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Die alte Bankfiliale

Sandra Leonard bog wie jeden Morgen zehn vor neun auf den Parkplatz der kleinen Bankfiliale ein. Dass es diese noch gab glich auf den ersten Blick einem Wunder. Die meisten dieser kleinen Filialen waren inzwischen geschlossen. Bei dieser ging das nicht so einfach. Der Ort war zwar nicht groß, aber bei Touristen sehr beliebt. Neben Hotels, beherrschten Restaurants und Cafés das Stadtbild. In der Gastronomie dominierte das Bargeld. Dieses Geld musste irgendwohin. Es war einfacher eine Filiale zu betreiben als die Wirte zu überzeugen ihre Einnahmen einem Automaten anzuvertrauen.

 

Außerdem besaß diese Filiale etwas mit dem die bereits geschlossenen Filialen nicht punkten konnten. Einen für kleinere Filialen recht großen separaten Raum mit Bankschließfächern. Dieser stammte aus der Zeit, in der diese Region noch von Land- und Forstwirtschaft geprägt war. Bauern und Waldbesitzer brauchten einen sicheren Platz für ihre Urkunden und Dokumente. Heute gehörten prominente Landespolitiker, die hier Wochenendhäuser besaßen zu den Mietern. Diesen konnte man die Schließfächer nicht einfach kündigen.

 

Ihre Filiale betreute Sandra gewöhnlich allein. Von um neun Uhr am Morgen bis sechs Uhr abends. Mit einer Stunde Mittagspause in der Sandra gewöhnlich ihre Einkäufe erledigte. Für den Urlaub oder die Tage, an denen sie aus anderen Gründen nicht in der Filiale sein konnte schickte die Zentrale eine Vertretung. Meist eine Auszubildende.

 

Zu ihrer Überraschung wartete bereits jemand auf den Parkplatz hinter dem Gebäude. Eine junge Frau. Sie trug einen dunklen Kurzmantel. Darunter eine schwarze Leggins und Booties in der gleichen Farbe. Als Sandra vor 25 Jahren ihre Ausbildung begann hätte man Leggings nicht geduldet. Heute sah der Vorstand dies nicht mehr so streng. Die Auszubildenden trugen sie regelmäßig. Sandra hingegen trug wie immer das vorgeschriebene Outfit. Einen schwarzen Rock, eine kurze Jacke in gleicher Farbe und eine weiße Bluse deren Ausschnitt ein hellblaues Tuch mit dem Logo ihrer Bank bedeckte. Dazu einfache schwarze Pumps und eine Strumpfhose. Die junge Frau hingegen trug das typische Outfit einer Auszubildenden der Zentrale. Nur hatte Sandra heute keine Vertretung angefordert.

 

Sandra stoppte ihren Golf wie immer neben dem Personaleingang. Die junge Frau kam auf sie zu. Vom Alter her musste es tatsächlich eine Auszubildende sein. Das lange dunkle Haar trug sie offen. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie sollte besser einen Pferdeschwanz tragen, dachte Sandra. Dann hätte sie dieses übertriebene Make-up nicht gebraucht. Das Gesicht erinnerte Sandra an eine dieser Porzellanpuppen ihrer Großmutter. Nur trugen diese keine Brillen mit einem voluminösen Gestell und getönten Gläsern.

 

„Frau Leonard?“ Sandra nickte.

„Ich bin Marie. Ihre neue Auszubildende.“

„Meine neue Auszubildende?“ Sandra war überrascht. Davon hatte ihr niemand etwas gesagt.

 

Die junge Frau trampelte von einem Fuß auf den anderen.

„Entschuldigung. Ich bin mit dem Zug gekommen. Die Toiletten dort…“

Sandra begriff. „Kommen Sie.“, entschied sie. Während die junge Frau auf der Toilette war konnte sie die Zentrale anrufen.

 

Sandra schloss den Personaleingang auf und trat ein. Sie wies auf eine Tür. „Die Toilette ist dort.“ Marie schob sich erleichtert an ihr vorbei und schaute hinein. Was erwartet sie denn, dachte Sandra, während sie die Alarmanlage deaktivierte. Die Toilette war ein fensterloser Raum mit zwei Kabinen und einem Waschbecken. Die Auszubildende drehte sich um und griff in die Tasche ihres Mantels.

„Stell deine Handtasche auf den Boden. Dann Hände hoch und rein da?“

Erschrocken starrte Sandra sie an. In den Händen der jungen Frau lag eine Pistole.

 

Mit weichen Knien betrat Sandra die Toilette. Die angebliche Marie tastete vergeblich nach einem Schlüssel. Er fehlte. Gebraucht wurde er nicht wirklich. Die Kabinen konnte man von innen verriegeln. Außerdem war Sandra allein in der Filiale.

 

„Umdrehen und Hände an die Wand.“ Sandra gehorchte. „Wehe du rührst dich von der Stelle.“, warnte die junge Frau. Die Tür flog zu.

 

Sandras Beine zitterten. Sie war in eine Falle gelaufen. Sie versuchte ihre Gedanken zu bändigen. Das war ein Überfall. Dafür gab es Verhaltensregeln. Keinen Wiederstand leisten und alles tun was die Räuber verlangten.

 

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Vom Flur drangen Geräusche in den Raum. Das waren nicht nur die Absätze dieser jungen Frau. Das klang eher nach schweren Männerschuhen. Diese falsche Auszubildende hatte Komplizen. Für Sandra keine große Überraschung. In ihrem Kopf lief ein Film ab. Die Räuber würden ihr befehlen den Tresor zu öffnen. Doch würden sie um diese Zeit nur wenig Geld finden. Dafür gab es eine einfache Erklärung. Die Kunden zahlten ihre Einnahmen tagsüber ein. Dieses Geld wurde kurz vor Filialschluss abgeholt.

 

Die Beute dieser Bande wäre nicht sehr hoch. Sandra hoffte das diese ihren Frust nicht an ihr auslassen würde. Sie hoffte nur eingesperrt zu werden. Vielleicht auch gefesselt. Sandra wünschte sich diese Räuber würden darauf verzichten. Verhindern konnte sie es nicht. Doch selbst wenn sie einige Stunden ausharren musste, irgendwann wurde sie gefunden. Ihre größte Sorge war verprügelt zu werden. In den Schulungen hieß es frustrierte Räuber neigten zur Gewalt. Man sollte sich deeskalierend verhalten. Nur wie dies tun, wenn diese Männer plötzlich anfingen loszuprügeln. Auf dem Boden wie ein Engerling zusammen kauern und hoffen das die Männer von ihrem Opfer abließen. Einen besseren Vorschlag hatte die Trainerin nicht. Sandra hoffte, dass es nicht soweit kam.

 

Die Tür wurde geöffnet. Sandra hielt unweigerlich die Luft an.

„Ausziehen.“, befahl eine harte Männerstimme.

Sandra zuckte zusammen. „Was?“

„Ausziehen.“, wiederholte der Mann. „Jacke, Bluse und diesen Lappen da.“

 

Sandra brauchte einige Augenblicke um diese Wendung zu verarbeiten. Sie sollte sich ausziehen? Aber nicht komplett. Nur Jacke und das Oberteil. Mit Lappen meinte der Mann vermutlich das Tuch. Mit Sex hatte das nichts zu tun.

„Wo sind die Klamotten von der Alten?“, hörte Sandra irgendwo aus dem Gebäude die Stimme der jungen Frau. „Es ist gleich neun. Ich muss öffnen.“

 

„Worauf wartest du.“, fauchte der Mann.

Sandra streifte die Jacke ab. Der Mann riss sie ihr aus der Hand. Das Tuch nahm denselben Weg. Das sie mit dem Gesicht zur Wand stand machte das Ausziehen der Bluse nicht ganz so entwürdigend. Diese junge Frau wollte ihre Sachen und die Filiale wie immer öffnen. Dieser Überfall war nicht in ein paar Minuten zu Ende. Diese Bande plante etwas anderes.

 

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Der Mann trat in die Toilette und schloss die Tür. Sandra spürte ihren Herzschlag bis in die Haarspitzen. Eine solche Situation wurde in der Schulung nie besprochen.

Sie nahm allen Mut zusammen. „Was wollen Sie?“

Der Mann lachte. „Was soll man in einer Bank schon wollen? Geld.“

Sandra schüttelte den Kopf. „Ich meine, was wollen Sie von mir?“

 

„Das du dich den gesamten Tag ruhig verhälts und uns nicht störst. Deshalb muss ich dich fesseln und dafür sorgen, dass du nicht um Hilfe schreist.“, erklärte der Mann.

„Wie meinen Sie das, nicht um Hilfe schreien?

„Ich verklebe dir den Mund.“

Um Himmels willen. Nur das nicht, schoss es Sandra durch den Kopf. Einen ganzen Tag mit zugeklebten Mund hielt sie nicht aus. Das machte ihre Nase einfach nicht mit. Der Geruch des Reinigungsmittels reizte ihre Nasenschleimhäute bereits jetzt sehr stark.

 

„Ich habe eine Allergie.“ Sandra atmete tief durch, bedeckte mit den Händen ihr Dekolleté und drehte sich um. „Sehen Sie selbst.“

 

Der Mann vor ihr war groß und breit gebaut. Seine Statur passte zu der Stimme. Er trug Arbeitskleidung. Seinen Kopf bedeckte eine Sturmhaube. In der einen Hand hielt er ihre Handtasche, in der anderen eine Pistole.

„Ich sehe was du meinst.“, erklärte der Mann. Er reichte Sandra ihre Handtasche. „Wisch den Rotz ab. Das sieht hässlich aus.“

Sandra presste ihre Handtasche vor die Brust und sah hinein. Sie war durchwühlt. Ihr Handy fehlte.

„Das haben wir.“, erriet der Mann ihre Gedanken.

 

Die Tempos hatten die Männer nicht interessiert. Sandra nahm eines aus der Packung, stellte ihre Handtasche auf das Waschbecken und schnäuzte die Nase.

Die Blicke des Mannes lagen auf ihrem Busen. Unter Blusen trug Sandra immer einen weißen BH. Nichts Besonderes. Wichtig war nur, dass er sich unter der Bluse nicht abzeichnete.

„Bitte.“, versuchte sie es erneut.

 

Es klopfte an der Tür. „Beeil dich mit der Alten. Ich habe keine Lust alles allein zu schleppen.“ Die Stimme dieses Mannes klang bedeutend jünger.

„Halt’s Maul.“, kam die prompte Antwort. Sie klang genervt. Sandra hatte plötzlich eine Idee. Sie war Wahnsinn, aber vielleicht ihre Rettung.

„Werden Sie mich vergewaltigen? Sie oder der andere Mann?“

„Was redest du da für einen Unsinn.“ Das Erstaunen war nicht zu überhören. „Niemand wird dich vergewaltigen. Versprochen.“

„Dann ziehe ich mich aus. Sie fesseln mich in der Toilettenkabine. Nackt rufe ich bestimmt nicht um Hilfe.“

 

Bevor der Mann etwas erwidern konnte, griff Sandra in ihren Rücken. Der Rock glitt an ihren Beinen herunter. Unter der recht dichten dunklen Strumpfhose war der Slip kaum zu sehen.

„Sehen Sie. Ich meine es ernst.“ Der Mann sagte nichts. Sandra öffnete den Verschluss des BHs. Ohne ihn abzustreifen ließ sie ihren Busen in die Hände gleiten. Sie blickte den Mann fragend an. Er schien unentschlossen.

 

Erneut hämmerte jemand an die Tür. „Wo bleibst du?“

„Einverstanden?“, fragte Sandra noch einmal.

„In Ordnung.“, willigte der Mann ein.

Erleichtert lies Sandra ihren BH fallen und streckte dem Mann die Hände entgegen.

„Ist das so ok?“

Der schüttelte den Kopf. Er packte Sandra am Arm und stieß sie in eine der Kabinen. „Ich will die ganze Show.“

 

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Die Kabinentür wurde geschlossen. Sandra saß nackt auf dem Toilettendeckel. Der Slip, die Strumpfhose und ihre Schuhe lagen auf dem Boden. Sandras Hände waren vor dem Körper mit Paketband gefesselt. Ihre Fußgelenke wurden ebenfalls von diesem klebrigen Zeug aneinander gepresst. Es gab keinen Grund zu Jammern. Sandra hatte dem Mann angeboten sich auszuziehen und fesseln zu lassen. Er hatte es getan und sich auch an seinen Teil der Abmachung gehalten. Sandras Mund war nicht verklebt.

 

Bis jetzt hatte ihr Plan funktioniert. Sie saß in der Toilettenkabine. Diese war nicht verschlossen. Die Tür zum Korridor ebenfalls nicht. Auf dem Waschbecken stand ihre Handtasche. Darin waren Nagelschere und eine Feile. Dinge die jede Frau bei sich hatte. Daran dachte dieser Mann natürlich nicht. War sie dieses Klebeband erstmal los bestanden gute Chancen zur Flucht.

 

Schritte nährten sich. Etwas schlug an die Tür der Toilettenkabine. Das bedeutete nichts Gutes. Diesmal wurde auch die Tür zum Korridor geschlossen. Sandra schob sich auf die Beine und rüttelte mit ihren gefesselten Händen an der Klinke. Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter. Sandra ging in die Knie und spähte unter der Tür durch. Dieser Mann hatte sie mit einem Besen blockiert. Sie saß in ihrer eigenen Falle.

 

Sandra lehnte sich an die Wand und überlegte. Es musste doch eine Möglichkeit geben aus dieser Toilettenkabine heraus zu kommen. Ihr Blick fiel auf die Strumpfhose. Lang genug war das Teil. Sandra angelte sich einen ihrer Schuhe. Sie klemmte ihn zwischen die Knie und griff die Strumpfhose. Mit den gefesselten Händen dauerte es eine Weile ein Bein der Strumpfhose darum zu legen und festzuziehen. Sandra ließ sich fallen. Auf der Seite liegend konnte sie unter der Tür durchschauen. Auch ihre Arme hatten genug Platz.

 

Mit soviel Schwung sie konnte schleuderte Sandra den Schuh über den Boden. Er erreichte den Besenstiel. Das Ende der Strumpfhose wickelte sich jedoch nicht darum. Sandra zog den Schuh zurück. Sie versuchte es erneut. Wieder ohne Erfolg. Doch Aufgeben kam nicht in Frage.

 

Nach unzähligen Versuchen hatte Sandra den Dreh heraus. Die Strumpfhose schlang sich um den Besenstiel. Sandra zog. Die Strumpfhose gab nach. Sonst passierte nichts. Mit beiden Händen schob Sandra das andere Bein der Strumpfhose über ihre Handgelenke. Dann begann sie ihre Arme zu drehen. Das elastische Material wickelte sich um die Handgelenke. Damit fesselte sie sich praktisch noch einmal selbst. Doch das war jetzt ihre kleinste Sorge. Sie musste aus dieser Kabine heraus.

 

Endlich spürte Sandra einen Widerstand. Sie umfasste mit beiden Händen die Strumpfhose und zog daran. Polternd fiel der Besen zu Boden. Sandra rang nach Luft. Diese Aktion hatte mehr Kraft gekostet als erwartet. Trotzdem durfte sie nicht ausruhen. Mit letzter Kraft schob sich Sandra auf die Knie und packte die Klinke. Diese gab sofort nach.

 

Beinahe wäre Sandra bäuchlings auf den Fliesen gelandet. Sie schaffte es aber sich festzuhalten und an der Klinke hochzuziehen. Auf dem Waschbecken stand ihre Handtasche. Bis dahin war es nur ein Sprung. Der Erfolg verlieh ihr neue Kraft. Sandra ging in die Knie und sprang. Sie landete unsicher. Nur nicht nach hinten fallen. Sandra warf ihre Arme nach vorn. Sie erreichte knapp das Waschbecken. Ihre Handtasche fiel herunter. Der Inhalt landete verstreut auf dem Boden. Sandra sank erleichtert auf die Knie. Der erste Teil ihrer Flucht war geschafft.

 

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Die letzten Reste des Paketbandes landeten auf dem Fußboden. Sandra war frei. Mit Nagelschere und Feile war es viel schwerer ihre eigene Strumpfhose durchzuschneiden als dieses braune Zeug. Sie stieg in ihren Slip und schaute sich um. Ihren Rock und den BH hatte der Räuber offenbar mitgenommen. Also musste sie eben ohne auf die Straße. Sandra zerrte die zerfetzte Strumpfhose von ihrem Schuh herunter. Die Absätze konnte man auf dem Flur vielleicht hören, aber auf der Straße wäre sie damit schneller als barfuß.

 

Sandra lehnte ihr Ohr an die Tür. Sie hörte nichts. Vorsichtig drückte sie die Klinke und zog die Tür etwas auf. Aus dem Schalterraum drang die Stimme der jungen Frau.

 

„Es tut mir leid, Frau Schumann. Ihr Schließfach können Sie heute nicht benutzen. Die Belüftung wird gereinigt. Der Raum darf nur mit Schutzanzug betreten werden.“

Die Antwort der Kundin blieb unverständlich.

„Natürlich. Morgen ist alles wie immer. So wie es in dem Aushang an der Tür steht. Um ihre Einzahlung kümmere ich mich sofort, Frau Schumann.“

 

Das Ziel dieser Räuber waren die Schließfächer. Ihr Plan Wartungsarbeiten vorzutäuschen war nahezu genial. Die Räuber konnten sich unbemerkt im Gebäude bewegen. Diese falsche Auszubildende beruhigte die Kunden und kassierte ganz nebenbei die Einzahlungen des Tages ab. Dafür brauchten sie nur eine einzige Person in ihre Gewalt zu bringen. Diese hieß Sandra Leonard. Eine Frau Mitte vierzig mit ein paar Pfunden zu viel. Ein leichtes Opfer.

 

Sandra öffnete die Tür ein wenig weiter. Die Stimmen im Schalterraum waren verstummt. Der rettende Ausgang lag nur ein paar Meter entfernt. Der Schlüssel steckte. Sandra sprintete los. Sie hatte die Tür beinahe erreicht als diese aufgerissen wurde. Im Rahmen stand ein Mann. Er trug Arbeitskleidung und eine Mütze. Sein Gesicht verdeckte eine weiße Staubmaske und die Schutzbrille. Es war jedoch nicht der Mann der Sandra gefesselt hatte.

 

Dieser Weg war versperrt. Sie musste durch die Vordertür. Es gab eine Chance. Diese angebliche Marie war gerade mit dem Geld von Frau Schuhmann beschäftigt. Sandra reagierte schnell. Doch der Mann war schneller. Mitten in der Drehung fing er sie ab. Seine Arme umschlossen ihren Körper. Eine riesige Hand legte sich auf ihrem Mund. Sandra roch das Leder des Handschuhs. Trotz aller Gegenwehr zerrte sie der Mann in die Teeküche.

 

Auf dem Flur waren Schritte zu hören.

„Macht nicht so einen Lärm.“, fluchte die falsche Auszubildende.

Über den Leggins trug die junge Frau Sandras Jacke und Bluse. Das Tuch bedeckte vorschriftsmäßig den Ausschnitt. Diese Marie erkannte die Lage sofort.

„Sie ist ein Problem.“

„Ich schaff die Alte nach unten und sorg dafür, dass sie nicht herum zetert.“, erklärte der Mann hinter ihr. „Das hätten wir gleich machen sollen.“

 

Sandra schüttelte panisch den Kopf.

„Sie hat eine Allergie.“, war plötzlich die Stimme des älteren Mannes zu hören.

Diese Marie starrte ihn an. „Was interessiert uns das?“

„Ich will nicht das sie erstickt.“, erklärte der Mann durch seine Maske.

Die junge Frau riss ein Geschirrtuch vom Haken. „Dann knebelt sie damit. Dadurch kriegt sie Luft.“

Sandra warf dem Mann einen dankbaren Blick zu. Nach ihrem missglückten Fluchtversuch lag ihr Schicksal in seinen Händen.

 

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Der Fußboden war kalt. Sandra fröstelte. Im Slip und mit Schuhen an den Füßen lag sie neben dem Zugang des Tresorraumes. Zwischen ihren Lippen steckte ein Geschirrtuch. Mit einem zweiten waren ihre Augen verbunden. Bei den Fesseln gingen die Räuber jetzt auf Nummer sicher. Statt Paketband waren Sandras Hände und Füße mit Kabelbindern zusammengezogen. Ihre Hände lagen statt vor dem Körper jetzt auf ihrem Rücken. Außerdem hatten die Männer aus dem Tresorraum sie gut im Blick.

 

Doch nicht nur die Männer hatten Sandra gut im Blick. Dieser Bereich wurde Videoüberwacht. Außer der Polizei würden die Aufzeichnungen dieses Raubes auch intern ausgewertet werden. Ein Grund mehr für Sandra auf dem Bauch zu liegen und sich nicht zu bewegen. Sie wollte einfach nicht, dass oben ohne Clips von ihr die Runde machten.

 

Wie lange sie hier bereits lag konnte Sandra nicht sagen, aber die Mittagspause musste bereits vorbei sein. Diese Marie war heruntergekommen. Sie hatte die Arbeit der Männer begutachtet. Diese kamen gut voran. Danach galt ihr Interesse Sandra. Auf die Frage, ob sie etwas zu trinken wollte schüttelte Sandra den Kopf. Die Frage, ob ein nicht aktiviertes Alarmsystem nach 18:00 auffallen würde konnte sie nickend bestätigen. Dieser Zeitpunkt war die Deadline für den Plan dieser Bande. Ihr eigenes Martyrium wurde hoffentlich wenig später durch den Sicherheitsdienst beendet.

 

„Wir machen Schluss.“, drang die Stimme des älteren Mannes aus dem Tresorraum. „Schaff das Zeug nach oben. Ich kümmere mich um die Frau.“

Die Antwort auf diese Aufgabenverteilung klang wenig positiv. Aber Sandra war froh darüber. Für die junge Frau war sie nur ein Problem, für den jüngeren Räuber einfach die Alte. Der Ältere sah in ihr wenigstens eine Frau, die tausend Ängste durchlebte.

 

„Ich werde dir jetzt deine Sachen holen.“, sagte plötzlich eine Stimme neben ihr. Sie klang sehr klar. Der Mann trug bestimmt keine Maske. „Dann werde ich dich losbinden und du wirst dich anziehen.“

Sandra versuchte in den Knebel zu reden. Mehr als undeutliche Laute kamen dabei nicht heraus.

„Warte.“, sagte der Mann. Das Tuch zwischen ihren Lippen verschwand.

„Bitte nicht hier.“, krächzte Sandra. „Die Kamera. Ich will nicht…

Der Mann verstand. „Du willst nicht als Pin-Up auf den Handys deiner Banker landen.“

„Ja.“

„Dann machen wir es anders.“, entschied der Räuber. Er griff Sandra unter die Arme und half ihr auf. Dabei verdeckte er mit seinem Rücken ihren Körper. Dann warf er sie einfach über seine Schulter.

 

Der Mann war kräftig. Selbst durch die Arbeitskleidung spürte Sandra seine Muskeln. Mühelos stieg er mit ihr die Treppe hinauf.

„Danke.“, sagte Sandra. „Sie sind sehr stark.“

Der Mann lachte. „Du bist sehr leicht.“

Jetzt musste Sandra lachen. „Das ist nett. Aber ich wiege bestimmt mehr als fünf Kilo zu viel.“

„Wie alt bist du?“, wollte der Mann wissen.

„43. Warum interessiert Sie das?“

„Weil schöne Frauen jeden Mann interessieren.“

Sandra musste schmunzeln. „Sie Lügner. Schauen Sie mich doch an. Mein Po ist zu groß, meine Beine zu dick und mein Busen hat unter der Schwerkraft gelitten.“

 

Er setzte sie ab.

„Das stimmt nicht. Du bist sehr hübsch.“

„Muss ich mir Sorgen machen?“

„Worüber?“

„Das Sie Ihr Versprechen nicht halten?“

„Welches Versprechen?“ Er klang verwirrt.

„Mich nicht zu vergewaltigen.“, erinnerte ihn Sandra.

Der Räuber lachte. „Niemand wird sich an dir vergreifen.“

Er drückte Sandra auf einen Stuhl. „Ich hole deine Sachen.“

 

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Die Kabelbinder ratschten. Ihre Augenbinde fiel. Nach der langen Dunkelheit brauchte Sandra ein paar Minuten um sich zu orientieren. Sie saß auf einem Stuhl in ihrer kleinen Teeküche. Auf dem Tisch lag neben dem Rock auch ihr BH. Der Mann stand in der Tür. Wie zu Beginn trug er wieder diese Sturmhaube.

„Die anderen Sachen bekommst du zurück, wenn Marie sie nicht mehr braucht.“

Sandra stand auf. Obwohl es keinen Sinn mehr machte drehte sie dem Mann den Rücken zu und griff ihren BH. Nach der langen Zeit oben ohne kam sie sich darin erstaunlich angezogen vor. Das ermutigte sie dem Mann eine Frage zu stellen.

 

„Sie haben Ihre Beute. Was passiert mit mir?“

„Pünktlich um sechs schaltest du den Alarm ein und bekommst ein Schlafmittel. Dann fährt einer von uns deinen Wagen an einen einsamen Ort. Dort kannst du ausschlafen.“

„Reizende Vorstellung.“, antwortete Sandra sarkastisch.

„Besser als nackt und gefesselt von einem Sicherheitsmann gefunden zu werden.“, relativierte der Räuber.

 

Auch wieder war, überlegte Sandra. Sie nahm ihren Rock.

„Wird dich jemand vermissen?“, wollte der Mann wissen. „Dein Kerl vielleicht?“

Erstaunt sah Sandra auf. „Sie haben mich beobachtet.“

„Natürlich haben wir das. Du bist verheiratet und hast eine Tochter. Also was ist mit deinem Kerl? Wird er dich suchen?“

„Vor zehn vermisst er mich nicht. Sie haben also genug Vorsprung.“

Der Mann warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Warum erst um zehn? Dein Kerl sah nicht so aus als, ob er in Schichten an der Maschine schuftet.“

„Macht er auch nicht. Er ist im Bankvorstand. Heute Abend ist irgendeine Sitzung.“

 

„Was ist mit deiner Tochter?“, bohrte der Räuber weiter. „Sie macht zwar nicht den Eindruck, wenn du zum Abendessen nicht da bist heulend vor dem Kühlschrank zu sitzen. Aber man kann sich ja irren.“

Tanja schüttelte den Kopf. Ihre Tochter war 18 und wusste genau was sie wollte. Dies galt auch für ihren vier Jahre älteren Bruder. Er zog sofort nach dem Abitur aus. Ihre Tochter würde dies auch tun.

 

„Meine Tochter ist mit bei Vater.“, erwiderte Sandra. „Sie haben also genug Vorsprung.“

„Der Banker ist nicht ihr Vater?“

„Nein. Meine Kinder sind aus meiner ersten Ehe. Mit meinem jetzigen Mann bin ich erst seit acht Jahren verheiratet.“

In den Augen des Räubers blitzte es. Sandra ahnte seine Gedanken.

„Ich war nicht seine Sekretärin und hatte, auch wenn Sie es anders sehen damals schon meine Speckröllchen. Zwischen meinem Mann und mir ist es wirklich Liebe.“

 

Das war eine glatte Lüge. Aber ihre Probleme gingen diesen Räuber nichts an. Thomas stand damals kurz vor der Vierzig. Er war ein Erfolgsmensch und ohne Zweifel attraktiv. Nur sah man ledige Männer in Vorständen nicht so gern. Wie die meisten Mitarbeiterinnen in ihrem Alter bekam Sandra, wenn er sie nur anschaute weiche Knie. Thomas wusste dies und nutzte es aus. Er brauchte eine Familie. Sandra lieferte sie ihm und half ihm damit in den Vorstand. Für Thomas war ihre Ehe ein Geschäft. Nachdem die Schmetterlinge im Bauch verschwunden waren traf Sandra diese Erkenntnis umso härter. Für Thomas war sie nur eine Durchgangsstation.

 

Sandra zog den Reißverschluss des Rocks zu. „Meinetwegen können Sie mich absetzen wo Sie wollen. Ich will nur wissen wer es macht. Sie, der andere Kerl oder das bemalte Püppchen?“

„Ich. Jetzt setzt dich. Ich habe noch was anderes zu tun und muss dich wieder fesseln.“

 

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Die Tür wurde geöffnet. Die junge Frau trat ein. Diese angebliche Marie trug das Outfit in dem sie am Morgen auf dem Parkplatz stand. Sie legte Sandras Sachen auf den Tisch.

„Zieh sie wieder an.“

„Sehr lustig.“ Sandra zog demonstrativ an den Kabelbindern, die ihre Hände an der Stuhllehne hielten.

„Du wirst gleich losgeschnitten.“, erwiderte die junge Frau.

 

„Hat sich der Aufwand wenigstens gelohnt?“ In Schließfächern mussten nicht automatisch Geld und Wertsachen liegen. Es konnten ebenso Dokumente oder Urkunden sein. Wertvoll für die Besitzer. Für Räuber nutzloses Papier.

„Eine Menge Bargeld und Inhaberpapiere.“, antwortete die junge Frau gelassen.

Ihr jüngerer Partner drängte sich in den Raum. Er hatte eine Zange in der Hand. Die Kabelbinder knackten.

„Es ist sechs. Zieh dich an.“

 

Fünf Minuten später verschloss Sandra wie jeden Tag den Personaleingang der Filiale. An ihrer Seite war nur die junge Frau. In deren Manteltasche steckte eine Pistole. Die beiden Männer warteten als latente Drohung in einem Transporter genau neben Sandras Auto.

 

Die junge Frau drängte Sandra an die Beifahrerseite. „Steig ein.“

„Ihr Partner hat gesagt er fährt mich.“

Diese Marie grinste. „Du magst ihn.“

„Er behandelt mich wie ein Mensch.“, gab Sandra zurück. „Für Sie und ihren jungen Kumpan, bin ich doch nur die Alte oder ein Problem.“

„Steig ein.“, beendete die junge Frau diese Diskussion. „In der Mittelkonsole steht eine Flasche. Die trinkst du aus.“

 

Sandra blieb keine Wahl. Sie stieg ein und öffnete die Flasche. Bereits nach dem ersten Schluck spürte sie die Wirkung des Mittels. Sie konnte nur hoffen, dass diese Räuber wussten was sie taten.

 

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Ein Stoß ließ Sandra zusammenfahren. Ein zweiter warf sie zur Seite. Verschwommene Lichter tanzten vor ihren Augen. Sie brauchte einige Augenblicke um sich zu orientieren. Wie die Räuber es versprochen hatten saß sie in ihrem Wagen. Doch etwas stimmte nicht. Der Wagen fuhr. Am Steuer saß der ältere Räuber. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Aber diese breiten Schultern waren nicht zu übersehen.

 

Zum ersten Mal bei diesem Plan ging etwas schief. Sie war wach und das sollte nicht sein. Das durfte der Räuber auf keinen Fall bemerken. Sandra schloss die Augen und ließ sich in den Sitz fallen.

„Du brauchst dich nicht verstellen.“, drang die Stimme des Mannes zu ihr. „Ich habe bemerkt, dass du aufgewacht bist. Bei dieser Straße kein Wunder.“

Er blinkte und bog ab.

„Vielleicht haben wir das Mittel zu niedrig dosiert. Wir wollten dich ja nicht umbringen.“

 

Der Wagen stoppte. Der Mann drehte sich zu ihr. Er trug keine Maske. Sein Gesicht war kantig. Das hellblonde Haar kurz geschnitten. Die blauen Augen strahlten in die Dunkelheit.

„Aber jetzt haben wir ein Problem.“

 

„Nein.“, wiedersprach Sandra entschieden. „Wir machen alles wie geplant. Ich werde auf einem einsamen Parkplatz aufwachen und habe Ihr Gesicht nicht gesehen. Mehr erfährt die Polizei nicht.“

„Wer garantiert mir das?“

„Ich.“, stieß Sandra hervor. Für eine Frau gab es nur eine Möglichkeit einen Mann zu überzeugen. Sie hatte keine Wahl.

Sandra löste den Gurt. Ihre Hände schlangen sich um den Hals des Mannes. „Ich werde es dir beweisen.“

„Ich habe versprochen mich nicht an dir zu vergreifen.“

„Dann vergreife ich mich an dir. Ich habe niemandem etwas versprochen.“ Sie schob ihre Knie auf den Sitz und zog den Mann fester an sich. Sandra spürte seine Arme um ihrem Körper.

„Du bist eine wunderbare Frau.“

„Erwarte nicht zu viel. Ich bin etwas aus der Übung.“

 

Seine Hand suchte sich einen Weg unter ihre Jacke. Sandra streifte sie ab.

„Sei vorsichtig mit meinen Sachen. Sonst kommt die Polizei noch auf dumme Ideen.“

„Dann zieh sie doch aus.“

Sandra drehte sich aus der Umarmung heraus und wandte dem Mann den Rücken zu.

„Mach du es doch.“

Noch bevor sie diesen Satz zu Ende gesprochen hatte umfassten zwei kräftige Hände ihren Körper und begannen die Bluse aufzuknöpfen. Sandra warf sie auf die Rückbank. Sie fühlte die Finger des Mannes auf ihren Brüsten. Stark und sanft. Seine Finger nestelten an ihrem Rock.

„Zieh ihn aus. Deine Beine sind viel zu schön um sie zu verstecken.“

 

Jetzt musste Sandra lachen. „Das hat noch niemand zu mir gesagt.“ Ihre Hand tastete nach den Verstellknopf des Sitzes. Die Lehne ging in die waagerechte. Sandra öffnete den Reisverschluss und drehte sich auf den Rücken. Die Schuhe landeten im Fußraum. Den Rock warf sie einfach nach hinten. Sie streckte sich aus. Bevor sie es begriff war der Mann über ihr. Trotz seiner Größe schien ihm die Enge des Wagens nichts auszumachen.

 

Sandra schlang ihre Arme um ihn. „Bei dem Rest musst du mir helfen.“, flüsterte sie dem Mann ins Ohr. „In meinem Leben habe ich bis jetzt nur mit zwei Männern geschlafen. Mit beiden war ich verheiratet.“

Sie fühlte die Hand des Mannes unter dem Bund ihres Slips. Er packte sie und schob ihre Beine auseinander. Sandra krallte ihre Arme in den Rücken des Mannes und legte den Kopf in den Nacken. Ein Glücksgefühl rann durch ihren Körper. Plötzlich fühlte sie sich frei. Einfach frei.

 

„Hallo.“ Ein Klopfen drang in den Wagen. „Hallo. Sind sie in Ordnung.“

Sandra riss die Augen auf. Fahles Licht schien herein. Sie musste die Nacht durchgeschlafen haben.

„Hören Sie?“, war da wieder diese Stimme. „Was ist mit Ihnen?“ Sandra stemmte sich hoch. Sie saß auf dem Beifahrersitz ihres Autos. Die Stimme gehörte einem Mann. Sandra öffnete die Tür. Ihr war plötzlich schlecht.

„Haben Sie ein Handy?“, krächzte sie.

„Ja. Warum?“

„Rufen Sie die Polizei.“ Das Bild vor ihren Augen verschwamm. Der Boden kam auf sie zu. Dann brach es aus ihr heraus.

 

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„Danke, Thomas.“ Sandra hatte das Gefühl ihre Kehle bestände aus Sandpapier. Seitdem sie neben dem Auto in ihrem eigenen Erbrochenen gelegen hatte waren etwas mehr als 24 Stunden vergangen. Die letzte Nacht hatte sie im Krankenhaus verbracht. Etwas auf das sie trotz Einzelzimmer gerne verzichtet hätte. Das galt auch für den Streit der über ihre Person zwischen Polizei und Ärzten offen ausgetragen wurde. Die Polizei hatte tausend Fragen und die Mediziner ebenso viele Argumente warum diese warten mussten. Zwischen den Fronten stand Sandra. Alle redeten über sie, aber keiner mit ihr.

 

Dabei wollte Sandra reden. Sie wurde überfallen. Sie lag stundenlang gefesselt und so gut wie nackt neben der Tür des Tresorraumes. Sie hatte ein Recht darüber zu reden und das hatte ihr niemand zu verbieten. Schließlich setzte sie sich durch. Die Reaktion der Ärzte kam prompt. Eine Nacht zu Beobachtung. Dabei wollte Sandra einfach nur nach Hause.

 

Ihr Mann griff ihre Hand. „Wenn die Polizei dich nicht mehr braucht, solltest du ein paar Tage wegfahren.“

Sandra nickte. „Kannst du mitkommen?“

Thomas schüttelte den Kopf. „Nicht nach diesem Raub. Unser Sicherheitskonzept muss überarbeitet werden.“

„Was wird aus meiner Filiale?“

„Schließen können wir sie nicht. Das kostet uns gute Kunden. Also wird sie umgebaut.“

Sandra sah ihn erstaunt an. „Umgebaut? Warum?“

„Die Schließfächer brauchen wir nicht mehr. Sie waren ein Relikt der Vergangenheit. Die meisten Kunden haben sie kaum noch benutzt.“, erklärte ihr Mann. „Mit den Wichtigsten habe ich selbst gesprochen. Ihr Schaden ist gering.“

 

Sandra sah ihren Mann erstaunt an. „Dann haben diese Räuber den ganzen Aufwand umsonst betrieben?“ Die junge Frau hatte doch etwas anderes gesagt. Außerdem gab das Verhalten dieser Bande keinerlei Hinweis, das ihr Coup ein Misserfolg war.

„Scheint so. Die größte Beute waren die Einzahlungen des Tages. Diesen Schaden werden wir den Kunden ersetzen. Das ist bereits geregelt.“

„Ihr entscheidet schnell.“

„Das ist unser Job.“, antwortete ihr Mann.

„Habt ihr auch über mich entschieden?“

„Ja.“ Thomas Stimme klang plötzlich belegt. „Du wirst bei voller Bezahlung freigestellt und psychologisch betreut. Das ist in Fällen wie diesen üblich.“

 

Sandra zog ihre Hand zurück. „Und danach?“

„Übernimmst du eine Stelle in unserem Trainingszentrum. Das ist der Beschluss des Vorstandes.“ Thomas griff erneut ihre Hand. „Privat habe ich einen anderen Vorschlag. Warum siehst du diesen Überfall nicht als ein Zeichen? Bitte die Personalabteilung um die Auflösung deines Vertrages. Ich bin sicher, dass man dir auch finanziell entgegenkommt.“

 

Natürlich wird man mir entgegenkommen, dachte Sandra. Du hast das alles geplant und die Vereinbarung liegt bereits im Schreibtisch des Personalvorstands.

Laut sagte sie. „Ich werde darüber nachdenken, Thomas. Wann kommst du heute nach Hause?“

„Es kann spät werden.“, antwortete ihr Mann.

 

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Der Wagen rauschte davon. Sandra sah ihm nicht nach. Thomas hatte die Chance erkannt. So wie er damals ihre Schwärmerei ausnutzte ließ er sich diese Gelegenheit nicht entgehen. Um einen Posten im Vorstand zu bekommen brauchte er eine Familie. Zehn Jahre später waren Sandra und ihre Kinder nur noch Ballast. Geschiedene Männer waren keine Seltenheit. Thomas ging nicht fremd. Aber Sandra fühlte sich trotzdem betrogen. Ihre Nachfolgerin stand bereits fest. Die war nur ein wenig jünger, bei Licht besehen auch nicht wesentlich schlanker, aber Im Vorstand einer Bank die eng mit jener in der Sandra tätig war kooperierte. Eine Fusion würde Thomas und seine neue Partnerin an die Spitze bringen.

 

Das einzige was Thomas bis jetzt zurückhielt die Scheidung einzureichen war, die Tatsache das Tanja in dieser Bank arbeitete. Ihre Heirat steigerte Thomas Popularität unter den Mitarbeitern damals enorm. Ein leitender Angestellter mit großer Zukunft heiratete eine geschiedene Frau mit zwei Kindern. Thomas galt plötzlich als jemand dem die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter nicht egal waren. Dieser Mann konnte sich nicht scheiden lassen ohne sein Image zu beschädigen. Sandra musste die Bank verlassen. Ohne Aufsehen und aus freien Stücken. Auf dies und nichts anderes lief Thomas Vorschlag hinaus. Er räumte sie einfach aus dem Weg.

 

Tanja schloss das Gartentor. Erst jetzt fiel ihr das Sportcabriolet vor der Garage auf. Das Kennzeichen und der Aufkleber einer Surf-Schule am Heck bedeuteten nichts Gutes. Ein Glück das Thomas ins Büro gefahren war.

„Mama!“

Sandra fuhr herum. In der Tür stand ihre Tochter. Lea trug Jeans, ein helles Top und ein Basecap. Mit weit ausgebreiteten Armen lief das Mädchen auf sie zu. Sandra fing sie auf.

„Ich bin sofort losgefahren, als ich davon erfahren habe.“

„Woher wusstest du es? Die Polizei gab nichts an die Presse.“

„Wen interessiert die Presse? In den sozialen Netzwerken ist die Geschichte längst rum.“

 

Lea löste die Umarmung und musterte sie kritisch. „Du siehst schlecht aus, Mama.“

Sandra wiegelte ab. „Es geht schon wieder.“ Sie wies auf das Auto. „Wo ist dein Vater? Im Haus?“

„Papa hat mir nur sein Auto geliehen. Mit der Bahn hätte ich ewig gebraucht.“ Sie lachte. „Er fährt jetzt meist Motorrad. Echt cool.“

„Dein Vater ist nicht cool, sondern ein Mann in der Midlife-Crises, der dabei ist sich lächerlich zu machen.“, widersprach Sandra. Sie nahm Lea am Arm. „Lass uns reingehen. Ich mach uns einen Tee, dann können wir reden.“

„Ein Tee wäre super.“, antwortete Lea. „Ich bin die Nacht durchgefahren und todmüde.“

Sie nahm ihr Basecap ab und rieb sich die Augen.

 

Sandra blickte ihre Tochter erschrocken an. „Was ist mit deinen Haaren?“ Statt Pony und Pferdeschwanz sah sie einen kurzen blonden Busscut.

„Abgeschnitten.“, antwortete Lea lapidar. „Am Strand gibt’s keinen Fön. Es dauert ewig bis die trocken waren.“ Ihre Tochter blinzelte mit den blauen Augen. „Trotzdem. Salzwasser und ich passen irgendwie nicht zusammen. Meine Augen vertragen es nicht.“

Lea zog sie am Arm. „Ich will jetzt wissen was passiert ist.“

 

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Der Tee in Leas Tasse war inzwischen kalt. Ihre Tochter hatte ihn nicht angerührt, stattdessen hingen ihre Augen an Sandras Lippen. Mit jeder Minute wurde sie blasser. „Ich hätte das nicht durchgehalten, Mama.“

„Doch das hättest du, Schatz.“, widersprach Sandra. „Ein Mensch kann vieles aushalten. Außerdem bist du jung und fit. Ich dagegen…“

„Eine Frau, die es geschafft hat einen Bankräuber um die Finger zu wickeln.“, unterbrach Lea. Ihre Tochter schüttelte sich kurz. Es war als werfe sie eine Last ab.

 

„Dieser Typ hat recht, du bist eine schöne Frau, Mama. Der Idiot, mit dem du verheiratet bist weiß gar nicht was er für eine klasse Frau hat.“ Lea streckte sich. „In den ganzen Jahren seid eurer Scheidung hat Papa keine andere Frau interessiert. Er liebt dich immer noch.“

„Ich glaube kaum, dass dein Vater seit unserer Scheidung keinen Sex hatte.“, widersprach Tanja. „Außerdem war Liebe nie unser Problem.“

„Was war es dann?“

„Dein Vater hatte große Pläne. Ich dagegen wollte Sicherheit. Mit zwei Kindern kann man keine Luftschlösser bauen.“

 

„Papas Luftschlösser sind aber sehr real.“ Lea warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Die Feriensiedlung. Der Beach-Club. Die Surf-Schule.“ Lea sah sich um. „Ich mag dieses Haus nicht. Es ist ein Gefängnis.“

„Lange wirst du es nicht mehr ertragen müssen.“

„Stimmt.“, bestätigte ihre Tochter. „Ich ziehe aus. Nach dem Abitur bin ich hier weg.“

„Vieleicht ziehen wir beide vorher aus?“

Lea starrte sie ungläubig an. „Du willst dich scheiden lassen?“

„Thomas ist dabei mich abzuservieren und die Bank soll zahlen.“

„Auf so eine Idee kann nur er kommen. Du nimmst das doch nicht an?“

„Mal sehen was die Bank anbietet.“, erklärte Sandra. „Außerdem wird es Thomas einiges wert sein, wenn er den Schein noch eine Weile aufrecht erhalten kann ohne mit mir zusammen zu wohnen. So lange du noch zur Schule gehst wird das allerdings kompliziert.“

 

„Oder noch teurer.“, verbesserte Lea. „Ich habe mit Papa übrigens über das Grundstück gesprochen, das du von Opa geerbt hast. Es ist jetzt Bauland. Ideal für ein Hotel. Du könntest es ihm verpachten.“

„Das letzte an dem ich jetzt interessiert bin sind Geschäfte mit deinem Vater.“, widersprach Sandra. Sie wechselte das Thema. „Die Ferien sind noch nicht vorbei. Dein Vater hat dir das Coupé sicher nicht geschenkt. Wann fährst du zurück?“

„Ich dachte morgen früh. Falls du es bis dahin schaffst meine Tasche auszupacken. Ich brauch ein paar neue Sachen.“

Sandra lächelte. „Ich aber keine neue Dreckwäsche.“ Sie stand auf. „Trotzdem schau ich mal nach.“

 

Leas Tasche stand auf dem Bett in ihrem Zimmer. Sandra öffnete den Reißverschluss. Der Inhalt ließ ihr Herz höherschlagen. Sie hatte wirklich auf einer Goldader gesessen. Das musste mindestens eine halbe Million sein. Der größte Teil davon Schwarzgeld.

Sandra zog den Verschluss zu. „Du kannst eine von meinen Taschen nehmen, Schatz.“, rief sie die Treppe herunter.

„Kein Problem, Ma.“, kam es fröhlich zurück.

Sandra trug die Tasche auf den Dachboden und schob sie hinter ihre Koffer. Dort war sie sicherer als in einem Schließfach.

 

Die Abfindung der Bank und Thomas Zahlungen würden den Inhalt nach und nach unauffällig waschen. Die Idee mit dem Hotel war gar nicht so schlecht. Wenn die Familie zusammen hielt konnte man viel erreichen. Vielleicht traf sie sich irgendwann auch mal mit ihrem Ex-Mann. Ein paar Fitness-Tipps konnte sie sich auf jeden Fall holen. Obwohl ihn ein paar Pfunde zu viel an ihrer Hüfte nicht zu stören schienen.

 

E N D E

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.08.2018

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