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Andreas neue Stelle

Andrea Vollborn lag in ihrer Badewanne. Das warme Wasser umspielte ihren Körper. Es war Sonntag am frühen Abend und sie war allein. Andrea genoss diese Zeit mit sich selbst. Seit dem Überfall und der Festnahme der kaufmännischen Leiterin waren diese Augenblicke selten. Die Verhaftung von Nicole Haffer, Andrea nannte sie immer noch so, hatte Andrea unerwartet auf die Stelle ihrer ehemaligen Chefin gebracht. Genau genommen war sie seit dem letzten Donnerstag die kaufmännische Leiterin der Scheffelbaum-Gruppe.

 

Bis Donnerstagvormittag war Andrea Vollborn völlig ahnungslos. Dann der Anruf, der sie in das Büro von Scheffelbaum senior beorderte. Dort warteten der Senior Joachim Scheffelbaum, seine Frau Ursula und der Junior Alexander. Die Beförderung kam vollkommen überraschend. Sie war die neue kaufmännische Leiterin. Für das nächste halbe Jahr noch unterstützt von Ursula Scheffelbaum und in dieser Zeit auch ohne Prokura. Doch dann war sie es endgültig.

 

Der Vorschlag kam von Alexander. Er würde danach auch als der zuständige Geschäftsführer ihr direkter Vorgesetzter sein. Trotzdem redete meistens der Senior. Alexander Scheffelbaum warf nur gelegentlich ein paar Worte ein. Während sein Vater redete, spürte Andrea die Blicke des Juniors auf sich ruhen. Er war 31 und ledig. Andrea mit ihren 35 Jahren etwas älter. Außerdem geschieden und Mutter einer 14-jährigen Tochter.

 

Durch den Überfall, dessen Opfer sie beide wurden, hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Bis zu diesem Abend auf dem Betriebsfest wusste Alexander Scheffelbaum nicht einmal genau wer Andrea war. Doch sie verstanden sich auf Anhieb. Auf dem Weg nach Hause der verhängnisvolle Abstecher in die Firma und damit mitten hinein in diesen Einbruch. Seitdem ließ sie Alexander nicht mehr aus den Augen. Nur sprach er seit dem auch nicht mehr direkt mit ihr. Dann diese Einladung zum Essen am Donnerstag. Sicher hatte Alexander es nicht geplant. Die Idee kam ihm aus der Situation heraus. Andreas Gedanken schweiften zu diesem Abend zurück.

 

Das Essen war vorzüglich, die Getränke ausgezeichnet und Alexander Scheffelbaum ein bevorzugter Gast. Das einzig Störende war seine umständliche Sprechweise. Alexander sprach sie nicht direkt an. Er redete um sie herum. Langsam, aber sicher ging Andrea dieses Gerede auf die Nerven. Warum redete er nur so? Auf dem Betriebsfest hatten sie sich doch auch ohne Probleme unterhalten. Was war nur passiert?

 

Dann viel es Andrea wie Schuppen von den Augen. Ihr Gegenüber wollte sie duzen und traute sich nicht. Als sie sich oben in seinem Büro befreit hatten, tat er es. Andrea war nicht darauf eingegangen und jetzt traute er sich nicht mehr. Dieses Verhalten hätte sie von dem erfolgreichen und mit allen Wassern gewaschenen Vertriebsmann nicht erwartet. Schon wieder so ein Schachtelsatz. Andrea reichte es jetzt endgültig. „Es steht mir ja nicht zu Herr Scheffelbaum, aber es ist genug. Entweder Sie reden mich mit Frau Vollborn an oder du sagst Andrea zu mir.“ Das Gesicht ihres Gegenübers hellte sich auf. „Wenn du Alex zu mir sagst, Andrea?“ Der Abend war gerettet.

 

Auf dem Weg zurück zur Firma, wo ihre Wagen standen, fragte Alexander, „Weißt du schon was du zu dem Ball anziehst, Andrea?“ Überrascht drehte sich Andrea Vollborn um und sah ihren Begleiter erstaunt an. „Zu welchem Ball?“ „Dem Ball des Unternehmerverbandes übernächsten Samstag.“ „Was hab ich damit zu tun?“ „Du bist eingeladen.“, erklärte Alexander Scheffelbaum. „Nun eigentlich nicht du direkt. Nur unsere kaufmännische Leiterin.“ Alexander sah auf und fuhr fort. „Es war aber eigentlich ich, der deiner Vorgängerin diese Einladung beschafft hat. Ich wollte nicht alleine gehen und sie sagte zu.“ „Dann bin ich wohl mehr der Notnagel, Alex?“ erwiderte Andrea Vollborn.

 

Alexander Scheffelbaum lachte. „Der Notnagel ist mir aber ehrlich gesagt lieber als das Original. Kommst du mit? Tust du mir den Gefallen? Es ist doch nur was Offizielles.“ Andrea nickte. „Ja, ich komme mit. Aber was zieht man dazu an? Ich habe keine Ahnung.“ „Das ist kein Problem, Andrea. Ich beschaff dir einen Termin bei Sabrina Möllenhoff.“ „Kann ich mir das überhaupt leisten?“ Die Preise der führenden Damenausstatterin hier in der Stadt sollten nicht ohne sein. Alexander lachte. „Willst du gleich um eine Gehaltserhöhung pokern?“

 

Nur das nicht dachte Andrea. Das Gehalt, das Scheffelbaum Senior ihr anbot, hatte Andrea den Atem stocken lassen und als seine Frau hinzufügte, dass sobald sie Prokura bekäme, auch diese angemessen honoriert würde, krampften sich Andreas Finger in die Lehne des Besuchersessels. Diese Bezahlung lag jenseits aller ihrer bisherigen Vorstellungen.

 

Jetzt, ein paar Tage später hatte sich diese Vorstellung gesetzt. Dieses Geld war natürlich an eine außergewöhnlich hohe Arbeitsbelastung gekoppelt. Das wurde Andrea klar, als sie zusammen mit Ursula Scheffelbaum ihren Aufgabenbereich durchging. Als Assistentin hatte sie Nicole Haffer immer nur zu arbeiten müssen, aber jetzt musste sie entscheiden und alle Bereiche im Überblick behalten.

 

Die Haustür klappte. Andrea sah auf die Uhr. Halb sieben. Ihre Tochter war pünktlich. Andrea hatte ihrer Tochter Lena unmissverständlich klar gemacht, dass sie heute um diese Zeit zu hause sein sollte. Sie musste etwas mit ihr besprechen. Genauer gesagt ging es um Regeln. Regeln, die sie festlegen musste, wenn sich Andrea nicht zwischen ihrem Job und ihrer Tochter aufreiben wollte. Bis jetzt gab Lena keinen Grund zur Besorgnis. In der Schule lief es gut. Das Mädchen freute sich über den neuen Job ihrer Mutter. „Lena?“, rief sie. „Ma, bist du im Bad?“ fragte das Mädchen zurück. „Ja.“ antwortete Andrea. In diesem Moment klingelte das Telefon.

 

Lena hob ab. „Vollborn.“…. „Herr Scheffelbaum?“…. „Moment. Sie ist in der Badewanne.“… „Nein, ich bringe ihr das Telefon.“ Einen Augenblick später öffnete sich die Tür des Badezimmers. „Ma, dein Scheffelllover.“, sagte Lena und reichte ihrer Mutter das Telefon. Aus dem Hörer klang Lachen. „Was sagt deine Tochter zu mir?“ „Entschuldige, Alex. Aber in dem Alter sind sie so.“ Die Ursache der Entschuldigung machte keine Anstalten zu gehen, sondern setzte sich demonstrativ neben die Badewanne.

 

„Was gibt es für ein Problem, Alex?“, fragte Andrea Vollborn nun ernster. „Eigentlich keines.“, entgegnete die Stimme aus dem Hörer. „Die Polizei hat angerufen, wir können dein Auto morgen abholen.“ „Welches Auto?“, erwiderte Andrea erstaunt. „Den Audi deiner Vorgängerin. Es ist doch jetzt deiner.“ Alexander sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, bei der sich Andrea unweigerlich fragte, was sie noch alles von Nicole Haffer übernehmen würde. Nun das mit dem Auto war schon in Ordnung. Ihren fünf Jahre alten Corsa würde ihre Mutter bekommen, entschied sie sofort. Mit dem Gehalt konnte Andrea ihrer Mutter auch noch Steuern und Versicherung sponsern. Da konnte sie endlich mal etwas von dem zurückgeben, dass ihr ihre Eltern in schweren Zeiten hatten zukommen lassen.

 

„Andrea, bist du ertrunken?“ Alexanders Stimme riss sie in die Wirklichkeit zurück. „Nein.“, antwortete sie. „Ich lass mich morgen auf Arbeit bringen. Können wir den Wagen zusammen abholen?“ „Das müssen wir sogar. Er gehört ja der Firma. Bis morgen.“ Mit diesen Worten beendete Alexander Scheffelbaum das Gespräch. „Was für ein Auto?“, fragte Lena von unten. „Das von Nicole Haffer.“ Ihre Tochter schüttelte den Kopf. „Ma!!!!.“ Lena war ungeduldig. Sie wollte wissen, mit was sie demnächst zur Schule gefahren wurde. Dieses Vergnügen wollte Andrea ihrer Tochter wenigstens gönnen, wenn sie schon die nächste Zeit abends und am Wochenende arbeiten müsste.

 

„Ein A5 Coupé.“, sagte Andrea schließlich. Die Augen ihrer Tochter leuchteten. Jetzt musste sie aber auch wissen, was dieses Leuchten kosten würde. „Lena. Wir müssen einiges bereden….“, begann Andrea Vollborn noch in der Badewanne ihrer Tochter die Regeln zu erklären.

 

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Der Mann beobachtete die Frau, die im Hauseingang verschwand. Sie war Ende 30. Nicht gerade schlank, mit einem großen Busen und kräftigen Hüften. Genau diese Art Frauen mochte er. Die Frau, die gerade in dem Hauseingang verschwunden war hieß Ute Wissmeyer. Sie war verheiratet. Ihr Mann arbeitete auf Montage. Ihre beiden fast erwachsenen Kinder waren mehr unterwegs als zu hause. Das ideale Opfer für ihn.

 

Ute Wissmeyer arbeitete an der Kasse eines Supermarktes. Dort hatte der Mann sie auch das erste Mal gesehen. Schon bei dieser Begegnung war sie ihm als potentielles Opfer aufgefallen. Dann ging der Mann mit der ihm eigenen Systematik vor. Er spähte dessen Opfer aus, studierte sein Umfeld, seine Gewohnheiten und schließlich entwickelte er einen Plan. Diese Systematik bewahrte ihn auch bis jetzt davor geschnappt zu werden. Er schlug in einer Stadt nie zweimal zu. Außer seiner kleinen, vor zehn Jahren auf etwas eigenartige Weise erworbenen Pistole, einer Rolle Tape, deren Reste er wieder mitnahm und seinem Camcorder brauchte er nichts. Alles was er sonst noch brauchte, fand der Mann in den Wohnungen seiner Opfer.

 

Wie viele seiner Opfer Anzeige erstattet hatten, wusste der Mann nicht. Vermutlich waren es nur wenige. Im Grunde brauchten sie es auch nicht. Das fand er jedenfalls. Er tat ihnen ja eigentlich nichts. Nur die Bewegungen und die Geräusche einer sich vor ihm windenden gefesselten und geknebelten Frau stimulierten ihn. Es durfte aber kein so junges Ding sein. Er bevorzugte Frauen in einem Alter, in dem deren Körper von jugendlicher Anmut schon zu fraulicher Fülle übergegangen war. Wenn diese Frauen sich dann noch in ihrer Unterwäsche vor ihm wanden, war seine Erregung nicht mehr zu bremsen.

 

Perfekt wurde es, wenn es sich dabei um die kleinen Geheimnisse des Wäscheschranks handelte. Die hatte jede Frau. Manchmal wurden sie für den Ehemann und manchmal für den Liebhaber gekauft. Vielleicht hatten sie die Frauen auch geschenkt bekommen und angewidert weggepackt. All dies war möglich. Auf jeden Fall lagen diese Geheimnisse tief im Wäscheschrank und stammten meist aus einer Zeit, in der die Figur seiner Opfer noch nicht ganz so fraulich war. Seinen Opfern war es meistens peinlicher vor ihm diese Dinge anzuziehen, als wenn er sie nackt gefesselt hätte.

 

Der Mann sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Zügigen Schrittes überquerte er die Straße. Vor einem fünfstöckigen Wohnhaus blieb er stehen. Sein Plan stand fest. Die Gegend war zwar nicht gerade vornehm, aber so heruntergekommen war sie auch nicht, dass sein Opfer nicht ein Paket für die Nachbarin annehmen würde. Diese Nachbarin verließ wirklich vor einer halben Stunde das Haus. Der Mann drückte den Klingelknopf.

 

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„Frau Vollborn?“, hörte Andrea kaum das sie das Geschäft betreten hatte. Vor ihr stand eine Frau Anfang dreißig. Etwas kleiner als sie selbst. Mit vollem schwarzem Haar und einer Traumfigur. „Ich bin Sabrina Möllenhoff.“, sagte die Frau und reichte Andrea die Hand. „Andrea Vollborn.“, antwortete sie etwas überrascht. In der Frau vor ihr hätte Andrea bestimmt nicht die Inhaberin dieses Geschäfts vermutet.

 

Sabrina deutete Andreas Blick richtig. „Sie haben erwartet jemand Älteren vorzufinden.“ Andrea nickte. Die Inhaberin fasste sie am Arm. „Als Alex anrief und fragte, ob ich einer guten Freundin von ihm schnell helfen könnte, dachte ich er schickt wieder eines seiner jungen Hühner. Aber was sehe ich…“ „Eine Mittdreißigerin mit einem Figurproblem.“, lachte Andrea nun. „Sabrina schüttelte den Kopf. „Ich sehe eine Frau mit Stil. Alex Ansprüche an seine Partnerinnen scheinen langsam zu steigen.“, sagte die Inhaberin. „Wir sind kein Paar. Ich arbeite nur für ihn.“, entgegnete Andrea.

 

„Ich weiß. Aber Alex hat gesagt, ich soll das neue Schmuckstück der Firma herausputzen. Aber jetzt mal etwas anderes. Wollen wir nicht du zueinander sagen. Alex Freunde sind auch meine Freunde.“ Andrea hatte nichts dagegen. So wurde sie noch nie in einem Geschäft empfangen. „Sagst du das auch zu den jungen Hühnern, Sabrina?“ Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nur bei Leuten über 30 und ab Konfektionsgröße 40.“, scherzte die Inhaberin. „Ich brauche 42.“, erwiderte Andrea etwas kleinlaut. „Ich weiß.“, antwortete Sabrina Möllenhoff augenzwinkernd.

 

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Ute Wissmeyer bewegte die Hände. Sie besaß keine Chance sich zu befreien. Seit der Mann an ihrer Tür geklingelt hatte, war der Wahnsinn über sie herein gebrochen. Sie wurde in ihre Wohnung gedrängt. Der Mann hatte eine Waffe in der Hand. Über seinem Gesicht lag eine Maske. Mit sicheren Blick fan der Mann das Bad. Dort lag sie nun. Auf den Fliesen zusammen gekauert wie ein Engerling. Aber nicht freiwillig. Mit flinken Griffen hatte der Eindringling sie gefesselt. Alles was er dazu benötigte war eine Rolle Paketband.

 

Utes Hände lagen auf den Rücken. Ihre Füße waren zusammen gezurrt. Unter ihren Oberschenkeln lagen dichte Bahnen des klebrigen Materials die über ihren Rücken führten und den Oberkörper nach unten drückten. Ihr Busen berührte fast die Oberschenkel. Utes Unterleib wurde zusammen gedrückt. Ihr Magen schmerzte. Sie war keine zwanzig mehr als einem diese Stellung vielleicht nichts ausmachte. Ute war 39. Die Zeit und ihre Kinder hatten Spuren hinterlassen. Ihr war schlecht. Jetzt nur nicht würgen, betete Ute Wissmeyer zu sich selbst. Wenn sie es nicht mehr halten konnte hatte sie ein Problem. In ihrem Mund steckte ein Waschlappen, der von mehreren Lagen Paketband gehalten wurde.

 

Ute Wissmeier versuchte ruhig zu atmen. Nur nicht in Panik geraten. Wenn Ute nur gewusst hätte was der Kerl wollte. Sie waren nicht reich. Sie hielten sich über Wasser. Nun, es gab Familien denen es sicher schlechter ging. Doch sie schufteten hauptsächlich für die beiden Kinder. Für sich selbst sahen sie eigentlich keine bessere Zukunft. Mit knapp 40 eine deprimierende Vorstellung. Warum kam sie jetzt nur auf diese Gedanken, fragte sich Ute. Sie hatte keine Ahnung, aber sie halfen ihr die Angst im Zaum zu halten.

 

Das Geräusch der Tür lies Ute Wissmeyer den Kopf heben. Es war der Einbrecher. Er trug immer noch eine Maske. Ihr Blick fiel auf seine Hände. Sauber und gepflegt. Keine Schwielen. Der Mann arbeitete sicher nicht körperlich. Im Gegensatz zu Utes Ehemann. Wenn ihr Mann hier gewesen wäre, hätte dieser Kerl auch mit einer Waffe in der Hand keine Chance gehabt. Ihr Mann war ein Kraftpaket. Aber er arbeitete gerade hunderte Kilometer entfernt und sie war hier mit dem Kerl allein.

 

Der Mann schnitt das Tape an Utes Oberschenkeln durch. Mit einem Stöhnen in den Knebel streckte sie ihre Beine aus. Der Druck auf den Magen verschwand und damit auch die Übelkeit. Sie spürte wie der Eindringling die Fesseln an ihren Füssen durchschnitt. Vorsichtig entfernte er die Reste des Bandes von ihrem Körper. So gut Ute diese teilweise Befreiung auch tat, so kroch doch die Angst wieder hoch. Wieso befreite er sie. Im Grunde genommen hatte Ute Wissmeyer gehofft, der Kerl würde die Dinge, die für ihn von Wert waren mitnehmen und verschwinden. Doch dies tat er nicht.

 

Ute spürte den Griff des Kerls an ihrem Oberarm. Er half ihr auf die Beine. Vorsichtig führte er sie auf den Flur. Dann ging es in Richtung des Schlafzimmers. Ihr schwante böses. Als der Kerl die Tür öffnete wurde es für Ute zur Gewissheit. Dort stand eine Kamera und der Kerl wollte mit ihr…. Ute sperrte sich. Sie wollte nicht in das Zimmer. Doch der Mann schob sie hinein. Ute schrie unter dem Knebel. Doch der Mann sagte nur. „Es ist nicht das an das du gerade denkst.“ Was sollte es denn sonst sein? In Utes Gehirn wirbelten die Gedanken. Er wollte nicht das von ihr, was sie erwartete. Aber was wollte er dann? „Zieh die Sachen auf dem Bett an.“, hörte Ute Wissmeyer, als der Mann ihre Hände befreite.

 

Das Kleid

 

Ute Wissmeyer rieb sich die Hände. Der Mann hatte alle Reste des Klebebandes von ihren Gelenken entfernt. Was sollte sie denn anziehen? Ute sah sich um. Auf dem Bett lagen einige Sachen. Kleidungsstücke, die ihr gehörten. Nur hatte sie diese seit über 15 Jahren nicht mehr getragen. Damals nach der Geburt ihres zweiten Kindes hatte sie diese Sachen das erste und einzige Mal angezogen. Ihr Mann und sie waren noch jung. Zuversichtlich und optimistisch. Auch mit der Hoffnung, dass nachdem sie zwei Kinder hatten, es im Bett wieder so werden würde wie in den Flitterwochen.

 

Alles unerfüllbare Wünsche. Der Alltag hatte sie im Griff. Zwei Kleinkinder. Die Sorgen um den Job. Die Zukunft war mit einem Mal nicht mehr rosig und voller Hoffnungen, sondern düster und voller Gefahren. Ute sah die Sachen auf dem Bett. Es war ein roter Spitzen-BH. Ein dazu passender Slip und wie man es seinerzeit nannte, ein Gürtel. Damals war es Mode gewesen seine Strümpfe an so etwas zu befestigen, auch wenn es seinerzeit schon Halterlose waren. Eigentlich war sich Ute gar nicht mehr bewusst, diese Sachen zu besitzen. Aber seitdem sie diese Dinge gekauft hatte, waren Ute Wissmeyer und ihr Mann nicht mehr umgezogen. Die Sachen hatten irgendwo in ihrem Kleiderschrank gelegen und der Mann hatte sie gefunden.

 

Aber eigentlich gehörten zudem Set noch weiße Strümpfe und rote High-Heels? Ein Blick um die Ecke des Bettes ließ Ute wissen, der Kerl hatte diese Sachen auch gefunden. Ute sah den Mann, der sie in der Gewalt hatte an. Sein Blick war ummissverständlich. Sie sollte die Sachen anziehen. Aber etwas sträubte sich in ihr. Was konnte sie dagegen tun? Im Grunde nichts. Aber wenigstens wollte sie den Waschlappen aus dem Mund haben. Ute griff nach dem Knebel. Ihr Blick blieb an dem Mann hängen. Der Eindringling nickte. „Aber kein Wort! Verstanden?“, war dessen Antwort.

 

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Erschöpft sank Andrea Vollborn auf den kleinen Sessel. „Das wird doch nie etwas mit mir, Sabrina. Kannst du nicht Alex anrufen und sagen du hast nichts Passendes für mich?“ Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nie im Leben. Wenn Alex sagt du brauchst ein Kleid, dann gehst du nicht ohne aus meinen Laden.“, lachte sie. „Wir sind ja auch noch nicht am Ende.“ Das bezweifelte Andrea wirklich. Sie hatten alles probiert was sie sich nur vorstellen konnte. Seit sie gegen sechs das Geschäft betreten hatte, waren über zwei Stunden vergangen. Inzwischen waren Sabrina und sie allein. Das Geschäft schloss um sieben, aber für gute Kunden war das kein Problem, erklärte die Inhaberin. Die halbe Ballgesellschaft hatte sie schon auf diese Weise eingekleidet. Nur musste sie peinlichst darauf achten, dass keine der Damen in der gleichen Garderobe erschien.

 

Sabrina Möllenhoff hatte sich deshalb auch auf einen langen Abend vorbereitet. Kanapees und ein Prosecco standen jetzt auf dem Tischchen vor ihnen. Aber Sabrina hatte es sich bei weitem nicht so schwer vorgestellt. Andrea Vollborn war einfach zu weiblich. Das war das eigentliche Problem. Hosenanzüge oder Kostüme hätte sie Andrea zu duzenden anbieten können. Aber Abendkleider? Die waren in der Regel für dünne Dinger oder ältere Damen geschnitten. In die eine Variante passte Andrea nicht hinein und in der anderen hätte sie ausgesehen, wie ihre Mutter. Daran was Alex ihr erzählen würde, wenn sie seine Begleitung in so einen Sack steckte, wollte Sabrina nicht einmal denken.

 

Sicher! Wenn der Preis keine Rolle spielte, gab es schon Möglichkeiten, aber hier spielte er eine Rolle. Andrea war weder vermögend und wie sie von Alex wusste, war sie alleinerziehend und hatte bis vor kurzem auch nicht über ein hohes Einkommen verfügt. Ihr ging es wie jedem der plötzlich einen Karrieresprung macht. Man musste es nach außen zeigen, aber eigentlich hatte man dafür noch kein Geld übrig. Das Sabrina Möllenhoff zu früh aufgab war trotzdem undenkbar. Das Kleid, das sie noch im petto hatte war ein Vorjahresmodell. Ungetragen. Sabrina hatte es für eine der Diven am hiesigen Theater anfertigen lassen. Nur war der Gerichtsvollzieher vor dem Kleid bei ihrer Kundin. So hing das gute Stück seit einem Jahr in ihrem Lager. Im Prinzip war es ein Totalverlust. Aber bei Andrea sah sie für dieses Stück eine Chance.

 

„Was hast du für eine BH-Größe?“, fragte Sabrina plötzlich. Andrea sah auf. Die Frage kam unerwartet. Was hatte ihre Unterwäsche mit einem Abendkleid zu tun. „80 C.“ sagte Andrea schließlich, nachdem sie einen Blick in die Augen der Inhaberin geworfen hatte. Die Frau ihr gegenüber stand auf. „Ich bin gleich wieder zurück.“ Andrea sah ihr nach und nippte an ihrem Glas. Mehr als ein einziges durfte es nicht werden. Der Audi stand vor der Tür. Noch nie wurde Andrea so bedient. Trotzdem schien es ein Problem mit ihr zu geben. Ich bin eben zu dick, dachte Andrea Vollborn gerade missmutig als die Inhaberin mit einem Kleidersack in der Hand auftauchte.

 

Sabrina Möllenhoff hängte den Bügel an den Ständer und entfernte den Sack. Andrea stockte der Atem. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Solche Teile sah man sonst nur bei Preisverleihungen im Fernsehen oder auf den Bildern von Prominenten in der bunten Presse. „Zieh es an.“, sagte Sabrina. Andrea schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir nicht leisten.“ „Das kannst du.“, entgegnete die Inhaberin, „Das ist ein Vorjahresmodell. Aber noch nie getragen. Ich mach dir einen günstigen Preis.“ Zweifelnd nahm Andrea Vollborn den Bügel und verschwand im der Kabine. Sabrina hoffte inständig, dass die Idee klappen würde, denn sonst wäre sie wirklich mit ihrem Latein so ziemlich am Ende. Aber der Stil passte zu Alexanders Bekannter. Nur wenige ihrer Kundinnen konnten so etwas tragen.

 

Ein paar Minuten später jubelte Sabrina Möllenhoff innerlich. Ihre Idee funktionierte. Andrea sah in diesem Kleid fantastisch aus. Das Feuerrot stand ihr. Der hinter dem Nacken herum geführte Träger verbreiterte sich und vereinigte sich mit dem Kleid unter den Schultern. Dann lief er als Teil des Kleides unter dem Busen hindurch, um nachdem die beiden Bahnen sich kurz berührt hatten in einem langen geschwungenen Bogen nach hinten über der Hüfte auszulaufen. Das Dekollete ihrer Kundin wurde durch diese optische Linienführung zu dem Blickfang, während er ihre Taille schlanker werden ließ. Das Auslaufen in den Hüften betonte diese nicht übermäßig. Der schmale Schnitt brachte die Beine auf die ideale Länge und für die Bewegungsfreiheit beim Tanzen sorgte ein langer Schlitz in dem bis an den Knöchel reichenden Rockteil dieses Kleides.

 

Andrea drehte sich vor dem Spiegel. Nie hätte sie gedacht, dass ihr so ein Teil stehen würde. Auch die Inhaberin schien zufrieden. Aber nicht nur zufrieden. Sabrina strahlte überglücklich. Es gab wenige Frauen, die so ein Kleid tragen konnten, aber Andrea konnte es. Noch ein paar Änderungen, etwas Nettes für darunter und passende Schuhe. Dazu vielleicht ein Poncho zum überwerfen und die Ballkönigin wäre perfekt.

 

Andreas Stimme holte Sabrina aus der Euphorie. „Was soll es kosten?“ Damit waren sie wieder bei dem leidigen Thema. Auch für Alex Freunde hatte sie nichts zu verschenken. Zusammen mit den Schuhen, dem Poncho und vermutlich auch dem darunter, das sie noch beschaffen musste… Sabrina rechnete. Dann sah sie auf und nannte die Summe.

 

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Der Mann im Auto war unzufrieden. Heute hatte es nicht so geklappt, wie er sich das vorgestellt hatte. Nach dem die Frau sich den Knebel abgenommen hatte, zog sie die Sachen auf dem Bett an. Das hieß zunächst entledigte sie sich ihrer Jeans und des T-Shirts mit dem Logo ihrer Supermarkt-Kette. Dann hatte Ute Wissmeyer ihn einen letzten fragenden Blick zu geworfen. Aber umsonst. Er wollte dass die Frau vor ihm weitermachte. Sie tat es auch und legte den BH ab. Dabei drehte sich die Frau um. Er sagte nichts. Ob er sie nackt sah war ihm eigentlich egal. Seine Ziele gingen in eine andere Richtung.

 

Die Frau hatte sich den BH vom Bett gegriffen und angelegt. Er passte sogar noch. Bei dem Slip war das schon anders. Zwar bedeckte er die Blöße seines Opfers, aber er saß eng über dem runder gewordenen Po und in der Haut an den Seiten zeichneten sich tiefe Einschnitte ab. Bei dem Gürtel für die Strümpfe war es noch schlimmer. Er zog eine tiefe Rinne in den Bauch.

 

Die Frau hatte sich umgedreht. In ihren Augen erwartete er ein tiefes Schamgefühl. In der Regel reagierten die Frauen so auf die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Nicht so sein heutiges Opfer. Ute Wissmeyer blickte ihn völlig teilnahmslos an. Pure Gleichgültigkeit sprach aus ihren Augen, während sie die weißen Strümpfe anzog und an den Strapsen des Gürtels befestigte. Daran änderte sich auch nichts, als sie in die roten Schuhe stieg.

 

So etwas hatte der Mann noch nicht erlebt. Er kannte bettelnde oder vor Angst fast gelähmte Opfer. Es gab auch Frauen die anfingen mit ihm zu diskutieren und einmal hatte ihm eines seiner Opfer eine psychologische Beratung angeboten. Aber so etwas war ihm noch nicht passiert. Mit einer Bewegung seiner Waffe wurde die Frau auf das Bett dirigiert. Ute Wissmeyer legte sich auch ohne Murren hatte auf den Bauch.

 

Dann begann der nächste Teil seines Plans. Er fesselte seine Opfer. In der Regel waren die Frauen noch nie gefesselt wurden. Auf jeden Fall noch nie, bis er sie nach seinem Eindringen mit Tape verpackt hatte. Das war ihm wichtig. Einmal war er bei einer Frau gelandet, die seinen Plan durchschaute und ihm anbot ihre Spielzeuge dafür zu benutzen. So etwas wollte er nicht. Die Frau landete damals in ihrem Kleiderschrank und er suchte das Weite. Der Mann wollte die Angst seiner Opfer spüren, während er sie zur Bewegungslosigkeit verdammte. Ihre vergeblichen Befreiungsversuche im Bild festzuhalten war sein eigentliches Ziel.

 

Mit den Utensilien, die er immer zuerst in der Wohnung suchte und sich dann zurechtlegte, hatte er begonnen Ute Wissmeyer zu verpacken. Bis jetzt waren seine Opfer in der Regel noch nicht geknebelt. Das würde nun kommen. Manche der Frauen schrieen sich schon beim ersten Anzeichen einer Fesselung die Seele aus dem Hals. In diesem Fällen musste er natürlich früher an die Knebelung heran. Nachdem seine Opfer gefesselt waren wandte sich der Mann wieder seiner Kamera zu. Sie lief bereits eine ganze Weile. Die Einstellung war immer noch perfekt. Ab diesem Zeitpunkt brauchte er eigentlich immer nur zu warten. Irgendwann fingen seine Opfer an sich zu bewegen. Sei es mit der Absicht ihre Lage bequemer zu gestalten oder aus dem untauglichen Versuch heraus, sich aus den Fesseln zu befreien. Das tat er auch heute. Er hatte gewartet. Doch nichts passierte. Die Frau auf dem Bett vor ihm tat einfach nichts. Sie lag nur da. Keine Regung. Nicht mal eine Bewegung der Hände.

 

Nach 20 Minuten reichte es ihm. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Der Mann war zum Bett gegangen und hatte sein Opfer auf die Seite gedreht. Der Blick in den Augen der Frau war unverändert. Absolute Gleichgültigkeit. Seit diesem Augenblick wusste er sein Plan war gescheitert. Vielleicht hätte er sein Opfer doch noch dazu bringen können, sich in ihren Fesseln zu winden. Aber das hätte gefährlich werden können. Die Zeit für das Abendessen war bald heran und niemand wusste, ob es ihre beiden Söhne nicht an den Herd zog. Er hatte sie gesehen. Es waren große kräftige Burschen. Seine Lust dem 18-jährigen und seinem fast 17-jährigen Bruder zu begegnen hielt sich in Grenzen. Der Mann hatte seine Sachen zusammengepackt, der Frau eine Schere in dir Hand gedrückt und war verschwunden.

 

Was war das Ergebnis des Ganzen? Er saß frustriert in seinem Mercedes und brütete vor sich hin. Jetzt schaltete die Ampel auf grün. Wollte der Opa vor ihm nicht endlich losfahren? Er tat es, aber es war schon wieder gelb. Waren denn heute nur Idioten unterwegs. Der Blick des Mannes fiel auf ein Geschäft. Es war um diese Zeit noch beleuchtet. Aus der Tür trat eine Frau. Nicht irgendeine Frau. Es war genau der Typ Frau den er bevorzugte. Der dunkle Hosenanzug brachte ihre weiblichen Formen hervorragend zur Geltung. Auch wenn es schon dunkel war, spiegelte sich im Licht des Geschäfts ein intelligentes, freundliches Gesicht. Das Herz des Mannes schlug höher. Sogar das Alter passte. Er wusste diese Frau würde sein nächstes Opfer. Es war ein Verstoß gegen seine Regeln. Doch die Frau vor dem Geschäft lohnte dieses Risiko.

 

Die Ampel sprang auf grün. Der Mercedes rollte an. Aber nur um in der erstbesten Parklücke zu verschwinden. Er suchte die Frau. Sie ging zu ihrem Auto. Im Rückspiegel sah er sie einsteigen und ihren Wagen starten. Der Mann wollte seinem Mercedes die Sporen geben als ihn das Audi Coupe zügig passierte. Doch dann lies er davon ab.

 

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„Kommst du, Andrea?“, fragte Alexander Scheffelbaum in der Tür. Andrea Vollborn nickte. Heute war die wöchentliche Sitzung der Geschäftsleitung mit ihren Führungskräften. Die erste an der Andrea in ihrer neuen Funktion teilnahm. Sie packte die Unterlagen zusammen und stand auf.

 

„Hast du dein Outfit deiner Tochter schon vorgeführt?“, wollte Alexander wissen, während sie zusammen zum Besprechungsraum gingen. „Noch nicht.“, sagte Andrea und in Gedanken setzte sie hinzu, und wenn Lena wüsste was das alles kostet, würde sie ihre Jugendfreizeitfahrt nach Spanien ernstlich in Gefahr sehen. Zu Alexander aber sagte Andrea, „Sabrina hat sich sehr viel Mühe gegeben. Da sind ein paar Änderungen und einige Accessoires, die sie noch beschaffen will. Aber am Samstag müsste alles fertig sein.“ „Sabrina ist ein Schatz. Ich wusste sie findet das richtige für dich.“, Andrea lachte. „Vielleicht gefalle ich dir ja überhaupt nicht.“, „Dann werde ich Sabrina zwingen mit dir das Kleid zu tauschen“, erwiderte Alexander. „Und das möglichst vor allen Gästen.“, konterte Andrea als sie das Besprechungszimmer erreichten.

 

Vor dem Raum standen die Scheffelbaums und ein mittelgroßer gepflegt wirkender Mann Mitte 40. Anscheinend waren sie gerade dabei sich zu verabschieden. Doch dann zögerte Scheffelbaum senior. Er wies mit der Hand auf seinen Sohn und Andrea Vollborn. „Darf ich Ihnen Frau Andrea Vollborn, unsere neue kaufmännische Leiterin vorstellen.“ Der Herr reichte Andrea die Hand und murmelte etwas. Es klang wie „Es ist mir eine Ehre, Frau Vollborn“. Nach den Worten Scheffelbaum Seniors war der Herr der Vertriebsleiter eines ihre Lieferanten.

 

Günther Radschreiber lies die Hand der Frau los und sah auf. Er hatte sie genau dort gefunden, wo er es nach dem kleinen Firmenaufkleber am Heck des Audis erwartete.

 

 

 

Ein ruhiger Samstagnachmittag

 

Günther Radschreiber saß in dem Park gegenüber Andrea Vollborns Haus. Sie wohnte dort in der ersten Etage. Diese und noch einige andere Informationen über sein zukünftiges Opfer erhielt er von Scheffelbaum Senior. Er lud ihn einfach zum Essen ein. An sich nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war auch nicht, dass er sich über die neue kaufmännische Leiterin kundig machen wollte. Schließlich würde man ja miteinander zu tun haben. Die Informationen des Seniors klangen viel versprechend. Das Ziel seiner Begierde war 35, geschieden und lebte allein. Allein das hieß, allein mit ihrer 14-jährigen Tochter.

 

Soweit so gut. Nur brauchte er noch andere Informationen für sein Vorhaben. Die konnte ihm Scheffelbaum Senior nicht geben. Vermutlich aber der Junior. Unter einem Vorwand war er noch mal in die Firma gekommen und hatte den Junior unauffällig ausgefragt. Mit seiner Vermutung lag er richtig. Scheffelbaum Junior wusste bedeutend mehr über das Privatleben von Andrea Vollborn. Ein Verhältnis schienen die beiden aber nicht zu haben. Trotzdem erhielt er von Alexander Scheffelbaum eine wichtige Information. Sein Opfer war heute Nacht allein. Ihre Tochter wäre zum Geburtstag einer Freundin eingeladen und würde auch die Nacht dort verbringen. Wann begannen Geburtstage in diesem Alter? Er hatte keine Ahnung. Woher auch. Seine Ex-Frau und er hatten keine Kinder. Dazu war es in ihrer nur drei jährigen Ehe nicht gekommen.

 

Vielleicht besser so, dachte Günther Radschreiber gerade als sich die Haustür im Erdgeschoß öffnete und ein Mädchen heraustrat. Andrea Vollborns Tochter. Er hatte gesehen, wie ihre Mutter sie vor der Schule absetzte. Es war jetzt kurz nach zwei. Sein Plan konnte beginnen.

 

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Wie schnell die Zeit vergeht, dachte Andrea Vollborn. Noch vor zwei Jahren hätte sie ihre Tochter um diese Zeit zu dem Geburtstag ihrer Freundin gebracht und um acht wieder abgeholt. Aber nun? Das Geburtstagskind, in diesem Alter wohl schon mehr eine unpassende Bezeichnung, hatte ihre Freundinnen heute Nachmittag erst einmal eingeladen mit ihr durch die Einkaufszentren zu ziehen. Sie wollte wohl sehen, wofür man das Geld, dass sie von ihren Großeltern zum Geburtstag bekommen würde, ausgeben konnte.

 

Die eigentliche Feier würde so gegen halb sieben beginnen. Selbstverständlich erwartete Lena, das ihre Mutter sie hinfuhr. Die Sachen, die ihre Tochter für die eine Nacht für unverzichtbar hielt, hatten Andrea in Erstaunen versetzt. Als sie lachend bemerkte, sie hätte keinen Kombi erklärte ihre Tochter. „Dein Scheffelllover kann dir ja einen kaufen.“ Wie schnell ihre Tochter diese Dinge als selbstverständlich hinnahm, war schon eigenartig.

 

Andrea Vollborn schloss die Tür. Vor ihr lag ein erholsamer Nachmittag. Bis um 11 war sie in der Firma. Dann nach hause und an den Herd. Das gemeinsame Mittagessen mit ihrer Tochter wollte sie nicht missen und es sollte kein Dosenfutter sein. Darauf legte Andrea größten Wert. Einkaufen musste sie heute nicht mehr. Das hatte sie gestern nach der Arbeit getan. Gott sei dank hatten die Supermärkte abends lange auf. So sehr sie die Kassiererinnen für ihre Arbeitszeiten bedauerte, für Andrea waren sie derzeit Gold wert.

 

Zuerst einmal einen Kaffee und dann rufe ich Sabrina Möllenhoff an, dachte Andrea. Wenn das Kleid schon fertig und die Sachen da waren, wäre heute eine gute Gelegenheit, das Ganze hinter sich zu bringen. Nächste Woche würde es eng werden. Einen kompletten Abend nahm der Frisör und die Kosmetik in Anspruch, ein anderer Lenas Elternversammlung und am Mittwoch musste sie mit Alex zum Stammtisch des Unternehmerverbandes. Sie sollte die Leute dort kennen lernen. So nett Sabrina auch ist, einen Abend als ihre Kleiderpuppe brauche ich nun wirklich nicht, dachte Andrea als die Türklingel ertönte.

 

Andrea betätigte die Sprechtaste. „Ja bitte.“ „Amtsgericht.“, hörte sie aus dem Lautsprecher, „Eine persönliche Zustellung.“ Andrea drückte die Taste für die Haustür und öffnete die Tür ihrer Wohnung. Bestimmt wieder irgendeine Gemeinheit ihres Ex-Mannes um sich vor Lenas Unterhaltszahlungen zu drücken. Im Grunde genommen konnte der Kerl ihr den Buckel herunterrutschen. Andrea brauchte ihn nicht mehr. Und Lena auch nicht! Wenn der Kerl wüsste wie viel sie jetzt verdiente, würde er vor Neid erblassen. Andreas Lächeln sprach Bände.

 

Während sie auf den Boten wartete klingelte das Telefon. Mit schnellen Schritten lief Andrea Vollborn ins Wohnzimmer und griff sich das Mobilteil. „Vollborn.“ Sabrinas Stimme erscholl aus dem Hörer. „Hallo Andrea. Deine Sachen sind da. Hast du Zeit?“ „In einer halben Stunde. Geht das?“, erwiderte Andrea und setzte hinzu. „Ich muss mich noch umziehen?“ So wie sie war mit Jeans, T-Shirt und Wollsocken an den Füssen konnte sie nicht aus dem Haus. „Kein Problem.“, antwortete Sabrina und beendete das Gespräch. Das war doch mal eine gute Nachricht. Mal sehen, was ihre Tochter nachher zu dem Kleid sagen würde. Wo blieb eigentlich der Bote?

 

Auch wenn Andrea Vollborn sportlicher gewesen wäre, den Angriff des maskierten Mannes mit der Pistole in der Hand hätte wohl nur eine Judoka oder Karatekämpferin abwehren können. Der Mann griff sich Andreas Oberarm. Das Mobilteil flog auf den Boden. Sie spürte seine Waffe im Unterleib. Starr vor Schreck war Andrea unfähig sich zu wehren. Warum ich, dachte sie? Warum ausgerechnet immer ich? Der Mann schob sie in die Küche. Ohne ein Wort. Nur mit seiner Kraft und der Macht der Pistole drückte der Eindringling Andrea auf den Boden.

 

„Was wollen Sie?“, presste sie heraus als der Mann sich auf ihren Rücken kniete. Keine Antwort. Nur das bekannte Reißen in den Schulterblättern als ihre Arme auf dem Rücken zusammen gezurrt wurden. Das was der Mann um ihre Handgelenke wickelte kam Andrea bekannt vor. Ihr Hirn war in Alarmzustand. Klebeband. Dadurch hatte sie eine Chance sich zu befreien. Komisch wie schnell man darin Routine bekommt. Bis zu dem Überfall damals im Büro, wurde Andrea noch niemals gefesselt. Dann sie und Alex nach der Betriebsfeier. Das war das zweite Mal. Nun heute.

 

Aber heute lag Andrea schon fast entspannt auf ihrem Küchenboden. Zumindest versuchte sie es. Denn eines hatte ihr der erste Überfall im Büro gelehrt. Nicht wehren. Die Gangster fesseln dich dadurch nur fester. Also entspannte sie die Muskeln und harrte der Dinge, die auf sie zukamen.

 

Nach Andreas Händen kamen die Fußgelenke an die Reihe. An sich hätten die Wollsocken das klebrige Gefühl verhindern sollen, aber der Kerl hatte ihr die Socken ausgezogen. Warum das erfuhr Andrea ein paar Sekunden später auf sehr drastische Weise. Einer ihrer Socken landete in ihrem Mund und der zweite fixierte den Knebel. Andrea überkam Ekel. Aber trotzdem zwang sie sich ruhig zu bleiben und nicht zu würgen. Nur ganz langsam durch die Nase atmend lag Andrea auf den Boden ihrer Küche. Sie wusste, heute würde sie ihre ganze Kraft noch brauchen.

 

Jetzt griff der Eindringling zum Geschirrtuch. Mit dem Tuch in der Hand kniete er sich hinter sie. Andrea fühlte wie ihre Beine angewinkelt wurden. Gleich darauf spürte sie den Stoff zwischen ihren Handgelenken. Jetzt war ihr klar was kam. Das Geschirrtuch erfüllte denselben Zweck, wie seinerzeit der Gürtel von Alex Mantel. Andrea biss auf den Knebel als der Mann das Geschirrtuch anzog und verknotete. Dann verschwand er aus der Küche.

 

Andrea Vollborn wartete keinen Augenblick länger als nötig. Kaum war der Mann aus der Küche verschwunden, begann sie das Geschirrtuch in Richtung ihrer Hände zu ziehen. Nach nur ein paar Zügen lag der Knoten in Reichweite. Das Tuch war nicht so dünn wie der Gürtel von Alex Mantel und ihre Finger waren geschickter als seine. Die Chancen für ihre Befreiung standen also gut.

 

Im Grunde genommen, war ihr Plan simpel. Sie musste sich befreien. Dann konnte Andrea die Küchentür abschließen und mit irgendwas verbarrikadieren. Ihr Handy hatte sie in letzter Zeit fast immer bei sich. Es steckte in der Gesäßtasche ihrer Jeans. Ständige Erreichbarkeit war bei ihrem neuen Job, zumindest in der Anfangszeit Vorraussetzung. Andrea konnte also die Polizei rufen und deren Eintreffen in der Küche abwarten. Wenn der Kerl durchdrehte und um sich schoss, konnte sie immer noch aus dem Fenster springen. Den Sprung aus dem ersten Stock würde sie sicher überleben. Auch wenn sie sich ein Bein oder etwas anderes brach, das wichtigste war, dass ihre Tochter dem Kerl nicht in die Hände fiel. Wenn dies nicht sogar das einzige war, das zählte.

 

Fieberhaft arbeiteten Andreas Hände an dem Knoten. Jetzt hatte sie ein Ende in den Fingern. Damit war der Anfang gemacht.

 

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Nichts! Absolut nichts, stellte Günther Radschreiber fest. Diese Frau besaß keines der kleinen vergessenen Geheimnisse in ihrem Schrank, an denen er interessiert war. Sie besaß noch nicht einmal ein paar Nylons oder einen String! Das war ihm bis jetzt auch noch nicht untergekommen. Wenn er sich in diesem Zimmer umsah, war es im eigentlichen Sinn kein übliches Schlafzimmer. Es war das Zimmer einer Frau die allein lebte und auch nicht akut auf der Suche nach einem Partner war. In der Ecke stand eine aufgeräumte Polsterliege. Darauf lagen bunte Kissen und eine Decke. Das Bettzeug befand sich vermutlich im Bettkasten. Die Breite der Liege lies eindeutig den Schluss zu, das die Bewohnerin allein darauf schlief.

 

Unter dem Fenster ein kleiner Schreibtisch. Die Papiere geordnet und der Deckel des Notebooks heruntergeklappt. Daneben ein kleines Regal mit ein paar sauber aufgereihten Ordnern. Einen Drucker für den Computer vermisste er. Der würde aber vermutlich im Zimmer der Tochter stehen. Der Router neben dem Telefon lies vermuten, dass es noch weitere Geräte in der Wohnung gab. Ein Bücherregal und ein gemütlicher Sessel vervollständigten das Ambiente.

 

Den meisten Platz im Zimmer beanspruchte aber der Kleiderschrank, das eigentliche Ziel seiner Suche. Der Schrank war nicht leer. Ganz im Gegenteil er war gut gefüllt. Die meisten Kleidungsstücke waren von guter Qualität und schienen auch noch nicht alt zu sein. Vermutlich stammten sie, so dachte Günther Radschreiber, aus der Zeit als Andrea Vollborn ihre Stelle als Assistentin ihrer Vorgängerin angetreten hatte. Nur einige eindeutig der Freizeit zuzuordnende Kleidungstücke waren älteren Datums. Den Großteil des Schranks füllten Hosenanzüge, Kostüme, Röcke oder Blazer. Typische Business-Kleidung. Nur darin sah er Frauen jeden Tag. Die Vorstellung einer in diesem Outfit gefesselten Frau ließ ihn ganz kalt.

 

Die Unterwäsche seines Opfers war für Günther Radschreiber eine Enttäuschung. Sicher, der Inhalt der Schubfächer war geschmackvoll. Nur standen bei der Kaufentscheidung eindeutig mehr praktische Erwägungen als die Nützlichkeit für erotische Abendteuer im Vordergrund. Das einzig positive in diesem Schrank waren die Schuhe. Schon bei ihrer Begegnung in der Firma hatte Günther Radschreiber bemerkt, dass Andrea Vollborn zu hohen Absätzen tendierte. Vermutlich kannte sie die Schwächen ihrer Figur und suchte sie erfolgreich zu kaschieren. Mit dem Inhalt des Kleiderschranks gelang ihr das sicher auch weitestgehend.

 

Das sein heutiges Opfer einen Sinn für Stil und Eleganz besaß, brachte Günther Radschreiber nicht weiter. Würde er das zweite Mal hintereinander einen Misserfolg erleiden? Zuerst diese Frau, die alles teilnahmslos über sich ergehen ließ und jetzt hatte sein neues Opfer nicht einmal die richtige Kleidung im Schrank. Es war zum Verzweifeln. Doch plötzlich durchzuckte eine Idee sein Gehirn. Er hatte heute zwei Dinge, über die er sonst nicht verfügte. Das erste war Zeit. Ihre Tochter blieb über Nacht weg und das zweite waren eigentlich mehrere. Es waren die genauen Konfektionsgrößen seines Opfers.

 

Schon seit langem ging Günther Radschreiber mit einer Idee schwanger. Einmal wollte er ein Opfer genau nach seinen Wünschen einkleiden. Heute ergab sich die Gelegenheit. Nur war ein gewisses Risiko damit verbunden. Er konnte ja nicht in das nächste Kaufhaus gehen und die Sachen einfach erwerben. Das wäre zu auffällig. Ein Sex-Shop schied aus demselben Grund aus. Er brauchte ein Einkaufszentrum irgendwo auf der grünen Wiese. Am besten etwas entfernt und schön Anonym. An sich kein Problem. Innerhalb einer Stunde konnte er über die Autobahn zwei dieser Konsumgiganten erreichen.

 

Günther Radschreiber überlegte. Eine Stunde hin, eine weitere knappe Stunde zum einkaufen und dann zurück. Blieben drei Stunden. Schneller ging es nicht. Die Wege in diesen Konsumtempeln waren nicht zu unterschätzen. Das bestätigte ihm seine Erfahrung im Außendienst. Was konnte in dieser Zeit alles passieren? Die Tochter konnte nach Hause kommen. Möglich, aber unwahrscheinlich. Wenn sich die Gören schon in die Haare kriegten, dann vermutlich erst am Abend und dann war er wieder zurück. Das zweite Problem blieb Andrea Vollborn selbst. Aber diesem Problem konnte er mit Hilfe der Tücher und Strumpfhosen aus ihrem Kleiderschrank abhelfen. Da musste die Frau eben durch. Die ganze Nacht lag dann noch vor ihnen. Bevor sie begannen konnte sich sein Opfer denn erst einmal erholen.

 

Sein Plan war also ohne weiteres zu realisieren. Fast beschwingt öffnete Günther Radschreiber die Küchentür.

 

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Andrea Vollborn war den Tränen nahe. Sie hatte es fast geschafft als die Küchentür aufging. Der Knoten des Geschirrtuchs war aufgepult, ihre Hände aus dem Klebeband gezogen und sogar ihr Knebel entfernt. Als sich die Tür öffnete beschäftigte sich Andrea gerade mit dem Klebeband um ihre Füße. Sie war ihrer Rettung so nah. Doch dann kam der Kerl. Brutal riss er Andrea auf die Füße und zerrte sie in ihr Schlafzimmer.

 

Da saß sie nun. In der äußersten Ecke, auf ihren Oberschenkeln hockend und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Genau so wie es der Mann, der gerade ihren Kleiderschrank durchwühlte verlangte. Verzweifelt überlegte sie, wie sie den Eindringling schnell los werden konnte. Eines stand fest. Er musste aus dem Haus, bevor Lena zurück war. Egal was es kostete.

 

„Was haben Sie mit mir vor?“, fragte sie den Mann ohne große Hoffnung auf eine Antwort. Doch zu Andreas Überraschung sagte er, „Du wirst es dir für ein paar Stunden bequem machen. Dann werden wir weiter sehen.“ Ein paar Stunden? Das durfte nicht sein. Was konnte sie tun? „Hören Sie.“, warf Andrea dem Mann hinüber. „Wollen Sie Sex mit mir? Dann bringen wir es hinter uns und sie verschwinden. Ok?“ Der Mann lachte nur. „Du hast es aber verdammt eilig. Ich habe Zeit.“ Andrea war verzweifelt. Es blieb nur noch eine Möglichkeit ihn zum schnellen Handeln zu bewegen.

 

„Ich werde erwartet.“, stieß Andrea hervor. Der maskierte Eindringling sah sie fragend an. „Wer ist es denn, der die Ehre hat dich zu erwarten.“, fragte er mehr belustigt als ernst. Er glaubte ihr wohl nicht. Aber nicht sein Ton lies Andrea hellhörig werden. Die Art mit der er das Wort Ehre aussprach hatte sie schon einmal gehört. Nur wo? Andrea zermarterte sich das Gehirn. „Nun wer ist es?“ Die Stimme des Mannes brach die Stille. Noch ganz in Gedanken nannte sie Sabrina Möllenhoffs Geschäft.

 

Der Eindringling hielt inne. „Stimmt das?“ Die Stimme klang energisch. „Es geht um eine Anprobe. Frau Möllenhoff wartet extra auf mich“, bestätigte Andrea. Der Mann sah auf. Seine Haltung veränderte sich. Die Blicke, die er Andrea durch die Sehschlitze seiner Maske zu warf wurden stechender. „Steh auf!“, befahl er. Andrea stand auf. Der Eindringling griff in den Schrank und holte ein paar dunkelblaue Pumps hervor. „Die ziehst du an.“, sagte er und reichte ihr die Schuhe.

 

Diese Bewegung lies Andrea zusammenzucken. Mehr innerlich, als für den Kerl sichtbar. Diese Bewegung, diese Geste verrieten ihr zusammen mit seiner Aussprache des Wortes „Ehre“ wer der Eindringling war. Es war der Vertriebsleiter, dem sie von Scheffelbaum Senior vorgestellt wurde. Radschreiber hieß er. Langsam setzte sie die Pumps ab und stieg mit ihren nackten Füssen hinein. Ein eigenartiges Gefühl diese Schuhe ohne Strümpfe anzuziehen. Um ein Paar Feinsöckchen wollte sie ihn nicht bitten und sich vor dem Mann in eine Strumpfhose zu quetschen kam überhaupt nicht in Frage.

 

„Wo wollen Sie mit mir hin?“, fragte Andrea so unverbindlich wie möglich. Den Eindringling nur nicht auf den Gedanken bringen, dass sie wusste wer er war. Denn das er sie kannte war klar und sie war kein Zufallsopfer. Vermutlich war Andrea nachdem er sie getroffen hatte, sein Ziel geworden und die Routine und Abgebrühtheit mit der er ans Werk ging ließen auf keinen Anfänger schließen. Dieser Mann war ein Serientäter. Sie musste hier raus bevor ihm ihre Tochter in die Hände fiel.

 

„Wir werden zusammen zu der Anprobe fahren.“, antwortete der Mann vor dem Kleiderschrank. Unmerklich atmete Andrea auf. Sie hatte es geschafft. Er wollte aus der Wohnung. Dass sie nun vermutlich Sabrina in Schwierigkeiten bringen würde wusste sie. Aber ihre Tochter war gerettet. Aus diesem Grund störte es Andrea auch nicht sonderlich, dass der Mann ihr die Hände mit einer Strumpfhose auf den Rücken fesselte und auf jedes Auge ein Stück dieses Klebestreifens drückte. Das ganze tarnte er vermutlich unter ihrer Sonnenbrille. Auf jeden Fall spürte Andrea etwas auf ihrer Nase. Ein umgehängter Mantel verbarg ihre gefesselten Hände. Aber auch das war Andrea egal. Als sie ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen hörte und der Mann sie die Treppe nach unten führte war das für Andrea ein Sieg. Sie hatte ihre Tochter vor diesem Kerl gerettet.

 

Im Laden

 

Alexander Scheffelbaum lag auf der Couch und kurierte mit Wasser, Aspirin und Roll-Mops seinen Kater. Jetzt, am späten Nachmittag stellten sich langsam die Ergebnisse ein. Gestern Abend hatten seine Freunde und er sich zu einem Männerabend getroffen. Genau hieß das, sie zogen durch die Kneipen und Clubs der Stadt und ließen sich gegenseitig hochleben.

 

Früher hatten sie öfter einen solchen Zug unternommen. Nur jetzt waren sie um die dreißig und bis auf ihn alle verheiratet oder in festen Händen. Da ließ man eben nicht mehr jedes Wochenende die Sau raus. Auch wenn Alex nicht in festen Händen war, spürte er deutlich das derartige Nächte nicht mehr so leicht zu verkraften waren. Außerdem hatten seine Freunde, als die Stimmung den Höhepunkt zustrebte, versucht ihn als einzig übrig gebliebenen Junggesellen unter die Haube zu bringen. Das machten sie fast jedes Mal und es lief im Prinzip immer auf die gleiche Art und Weise ab. Seine Freunde schleppten ihn haufenweise Mädchen an, die die zwanzig gerade erst erreicht hatten und lobten Alex Vorzüge in höchsten Tönen.

 

Davon gab es auch eine ganze Reihe. Angefangen von seinem recht angenehmen Äußeren, weiter über seinen Porsche bis hin zu seinem ganz gut gefüllten Bankkonto. In der Regel lachten diese jungen Dinger über ihn. Aber Alex war eine friedliche Seele und lies den Spaß über sich ergehen. Ab und zu war darunter auch mal ein Mädchen mit der man ein paar vernünftige Worte wechseln konnte. Er mochte gerne mit seinen Freunden zusammen sein. Sie kannten sich beinahe ihr ganzes Leben, aber dieses dumme Spiel sollten sie endlich einmal lassen. Gestern war es Alex dann wirklich zuviel und er hatte sein Problem ertränkt.

 

Für seine Freunde war Alex noch solo, aber er selbst fühlte sich nicht mehr so. Den ganzen Abend war in seinem Denken und Handeln immer jemand dabei. Dieser jemand war niemand anders als Andrea Vollborn. Wenn seine Freunde über ihre Familien, Kinder und Pläne für die Zukunft sprachen, saß Alex daneben und dachte an Andrea. Bei jedem Satz überlegte er was würde Andrea dazu sagen. Hätte sie als Frau auch so entschieden? Wie wäre es mit Andrea ein Haus zu suchen? Welche Vorstellungen hätte sie? Gestern Abend war es ihm klar geworden. Er plante im Geist eine Zukunft mit Andrea Vollborn, weil er sie liebte. Aber damit begann sein Dilemma.

 

Alex hatte keine Ahnung, ob Andrea seine Gefühle erwiderte. Es war gerade vier Wochen her, da wusste er nicht einmal wer sie war. Jetzt wünschte er sie würde bei ihm sein. Doch das klärte noch nicht jene zwei Probleme, die Alex im Kopf herum gingen. Da waren erstens ihre Stellung in der Firma und zweitens ihre familiären Verhältnisse.

 

Was seine Stellung in der Firma anging war Alexander Scheffelbaum sicher, sie würde ihre Beziehung nicht stören. Er musste aber dabei weniger an sich als an Andreas Stellung denken. Wenn die Mitarbeiter den Eindruck gewannen, er hätte sein Betthäschen auf die Stelle der kaufmännischen Leiterin befördert, war das nicht nur schlecht für Andrea, es war auch nicht gut für die Firma. Diesen Einwand schob Alex beiseite. Andrea Vollborn besaß die notwendige Qualifikation und war die Assistentin ihrer Vorgängerin. Außerdem hatte sie als erste die verbrecherischen Absichten ihrer direkten Chefin entdeckt und es war somit zu erwarten, dass Andrea auf die Stelle ihrer Ex-Chefin nachrückte.

 

Die Bezeichnung Betthäschen passte wohl auch mehr auf eines der jungen Dinger von gestern Abend. Andrea Vollborn war eine voll im Leben stehende geschiedene Mittdreißigerin und allein erziehende Mutter einer 14-jährigen Tochter. Niemand würde ernsthaft annehmen, dass Andrea zuerst in sein Bett und dann auf ihre jetzige Stelle gewandert wäre. Auch entsprach es nicht dem gängigen Klischee, das sich der Chef eine ältere Geliebte nahm.

 

Diese Argumente, so vorteilhaft sie in dem ersten Punkt auch waren, brachten im zweiten die Probleme. Andrea war keine Frau mit der er einfach ein unverbindliches Verhältnis beginnen und problemlos wieder beenden konnte. Obwohl das nicht in Alex Sinn lag, gab es auch bei der Alternative Probleme. Diese hieß eine feste Beziehung, möglichst schnell zusammenziehen, heiraten und Kinder bekommen. Andrea hatte bereits eine Tochter für die sie die Verantwortung trug. Ob sie weitere Kinder wollte? Vom Alter her war es sicher noch möglich. Nur wollte sie es? Außerdem lag hinter Andrea bereits eine große Enttäuschung. Aber nachdem was Alex wusste hatte sie diese nur stärker gemacht. Aber eine starke Partnerin war ihm nur recht.

 

Das einzige über das Alexander Scheffelbaum sich keine Gedanken machen musste, war der Altersunterschied. Für erwachsene Menschen ist 31 nicht sehr weit entfernt von 35 und aus der Perspektive eines 14-jährigen Mädchens sicher auch nicht. Trotzdem alles in allem Fragen auf die nur eine Person eine Antwort geben konnte. Aber diese Person war nicht hier.

 

Alex spielte mit dem Gedanken Andrea anzurufen und sie zu fragen, ob sie heute Abend Zeit hätte. Nicht um ihr diese Fragen zustellen. Nur um mit ihr zusammen zu sein. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Er angelte es vom Tisch. Andrea! War das Gedankenübertragung? Voller Hoffnung drückte er die grüne Taste. „Hallo Andrea.“, rief Alex in das Mikro. Schweigen. „Andrea?“ Hatte er sich geirrt? Nein, die Nummer war richtig. Eine junge Stimme drang an sein Ohr. „Entschuldigung, Herr Scheffelbaum. Hier ist Lena Vollborn. Ich suche meine Mutter.“ „Was meinst du mit suchen?“ Alex richtete sich auf. Die Worte von Andreas Tochter klangen ernst. „Bleib wo du bist. Ich bin gleich bei dir!“

 

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Andrea Vollborn stand mit erhobenen Händen vor dem Spiegel. Darin sah sie den Mann, von dem sie jetzt mit Sicherheit wusste, dass es der ihr vorgestellte Vertriebsleiter war mit einer Kamera hantieren. Sogar der Vorname war ihr wieder eingefallen. Günther. Im Halbdunkel des Hintergrunds war nur noch schemenhaft die auf einen Stuhl gefesselte Inhaberin zu erkennen. Der Mann war mit Andrea in ihrem Wagen gefahren. Er hatte sie nicht einmal nach dem Weg gefragt. Sie hätte ihm auch kaum helfen können. Andrea umgab in ihrem Wagen absolute Dunkelheit, aber sie war froh, dass sie den Kerl aus der Wohnung und damit von ihrer Tochter weg hatte.

 

Ihre Verkleidung musste sehr unauffällig gewesen sein. Sabrina fiel darauf rein. Als Andrea vor dem Hintereingang stand und der Mann ihre Hand zur Klingel geführt hatte, öffnete Sabrina ohne Zögern die Tür. Den Mann im toten Winkel sah sie nicht. Kaum war die Tür offen, saß Sabrina genauso in der Falle wie Andrea. Die Szene zwischen dem Eindringling und der Geschäftsinhaberin erlebte sie nur als Hörspiel. Aber der Ausgang war klar. Schnell war Sabrina vorläufig ruhig gestellt. Anschließend zog der Mann Andrea in eine Umkleidekabine und zurrte ihre Füße zusammen. Dort ließ er sie zunächst einmal in voller Dunkelheit liegen und wandte sich seinem neuen Opfer zu.

 

Andrea wusste nicht wie lange sie in der Kabine gelegen hatte. Aber der Mann schien bei Sabrina sehr gründlich gewesen zu sein. Auf jeden Fall deutete die Fesselung darauf hin. Die Inhaberin saß auf einem Stuhl, die Arme hinter der Lehne und den Oberkörper soweit nach hinten durchgebogen, das die violette Bluse über ihrem Busen spannte. Der dunkle Rock war weit nach oben geschoben und zeigte zusammengebundene Oberschenkel. Die parallel gefesselten Füße hingen in der Luft und für Andrea sah es so aus, als ob sie mit den Handfesseln verbunden waren. Außerdem legten sich mehrere Windungen um den Oberkörper der Geschäftsfrau und verbanden sie untrennbar mit dem Stuhl.

 

Der Mann hatte für Sabrinas Fesselung nicht sein Klebeband verwendet, sondern die Inhaberin mit Sachen aus ihrem Laden gefesselt. Um den Oberkörper schlangen sich Gürtel. An den Oberschenkeln, sah man zusammen gerollte Nylons und ihr Gesicht schmückten Tücher. Diese dienten nicht nur als Knebel, sondern auch als Augenbinde. Der Täter ging wohl auf Nummer sicher.

 

Trotzdem schien das Interesse des Eindringlings an der Geschäftsinhaberin sehr gering zu sein. Während Sabrina nur gefesselt auf dem Stuhl saß, musste Andrea seit Stunden einen entwürdigenden Striptease über sich ergehen lassen. Es gab wohl kaum ein Stück Unterwäsche in ihrer Größe, dass sie noch nicht angehabt hatte. Dazu diverse Nylons und vermutlich alle Schuhe und Stiefel die der Laden hergab. Aber jetzt schien diese entwürdigende Show dem Ende zuzugehen. Der Kerl hatte sich festgelegt.

 

Im Spiegel betrachtete Andrea ihren erzwungenen Aufzug. Ihr Busen lag in einem BH mit extrem flachen Körbchen. So ein Teil hatte sie noch nie getragen und würde es vermutlich auch nie wieder tun. Der Slip war ein String und mit Sicherheit eine Nummer zu klein. So tief die Seiten in ihre Hüfte schnitten, so tief verschwand das Ding zwischen ihren Pobacken. Ihre Beine zierten halterlose Nylons. Die Strümpfe waren so weiß, wie der Rest der Unterwäsche. An den Füssen trug Andrea, sie hatte es kaum geglaubt als der Mann es sagte, ihre eigenen blauen Pumps. Langsam schien ihr Entführer seine Aufbauarbeiten beendet zu haben.

 

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„Wer ist dort?“, hörte Alexander die Stimme von Andrea Vollborns Tochter in der Sprechanlage. „Lena! Hier ist Alexander Scheffelbaum.“ Kaum war dieser Satz verklungen, ertönte der Summer. Alex lief mit großen Schritten die Treppe hinauf. An der Tür stand sichtlich aufgeregt Lena. Schon auf dem Flur redete sie auf den Chef ihrer Mutter ein. „Es muss etwas passiert sein, Herr Scheffelbaum. Sehen Sie.“ Ihre Hand umfasste Alexanders Unterarm und zog ihn in die Wohnung.

 

Alex sah sich um. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. „Als ich nach Hause kam, lag das Telefon auf der Erde.“, zwitscherte Lena aufgeregt, „Und sehen Sie hier in der Küche.“ Lena lief voraus. Alexander folgte dem Mädchen. Der Anblick der Küche machte ihn wirklich stutzig. Ein Geschirrtuch lag auf der Erde. Die Stühle standen verstreut im Raum, anstatt ordentlich vor dem Tisch. Zwischen den Resten von Klebeband lagen ein paar Wollsocken. Nach der Größe zu urteilen stammten sie von Andrea. Das Ganze war schon etwas merkwürdig.

 

„In Ma’s Zimmer sind die Schränke durchwühlt.“, sagte Lena aus dem Hintergrund. Alex folgte ihr in Andreas Zimmer. Wohl war ihm nicht so einfach in die Privatsphäre seiner Mitarbeiterin einzudringen. Obwohl er wünschte, dass Andrea in Zukunft mehr als eine Mitarbeiterin für ihn sein würde, hatte Alexander sich die erste Begegnung mit ihrer Wohnung doch etwas anders vorgestellt. Was er sich aber genau so vorgestellt hatte, war Andreas Zimmer. Nicht das er das Zimmer, so vor sich gesehen hätte. Nein, es war mehr das Gefühl das ihn umgab. Hier lebte Andrea Vollborn und das spürte er.

 

Tief sog Alex das Gefühl in sich auf. Doch Lena lies nicht locker. Das Mädchen lief um ihn herum und zeigte auf die Schränke. „Sehen Sie.“ Alexander nickte. Zumindest sah alles nach einem überstürzten Aufbruch aus. Seit dem Anblick des Klebebandes und des Geschirrtuchs in der Küche, kroch ein ungutes Gefühl in Alexander hoch. Diese beiden Sachen verband er seit der Nacht nach der Betriebsfeier mit nichts Gutem. Wurde Andrea zu Hause überfallen? Soweit er im vorbei gehen sehen konnte war das Wohnzimmer unberührt. Auch die Küche wies keine Spuren einer Durchsuchung auf. Durchwühlt war nur der Kleiderschrank.

 

Alex wandte sich dem Mädchen zu. Vorhin am Telefon hatte Lena gesagt ihre Mutter wollte sie zu einem Geburtstag fahren und sie wäre nicht da. Das klang zunächst nach einem nörgelnden Teenager. Aber als Andreas Tochter erzählte, der Wagen wäre nicht da und ihre Mutter ging nicht an ihr Handy, war Alex hellhörig geworden. Mit ihrer Bemerkung, die Wohnung wäre durchwühlt, hatte das Mädchen aber sicher übertrieben. Das konnte auch andere Ursachen haben.

 

„Warum bist du eigentlich auf die Idee gekommen mich anzurufen, Lena?“, fragte Alexander, nachdem er seine Gedanken zu Ende geführt hatte. „Ich wusste nicht, wo sie sonst sein sollte. Sie ist doch jetzt immer bei Ihnen. Ich meine jetzt wo sie soviel arbeitet.“ Das Mädchen wurde rot. Was dachte sie denn was ihre Mutter und er machten? Von ein paar kleinen Ausnahmen abgesehen arbeiteten, sie wirklich nur zusammen. Von Andreas Freizeit wusste er so gut wie nichts und wo sie jetzt sein konnte wusste Alex schon überhaupt nicht. Wirklich? Irgendetwas hing in seinem Gehirn. Etwas das Andrea Vollborn über diesen Samstag gesagt hatte.

 

Aber ja doch! Klar! Das Kleid. Andrea hatte gesagt das Kleid wäre am Samstag fertig. Genau das war es! Sicher war Sabrina vorbei gekommen und hatte die bestellten Sachen gebracht. Die Frauen hatten sie ausgepackt und probiert. Deshalb das Paketband. Aber das Kleid konnte sie sicher nur im Geschäft anprobieren. Deshalb das Chaos im Schrank. Alex lächelte. So wie er Sabrina kannte, war sie mit der Stärke eines Hurrikans über Andreas Schrank hergefallen und hatte vermutlich alles, von dem sie der Meinung war sie könnten es bei der Anprobe brauchen, mitgenommen.

 

Lena brauchte sich also keine Sorgen zu machen. „Ich denke, deine Mutter ist in Frau Möllenhoffs Laden und hat die Zeit vergessen. Soll ich dich zum Geburtstag fahren?“ Lena schüttelte den Kopf. „Können wir in den Laden fahren, Herr Scheffelbaum?“, erwiderte Lena. Alex zuckte mit den Schultern. „Warum nicht.“

 

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Günther Radschreiber sah auf die Frau vor ihm. Genau so hatte er sich Andrea Vollborn vorgestellt. Das sein Opfer heute diesen Termin hatte, war für ihn ein Glücksfall. Als erstes dachte er an einen Trick. Aber als Andrea Vollborn dieses Geschäft nannte, wusste er, dass ein absoluter Glückstreffer für ihn war. Seinen gefährlichen Plan mit dem Einkaufszentrum brauchte er nun nicht mehr. Denn alles was er für sein Vorhaben benötigte, fand er hier und das auch noch in ausgezeichneter Qualität.

 

Bis jetzt hatte sich der Mann auch durch nichts stören lassen. Der Laden war abgeschlossen und der Schlüssel steckte in seiner Tasche. Das Telefon schwieg ebenfalls. Nur das Handy der Frau vor ihn hatte einmal geklingelt. Doch das war kein Grund zur Besorgnis. Aber langsam wurde es Zeit sich mit Andrea Vollborn zu beschäftigen. Zuerst sollte sie sich selbst Knebeln. Den Rest würde er erledigen. Die Sachen lagen schon bereit. In Wesentlichen handelte es sich um die gleichen Dinge mit denen er die Inhaberin auf den Stuhl gefesselt hatte.

 

Für den Knebel hatte Günther Radschreiber aber eine besondere Idee. Die Konstruktion, die er in der Hand hielt bestand im Wesentlichen aus einem Paar wollener Damenkniestrümpfe, einem langen schmalen Schal und einem schmalen festen Seidentuch. Die Packung der Kniestrümpfe hatte er aufgerissen und den Inhalt zu einer weichen Kugel verknüllt, die er in die Mitte des schmalen Schals gelegt hatte. Dieser wurde um das Knäuel geführt, so dass es in der Mitte des Schals wie eine Beule hervor stach. Die Sicherung dieser Beule erfolgte mit dem schmalen Seidentuch.

 

Der Knebel war perfekt. Sein Opfer musste sich das gesamte Knäuel in den Mund schieben. Bei der Größe der zusammen geknüllten wollenen Kniestrümpfe sicher nicht sehr angenehm. Insgeheim freute sich Günther Radschreiber auf den Anblick seines Opfers. „Dreh dich um.“, sagte er. Andrea Vollborn folgte seiner Anweisung. Ihr Blick fiel auf ihn. In den Augen der Frau war keine Angst, noch nicht einmal Unruhe. Sein letztes Opfer hatte resigniert. Die Frau vor ihn trug unter der Gleichgültigkeit aber eine Spur Triumph.

 

Den werde ich dir schon noch austreiben, dachte Günther Radschreiber und warf der Frau den Knebel hinüber. Die fing ihn auf. „Anlegen.“, lautete seine Anweisung. Andrea Vollborn drehte das Ding einen Augenblick in der Hand bevor sie den Mund öffnete und die Beule in ihren Rachen führte. In diesem Moment klingelte wieder ihr Telefon. Sie hielt inne, aber ein Wink von Günther Radschreiber mit der Pistole lies sie weitermachen. Jetzt klingelte das Telefon oben im Büro der Inhaberin. Die gefesselte Sabrina Möllenhoff hob den Kopf. Das Klingeln verstummte. Dafür drang einige Sekunden später der Standardklingelton eines Handys aus dem Obergeschoss. Da suchte wohl jemand die Inhaberin. Pech für den Anrufer, dachte Günther Radschreiber.

 

 

Eine Entscheidung

 

Die Nummer auf dem Display erlosch. Fragend sah Alexander auf die neben ihm sitzende Lena Vollborn. Der Blick des Mädchens hatte sich mit jedem erfolglosen Versuch verdüstert. Ganz gleich wo er anrief. Weder ihre Mutter, noch Sabrina gingen ans Telefon. Das war nun wirklich ungewöhnlich. Sollte das Mädchen mit ihrer Ahnung doch Recht behalten?

 

Langsam bog der Porsche in die Straße vor Sabrina Möllenhoffs Geschäft ein. Jetzt am späten Nachmittag fand Alex sogar genau gegenüber dem Laden einen Parkplatz. Den Eingang des Geschäftes hatten sie von hier aus gut im Blick. Lena stieß ihn von der Seite an. „Sehen Sie?“ Ihr Arm wies auf die andere Straßenseite. Dort parkte genau vor dem Geschäft Andreas Coupé. Sabrinas Wagen war nirgends zu sehen. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Das Geschäft hatte einen Hinterhof. Dort parkten Sabrina und ihre Angestellten in der Regel. Der noch offene Durchgang lies den Schluss zu, dass Sabrina im Laden war.

 

Was nun, überlegte Alexander. Das einfachste wäre an die Tür zu gehen und klingeln. Natürlich nicht an der Vordertür. Aber er kannte das Gebäude und sicher würde ihn Sabrina, wenn ihre Kundin nicht gerade halb nackt wäre auch einlassen. Andrea Vollborn halb nackt. In Alexanders Kopf formte sich ein Bild. Das Bild gefiel ihm. Hielt die Vorstellung in diesem Fall der Wirklichkeit stand? Alex war in dieser Hinsicht absolut sicher. Nur, ob er jemals die Gelegenheit haben würde, seine Vermutung an der Realität zu überprüfen stand in den Sternen.

 

Alexanders Gedanken wandten sich wieder der Wirklichkeit zu. An die Hintertür gehen und klingeln? Das war das Einfachste. Nur war es das Beste? Etwas sträubte sich in ihm. Alex wollte nicht wieder in eine Falle laufen. Das Erlebnis nach der Betriebsfeier kroch in ihm hoch. Andreas Tochter schien davon überzeugt zu sein, dass etwas nicht stimmte. Durch diese Überlegungen wurde Alex wieder bewusst, dass er nicht allein im Auto saß. Lena saß neben ihm und erwartete, dass er etwas unternahm. Lieber wäre es ihm, das Mädchen wäre nicht hier. Aber sie war es nun einmal. Wohin mit ihr? Wo war sie in Sicherheit, falls ihm etwas passierte.

 

„Hast du ein Handy, Lena?“, fragte Alexander. Zur Bestätigung zog Andreas Tochter ihr Handy aus der Jacke. „Gut.“, fuhr Alex fort, „Du gehst in das Cafe da drüben. Bestellst dir ein Eis oder sonst etwas und wartest. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, rufst du deinen Großvater an.“ Bei diesen Worten zog er einen zwanzig Euroschein aus der Brieftasche und reichte ihn dem Mädchen. Lena wehrte entschieden ab. „Ich bin kein Kind mehr. Meiner Mutter ist etwas passiert und vermutlich ist sie da drin. Entweder sagen Sie mir was Sie vorhaben oder ich gehe selbst hinüber.“

 

Das ging nun überhaupt nicht. Trotzdem hatte Lena Recht. Sie musste wissen was er vorhatte. Andreas Tochter war die einzige Person die, wenn etwas schief ging Hilfe holen konnte. Alexander steckte den Schein wieder zurück. „Entschuldigung, Lena. Warte hier. Ich bin in fünf Minuten wieder da.“ Das Mädchen nickte nur. Alex stieg aus. Das Haus, in dem sich das Geschäft von Sabrina Möllenhoff befand kannte er gut. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit.

 

Vorsichtig durchquerte Alexander die Durchfahrt. Wie vermutet stand Sabrinas Wagen allein auf dem Innenhof. Keine Menschenseele war zu sehen. Hatte sie die Hintertür abgeschlossen? Die Tür besaß zwar nur einen Knauf. Aber Alex wusste, dass Sabrina manchmal die Sperre herausnahm und die Tür nur in das Schloss fallen lies. Mit wenigen Schritten war er an der Tür. Alex drückte den Knauf. Verschlossen. So einfach war es also nicht. Sein Blick glitt an der Hauswand entlang. Alles schien fest verschlossen. Aber auf diese Front hatte er auch keine großen Hoffnungen gesetzt. Mehr Erfolg erwartete Alexander an der Rückseite.

 

Sabrina hatte neben ihrem Büro oben noch ein kleines Apartment. Nichts Besonderes. Ein großes Zimmer mit einer offenen Küche und einem Bad. Früher hatte sie auch hier gewohnt, aber das war lange her. Jetzt benutzte sie es nur noch gelegentlich. Vor allem wenn sie in der Stadt abends etwas vor hatte und keine Lust hatte ein Taxi zu sich hinaus zu nehmen. Manchmal auch wenn sie sich ausruhen wollte, während sie noch auf einen besonderen Kunden wartete. Das Apartment hatte auf dem Dach des Erdgeschosses eine Terrasse und auf diese Terrasse setzte Alex seine Hoffnung. Sollte sich Sabrina während sie auf Andrea wartete etwas ausgeruht haben, machte sie das bei diesem Wetter bestimmt auf der Terrasse oder öffnete zumindest das Fenster.

 

Alexander schlich um das Haus. Von hier unten konnte er nichts sehen. Er musste nach oben. Schaffte er es mit einem Sprung? Vermutlich nicht. Alex schaute sich um. Der Hof war aufgeräumt. An dieser Seite nichts das ihm helfen konnte auf die Terrasse zu gelangen. Aber noch musste er ja nicht nach oben. Er wollte ja nur einen Blick hinauf werfen. Das ging auch von der anderen Seite, und da stand ihm ein gut gewachsener Nussbaum zur Verfügung.

 

Alex lief und setzte zum Sprung an. Seine Hände ergriffen den unteren Ast des Baums. Er schwang aus. Langsam kam er zur Ruhe. Alexanders Füße tasteten nach den Unebenheiten im Stamm und fanden sie. Jetzt noch einen Ruck und der Ast lag in den Achselhöhlen. Ein Blick suchte die Terrasse. Hurra, schrie Alex innerlich. Die Tür war einen Spalt breit offen.

 

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Günther Radschreiber sah auf das vor ihm liegende Paket. Denn als solches konnte man Andrea Vollborn jetzt mit etwas gutem Willen bezeichnen. Ihre Hände lagen mit einer Strumpfhose über kreuz gefesselt auf ihrem Rücken. Um die Taille schlang sich ein viel zu enger Gürtel, der tief in die Haut seines Opfers einschnitt. Dieser Gürtel hatte nur einen Zweck. Er sollte Andreas Handfesseln den notwendigen Halt geben. Zu diesem Zweck verband ein Tuch ihn mit diesem.

 

Zwei weitere, diesmal längere Gürtel schlangen sich jeweils unter und über ihrem Busen um Oberkörper und Arme. Die tiefen Striemen, die sie jetzt schon hinterließen, zeugten von der Kraft mit der er die Verschlüsse festgezogen hatte. Ihre ebenfalls mit einer Strumpfhose über kreuz gefesselten Füße, drückten unwillkürlich die Oberschenkel seines Opfers auseinander. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch davon, dass die Unterschenkel wieder in Richtung der Handfessel gezogen waren. Ein besonders reißfestes Tuch verband die Fußfessel mit der bereits fixierten Handfessel.

 

Der äußerst geringe Abstand zwischen den beiden resultierte aus seiner eigenen Methode. Zunächst ein Gürtel dazwischen und diesen mit aller Kraft angezogen. Die Kräfte die er dadurch auf den Körper übertrug würde Günther Radschreiber nur ungern an sich selbst spüren. Aber das sogar durch den Knebel dringende Stöhnen der Frau lies ihn Gewissheit haben, das sie wirkten. War es genug stellte man einfach den Fuß auf das Ende des Gürtels und fixierte die Fesselung.

 

Insgesamt war Günther Radschreiber mit seinem Werk zufrieden. Er trat hinter die Kamera und richtete sie genau ein. „Beweg dich! Schlampe!“, fauchte er die auf dem Boden liegende Frau an. „Beweg dich. Oder ich mach dich fertig!“

 

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„Wenn ich in zwanzig Minuten nicht wieder draußen bin Lena, dann rufst du…..“ „Dann rufe ich die Polizei. Ist klar, Herr Scheffelbaum.“, unterbrach ihn Andreas Tochter. Alexander nickte, griff sich das Abschleppseil aus dem Kofferraum und machte sich auf den Weg.

 

Ein paar Minuten später hatte er mit Hilfe seines Abschleppseils Sabrinas Terrasse erfolgreich erklommen. Alex hatte sich nicht getäuscht. Die Tür war wirklich nur angelehnt. Auf dem Tisch der Sitzgruppe standen eine Kanne und zwei Tassen. Alex öffnete die Kanne. Kaffee. Bereits kalt. Aber der Inhalt war unberührt. Diese Beobachtung bestärkte Alex, dass hier wirklich etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Trotzdem freute es ihn, dass sich die beiden Frauen so gut verstanden. Auch wenn er sich durch seine Aktion vollkommen lächerlich machte, mehr als sanften Spott würde er vermutlich  nicht über sich ergehen lassen müssen.

 

Alexander schob die Tür auf. Vorsichtig betrat er das Zimmer. Es war leer. Nur eine eilig über die Liege gezogene Decke lies den Schluss zu, dass Sabrina sich wirklich hier oben aufgehalten hatte, als jemand an der Tür klingelte. Vorsichtig durchquerte Alex das Zimmer. Die Tür zum Rest des Gebäudes war unverschlossen. Von hier aus betrat man nicht direkt das Geschäft. Zunächst kam man in einen Korridor. Von diesem zweigten neben Sabrinas Appartement, auch ihr Büro und die Sozialräume für die Angestellten ab. Daneben lag die eigentliche Tür zum Laden.

 

So geräuschlos wie möglich betätigte Alexander die Klinke. Aus dem Laden drangen Geräusche. Die Laute kamen aber eindeutig von unten. Hier oben im ersten Stock des Geschäftes schien niemand zu sein. Alex schlüpfte aus der Tür und sah sich um. Er war hier oben wirklich allein. Die Geräusche wurden lauter. Dazwischen eine Stimme. Unverständlich, aber unverkennbar ein Mann. Alex lies sich auf den Boden gleiten. Vorsichtig Zentimeter für Zentimeter zog er sich vorwärts. Erinnerungen wurden wach. Erinnerungen an die Kindheit. An Räuber und Gendarmspiele.

 

Das dies hier kein Spiel war, wurde Alexander klar als er durch das Geländer der Empore in das Erdgeschoß blicken konnte. Das erste das er sah war Sabrina. Die Inhaberin war auf einem Stuhl gefesselt. Die Hände hinter der Lehne. Ihre Füße hingen in der Luft. Der stark nach hinten gebogene Oberkörper stand im scharfen Kontrast zu dem hilflos mit verbundenen Augen auf der Brust hängenden Kopf. Aus dem augenscheinlich geknebelten Mund drang kein Laut. Sabrina war also nicht die Quelle der Geräusche.

 

Alexander tastete sich weiter. Die Geräusche wurden lauter. Jetzt konnte er auch verstehen, was der Mann dort unten sprach. „Beweg dich, Schlampe. Ich will deinen Arsch sehen.“ Alex glitt noch näher an das Geländer. „Roll dich auf die Seite.“, fauchte der Mann, dessen Stimme ihm irgendwie bekannt vorkam. „Ich will dich winseln hören.“, setzte der Mann hinzu. Alex war am Geländer. Die Quelle der Stimme lag jetzt fast unter ihm. Ein Mann stand hinter einer Kamera und sah auf etwas vor ihm. In seinem Hosenbund steckte eine Pistole.

 

Neben der Stimme des Mannes, waren noch andere Geräusche. Alex wusste nur zu genau wie diese Laute zustande kamen. Er selbst hatte sie seinerzeit in seinem Büro von sich gegeben. Es waren Laute eines geknebelten Menschen, der sich in seinen Fesseln wand. Der Tonlage nach musste dieser Mensch eine Frau sein. Andrea?

 

Langsam senkte sich Alexanders Blick. Er hatte Angst vor dem was er sehen würde. Sein Blick wanderte durch den Raum. Nichts. Alex zog sich noch ein paar Zentimeter vor. Jetzt sah er sie. Andrea wand sich auf den Boden. Die Fesseln, die der Kerl ihr angelegt hatte, mussten schmerzhaft sein. Das fühlte er sogar von hier oben. Andrea lag auf der Seite. Eng waren die Füße an den Rücken gezogen. Drei Gürtel schnitten tief ihn ihren Oberkörper.

 

„Ich will dich winseln hören!“, wiederholte der Mann. Jetzt schrie er fast. Andrea bewegte sich schneller. Trotzdem schien der Mann mit dem Ergebnis nicht zu frieden zu sein. Er verließ seinen Platz hinter der Kamera und ging auf Andrea zu. Sein Fuß trat ihr in die Seite. Unter einem Stöhnen drehte sie sich auf den Rücken. Für einen winzigen Moment traf Andreas Blick Alex auf der Empore. Hatte sie ihn gesehen? Alex war sich sicher. Sie musste ihn gesehen haben.

 

Wie jetzt weiter? Der Mann hatte eine Waffe. Alexander musste sich etwas einfallen lassen. Am besten zurück und die Polizei verständigen. In diesem Moment drang ein durch einen Knebel abgeschwächter schriller Schrei an sein Ohr. Erschrocken fuhr Alex auf. Das maskierte Gesicht des Mannes starrte ihn an. Vermutlich war er Andreas Blick gefolgt. Der Mann zog seine Waffe. Alex sprang auf und lief ein paar Schritte nach hinten. So schnell wie möglich hier raus, war sein erster Gedanke. Zu einem weiteren kam er nicht mehr, bevor er die Schritte des Mannes auf der Treppe hörte. Instinktiv verbarg Alex sich hinter einen Kleiderständer.

 

Der Mann hatte die Empore erreicht. Seine Schritte verstummten. Hatte der Mann gesehen, wohin Alex verschwunden war? Wenn ja, warum blieb er dann stehen? Er weiß nicht wo ich bin, resümierte Alexander. Trotzdem hatte er Angst. Der Mann trug eine Waffe. Seine Gedanken glitten zurück in sein Büro. Damals als Andrea und er dachten die Gangster kämen zurück, wollte er sich auch nur mit einer Schere bewaffnet auf sie stürzen. Heute hatte er nicht einmal die. Dafür sah der Mann nicht so kräftig aus, wie die Gangster damals. Außerdem war der Kerl allein.

 

Jetzt wieder die Schritte des Mannes. Alex drückte sich tiefer in die Ecke. Durch die Lücken zwischen den Sachen auf dem Kleiderständer sah er ihn. Auch wenn der Mann mit dem Rücken zu ihm stand. An Statur und Gang erkannte er ihn. Die Stimme war Alex schon vorhin bekannt vorgekommen. Jetzt wusste er, zu wem sie gehörte. Der Mann war Günther Radschreiber. Sein Vater hatte Andrea selbst ihrem Peiniger vorgestellt.

 

Günther Radschreiber ging langsam ein paar Schritte nach vorn. Genau Jetzt vor dem Kleiderständer blieb er stehen. Die Waffe in der Hand und den Rücken zu Alexander. Jetzt oder nie, dachte sich Alex. Sein Fuß suchte den Kleiderständer. Mit einem gewaltigen Tritt stieß er ihn um. Der Ständer mit samt den Sachen riss Günther Radschreiber zu Boden. Alex stürzte hervor. Die Hand mit der Waffe seines Gegners erhob sich aus dem Kleiderbündel. Alex packte zu.

 

Scheffelbaum junior war kräftiger als der Vertriebsleiter. Alex wand ihm die Waffe aus der Hand. In hohen Bogen flog sie von der Empore. Günther Radschreiber kam wieder auf die Beine. In seinen Augen funkelte der blanke Hass. Ohne zu überlegen stürzte er sich auf Alexander. Der wich aus und schlug zu. Einmal. Sein Gegner heulte auf. Zweimal. Der Vertriebsleiter sank auf die Knie. Alex zog ihn hoch und holte aus. Sein Gegenüber hob die Hände vor das Gesicht und fing an zu betteln. „Nein. Bitte nicht. Lassen Sie mich…“ Alex zog dem Mann die Maske vom Kopf. Andreas Peiniger standen Tränen in den Augen.

 

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Alexander Scheffelbaum wartete vor dem Polizeigebäude. Neben ihm Andrea Vollborn und ihre Tochter. Günther Radschreiber hatte keinen Widerstand geleistet, als Alex ihn nach unten gezerrt und provisorisch gefesselt hatte. Mit einer Schere aus dem Tresen waren Andreas Fesseln schnell verschwunden. Dann hatte sich Alex Sabrina Möllenhoff zugewandt. Jedoch nicht ohne vorher Lena Vollborn auf der anderen Straßenseite einen Wink zu geben.

 

Das Mädchen war aus dem Porsche gesprungen und schnurstracks durch die nun offene Ladentür zu ihrer Mutter gelaufen. Die Erleichterung der beiden spürte er jetzt noch. Andrea widmete sich ihrer Tochter aber nur kurz. Dann kam sie herüber und half Alex Sabrina zu befreien. In Andreas Blick lag neben tiefer Dankbarkeit noch etwas anderes. Was war es nur? Alex wusste es nicht. Was er aber wusste, dass ihn seine Vorstellung von einer halbnackten Andrea Vollborn nicht getrogen hatte. Von ihr ging eine Anziehung aus, die Alex nicht beschreiben konnte. Niemals hätte er sich vorgestellt, dass dieser Typ von Frau ihn Erregen könnte. Aber jetzt war er sicher. Andrea Vollborn war die begehrenswerteste Frau auf der Welt und er liebte sie.

 

Hier vor der Tür, während sie auf die Streifenwagen warteten, fand er Andrea noch erregender als in diesem ihr von dem Kerl aufgezwungenen Aufzug. Die ausgewaschene Jeans, das einfache Shirt und der übergeworfene Mantel zeigten eine andere Seite als jene, die er aus der Firma kannte. Ohne Make-up und mit den zerstörten Haaren sah er das erste Mal die Frau mit der er zusammen sein wollte wirklich völlig privat. Der Anblick gefiel ihm. Dort stand eine selbstbewusste starke Frau bereit allen Widerungen des Lebens zu trotzen. Die Frau die er als die ideale Partnerin für sich ausgemacht hatte.

 

Ein Streifenwagen fuhr vor. Aus der Beifahrerseite stieg ein uniformierter Beamter. Sein Blick fiel auf Alex. „Herr Scheffelbaum?“, fragte er. Alexander nickte und sah zu Andrea. Seine Hand streckte sich ihr entgegen. „Bis morgen. Ich ruf an und dann holen wir deinen Wagen.“ Die neben ihm stehende Frau griff seine Hand. „Danke Alex. Wenn du nicht gewesen wärst.“ Alexanders Griff versteifte sich. Seine Augen suchten Andrea Vollborns Blick. Tatsächlich. Das was vorhin unter der tiefen Dankbarkeit versteckt lag, konnte er jetzt erkennen. In Andreas Augen lag tiefe Zuneigung. Wäre Alex allein mit ihr gewesen, hätte er diese Frau an sich gezogen und in seinen Armen gehalten. Mehr wollte er nicht. Aber die Situation ließ das nicht zu.

 

Stattdessen sagte er. „Es war deine Tochter, die es bemerkt hat. Nicht ich.“ Andrea nickte nur, sagte aber nichts. „Herr Scheffelbaum!“. Die Stimme des Beamten klang fordernd. „Ich komme.“, sagte Alexander. „Bis morgen ihr beiden.“ setzte er hinzu und ging zum Streifenwagen.

 

„Du hättest nur was sagen müssen, Ma und ich hätte mich in Luft aufgelöst.“, sagte Lena Vollborn zu ihrer Mutter. Andrea sah ihre Tochter entgeistert an. Diese schüttelte verwundert den Kopf. „Ich merke, wenn ich störe.“ Also darauf wollte ihre Tochter hinaus. Das Mädchen wurde erwachsen. Das lies sich nicht mehr aufhalten und vermutlich hatte das Leben, dass sie beide führten diesen Prozess noch beschleunigt. Lena hatte aber den Kern der Sache getroffen. Andrea hätte wer weis was dafür gegeben, wenn Alexander Scheffelbaum sie umarmt hätte. Sie vermisste ihn, wenn sie allein war. Heute als dieser Kerl diese unmöglichen Dinge von ihr verlangte, hatte sie ihr Inneres damit geschützt, dass sie an ihre Tochter und an ihn gedacht hatte. Aber hier vor dem Polizeigebäude, in Gegenwart ihrer Tochter konnte sie unmöglich ihre Gefühle so deutlich zeigen.

 

„Er ist nur mein Chef, Lena“, antwortete Andrea Vollborn deshalb. Ihre Tochter lachte. „Nur dein Chef?“ Lenas Stimme klang spöttisch. „Wir sind auch Freunde.“, setzte Andrea etwas pikiert über den Ton ihrer Tochter hinzu. „Nur Freunde? Ma, wenn ich mal sage er ist nur ein Freund und ich sehe so aus wie du jetzt gibt es für mich garantiert Ärger.“ Lena war kurz vor dem loslachen. Andrea warf ihrer Tochter einen bösen Blick zu. Die lies sich aber nicht vom Thema abringen. „Ma, du machst dich lächerlich.“, sagte sie, „Papa ist weg als ich gerade acht war. Danach habe ich ihn kaum noch gesehen. Und du? Du hast geschuftet. Jetzt denk mal an dich.“ Lachend fügte Lena hinzu, „Außerdem ist er niedlich.“

 

Andrea nickte. War das wirklich schon so lange her? Das musste es wohl. Aber was hieß geschafft. Gut sie hatte ihren Abschluss und eine gut bezahlte Stelle. Nun das alles noch nicht sehr lange. Aber manchmal musste man eben auch etwas Glück haben. Lena hatte Recht. Im Grunde sehnte sie sich nach einem Partner. Aber musste das ausgerechnet ihr Chef sein?

 

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Der Ball war vorbei. Die Gäste auf dem Heimweg. Die meisten riefe sich ein Taxi. Nur Andrea Vollborn und Alexander Scheffelbaum gingen noch ein paar Schritte. Alex hatte Andrea seinen Arm angeboten. Genau wie seinerzeit nach der Betriebsfeier. Nur gingen sie heute viel vertrauter miteinander um. Trotzdem lag eindeutig eine Spannung in der Luft.

 

Andrea sah fantastisch aus. Ihre Schultern bedeckte ein wollener Poncho. Aber darunter leuchtete das Kleid, das sie diesen Abend getragen hatte. Andrea war für dieses Kleid geboren. Alexander wuchs an ihrer Seite. Nie hätte er gedacht, dass ihn die Gegenwart einer Frau so aufbauen würde. Das Tragische an der Sache war, das Andrea und er behandelt worden, als wären sie ein Paar. Aber sie waren ja keines. Trotzdem schienen es die meisten der Anwesenden zu glauben.

 

„Andrea?“, brach Alexander das Schweigen. Der Blick seiner Begleiterin wandte sich ihm zu. „Andrea hast du das auch bemerkt. Die meisten dachten, wir wären zusammen.“ „War das so schlimm, Alex?“ Andrea bemühte sich ihrer Stimme einen spöttischen Klang zu geben. Tief in ihrem Inneren schwang Unsicherheit mit. Wollte Alex jetzt die Frage stellen? Er tat es. „Nein. Es würde mich wahnsinnig glücklich machen.“ Jedoch nur um gleich wieder zurückzurudern. „Aber du hast eine Tochter. Also, wenn du mit mir ein Problem…?“

 

Andrea blieb abrupt stehen. „Ich ein Problem mit dir? Nein. Aber du mit mir. Ich bin deine Angestellte…. Du musst an die Firma denken.“ Alexander atmete auf. Das Problem das ihn Kopfzerbrechen bereitete gab es nicht. „Du bist keine einfache Angestellte. Du bist unsere kaufmännische Leiterin. Meine Mutter hat damals auch für meinen Vater gearbeitet.“ „Und wie viele Mitarbeiter hattet ihr damals.“, entgegnete Andrea. „Ich glaube es waren 10 oder so.“ „Und wie viel haben wir jetzt?“ „Das weist du genau. In allen elf Standorten, den Außendienstlern und dem Import fast 100 mal soviel.“ „Eben,“, sagte Andrea. „Aber du suchst dir eine vier Jahre ältere Freundin aus, die geschieden ist und eine pubertierende Tochter hat.“

 

„Ist das denn so schlimm. Ich meine für dich, Andrea?“ Seine Begleiterin sah ihn an. In ihrem Blick die Zuneigung, die er auf der Treppe des Polizeigebäudes gespürt hatte. „Für mich nicht. Alex. Aber das Image des Juniorchefs geht endgültig den Bach runter.“, antwortete Andrea gelöst.

 

Alexander fasste seine Partnerin an die Oberarme. „Es wird auch Zeit, dass das Mal passiert. Was wird deine Tochter über uns sagen?“ „Sie findet dich niedlich.“ Jetzt lachte Alexander. „Und wie findest du mich.“ Als Antwort näherte sich Andreas Mund den seinen. „Verdammt sexy und Alex… Ich liebe dich.“ Alexander Scheffelbaums Antwort zeigte Andrea Vollborn dieses auch ohne Worte.

 

- E N D E -

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.06.2018

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