaufenen glatten Sohlen, sind nicht für den Winter geeignet, aber andere habe ich nicht.
Die meisten Einwohner schlafen noch. Ich will so früh wie möglich an der Grenze sein. In unserem Teil des Waldes, dem Stück, das innerhalb des Lichtzauns liegt, gibt es schon lange keine Tiere mehr. Sie wurden gejagt, als Nahrung immer seltener wurde. Manchmal haben wir Glück und ein Tier hat versucht, von draußen hereinzukommen. Sie sehen den Lichtzaun nicht. Wir können ihn auch nicht sehen. Er ist eine unsichtbare Energiebarriere, die uns innerhalb der Kolonie einschließt. Wir wissen nur, dass er da ist. Wenn ein Tier versucht hat, die Grenze zu überschreiten, dann liegen seine verkohlten Überreste nahe am Zaun. Liegen sie auf unserer Seite, dann hat man mit etwas Glück, für ein paar Tage Fleisch. Nur die großen Tiere verbrennen nicht vollständig im Zaun. Ein Vogel geht sofort in Flammen auf und es bleibt nichts zurück.
Es ist gefährlich, sich in der Nähe des Zauns aufzuhalten. Was man nicht sieht, kann man schlecht meiden. Aber um im hohen Schnee etwas zu finden, muss man so nahe wie möglich an den Energiezaun heran. Ich taste mich vorsichtig vorwärts. Im Dunkeln kann ich Unebenheiten nicht gut sehen. Ich habe Angst, zu stolpern und durch die Energiewand zu stürzen. Unterwegs habe ich eine Handvoll Steine in meinen Eimer gesammelt. Die werfe ich alle paar Schritte in den Zaun. Wenn etwas die Lichtfelder berührt, leuchten sie kurz auf. Die Steine helfen mir nicht nur einzuschätzen, wo die Grenze sich befindet, sie erhellen auch den Weg vor mir.
Ich habe den Wald fast zur Hälfte umrundet, als ich einen dunklen Schatten im Schnee hocken sehe. Jemand ist vor mir hier. Ob er etwas gefunden hat? Ich hoffe, wer auch immer da hockt, ist bereit zu teilen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nähern soll. In diesen Tagen könnte jeder Gefahr bedeuten, der befürchtet, man wolle ihm von dem Wenigen, was es gibt, etwas nehmen. Ich schlucke schwer und zögere, bevor ich mich langsam nähere. Ich bin enttäuscht, weil jemand vor mir hier ist, aber vielleicht habe ich Glück. Einige Kolonisten haben Mitleid mit Elternlosen. So nennen sie hier die Kinder, deren Mütter und Väter tot oder geholt worden sind. Aber auf dieses Mitleid können wir immer seltener hoffen. Nicht in diesen Zeiten.
Die Gestalt wendet sich zu mir um, als der Schnee unter meinen Füßen knarrt. Ich bleibe stehen, werfe einen Stein. Der Zaun blitzt auf und taucht die Gestalt in Licht. Es ist Luca, der Junge, der mir geholfen hat, Kayla festzuhalten, als sie Mutter geholt haben. Seither haben wir manchmal ein paar Worte gewechselt. Es scheint fast so, als habe er das Gefühl, er habe jetzt, da er Kayla vor dem Tod gerettet hat, die Verantwortung für sie. Jedenfalls fragt er ständig, wie es ihr geht. Manchmal gibt er mir einen Brocken Trockenfleisch, einen Keks oder gar ein Ei für sie mit. Vielleicht ist seine Sorge gut für uns. Trotzdem bleibe ich vorsichtig. Niemand kann Luca richtig einschätzen. Er ist ein Einzelgänger, hält sich von uns anderen die meiste Zeit fern, seit er in die Kolonie gebracht worden ist.
»Hallo Brenna«, sagt er leise.
Ich nicke ihm zu und versuche, um ihn herum zu sehen. Hinter ihm ist ein schwarzes Loch im Schnee. Dort muss etwas sein. Etwas ist so heiß gewesen, dass der Schnee an der Stelle geschmolzen ist. Für einen Moment schließe ich vor Erleichterung die Augen. Jetzt muss ich Luca nur noch überzeugen, mit mir zu teilen. Langsam gehe ich näher. Luca erhebt sich. Will er mich aufhalten?
»Hast du etwas gefunden?«, frage ich und versuche gleichgültig zu klingen. Ich will nicht, dass er merkt, wie sehr ich hoffe, dass er mit mir teilen wird. Wenn ich zu sehr dränge, macht er vielleicht gleich dicht und ich verspiele meine einzige Chance auf Fleisch.
Luca blickt auf den Boden hinter sich, dann wieder zu mir. Auch er ist ein Elternloser, aber weil er nicht von hier ist, schenkt man ihm nicht das gleiche Mitgefühl wie uns anderen, was bedeutet, dass er noch mehr hungern muss als wir anderen. Trotzdem teilt er manchmal mit Kayla.
Er fährt sich mit der Hand durch sein Haar. In der Dunkelheit sieht es schwarz aus, aber ich weiß, dass es dunkelbraun ist, weil ich ihn manchmal heimlich aus der Ferne beobachtet habe. »Ja, ein junges Reh.«
Ein Reh! Ein Reh ist genug, um zu teilen. Mein Herz schlägt schneller aus Vorfreude. Doch dann dämpft ein Gedanke meine Hoffnung. Es ist Winter. In der kalten Jahreszeit verdirbt das Fleisch nicht so schnell. Er könnte es gut über Tage hinweg aufbewahren. Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne. »Reicht es für uns beide?«, frage ich vorsichtig.
Luca senkt den Blick auf seine Füße. Er schüttelt den Kopf. Ich habe fast damit gerechnet, trotzdem war meine Hoffnung groß. Er wirkt meistens abweisend, spricht selten mit jemand aus der Kolonie, aber ich habe schon beobachtet, dass er den kleineren Essen gegeben hat, wenn er geglaubt hat, dass keiner hinsieht.
Er hat meine Hoffnung zertreten. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Kayla, sie muss etwas essen! Mutter wird enttäuscht von mir sein. Ich bin verantwortlich für sie. Nur ich kann verhindern, dass meine Schwester verhungert. Nur wie soll ich sie schützen, wenn es doch nirgends Nahrung gibt. Was, wenn Mutter zurückkehrt und ich habe versagt? Meine Knie geben unter mir nach und ich sacke zu Boden. Aber er hat recht, wir kennen uns doch gar nicht. Warum sollte es ihn interessieren, ob ich zu essen habe? Aber ich könnte ihn wenigstens um etwas Fleisch für Kayla bitten.
Tränen laufen mir heiß über die Wangen und werden an der kalten Luft sofort zu eisigen Bahnen in meinem Gesicht. »Bitte, nur etwas für Kayla. Sie hat seit Tagen nichts mehr gegessen«, flehe ich ihn an.
Eigentlich weine ich nicht, ganz besonders nicht vor anderen Menschen. Diese Schwäche erlaube ich mir nicht oft. Schwächen können wir uns nicht leisten. Das sage ich auch Kayla immer. Es ist gut, wenn jeder denkt, du wärst hart. Das verleiht ihnen Respekt vor dir. Das hält sie davon ab, dich zu verletzen. Aber jetzt laufen Tränen über mein Gesicht, weil ich Angst um Kayla habe. Gerade interessiert es mich nicht einmal, dass ich hier vor einem Jungen stehe, den ich kaum kenne, und heule. Kayla ist mir wichtiger als mein Stolz. Soll er doch sehen, dass ich nicht so hart bin wie ich gerne tue.
»Es tut mir leid«, sagt Luca. Seine Stimme ist so fest, ich möchte am liebsten Schreien. Hat er kein bisschen Mitgefühl? Ich schaue zu ihm auf. In der Dämmerung, die langsam hereinbricht, kann ich sehen, wie seine Wange zuckt. Er scheint nervös. Ich werde wütend und ringe mir ein bitteres Lächeln ab. Langsam stehe ich auf und gehe ein paar Schritte rückwärts. Er soll nicht denken, ich hätte vor, ihn anzugreifen. Aber er soll wissen, dass Kayla verhungern wird, wenn er nicht teilt.
»Kayla geht es nicht gut«, sage ich deshalb, während ich weiter rückwärtsgehe.
Plötzlich macht er einen Schritt zur Seite. »Es ist kein Reh«, sagt er. »Ich will nicht, dass du mich hasst, weil du denkst, ich würde nicht mit dir teilen wollen.«
Ich runzle die Stirn und trete wieder näher an die dunkle Stelle im Schnee heran. Erst kann ich kaum erkennen, was da vor mir liegt. Doch dann sehe ich die Umrisse des Körpers; Arme, Beine, verbrannte Kleidung. Mit einem Keuchen weiche ich zurück. Ich drücke mir die Hand auf die Nase. Erst jetzt wird mir der Geruch von verbranntem Fleisch richtig bewusst. Verbranntes Fleisch, das nicht einem Tier gehört.
»Tut mir leid. Es ist ein Kind. Es muss gestern Abend hergekommen sein. Der Hunger hat es genauso wie uns hergetrieben.«
Die Leiche ist nicht größer als Kayla. Die Haut im Gesicht hängt in verkohlten Fetzen herunter. Die Augenhöhlen starren mich leer an. Ich habe noch nie etwas so Grauenhaftes gesehen. Angewidert wende ich das Gesicht ab. Stolpernd bewege ich mich weiter rückwärts, weg von dem, was da im Schnee liegt. Dann drehe ich mich um und renne. Für heute habe ich genug.
Ohne anzuhalten laufe ich auf das Haus des Oberaufsehers zu. Der Metalleimer, den Mutter immer für die Gartenarbeit benutzt hat, schlägt bei jedem Schritt gegen mein Bein. Ich ignoriere den Schmerz. Das Haus des Aufsehers steht auf der anderen Seite der Kolonie, nahe bei den Karamfeldern. Die Sonne ist mittlerweile vollständig aufgegangen. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen. In den letzten Tagen war es klirrend kalt. Viel wärmer wird es heute auch nicht werden, aber schön genug, um mit Kayla etwas im Wald zu spielen. Wer weiß, vielleicht finden wir ja doch irgendetwas Essbares. Hoffnung habe ich keine.
Vor den großen Eisentoren des Lagers hat sich schon eine Menschenschlange gebildet. Jeden Morgen öffnet der Aufseher die schweren Tore, die das Lager vor Eindringlingen schützen sollen. Mehrere Männer sind nötig, um die rostigen Türen aufzustemmen. Sie machen dabei ein kreischendes Geräusch, als würden sie dagegen protestieren wollen, dass das Lager seiner kleinen Schätze beraubt werden soll. Ich stelle mir oft vor, dass das hohe Kreischen in Wirklichkeit ein Ruf wie die Hupe der Laster ist.
Ich schließe mich der Reihe wartender Menschen an, um unsere tägliche Ration an Kohle und Holz, für den kleinen Ofen in unserer Hütte abzuholen. Jedes Jahr kurz bevor der Winter beginnt, bringen Leibsklaven mehrere Laster mit Brennstoffen, damit wir im Winter nicht erfrieren. Auch dieses Jahr sind die kohlebeladenen Fahrzeuge gekommen. Keiner hat mit ihnen gerechnet, da die Nahrungsmittellieferungen so selten geworden sind. Aber sie sind gekommen. Haben die Ladeflächen auf dem Versammlungsplatz entleert und dann dabei geholfen, alles in das Lagerhaus zu bringen.
Lilly steht vor mir. Eins der Mädchen, das diesen Sommer volljährig geworden ist. Die Eltern versuchen ihre Kinder sobald sie achtzehn Sommer alt werden, zu verheiraten. So müssen sie sich um einen Esser weniger sorgen. Lilly hat einen fast zehn Sommer älteren Mann bekommen. Wen wir heiraten entscheiden die Tesare anhand unserer Chip-Daten. Nächstes Jahr werde auch ich heiraten müssen. Die meisten Mädchen freuen sich auf dieses Ereignis, weil es bedeutet, dass sie eine eigene Hütte bekommen werden. Ich habe Angst davor, mein Leben mit einem mir fremden Mann zu teilen. Und ich habe schon eine eigene Hütte – mit Kayla zusammen. Ich hoffe, ich darf Kayla bei mir behalten, wenn es soweit ist. Aber diese Entscheidung trifft der Mann, den die Aliens für mich auswählen. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn er meine Schwester nicht akzeptiert. Dann müsste ich sie zurücklassen. Kayla ist noch viel zu jung, um allein in einer Hütte für sich zu sorgen. Ich wische den Gedanken weg, erst mal gibt es wichtigere Lasten.
Die Reihe vor mir wird schnell kleiner. Jeder bekommt einen Eimer voll Braunkohle und Holz, das muss bis zum nächsten Tag reichen. Als ich dran bin, reiche ich dem Oberaufseher meinen Metalleimer. Ich lächle den Mann an, der nicht viel älter ist, als unser Vater als er starb – etwa fünfunddreißig Sommer. Ich mag den neuen Aufseher. Er ist nicht so aufbrausend und streng wie der andere. Er nimmt meinen Eimer, lächelt zurück und reicht ihn weiter an einen seiner Hilfsaufseher. Dieser befüllt ihn mit Kohlen und gibt ihn wieder an den Oberaufseher. Mit den Augen verfolge ich den Weg von Mutters Eimer.
»Du bist die Tochter von Zara«, sagt er und reicht mir unsere Kohlenration. Er legt ein paar Scheite Holz oben drauf. Seine Stimme ist rau. Sie passt zu seiner breiten Statue und dem markanten Gesicht. Er ist unverheiratet, weil seine Frau im letzten Sommer im Krankenbett starb. Gut möglich, dass er mein Mann wird. Bei dem Gedanken mustere ich ihn genauer. Er hat dunkelbraunes Haar, eine Narbe zieht sich von seiner rechten Augenbraue über die Wange bis hinunter zum Mundwinkel. Sie würde mich nicht stören. Für Kayla und mich wäre es ein Geschenk, wenn es so kommen würde. Wir könnten in dem Steinhaus leben. Und bestimmt müssten wir nicht mehr Hungern. Die Aufseher bekommen mehr Nahrungsrationen, genug also für drei Esser.
»Ja«, sage ich knapp und lächle noch einmal. Es kann nicht schaden, es zu versuchen. Vielleicht darf er als Oberaufseher sich seine Frau selbst aussuchen.
Er nickt. »Hier«, brummt er und drückt mir zwei Streifen Trockenfleisch in die Hand. »Heute bekommt jeder noch etwas davon.« Dann zögert er, nickt dem Mann hinter sich zu und dieser greift in eins der erschreckend leeren Regale an der Wand, auf denen früher Lebensmittel aus den Lieferungen standen. Der Mann gibt dem Oberaufseher einen kleinen Leinensack, gerade so groß wie Kaylas Faust.
»Etwas Reis. Geht sorgsam damit um.«
Ich greife hastig nach dem Beutelchen. Reis, denke ich aufgeregt. Zumindest hat uns mein Annäherungsversuch einen Beutel Reis eingebracht. »Danke.«
Kayla
Brenna ist heute Morgen früh gegangen. Kayla weiß, sie wird an die Grenze gehen und nach Tierkadavern suchen. Ihr Magen krampft bei dem Gedanken an Essen zusammen. Aber Kayla kann sich nicht darüber freuen, dass ihre Schwester sich in Gefahr begibt. Was, wenn Brenna etwas passiert? Dann wird sie ganz allein zurückbleiben. Das hat sie auch Brenna gesagt, bevor diese gegangen ist. Aber Brenna hat nur abgewunken und gelacht.
»Papperlapapp, was soll mir denn schon passieren? Ich pass schon auf mich auf. Aber wer weiß, heute Nacht war es stürmisch da draußen, vielleicht hat sich ja ein Wildhund verirrt. Du weißt schon, eins von diesen großen, dunklen Viechern.« Sie hat gelacht, ihre Hände seitlich an ihren Kopf gelegt und mit den Fingern gewedelt, als würden die Ohren des Hundes im Wind flattern. Das hatten sie vor ein paar Jahren mal draußen bei den Karamfeldern beobachten können. Ein Hund, größer als Kayla selbst, war nahe des Lichtzauns gestanden und hatte seinerseits die beiden Schwestern beobachtet. Es war ein stürmischer Herbsttag und der Wind war ihm durch sein Fell gefahren und hatte an seinen langen, herabhängenden Ohren gezerrt.
Brenna lief vornübergebeugt durch die kleine Hütte, die Holzbretter knarrten unter ihren Füßen, und machte knurrende Geräusche – genau wie der Wildhund damals. Dann lachte Brenna und strich Kayla über den Kopf.
Kayla hat natürlich genau gewusst, dass Brennas Lachen nicht echt war. Sie hat genauso wenig Lust, sich in Gefahr zu begeben wie Kayla. »Du weißt schon, dass die Hunde viel zu schlau sind, um sich der Grenze zu nähern. Mama hat immer gesagt, dass diese Kerle die Grenze irgendwie erahnen können«, hat Kayla ihre Schwester belehrt. Doch die wollte der jüngeren nicht zuhören. Ob sie überhaupt verstand, dass die Kleinere einfach nur Angst hat?
Kayla sitzt seit Brenna fortgegangen ist auf dem Bettrand und schaukelt unruhig mit ihren Beinen. Wenigstens hat sie schon ein Feuer im Ofen gemacht, um sich abzulenken. Wenn sie nichts zu tun hat, kommen nur wieder diese trübsinnigen Gedanken, die sich immer mehr und mehr in panische verwandeln. Sie hasst es, dass sie Brenna so wenig helfen kann, und dass sie gar nicht weiß, ob sie noch wohl auf ist. Kayla knabbert auf ihrer Unterlippe. Ihre große Schwester gibt sich wirklich Mühe, aber sie kann es nicht ändern, dass die Tesare keine Lebensmittel mehr bringen. Und sie kann Mutter nicht ersetzen, auch wenn sie das noch so sehr versucht.
Kayla will gar nicht, dass ihre Schwester Mutter ersetzt, denn sie will ihre Mutter nie vergessen. Sie will nicht, dass ihr Gesicht aus ihrem Gedächtnis verlischt, wie die wenigen Erinnerungen an Zara aus der Hütte verschwunden sind. Sie will nicht vergessen, wie es war von Mutter im Arm gehalten zu werden, wie ihr Haar geduftet hat – nach Frühling und Sonne. Kayla kann sich schon an Vater nicht mehr erinnern. Sie ist viel zu klein gewesen, nur vier Sommer, als er gestorben ist. Da ist nichts mehr in ihrem Kopf; nicht seine Haarfarbe, nicht sein Geruch, nicht seine Stimme. Manchmal träumt sie von ihm, aber immer ist sein Gesicht ein leerer, blasser Fleck.
Seufzend blickt sie zu der kahlen Stelle hinüber, an der Zaras Bett gestanden hat. Sie denkt daran, wie schön es sich angefühlt hat, wenn sie nahe an Mutter gekuschelt eingeschlafen ist. Jetzt schläft sie in Brennas Armen. Sie liebt Brenna, aber es ist nicht dasselbe. Trotzdem fürchtet sie sich davor, dass ihre Schwester nicht wieder zurückkommt. Sie hat Angst, was dann aus ihr werden würde. Sie mag nicht allein zurückbleiben.
Seit Mutter fort ist, ist Brenna ihr einziger Halt. Die Beziehung der beiden Schwestern ist viel enger geworden. Früher haben sie sich oft gestritten, jetzt tun sie das nicht mehr. Nur manchmal mag Kayla nicht auf Brenna hören. Dann, wenn sie ihrer Wut auf Mutter irgendwie Luft machen muss. Dann lässt sie ihre schlechte Laune an Brenna aus. Aber es tut ihr fast sofort wieder leid, weil sie spürt, dass ihre Schwester dann traurig ist. Kayla weiß, dass ihre Schwester glaubt, sie wäre nicht gut genug für sie. Aber das stimmt nicht. Sie ist mindestens so gut wie Mutter, nur eben anders. Brenna kann nichts dafür, dass die Zeiten härter geworden sind.
Trotzig hüpft Kayla vom Bettrand und geht auf den Ofen zu. »Du bist weg!«, ruft sie wütend in die Stille. »Aber Brenna ist da. Und du wirst sie mir zurückschicken, hast du gehört!« Sie wischt sich die Tränen vom Gesicht. Sie will nicht, dass Brenna sieht, dass sie geweint hat, wenn sie nach Hause kommt. Brenna kümmert sich gut um sie. Sie kann vielleicht keine Zöpfe machen, und kochen kann sie auch nicht so gut, aber das ist egal. Die Hauptsache, sie ist da. Anders als Mutter. Kayla fühlt sich von Mutter im Stich gelassen. Sie weiß, Zara hat sie nicht freiwillig verlassen, aber das ändert nichts daran, dass sie nicht mehr da ist.
Kaylas Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Sie ballt die Hände zu Fäusten. Die Monster sind schuld. Sie haben ihr alles genommen; Mutter, Vater und ein Leben in Freiheit. Sie wird nicht zulassen, dass sie ihr auch noch Brenna nehmen. Entschlossen dreht sie sich zur Tür um. Sie wird ihrer Schwester folgen und ihr bei der Nahrungssuche helfen. Sie müssen jetzt gegenseitig füreinander da sein. Kayla kann nicht länger zulassen, dass Brenna sie wie ein kleines Kind behandelt. Sie ist kein kleines Kind. Sie kann genauso anpacken. Nur gemeinsam können sie es schaffen, zu überleben. Mutter hat doch immer gesagt, sie wäre viel reifer und mutiger als ihre große Schwester. Kayla wird sich nicht länger in der Hütte verstecken. Außerdem vertraut sie ihrer Schwester. Sie weiß, Brenna würde sie vor allen Gefahren beschützen. Mit festen Schritten nähert sie sich dem Ausgang und legt ihre kleine Hand auf die Türklinke.
Sie stößt die Tür auf, blinzelt gegen die grelle Wintersonne an und schluchzt erleichtert auf. Brenna läuft direkt auf sie zu. Mutters Eimer ist bis zum Rand mit Kohlen und Holz gefüllt, also ist ihre Schwester schon beim Lager gewesen. Und sie lächelt. »Heute gibt es Reissuppe.«
Ja, denkt Kayla. Sie kann Brenna vertrauen. Brenna wird sie beide über den Winter bringen, aber nicht mehr allein. Sie wird ihr dabei zur Seite stehen.
2. Kapitel
Die Hupe ertönt, als ich gerade die letzten getrockneten Kräuter in den Topf mit heißem Wasser werfe. Ich gebe ein paar Stückchen von dem Trockenfleisch bei, das mir der Oberaufseher am Morgen gegeben hat. Wenigstens wird es heute etwas mehr als nur Kräuter in unserer Suppe geben. Vaters Haarsträhne hängt jetzt von der Decke über unserem Bett. Ich habe das Kästchen gegen zwei Eier eingetauscht. Die schlage ich auch noch schnell in die Suppe. Ich selber werde nur wenig für mich nehmen. Diese Suppe soll für Kayla sein, sie soll meiner Schwester wieder etwas Farbe in ihr hübsches Gesicht zaubern. Ich weiß, dass sie unter Hungerkrämpfen leidet. Ich habe gesehen, wie sie immer wieder heimlich eine Hand auf ihren Bauch gelegt und das Gesicht verzogen hat. Ich selbst leide auch unter Krämpfen. Aber mir macht es weniger aus. Doch Kayla befindet sich noch im Wachstum. Sie braucht einfach mehr Nährstoffe für ihren Körper als ich.
Kayla liegt unter Vaters Haarsträhne und pustet sie an, sodass sie sich hin und her wiegt. Ich nehme den Topf vom Ofen, ziehe sie auf die Füße und drücke ihr das Fleisch in die Hand. Das Essen müssen wir auf später verschieben. Sehr schade, denn die Suppe riecht wirklich köstlich. Im Laufe der letzten Monate habe ich dazugelernt. Meine ersten Kochversuche waren grauenvoll, um nicht zu sagen, ungenießbar. Aber Kayla hat alles ohne Murren gegessen. Vielleicht war es gut, dass sie anfangs so sehr unter Schock gestanden hat, weil Mutter nicht mehr bei uns war, dass sie gar nicht viel von dem mitbekommen hat, was um sie herum geschehen ist – auch nicht die schrecklich schmeckende Marmelade oder das schwarz verbrannte Fladenbrot.
Nur für alle Fälle richte ich ein paar Worte an meine Schwester: »Wenn sie mich mitnehmen, iss jeden Tag ein kleines Stück.« Ich habe kaum Hoffnung, dass sie dieses Mal wegen Nahrungsmitteln oder Medikamenten gekommen sind. Ich breche etwas von einem der Trockenfleischstreifen ab, das so groß ist wie Kaylas Daumen, zeige es ihr und werfe es in die Suppe. »So, nicht mehr, dann kommst du ein paar Tage hin. Es wird der Suppe zusätzlich Geschmack geben.«
Kayla schaut mich schockiert an, wirft sich in meine Arme und weint. »Lass mich nicht alleine. Ich will nicht allein zurückbleiben.« Ich bin überrascht von diesem plötzlichen Gefühlsausbruch. Meine Schwester ist still geworden, seit Mutter weg ist. Sie spricht kaum noch, sitzt die meiste Zeit auf dem Bett und starrt vor sich hin. Früher ist sie ein fröhliches Kind gewesen; immer in Bewegung, ständig kichernd, ununterbrochen schwatzend. Sie hat es geliebt, Mutter im Garten zu helfen und mit mir zu streiten. Aber in den letzten Monaten hat sie sich verändert. Sie ist ernst geworden, depressiv und erschreckend erwachsen. Ständig versucht sie mir zu helfen. Sie hat sich sogar das Nähen zeigen lassen von unserer Nachbarin, damit sie die Arbeiten erledigen kann, die ich nicht fertigbringe. Seit ein paar Tagen spielt sie nicht einmal mehr mit ihren Freunden, sondern hilft mir lieber bei der Nahrungsbeschaffung. Ich mache mir Sorgen um sie. Es darf einfach nicht geschehen, dass sie mich auch noch mitnehmen. Das würde Kayla nicht verkraften. Ihr Herz ist jetzt schon zerbrochen.
»Das wird nicht passieren. Ich verspreche es. Wir werden nicht getrennt«, versuche ich sie zu beruhigen, obwohl ich weiß, dass ich nichts dagegen machen könnte, wenn sie mich auswählen. Dann muss Kayla sich allein durchkämpfen. Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter bei der Vorstellung. »Wir müssen los.«
Kayla wischt sich die Tränen von den Wangen, fährt mit dem Arm über ihre winzige Stupsnase und steckt das Trockenfleisch in die Tasche ihres Kleides.
Auf dem Versammlungsplatz ist es schon voll. Der Übersetzer steht auf der Ladefläche des Monstrums. Es ist derselbe Laster, der auch Mutter geholt hat. Das erkenne ich an der Beule, die sich vorne in die bullige Schnauze des Ungetüms drückt. Es sieht aus als wäre er aus einem Zweikampf nur knapp entkommen. Auch der Übersetzer ist derselbe. Bei den Tesaren kann ich das nicht sagen. Die sehen alle gleich aus – zumindest für mich. Aber ich kann ohnehin nur das Auto sehen, da Kayla und ich irgendwo in der Mitte der Menschenansammlung eingepfercht sind und die Tesare sich immer um uns herum platzieren.
Die Ladefläche ist wieder leer. Auch heute wird es keine Lebensmittel geben, das entnehme ich dem unruhigen Gemurmel um uns herum. Ich bin gar nicht so enttäuscht, wie ich es sein sollte. Wahrscheinlich, weil ich schon damit gerechnet habe.
»Stellt euch in zwei Reihen auf«, ruft der Übersetzer laut genug, damit es alle hören können. »Die Kinder auf die rechte Seite des Platzes, die Erwachsenen, Babys und Kleinkinder nach links.« Er zeigt mit der Hand in die ungefähre Richtung.
Der Tesar neben ihm gluckst etwas. Wenn sie sprechen, klingt es, als würde man seinen Kopf unter Wasser halten, und versuchen zu singen.
»Nur die Kinder zwischen sieben und siebzehn«, sagt der Übersetzer. Seine Stimme zittert, als würde es ihm schwerfallen, uns zu sagen, was die Tesare verlangen. Vermutlich kennt er ihre Pläne. Mit Sicherheit ist es besser für uns, es nicht zu wissen. Es gibt Gerüchte, dass die Tesare Menschen in den alten Städten freilassen und sie dann jagen wie Wildtiere.
Ich schlucke einen Kloß runter, um mich herum blicke ich nur in ratlose Gesichter. Niemand scheint zu verstehen, was hier passiert. Noch niemals haben die Tesare die Kinder von den Eltern getrennt. Alle flüstern durcheinander. Kinder schreien, umklammern ihre Mütter und Väter. Mütter fallen vor ihren Kindern auf die Knie und halten sie fest. Alle scheinen verzweifelt. Die Panik greift um sich. Ich kann die Gefahr, die von der Unruhe in der Kolonie ausgeht spüren. Gleich werden die Tesare anfangen, wahllos zu töten. Ungehorsam dulden sie nie. Ich lege Kayla eine Hand auf die Schulter und drücke sie sanft. Das Wissen, dass sie bei mir ist, gibt mir Kraft. Wir müssen die Gruppe der Kinder erreichen, bevor die Wächter ihre Speere benutzen.
»Vielleicht eine Zählung«, sagt jemand hinter mir.
»Nein, sie haben alles, was sie brauchen«, sagt ein anderer und tippt auf die Stelle am Unterarm, wo jeder von uns seinen Chip trägt.
»Sie nehmen uns unsere Kinder«, schreit eine Frau hysterisch.
»Nur die Kinder bis siebzehn«, brüllt der Übersetzer, als ein paar Eltern sich mit ihrem Nachwuchs auf die rechte Seite stellen.
Tumult bricht aus, als ein Tesarenaufseher Kinder gewaltsam von ihren Eltern trennt. Ich verschränke meine Finger mit Kaylas und ziehe sie hinter mir her. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Mit Händen, Schultern und dem ganzen Oberkörper dränge ich mich zwischen den Körpern hindurch. Es ist nicht einfach, sich durch die aufgebrachte Masse zu kämpfen. Aber wir schaffen es, zusammenzubleiben. Wir stellen uns zu den Kindern, die schon warten, und beobachten, wie die Menschenmasse immer unruhiger wird.
Dann passiert es. Einer der Tesare schießt auf eine Mutter, die sich an ihrem Sohn festkrallt. Ich halte den Atem an, verschließe Kayla mit der Hand die Augen. Es ist ein Reflex, denn die Frau hat sich so schnell aufgelöst, dass da nichts ist, wovor ich Kayla beschützen müsste.
Ein paar Aufseher laufen durch die Gruppe der Erwachsenen. Ich vermute, sie suchen nach Kindern, die sich versteckt halten könnten. Sie finden keine, nicht nachdem sie, ohne zu zögern, eine Mutter für ihr Ungehorsam hingerichtet haben.
In unserer Gruppe scannt einer der Tesare die Chips. Nach einem kurzen Blick auf unsere Daten werden wir auf den LKW verfrachtet. Plötzlich ist die Panik verschwunden. Da ist keine Angst mehr, nur noch Leere in mir, als ich begreife, dass wir es sind, die dieses Mal weggebracht werden. Ich kann nur noch denken: zumindest sind wir zusammen. Was auch immer jetzt mit uns geschehen wird, wir sind zusammen.
Kayla drückt sich besorgt an mich. Ihre Hände umschlingen meinen Arm. Ich kann sie zittern spüren, aber für einen Moment bin ich unfähig, darauf zu reagieren. Ich sollte sie trösten, ihr wenigstens beruhigend über ihr Haar streicheln, aber ich bin wie gelähmt.
Mit einem blechernen Knarren verschließt sich die Luke und lässt uns in Dunkelheit zurück. Dieses Geräusch reißt mich aus meiner Starre. Durch die löchrigen Außenwände dringt kaum Licht. Trotzdem erinnert es mich an einen sternenklaren Sommerhimmel. Dieses friedliche Bild, erscheint mir fast bizarr, angesichts der Situation, in der wir uns befinden.
Die Ladefläche des Gefährts ist voll. Wir stehen dicht an dicht gedrängt. Ich bekomme kaum Luft. Kayla fällt das Atmen bestimmt noch schwerer. Ihr Gesicht ist zwischen fremden Körpern eingeklemmt, weil sie so klein ist. Es müssen mehr als einhundert sein. Ich nehme Kayla auf den Arm, damit sie besser atmen kann. Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals, presst ihr Gesicht an meins. Ihre Wange ist ganz nass von Tränen. Ich möchte sie gerne beruhigen, aber ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll, also streichle ich immer wieder über ihren Rücken.
»Wo bringen sie uns hin?«, flüstert sie.
»Ich weiß es nicht.«
Als der Laster ruckelnd anfährt, wird es still um uns herum. Das Wimmern und Schluchzen verstummt schlagartig. Ich glaube, für einen Moment haben alle die Luft angehalten. Der Boden unter uns schwankt. Körper werden gegen Körper geschubst. Wenn wir nicht so eng stehen würden, würden wir fallen. Ich presse meine Arme noch fester um Kaylas Taille, stelle die Füße weiter auseinander, um besseren Stand zu finden.
Wie lange die Fahrt gedauert hat, kann ich nicht sagen. Aber als sich die Luke endlich wieder öffnet, atme ich erleichtert die frische Luft ein. Es ist noch immer Tag und ich muss gegen das Licht anblinzeln.
Langsam lichtet sich die Ladefläche. Einer nach dem anderen müssen wir aus dem Gefährt springen, unseren Arm zum Scannen heben und uns in einer Reihe aufstellen. Als ich endlich an den Rand der Luke gelange, zögere ich kurz. Wir stehen vor einem riesigen Gebäude. Es ist aus Stein und hat drei Stockwerke. So was habe ich noch nie gesehen. Nur in Erzählungen von den Älteren in der Kolonie gehört. Das Haus ist schmutzig schwarz, nur stellenweise kann man sehen, dass sich unter all dem Dreck eine graue Fassade versteckt. Die Fenster sind dunkle Löcher mit Gittern davor, wie sie auch das Lagerhaus in Kolonie D hat. In einigen stecken noch kaputte Glasscheiben, in den meisten gibt es aber nur noch die Eisengitter.
Ich springe hinunter auf den rissigen grauen Weg, der aussieht, als hätten ihn tausende Füße ausgetreten. Aber es ist ein hartes Material, welches ich noch nie gesehen habe. Wie geschaffen für die breiten Reifen des Ungetüms. Kayla landet direkt hinter mir. Sie blickt sich genauso staunend um wie alle anderen. Für einen Augenblick scheint jeder vergessen zu haben, dass unsere Zukunft unsicher ist. Zum ersten Mal in unserem Leben befinden wir uns außerhalb von Kolonie D.
Das Gebäude umschließt uns von allen Seiten. Dahinter erheben sich noch weitere, viel höhere. Sie strecken sich in den Himmel, als hätte man sie aus Bergen herausgearbeitet, als wollten sie nach den Wolken greifen, die grau und schwer über unseren Köpfen hinweg ziehen. Das muss eine der Städte sein, in denen die Menschen vor dem Krieg gelebt haben. Ich kann kaum glauben, dass unsere Vorfahren das geschaffen haben. Voll Erstaunen und Bewunderung nehme ich den Anblick dieser riesigen Bauwerke auf und frage mich, wie konnten die Tesare uns so leicht besiegen, wenn wir zu solchen Wundern fähig waren.
Ein Aufseher drückt mir seinen Speer hart in den Rücken. Ich runzle die Stirn und sehe ihn wütend an, und hoffe, dass mein Gesicht all den Hass widerspiegelt, den ich empfinde. Wenn ich die vielen Fenster sehe, die auf uns herunterblicken, dann wird mir klar, wie viele Menschen hier gelebt haben. Und sie alle sind tot.
Die Reihe vor mir hat sich in Bewegung gesetzt. Wir werden in das Gebäude vor uns gebracht. Kayla greift nach meiner Hand und wir folgen den anderen ins Innere des Hauses. Es sieht anders aus, als ich erwartet habe. So war es bestimmt nicht, als noch Menschen hier gelebt haben. Ich glaube, man sieht jeder einzelnen Wand hier drin an, wie wenig Bedeutung all das den Tesaren hat. Die Wände haben riesige Löcher, überall liegt Schutt auf dem Boden, Abfälle versperren die Wege, es stinkt widerlich. Dieser Geruch kommt von den Tesaren, das weiß ich. Er umgibt sie immer schwach, aber hier drin riecht es, als wären tausend Tesare in unmittelbarer Umgebung. Dieses Gebäude hat nichts Menschliches mehr. Ich würge, halte mir die Nase zu, doch es hilft kaum. Der Geruch von Fäulnis und Verwesung legt sich sogar auf meine Zunge, wenn ich versuche, nur durch den Mund zu atmen.
Wir werden in einen langen Flur gebracht. Links und rechts gehen Türen ab. Immer zehn von uns werden in einen Raum gestoßen. Ich schlinge meinen Arm um Kaylas Mitte und bete zu Mutter, dass die Tesare uns nicht trennen. Ein Tesar packt Kayla im Haar und zerrt an ihr. Ich halte sie stur fest, schlage dem Wächter auf die langen spinnendürren Finger und werfe ihm einen bösen Blick zu. Er scheint ungerührt, lässt aber von Kayla ab und schiebt uns zusammen in einen Raum. Ich seufze erleichtert auf.
Die Wände sind schmutzig, Papier hängt in Fetzen herunter. Es stinkt nach Urin und Kot.
Texte: Savannah Davis
Bildmaterialien: Elke Sawistowski / pixelio.de
Lektorat: Nicole Döhling
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013
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