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Der alte Mann


Der alte Mann

Nicole Döhling

Sanft schwebten große, bauschige Schneeflocken vom Himmel. Das Licht der Laternen glitzerte auf der verschneiten Oberfläche wie Diamanten. Die weiße Pracht schien jeden in ihren Bann ziehen zu wollen. Es wirkte fast unecht. Zugleich war es das Schönste, was er seit Jahren gesehen hatte. Der Alte schlang die Arme um seinen Körper. Es war kalt an diesem Abend. Der Frost biss ihm in die Nase, riss an der empfindlichen Haut seiner Lippen. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen. Aber diese Kälte sollte ihn nicht abhalten können.
Vor einer weiß lackierten Bank blieb der Alte stehen. Das schien ihm der richtige Platz für den heutigen Abend. Der zugefrorene Parksee lag einsam vor ihm. Eigentlich war es hier nur nachts so ruhig. Doch heute Abend hatten die Kinder, die diesen Ort normalerweise zu etwas Heiterem machten, Besseres zu tun, als Schneebälle zu werfen und Schlittschuh zu laufen. Es war heilig Abend und der alte Mann dachte daran, wie Weihnachten früher gewesen war; der geschmückte Baum, der im Wohnzimmer stand, hell erleuchtet von Kerzen, die bunten Pakete darunter und die reichlich gedeckte Festtagstafel.
Er betrachtete die Lichterketten, die die kahlen Bäume um den See herum zierten, und summte leise Oh Tannenbaum vor sich hin. Noch heute konnte er die Stimme seiner Frau hören, wenn sie einer Glocke gleich Weihnachtslieder sang, und sein Sohn, dessen Finger geschickt über die Tasten des Klaviers glitten und ihm die wundervollsten Melodien entlockten. Er konnte den Geruch von Braten, Lebkuchen und Orangen wahrnehmen. Und er konnte sich an die leuchtenden Augen seiner Tochter erinnern, wenn sie eins der bunten Päckchen auspacken durfte.
Der alte Mann setzte sich auf die Parkbank. Mit einem löchrigen Wollhandschuh strich er sich über das feuchte Gesicht. Er hätte nicht sagen können, ob die Nässe auf seinen Wangen vom Schnee herrührte, oder ob es Tränen waren, die sich heimlich aus seinen Augen gestohlen hatten.
Eine Weile saß er so da, den Blick auf den See gerichtet, auf dem schon seine Kinder das Schlittschuhlaufen gelernt hatten. Es war schon einige Zeit her, da er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie gaben ihm die Schuld. Vielleicht war er das wirklich - schuld.
Ein Spaziergänger und sein Dackel liefen an der Bank des alten Mannes vorüber. Der Mann hatte den Kragen seines Mantels tief ins Gesicht gezogen. Er hatte die Schultern bis an die Ohren gezogen und schien es eilig zu haben, schnell wieder in die warme Stube zu kommen. Der Dackel trug einen roten Mantel, so dick gefüttert - und sicherlich auch warm -, dass der alte Mann sich für einen winzigen Moment wünschte, er könnte mit dem Tier tauschen.
Er lachte auf der Parkbank in sich hinein und raffte die schmutzige Decke fester um seinen Körper herum. Der Stoff war vollkommen verschlissen und vermochte den Alten kaum noch zu wärmen. Unter seiner Wolldecke kramte er einen Flachmann hervor, schraubte den silbernen Verschluss von der Flasche und setzte sie an seine rissigen Lippen. Seine Hände zitterten dabei. Früher hatten sie nie gezittert. Früher hatten diese Hände die teuersten Uhren der Welt von Hand zusammengesetzt. Das war, bevor der alte Mann seine Frau verloren hatte. Bevor er zusehen musste, wie ihr wundervoller Körper vom Krebs zerfressen wurde. Bevor er angefangen hatte zu trinken. Und bevor er alles verloren hatte, auch sein Dach über dem Kopf.
Manchmal fragte er sich, ob er auch seinen Namen verloren hätte, wenn er nicht auf den Flachmann graviert worden wäre. Für den Rest der Gesellschaft existierte er längst nicht mehr. Selbst seine beiden Kinder hatten ihn vergessen. Er erlaubte es sich, davon zu träumen, dass er heute nicht alleine hier sitzen würde, sondern zusammen mit seiner Tochter und den beiden Enkeln Weihnachten feiern würde. Vielleicht wäre es genauso wie früher, als seine Frau noch lebte. Sie würden singen, den Kindern dabei zusehen, wie sie buntes Papier von den Schachteln reißen würden … Er hatte seine Enkel noch nie gesehen. Er wusste nur, dass es sie gab.
Wieder hob er die Flasche an seinen Mund und seufzte. Der Alkohol brannte schon lange nicht mehr in seiner Kehle. Aber er schenkte ihm zumindest die Illusion von Wärme.
Er konnte es seinen Kindern nicht verübeln. Einen Säufer wie ihn hätte er selbst auch nicht in sein Haus gelassen und schon gar nicht in die Nähe seiner Kinder. Eine Windböe blies ihm feinen Schnee ins Gesicht und zerrte an seinem dünnen Haar. Der Alte schauderte. Grimmig blickte er zu der grauen Wolkendecke hinauf. Es würde die Nacht durchschneien. Vielleicht hätte er doch in dem Heim am Ring übernachten sollen. Aber er wollte hier her in den Park, wollte die Lichter an den Bäumen betrachten, das Glitzern auf dem vereisten See und er wollte alleine sein mit seinen Gedanken. Das konnte man in dem Obdachlosenheim nicht. Da waren zu viele Männer, die genauso waren wie er. Ständig besoffen, ständig prügelnd und streitend. Das war kein Weihnachten.
Nein, die Stille, der Frieden hier draußen im Park, kamen seiner Vorstellung von Besinnlichkeit noch am Nähsten. Der Alte hustete und rieb sich über die Arme, um das Zittern zu vertreiben. Seine Knochen schmerzten von der Kälte. Seine Nase fühlte er nicht mehr, aber den stechenden Schmerz in seinen Zehen.
Eine Gestalt kam über den See gelaufen. Durch das Schneegestöber hindurch konnte er sie kaum sehen. Sie war nichts als ein schwarzer Schemen. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, doch sie lief unbeirrt weiter.
Der Alte beobachtete die Gestalt, wie sie langsam über das Eis lief und kein einziges Mal strauchelte, rutschte oder auch nur unsicher aufzutreten schien. Er fragte sich, wer außer Hundebesitzern bei diesem Wetter und in der heiligen Nacht sonst noch hier rauskommen würde. Langsam trat die Gestalt aus dem Gestöber heraus und blieb am Ufer unter einer Laterne stehen. Das Licht der Laterne umgab die Person wie ein Heiligenschein. Sie blickte zu dem Alten hinüber und kam direkt auf ihn zu. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde der Lichtkranz die Gestalt begleiten, doch dann verlosch er.
Der alte Mann starrte lächelnd auf die Frau, die sich ihm näherte. Sie hatte noch immer dieses sanfte, freundliche Gesicht. Sie sah viel rosiger, gesünder aus, als damals, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war so schön, wie in ihren glücklichsten Tagen. Damals, als die Welt für sie alle noch in Ordnung war.
Warme Nässe lief dem Alten über sein stoppeliges Gesicht. Jetzt war er sicher, dass es Tränen waren. Die Frau setzte sich neben ihn auf die Parkbank, legte eine zarte Hand auf das Knie des Alten und lächelte. „Fröhliche Weihnachten, mein lieber Ehemann.“ Dann rückte sie näher an ihn heran, legte ihren Kopf auf seine Schulter und mit einmal wurde dem Alten ganz warm. Der Park erstrahlte im hellsten und wärmsten Licht, das er jemals gesehen hatte. Seit Jahren war er nicht so glücklich gewesen. Es war heilig Abend und er würde dieses Weihnachten nicht allein verbringen, sondern mit seiner Frau. So wie früher. Am Baum leuchten die Lichter. Es riecht nach Braten und Lebkuchen. Sein Sohn spielt die ersten Noten von Stille Nacht und die helle, klare Stimme seiner Frau erhebt sich und hüllt ihn ein.

***

Schneeflocken rieseln vom Himmel. Das Licht der Laternen glitzert auf der verschneiten Oberfläche des Parks wie Diamanten. Es ist kalt heute Abend. Ein paar Kinder gleiten mit ihren Schlittschuhen über den vereisten See. Jemand führt seinen Dackel in einem roten Mantel für Hunde aus. Auf einer Parkbank sitzt ein alter Mann, der bei dem Anblick des Hundes lächelt. Neben ihm liegt eine Zeitung. Auf der Titelseite steht in großen Buchstaben: Obdachloser erfriert Heilig Abend im Stadtpark
Der Alte Mann weiß, dass im Artikel nicht erwähnt wird, wer der Obdachlose gewesen war. Für die Leute bei der Zeitung war er ein Namenloser gewesen. Für den Mann auf der Parkbank, sein einziger Halt im Leben. Heute Abend würde er nicht in das Obdachlosenheim am Ring zurückkehren. Diese Nacht würde er hier verbringen. An dem Ort, an dem sein Freund gestorben war.

Impressum

Texte: Auch als Hörbuch auf Bookrix.
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2011

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