Kevin saß schon auf seinem Platz ganz hinten in der Ecke des Klassenzimmers, als der Rest der Klasse 6b eintraf. Er bemühte sich immer darum, als erster Morgens die Klasse zu betreten. So konnte er verhindern, dass seine Mitschüler ihm und seiner Kleidung verachtende Blicke zuwarfen. Ihm und seiner Discounter-Billig-Kleidung.
Er würde sein liebstes Spielzeug dafür hergeben, dass auch er einmal so eine teure Jeans Marke New Yorker besitzen würde. Aber, selbst sein liebstes Spielzeug, wäre nicht wertvoll genug, dass irgendjemand es gegen eine getragene Markenjeans eintauschen würde. Im Grunde besaß er gar nichts, was wertvoll genug wäre. Und selbst, wenn er etwas besäße, dann würde es niemanden hier interessieren, weil alle hier auf der Schule es selbst schon besaßen.
Jeden Morgen spielte sich hier das Gleiche ab. Erst wurde der vergangene Nachmittag mit den gemeinsamen Erlebnissen ausgewertet, dann wurden die neuesten Klingeltöne und Videos auf den Handys ausgetauscht. Ein Handy besaß Kevin auch nicht. Aber selbst wenn er eines besitzen würde, bezweifelte Kevin, dass er es so schaffen würde, dass die anderen ihn bemerken würden. Die bemerkten ihn doch nur, wenn sie sich lustig über ihn machen konnten.
Kevin saß an seinem Platz, das Basecap, das auch schon bessere Tage erlebt hatte, tief in die Stirn gezogen. Mit dem Bleistift malte er Kreise auf den Umschlag seines Heftes. Sein Magen knurrte und er war froh, dass die Gruppe Mädchen, die sich am Tisch vor ihm über ihre Internet-Shopping-Erlebnisse unterhielten, laut genug waren, um das Knurren zu überhören. Heute Morgen gab es mal wieder kein Frühstück. Seine letzte Mahlzeit war die in der Armenküche am Bahnhof gestern Mittag. Kevin war froh, dass niemand aus seiner Klasse dort jemals hingehen würde. Es wäre einfach zu peinlich, wenn sie ihn dort sehen würden, wie er in einer Schlange anstand, mit Obdachlosen und Drogensüchtigen, für eine warme Mahlzeit.
Die erste Stunde begann und keiner hatte auch nur Guten Morgen zu Kevin gesagt. Er war es gewöhnt, aber tief in ihm bohrte diese Tatsache schmerzhaft. Er wünschte, er müsste nicht in die Schule gehen. Aber andererseits, waren die paar Stunden Unterricht am Tag, die einzige Möglichkeit Luft zu holen. Etwas Abstand, von zu Hause zu gewinnen. Schule bedeutete auch, dass er mal nicht für seinen kleinen Bruder da sein musste. In der Schule war Dominique gut versorgt, wenn es so etwas überhaupt für sie gab.
Herr Schneider blickte sich in der Klasse um. Er suchte jemanden, der seine Frage beantwortete. Kevin rutschte etwas tiefer hinter seine Bank. Er hatte nicht aufgepasst. Es war schwer sich mit knurrendem Magen auf das Lernen zu konzentrieren. Natürlich entging Herrn Schneider, Kevins Versuch sich zu verstecken nicht. Der Lehrer warf Kevin einen scharfen Blick zu.
Das war´s, dachte Kevin. Jetzt ruft er mich auf, ich weiß die Antwort nicht und gleich geht das Gelächter wieder los. Nervös wischte Kevin an seiner fleckigen Jeans herum. Die hatte die Waschmaschine schon ewig nicht mehr gesehen. Noch ein Grund, warum er so früh in der Schule auftauchte, damit niemand sah, wie dreckig seine Kleidung war. Seine Mutter war nicht im Stande die Waschmaschine zu bedienen. Die Wahrheit war, sie war zu überhaupt nichts mehr imstande.
Herr Schneider kniff die Lippen zu einer Linie zusammen, senkte kurz den Blick und rief dann Kevin auf. Nur langsam erhob er sich von seinem Stuhl. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Sein Magen antwortete mit einem tiefen Knurren. Kevin spürte, wie ihm schwindlig wurde. Kleine schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.
Die Mädchen und Jungen drehten sich auf ihren Plätzen zu ihm herum. In ihren Augen konnte er die Belustigung sehen. Das kannte er schon. Sie machten sich immer schon über ihn lustig, noch bevor er überhaupt die Chance bekam etwas zu sagen. Ein allgemeines Kichern ging durch den Raum. Kevin wäre am liebsten im Boden versunken. Wenn seine Füße sich noch bewegen würden, würde er jetzt aus der Klasse rennen. Aber sie war wie verwurzelt mit dem PVC-Boden.
„Wo wurde Johann Wolfgang Goethe geboren?“, wollte der Lehrer wissen.
Kevins Magen krampfte sich zu einem Ball zusammen. Gerade hatte er die Antwort doch noch gewusst. Sein Herz begann noch heftiger, zu klopfen. Er starrte den Lehrer mit weit aufgerissenen Augen an. Die Schüler lachten. Manche brüllten ihre Freude über Kevins Versagen geradezu heraus. Kevin setzte sich schnell und versuchte die gerufenen Beschimpfungen zu ignorieren. Seine Mutter beschimpfte ihn auch immer als Loser, Blödmann und Idiot, aber da störte es ihn nicht so, wie hier in der Schule. Zu Hause bekam es niemand weiter mit.
Es klingelte zur Pause. Jetzt würde es gleich besonders hart werden für Kevin. Die Tortur begann mit einem allgemeinen Rascheln, das vom Wühlen in den Schultaschen kam. Dann folgte das Klicken von Plastikverschlüssen, Knistern von Folie und Reißen von Papier. Kevin senkte den Blick auf die Tischplatte. Er wollte nicht sehen, was jeder einzelne seiner Mitschüler als Frühstück mit in die Schule gebracht hatte. Seine eigene Brotbüchse lag irgendwo weit hinten im Küchenschrank. Er konnte sich nicht einmal mehr richtig daran erinnern, welche Farbe sie hatte.
Neben ihm tauchte jemand auf. Kevin hob den Kopf. Es war Bianca. Sie war neu in der Klasse. Gerade zwei Tage hier. Sie hatte ein freundliches Gesicht, aber irgendwie spitzbübisch, was wahrscheinlich an der frechen kurzen Frisur lag und den rosa Strähnchen im blonden Haar. „Hallo, ich hab dich gestern gesehen“, sagte sie. „Du weißt schon, beim Bahnhof.“
Kevin riss erschrocken die Augen auf und blickte sich um. Hatte das jemand gehört? Aber keiner schaute auch nur in ihre Richtung.
„Ich helfe da manchmal aus. Zusammen mit meiner großen Schwester.“ Sie neigte sich weiter zu Kevin runter und flüsterte: „Früher haben wir da auch regelmäßig gegessen. Jetzt hat mein Vater wieder Arbeit.“ Bianca richtete sich wieder auf und zog den Stuhl neben Kevin zurück. „Ich setz mich kurz, okay?“
Kevin nickte stumm.
Bianca stellte eine Papiertüte vor Kevin auf den Tisch. „Für dich.“
Kevin blickte sie erstaunt an. „Was ist das?“
„Frühstück“, sagte Bianca achselzuckend.
Hastig öffnete er die Tüte. Fast hätte er sie dabei zerrissen. In der Tüte befanden sich zwei Äpfel, eine halbe Salatgurke und mehrere belegte Brote. Und – Kevin konnte es kaum glauben – zwei Muffins. Richtig große Muffins. „Danke“, murmelte er verlegen und biss genüsslich in eins der Brote.
„Schon okay. Ich weiß, wie das ist.“
„Das bezweifel ich“, sagte Kevin. „Meine Mutter ist Alkoholikerin. Jeden Cent, den wir haben gibt sie für Alkohol aus.“
„Ich weiß“, sagte Bianca. „War bei mir auch so. Jetzt wohne ich bei meinem Vater. Und seit er wieder einen Job hat, geht es uns noch besser. Und meine Schwester, sie kümmert sich auch um uns.“
Kevin schluckte herunter, was er im Mund hatte. „Mein Vater ist tot. Autounfall. Seitdem liegt meine Mutter im Bett oder sie betrinkt sich. Manchmal auch beides gleichzeitig.“
„Schlägt sie euch?“, wollte Bianca wissen und runzelte besorgt die Stirn.
„Nein, das nicht.“ Kevin machte die Papiertüte wieder zu. „Ich heb das auf für meinen Bruder.“
„Ist okay“, sagte Bianca lächelnd. „Ich kann dir jetzt jeden Tag etwas mitbringen. Und meine Schwester frage ich, ob sie euch Sachen aus den Spenden besorgen kann.“
„Danke.“ Ein Kloß bildete sich in Kevins Hals. Ihm war es unangenehm die Hilfe eines fremden Menschen anzunehmen, aber er war auch erleichtert. Es tat ihm immer weh, wenn er sah, wie sein Bruder sich in den Schlaf weinte. Mit Biancas Hilfe, würde er zumindest nicht mehr hungrig einschlafen müssen.
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2011
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