Andrea Vollborn saß ihrem Chef gegenüber. Es war nicht ihr direkter Vorgesetzter, sondern der Geschäftsführer des Unternehmens bei dem sie als Assistentin der kaufmännischen Leiterin angestellt war. Der Geschäftsführer stand auf, ging zum Fenster und schaute grübelnd hinaus. Joachim Scheffelbaum, war 59, groß, grauhaarig und breitschultrig. Wer ihn sah dachte eher an einen Bauarbeiter als an den Geschäftsführer eines mittelständischen Elektrogerätegroßhändlers. Er und seine 4 Jahre jüngere Frau Ursula gründeten das Unternehmen. Sie zog sich vor einiger Zeit vom Geschäft zurück. Bis zu ihrem Ausscheiden lag die kaufmännische Leitung ihn ihren Händen. Der Rückzug kam nicht von ungefähr. Sie wollte ihrem Sohn in der Geschäftsführung Platz machen. Alexander Scheffelbaum war 31 und verantwortlich für den Vertrieb.
Drei Geschäftsführer waren für ein, wenn auch mit etwas über 1.000 Mitarbeitern nicht gerade kleines mittelständisches Unternehmen, nicht sinnvoll. Deshalb lag die kaufmännische Leitung jetzt in der Hand von Nicole Haffer, der 41-jährigen Prokuristin und direkten Chefin von Andrea Vollborn. Andrea hatte nie mit Ursula Scheffelbaum selbst zusammen gearbeitet. Sie war erst nach ihrem Rückzug eingestellt worden. Andrea selbst war 35 Jahre alt und geschieden. Geschieden von einem Mann, den sie seit frühester Jugend kannte und in den sie sich schon mit 16 verliebte. Gleich nach ihrem Abitur heirateten sie. Mit zwanzig kam ihre Tochter Lena. Ihr Mann war vier Jahre älter und selbständiger Handwerksmeister. Andrea machte nach Abschluss ihrer kaufmännischen Ausbildung die Buchhaltung für das Unternehmen ihres Mannes. Natürlich ohne je einen Pfennig dafür zu sehen.
Trotzdem war sie glücklich. Zumindest bis zu jenem Tag an dem sie ihren Mann mit einer anderen erwischte. Später stellte sich heraus, dass es nicht das erste Verhältnis ihres netten Gatten gewesen war. In gewissen Kreisen hatte es sich herumgesprochen, das der gestandene Handwerksmeister Vollborn nicht nur an den Fliesen in den Badezimmern potentieller Auftraggeberinnen, sondern auch an ihnen selbst interessiert war. Vielleicht hätte Andrea ihm das noch verziehen. Aber ihr Mann wollte die Scheidung. Dabei war dieses angemalte Blondchen um keinen Tag jünger als sie. Nur trug diese statt Konfektionsgröße 42 eine 36.
Lenas Vater oder besser gesagt seine neue Freundin legten nach der Scheidung wenig Wert auf den Kontakt mit seiner Tochter. Andrea war das mehr als Recht. Doch mit der Scheidung endete das Drama keineswegs. Es kam wie es kommen musste. Hartmuth Vollborn legte getrieben durch die Ansprüche seiner neuen Freundin eine Insolvenz hin. Sowohl mit der Firma als auch privat. Es ging wohl um Schwarzarbeit und nicht abgeführte Sozialbeiträge. Zu retten gab es da nichts mehr. Ihr Ex-Mann konnte wohl noch froh sein nicht ins Gefängnis zu müssen. Der Unterhalt brach weg und damit auch die Basis für Andreas neues Leben. Sie suchte sich die billigste Wohnung. Aber das Geld reichte immer noch nicht wirklich zum Leben. Zwar hatte Andrea eine Stelle als Buchhalterin gefunden. Doch ihr Chef nutzte die Notlage radikal aus. Obwohl Andrea jahrelang in der Firma ihres Ex-Mannes gearbeitet hatte besaß sie keine nachweisbare Berufserfahrung. Dementsprechend war auch das Gehalt.
Ihr Vater kam auf die entscheidende Idee. „Mach deinen Fachwirt, Mädchen.“ riet er. Nur kostete dies Geld, das weder Andrea noch ihre Eltern einfach so übrig hatten. Natürlich unterstützten sie ihre Tochter wo sie konnten. Doch für Andrea hieß das jeden angebotenen Nebenjob annehmen und zusätzlich büffeln. Nach mehreren Unterbrechungen hatte Andrea endlich mit 34 ihren Abschluss in der Tasche und strebte nach Höherem. Ihre Tochter war mit fast 14 kein Problem mehr und musste sich außerdem schon früh daran gewöhnen selbständig zu werden. Andrea erinnerte sich noch gut daran wie sie sich gefreut hatte vor einem dreiviertel Jahr hier, bei diesem angesehenen, alteingesessenen Unternehmen diese Stelle zu bekommen.
Der Mann am Fenster drehte sich um. „Sind Sie wirklich sicher, dass bei der Scheffelbaum-Gruppe Ware verschwindet?“ Seine stahlgrauen Augen fixierten die Frau auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. Er wusste nicht viel von ihr. Nicole Haffer hatte sie eingestellt. Etwas verwunderte es Joachim doch, das seine Prokuristin ihre neue Assistentin von außerhalb holte. Doch Nicole Haffer überzeugte ihn. Ein wenig frischer Wind würde der Firma gut tun. Frau Vollborn war jetzt seit sechs Monaten bei Scheffelbaum. Nicole nach gab es an ihrer Arbeit nichts auszusetzen. Sie erledigte ihren Job so wie man es von einer Assistentin erwarten konnte. Gewissenhaft, pünktlich und unauffällig.
Die Frau auf dem Stuhl ihm gegenüber hatte die Beine übereinander geschlagen. Sie besaß ein ebenmäßiges recht hübsches Gesicht. Ihre braunen Haare trug sie zu einer modischen Kurzhaarfrisur gestylt. Gekleidet war die Frau mit einem dunklen knieumspielenden Rock, schwarzen Stiefeln, sowie einer kurzen Jacke unter der ein Rolli hervorlugte. Joachim ertappte sich dabei wie er der Frau auf den Busen starrte. Dieser bot unter dem engen Pullover einen recht netten Anblick. Andrea Vollborn war nicht gerade schlank, aber auch nicht dick im eigentlichen Sinne. Trotzdem hatte sie nach ein paar Tagen ihren Spitznamen weg. Die Dicke aus der Buchhaltung.
Nicole Haffers Assistentin spürte seinen Blick. Er war eine Aufforderung. Sie musste ihre Vermutung begründen. „Herr Scheffelbaum. Mir ist aufgefallen, dass Ware nicht am Lager war, die abgerufen wurde. Wir mussten improvisieren und kurzfristig nachbestellen. Das zu weit schlechteren Konditionen.“ Ruhig zählte Andrea Vollborn die Fakten auf. Joachim Scheffelbaum stand jedoch kurz davor aus der Haut zu fahren. So etwas war, seit dem die Firma bestand noch nie vorgekommen. Die Scheffelbaum-Gruppe galt als solider und verlässlicher Partner. „Weiß, Frau Haffer von dem Problem.“, fragte er so sachlich wie möglich. Andrea Vollborn nickte. „Mir ist es bereits vor einigen Wochen aufgefallen. Ich habe Frau Haffer über das Problem informiert. Sie hat mit den Disponenten der verschiedenen Auslieferungslager gesprochen. Seitdem gab es keine Probleme mehr.“ „Und weshalb sind Sie jetzt bei mir?“ „Frau Haffer ist im Urlaub.“, erklärte Andrea Vollborn. „Es fehlen mehrere Paletten Blue-Ray-Player für die Aktion einer Supermarktkette.“
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Andrea Vollborn fuhr ihren PC herunter und sah auf die Uhr. Gleich halb zehn. Hoffentlich war der Urlaub ihrer Chefin bald vorbei. Drei Wochen herrliche Südsee und das mitten in Winter. Was würde ihre Tochter wohl sagen, wenn sie beide auf so eine Reise gingen. Doch dazu würde es mit großer Wahrscheinlichkeit nie kommen. Andrea war schon froh aus dem gröbsten heraus zu sein. Die dringendsten Geldsorgen gehörten der Vergangenheit an. Auch wenn dieses Jahr an einen richtigen Urlaub noch nicht zu denken war. Ihre Tochter würde in den Ferien auf jeden Fall nach Spanien fahren. Diese Jugendfreizeitfahrt hatte sie sich, nach den Jahren der Entbehrungen mehr als verdient. Die neue Wohnung war eingerichtet und lag in einer guten Wohngegend. Außerdem hatte Andrea ihren alten Corsa gegen ein weniger altes Model tauschen können. Im Prinzip waren Andrea und ihre Tochter am Ziel ihrer Wünsche angelangt.
Nicole Haffer, ihre Chefin wusste von den Unregelmäßigkeiten. Sie hatte sich darum gekümmert und bis sie in den Urlaub ging lief auch alles wie gewohnt. Doch jetzt wusste sich Andrea keinen anderen Rat als mit Joachim Scheffelbaum zu sprechen. Sie war nur die Assistentin. Vermutlich würde der Senior, wie Joachim Scheffelbaum allgemein genannt wurde seinen Sohn bitten diese Sache auszubügeln. Wahrscheinlich rief er auch Andreas Chefin im Urlaub an. Es war nicht unwahrscheinlich, dass Nicole Haffers Anruf Andrea aus dem Schlaf riss. Aber die Blue-Ray-Player fehlten. Das war eine Tatsache.
Der PC schaltete sich aus. Jetzt hatte Andrea endgültig Feierabend. Jedenfalls bis morgen früh um acht. Dann würde sie wieder an ihrem Arbeitsplatz sitzen. Andrea dachte an ihre Tochter. Gut, dass das Mädchen so selbstständig erzogen war. Ob sie zu Hause war? Zeit dafür war es. Ihre Tochter wusste genau, dass sie sich an die Zeiten zu halten hatte. Normalerweise tat sie das auch. Die schwere Zeit lies sie schneller erwachsen werden als andere Kids. Außerdem freute Lena sich über den beruflichen Erfolg ihrer Mutter.
Andrea löschte das Licht in ihrem Büro und öffnete die Tür. Dunkelheit umfing sie. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie allein in der Firma war. Ein eigenartiges Gefühl. Andreas Hand tastete nach dem Lichtschalter im Flur. Plötzlich spürte sie wie etwas ihr Handgelenk packte. Eine eiserne Hand bemächtigte sich der ihren. Der Arm wanderte auf den Rücken. Etwas legte sich um ihren Hals. Andrea schrie vor Schreck. Ihr Arm wurde nach oben gerissen. Aus dem Schrei des Erschreckens wurde ein Schrei des Schmerzes. Sie ging in die Knie. Hilflos musste sie zulassen, wie ihr anderer Arm auf den Rücken gedreht wurde. Etwas umschloss ihre Handgelenke. Das klebrige Gefühl an den Gelenken verschaffte Andrea die Gewissheit, dass sie gefesselt wurde.
Ein Stoss beförderte sie auf den Boden. Das Schreien hatte Andrea aufgegeben. Niemand konnte sie hören. Nur der tiefe Atem verriet die Erregung. Jemand setzte sich auf ihren Rücken. An den Unterarmen spürte sie das raue Gewebe einer Hose. Vom Gewicht her musste es ein Mann sein, realisierte Andrea gerade als sich jemand an ihren Beinen zu schaffen machte. Die Stiefel wurden zusammen gedrückt und Andrea hörte dasselbe Geräusch, das sie vernahm als sie das klebrige Gefühl an ihren Handgelenken spürte. Ihre Beine wurden gefesselt. Das wusste sie bereits bevor sie merkte, dass sie ihre Füße nicht mehr auseinander bekam. Es waren also zwei Täter.
Der Mann auf ihrem Rücken griff in ihre Haare. Andreas Kopf flog nach hinten. Diesmal schrie sie. Aber wieder aus Schmerz. Mitten in ihrem Schrei erfasste sie eine Hand vor ihrem Gesicht. Eine Hand, die etwas hielt. Andrea konnte es nicht genau erkennen, aber es war etwas Rundes. Im letzten Moment erhaschte sie einen Blick. Es war einer der bedruckten Schaumstoffbälle aus der Werbung. Eigentlich bildete er zusammen mit einem Satz Schläger ein Werbegeschenk, das ihre Firma oft bei Aktionen beigab. Nun aber landete dieses Ding in ihrem Mund. Andrea spürte sofort die Wirkung. Es kam kein Ton mehr über ihre Lippen. Das Klebeband, das sie nun an ihren Wangen fühlte sicherte dieses Ding nun endgültig in ihrem Mund. Dann ging alles ganz schnell. Jemand packte sie unter dem Armen und zog sie zurück in ihr Büro. Auf ihrem Bürostuhl kam Andrea zum sitzen. Wieder das Geräusch und über der Hüfte ein Druck. Andrea wurde am Bürostuhl festgezogen. Dann ging es mit ihr und dem Stuhl in die Horizontale. Das hieß Andrea wurde mitsamt Stuhl auf den Rücken gelegt.
So schnell sie gekommen waren, so schnell verschwanden die Männer auch wieder. Andrea blieb allein zurück. Die ganze Aktion dauerte nur ein paar Minuten und alles spielte sich in einer nur durch das Mondlicht erhellten Dunkelheit ab. Sie war allein. Allein mit ihrer Angst. Jetzt erst begriff sie was passiert war. Sie war überfallen wurden. Die Firma wurde überfallen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Andrea hatte das Gefühl ihr Herzschlag würde ihren Körper sprengen. Sie versuchte zu schlucken. Es ging nicht. Das Ding in ihrem Mund hinderte ihre Zunge an jeder Bewegung. Sie atmete ein. Durch den Mund. Ein Fehler. Der Schaumstoff zog sich noch tiefer in ihren Rachen. Andrea rang nach Luft. Eine Enge breitete sich in ihrer Brust aus. Sie erstickte… „Hilfe“, drang eine stummer Schrei aus ihrem Kopf nach draußen.
Eigenartigerweise holte sie dieser Schrei in die Wirklichkeit zurück. Sie war allein. Niemand konnte ihr helfen. Nur ruhig, dachte Andrea bei sich. Durch die Nase atmen und ruhig bleiben. Ruhig bleiben und überlegen. Was war passiert? Sie lag gefesselt und geknebelt in ihrem Büro. Was waren das für Leute, die sie in diese Situation gebracht hatten? Einbrecher? Es waren Einbrecher. Sie wollten nichts von ihr. Oder? Sie hatte sie nicht gesehen. Vermutlich waren sie eingestiegen und bemerkten zu spät, dass noch jemand arbeitete. Es war nur eine Frau. Nämlich sie Andrea Vollborn, die ihr vorhaben behindern konnte. Also hatten sie sich anstatt abzuhauen, die Frau gegriffen und außer Gefecht gesetzt.
Aber war sie damit wirklich außer Gefahr? Sie hatte die Einbrecher nicht erkannt. Nur wussten diese das auch? Was wäre wenn sie zurückkommen würden? Andrea bewegte ihre Hände. Das Klebeband zog an ihrer Haut. Sie versuchte es weiter. Was war das? Mit jedem Versuch wurde das Ziehen erträglicher. Das klebrige Gefühl lies nach. Sie hatte eine Chance freizukommen. In Andrea kämpften zwei Seelen miteinander. Einerseits wollte sie hier weg. Andererseits hatte sie Angst. Die Männer könnten noch mal nach ihr sehen und ihre Befreiungsversuche feststellen. Was würden die Kerle dann mit ihr anstellen?
Der Mut siegte. Andrea kämpfte. Schon bald hatte sie ihre Hände von dem Klebeband befreit. Sie zog sich an ihren Schreibtisch heran. Im Rollcontainer lag eine Schere. Ohne Mühe erreichten ihre Hände das Fach. Der Rest war eine Kleinigkeit. Innerhalb von Minuten war sie frei. Vorsichtig stand Andrea auf. Die Tür zu ihrem Büro war noch immer offen. Auf dem Flur lag ihre Handtasche. Dort befand sich ihr Handy. Sie musste die Polizei rufen. Aber nicht solange sie sich noch im Gebäude befand. Andrea musste raus. Sie zog ihre Stiefel aus und hastete das Treppenhaus zum Personaleingang hinunter. In der einen Hand ihre Stiefel in der anderen ihre Handtasche erreichte Andrea die Straße. Im Schutz eines Hauseingangs auf der anderen Seite wählte sie mit zitternden Fingern den Notruf der Polizei.
Als die Polizei seinerzeit vor vier Wochen eintraf waren die Einbrecher natürlich schon über alle Berge. Andrea Vollborn bekam von ihrer Chefin eine Woche frei um sich von den Ereignissen zu erholen. Eine nette Geste wie sie fand. Die Zeit verbrachte sie hauptsächlich mit ihrer Tochter. Andrea spürte die Veränderungen in ihrem Kind. Es wurde langsam, aber sicher erwachsen. Gerade deshalb genoss sie die Zeit mit ihr. Auch ihrer Tochter schien es nicht unangenehm zu sein zusammen durch die Einkaufpassagen zu bummeln. Andrea konnte ihr jetzt auch den einen oder anderen Wunsch erfüllen, von dem sie früher nur hatte träumen können. Das war aber auch das einzig Positive seit diesem Tag. Als Andrea wieder auf Arbeit erschien wurde sie von ihrer Chefin freundlich begrüßt. Sie solle sich nach den schrecklichen Erlebnissen langsam wieder einarbeiten, sagte Nicole Haffer. Konkret hieß das aber, Andrea Vollborn wurde mit langweiligen, wenn nicht sogar sinnlosen Aufgaben betraut. Das was sie früher an ihrem Job interessant und aufregend fand, gab es nicht mehr. Diese Aufgaben erledigte ihre Chefin jetzt selbst.
Offiziell war Andrea zwar noch die Assistentin der kaufmännischen Leiterin, doch als sie ihr Büro plötzlich mit einer Auszubildenden teilen musste, war ihr klar, dass sie kaltgestellt werden sollte. Es blieb nicht dabei. Sie machte Fehler oder besser gesagt, es wurden ihr Fehler vorgeworfen, für die sie nicht verantwortlich war oder deren Ursache sich Andrea nicht erklären konnte. So auch heute. Angeblich waren Rechnungen verschwunden. Andrea sollte sie als letzte in den Händen gehabt haben. Sicher hatte sie die Belege bearbeitet. Sie wusste auch wo die die Mappe abgelegt hatte. Sie Mappe lag gestern zum Feierabend noch auf ihrem Schreibtisch. Jetzt war sie weg.
„Wissen Sie wie das aussieht, Frau Vollborn? Als hätten wir unsere Firma nicht im Griff.“, warf Nicole Haffer Andrea an den Kopf, „Ich muss den Lieferanten anrufen und um eine Zweitschrift bitten. Das wirft ein schönes Bild auf unser Unternehmen.“ „Aber die Mappe war doch….“, mischte sich Julia, die neunzehnjährige Auszubildende, mit der Andrea seit kurzem das Büro teilte ein. Ein Blick der Prokuristin lies das Mädchen sofort verstummen. „Ich werde über Ihr Verhalten mit Herrn Scheffelbaum sprechen.“, war die strenge Stimme Andreas Vorgesetzter zu vernehmen. „Wir müssen uns über die Zusammenarbeit mit Ihnen Gedanken machen.“, setzte Nicole Haffer hinzu bevor sie den Raum verlies.
Gedankenverloren blickte Andrea Vollborn auf die geschlossene Tür. Bis zu diesem Überfall war alles in bester Ordnung und jetzt geriet alles aus den Fugen. Warum? Hatte sie sich verändert? Machte sie ihre Arbeit nicht mehr so wie früher? Andrea glaubte nicht. Aber was war dann hier los?
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„Guten Morgen, Herr Scheffelbaum.“, grüßte die Prokuristin als sie das Zimmer von Scheffelbaum Senior betrat. Dieser erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Er saß gerade mit seinem Sohn zusammen. Alexander Scheffelbaum sah auf. „Du kommst gerade richtig, Nicole.“, sagte er zu der kaufmännischen Leiterin. „Wir sitzen über der Quartalsplanung.“ Alexander Scheffelbaum war groß und sportlich. Nicht zu dick und nicht zu dünn. Das dichte rabenschwarze Haar kringelte sich in frechen Strähnen auf seiner Stirn. Sowohl vom Aussehen, als auch von seinen Talenten ist er der perfekte Vertriebsleiter, dachte Nicole Haffer. „Was gibt es denn für Probleme?“, fragte sie die beiden Männer am Tisch.
„Nichts Aufregendes.“, antwortete Alexander. „Wir wollten nur wissen, wie sich der Raub auf unsere Liquidität auswirkt. Wann können wir mit dem Geld der Versicherung rechnen?“ „Ihr könnt es einplanen.“, sagte die Prokuristin. „Gestern lag die Regulierungszusage auf meinem Tisch. Ich habe aber ein anderes Problem Herr Scheffelbaum.“ Der Senior sah auf. Er blickte Nicole fragend an. „Andrea Vollborn.“, erklärte diese. „Es gab schon wieder ein Problem. Wir müssen über Konsequenzen nachdenken.“ Scheffelbaum senior nickte. „Was hältst du davon, Alex.“, fragte er seinen Sohn.“ „Andrea Vollborn? Das ist die Dicke aus der Buchhaltung?“, fragte Alexander. „Genau die. Frau Haffers Assistentin.“, bestätigte sein Vater. „Was schlägst du vor, Nicole?“, wollte Alexander wissen.
Er hatte nicht die Absicht sich in den Bereich ihrer kaufmännischen Leiterin einzumischen. Nicole Haffer war ein Glücksfall für ihr Unternehmen. Sollte sie schalten und walten wie sie es für richtig hielt. Wenn es eine Abteilung am Stammsitz der Firma gab in der Alexander sich so gut wie nie blicken lies, dann war es die von Nicole Haffer. Buchhaltung war nie sein Ding gewesen. Alexander hatte genug damit zu tun die Kunden bei der Stange zu halten. Zuerst dieses mysteriöse Verschwinden von Ware und dann dieser Raub. Die Kunden interessierte das nicht. Sie wollten ihre Lieferung. Der Ersatz kostete eine ganze Menge Geld. Aber das würde nach Nicoles Aussage die Versicherung tragen. Mehr interessierte ihn nicht. „Ich schlage eine Abmahnung vor.“, erklärte Nicole. „Beim nächsten Fehler ist sie draußen.“ Der Junior nickte. „Mach die Abmahnung fertig und leg sie auf meinen Schreibtisch. Ich zeichne sie ab.“ „Aber damit muss die Sache erledigt sein.“, mahnte Joachim Scheffelbaum. „Entlassen können wir Frau Vollborn zurzeit nicht. Jeder Anwalt wird die Tatsache, das sie in der Firma überfallen wurde bei einer Klage ausschlachten.“ Der Senior sah auf. „Zumindest eine Weile werden Sie noch mit Frau Vollborn leben müssen, Frau Haffer. Sie selbst haben sie für diese Stelle ausgewählt. Wenn die Vollborn nichts taugt hätte Ihnen dies in der Probezeit auffallen müssen.“
Alexander Scheffelbaum sah deutlich wie die kaufmännische Leiterin schluckte. Sein Vater war manchmal sehr direkt. Eben ein Unternehmer alter Schule. „Wir sind ein Familienunternehmen und kein internationaler Konzern, Nicole.“, relativierte er. „Die Hyänen vom Bunten Blatt haben ihre Quellen überall. Auch beim Arbeitsgericht. Eine schlechte Presse fällt direkt auf unseren Namen zurück.“ „Ich verstehe, Alex.“, antwortete Nicole Haffer versöhnlich. „Ich bin eben in anderen Strukturen groß geworden.“ Sie lachte. „Ein Familienunternehmen ist für mich etwas völlig neues.“ Alexander winkte ab. „Daran gewöhnst du dich. Spätestens nach dem Betriebsfest nächsten Freitag in der Stadthalle kennst du die Meute.“ Nur wenige Unternehmen leisteten sich noch dieses Vergnügen. Aber für die Motivation der Mitarbeiter waren solche Veranstaltungen goldwert. Dieses Jahr stand das Fest ganz im Zeichen des Generationswechsels. Alexander schlüpfte das erste Mal in die Rolle des Gastgebers. „Notfalls schieben wir die Vollborn eine Weile irgendwo hin ab.“, schloss Joachim Scheffelbaum das Thema endgültig.
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So schnell wird man zu einer Außenseiterin, dachte Andrea Vollborn. Seit bekannt war, dass sie auf der Abschussliste ihrer Chefin stand hielten sich ihre Kollegen von ihr fern. Nicht, dass sie unfreundlich waren. Aber Andrea fühlte sie gehörte nicht mehr dazu. An dem Tisch an dem sie saß hatten ihre lieben Kollegen ihr den letzten Platz in der Reihe reserviert. Von den Gesprächen erfasste sie nur die Hälfte und ihre Beiträge überging man mit Schweigen. Nach einer Weile reichte es.
Was sollte sie noch hier? Niemand nahm von ihr Notiz. Im Gegenteil. Sobald sie grüßte, schaute der Betreffende weg. Näherte sie sich einer Gruppe wechselte diese das Thema. Stellte sich Andrea dazu, kamen nicht mehr als ein paar höfliche Worte über die Lippen der Anderen. Diesen Zustand kannte Andrea Vollborn so nicht. Das alles wurde langsam peinlich. Trotzdem wollte sie noch nicht gehen. Dazu war es einfach zu früh.
Alexander Scheffelbaum hatte seine Worte gesprochen. Dann wurde das Buffet eröffnet. Das nachfolgende Essen hielt alles in Grenzen. Danach begann für Andrea das eigentliche Drama. Diese Stunde, seit dem Essen dehnte sich wie fünf. Jetzt zu gehen hieße aufzugeben. Das wollte Andrea aber nicht. Sie war sich nicht bewusst etwas verbrochen zu haben. Nur das sie aus einem unerfindlichen Grund nicht mehr erwünscht war. Sicher, ihre Tage waren gezählt. Aber noch war sie bei dieser Firma beschäftigt. Diese zahlte den Abend. Warum sich eigentlich zurückhalten? Entschlossenen Schrittes trat sie an die Bar.
Mit einem Glas Weißwein in der Hand strebte Andrea Vollborn wieder dem Saal zu. Ihr Blick überflog die Anwesenden. Durch ihre Tätigkeit kannte sie die meisten. Es musste doch einen vernünftigen Menschen geben, mit dem man den Abend verbringen konnte, dachte Andrea als jemand mit ihr zusammenstieß. Das Glas fiel ihr aus der Hand und landete klirrend auf dem Boden.
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Alexander Scheffelbaum sah auf. Die Frau im halbdunkel erkannte er nur schemenhaft. Der Zusammenstoß war auch mehr seine Schuld. Gerade hatte er sich aus dem Gespräch mit einem seiner Mitarbeiter gelöst. Der Mann schien wohl der Meinung zu sein, dass jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, ihn von seinen Ideen zu begeistern. Anscheinend begriff dieser Mann nicht, dass es heute um andere Dinge ging.
Alexander war froh dieser Diskussion entkommen zu sein. Nur um sicher zu gehen, dass der Mann ihm nicht folgte, drehte er sich noch einmal um. Da passierte es. Er stieß mit jemandem zusammen. Der Zusammenprall war so heftig das seinem Gegenüber das Glas aus der Hand fiel. So hörte es sich jedenfalls an. Ein Blick auf dem Boden bestätigte seine Vermutung. Eine Lache und Scherben. Die Hand die dieses Glas gehalten hatte gehörte eindeutig einer Frau. Alexanders Blick wanderte zu ihrem Gesicht.
Die Frau fixierte ihn. Er sah in ein kluges Gesicht. Nicht mehr ganz jung. Etwas älter als er. Aber nicht viel. Die kurzen braunen Haare hielten einen Hauch ihrer Jugend fest. Sein Blick glitt an seinem Gegenüber herunter. Alexander erfasste eine kurze dunkelrote Jacke. Die Frau trug sie offen. Darunter ein cremefarbenes Top. Der Ansatz ihres Busens war gerade bedeckt. Das Top lag straff über ihrem Bauch. Die dunkelrote Hose umspannte ihre Schenkel. Aber nur in der oberen Hälfte, danach floss sie an den Beinen hinunter um kurz über dem Boden passende dunkelrote Pumps freizugeben. Sein Gegenüber schien wirklich zu wissen, wie man sich vorteilhaft ins Licht setzte. Der dezente Schmuck und das natürlich wirkende Make-up deuteten auf einen Sinn für Stil und Harmonie.
Nur die traurigen Augen passten nicht dazu. „Entschuldigung, Herr Scheffelbaum.“, vernahm er leise die Stimme der Frau. Eine angenehme kultivierte Stimme. Nicht forsch, aber auch nicht unterwürfig. „Tut mir Leid. Es war meine Schuld.“, antwortete Alexander. „Darf ich ihnen ein neues Glas holen?“ „Wenn es ihnen nicht zu viel Mühe macht.“, war ihre Antwort. „Aber nein. Kommen Sie.“ Nur zu gern hätte Alexander Scheffelbaum die Frau mit ihrem Namen angeredet. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor. Doch auf den ersten Blick wusste wo er nicht wo er sie einordnen sollte.
Schon das Erscheinen Alexanders an der Bar lies den Tender auf ihn zukommen. Der Mann wusste, wer heute hier bezahlte. Nur eine Minute später hatte seine Begleiterin ihren Weißwein und Alexander seinen Whiskey in der Hand. „Danke.“, sagte die Frau und wollte sich zurückziehen. Zufällig waren zwei Hocker frei. „Wollen wir uns nicht einen Augenblick setzen.“ Alexanders eigentliches Ziel war an der Bar zu bleiben. Er wollte verschnaufen. Der Abend strengte ihn mehr an als gedacht. Heute war er der Boss. Seine Eltern hatten sich nach dem Essen zurückgezogen. Alle offiziellen Verpflichtungen blieben an ihm hängen. Doch was war es nicht allein. Dutzende Leute drängten sich in seine Nähe. Es verging keine Minute ohne dass ihn jemand ansprach. Eigentlich mochte Alex so ein Getümmel. Aber die meisten seiner Gesprächspartner versuchten die halboffizielle Atmosphäre der Betriebsfeier dazu zu nutzen Alexander zu Entscheidungen zu drängen. Entscheidungen die er heute nicht gewillt war zu treffen. Sie gehörten auf die Tagesordnung von Besprechungen und nicht hier her.
„Sie trinken ja gar nichts.“ Die Stimme der Frau holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ihr Glas war leer. Alexander sah auf die Uhr. Er saß bereits beinahe eine halbe Stunde hier an der Bar. Niemand hatte in angesprochen. Die Anwesenheit dieser ihm unbekannten Frau hatte ihn beschützt. Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. Die Frau erwiderte es, sagte aber nichts. Sie wusste offenbar wann es besser war zu Schweigen. Diese halbe Stunde tat Alexander gut. Sein Gemütszustand hatte sich gebessert. Oder lag es daran, dass er neben jemandem saß, der nichts von ihm verlangte oder erwartete? Wenn er bloß gewusst hätte, wer diese Unbekannte war. Sich mit ein paar höflichen Worten zurück zuziehen und seine Zufallsbekanntschaft allein zu lassen war nach dieser merkwürdigen halben Stunde schlecht möglich. Die Musik aus dem Saal drang leise in die Bar. Plötzlich schoss Alexander ein Gedanke durch den Kopf. „Wäre es zuviel verlangt, Sie um einen Tanz zu bitten?“, fragte er mehr schüchtern als forsch. „Ich würde mich freuen.“, antwortete seine unbekannte Begleiterin.
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Warum sich Alexander Scheffelbaum so verhielt war für Andrea ein Rätsel. So kannte sie ihn überhaupt nicht. Was hieß schon kennen? Im Prinzip wusste sie wie er aussah. Mehr aber nicht. Bis heute Abend hatten sie noch nie ein Wort gewechselt. Die Aufforderung des Juniors abzulehnen war unmöglich. Doch mehr als eine höfliche Geste sah sie darin nicht. Alexander Scheffelbaum musste sich des merkwürdigen Eindrucks den er in der letzten halben Stunde bot durchaus bewusst sein. Mehrmals war er kurz vor dem einschlafen gewesen. Andrea brachte es einfach nicht über das Herz aufzustehen und sich leise zu entfernen. Der Junior tat ihr Leid.
Kaum das sie wieder den Saal betraten, wurde er mit Beschlag belegt. Ob sie jemals die Tanzfläche erreichten, bezweifelte Andrea stark. Doch Alexander schob sie in eine Ecke. „Gehen Sie bitte nicht weg. Ich bin sofort zurück. Bitte!“ Er selbst warf sich ins Getümmel. Doch seinen energischen Gesten nach zu urteilen redete er mit den Männern vor ihm Klartext. Diese kleine Ruhepause an der Bar schien ihm neue Kräfte verliehen zu haben. Andrea sah sich um. In der Zwischenzeit hatten sich an den einzelnen Tischen feste Grüppchen gebildet. Ob sie bei einer von ihnen willkommen war, bezweifelte Andrea. Sie würde den Tanz mit Alexander Scheffelbaum hinter sich bringen und dann nach Hause gehen. Das war zumindest ein Rückzug mit Anstand.
„Ich warne Sie, Frau Vollborn, dass Sie sich dem Junior an den Hals werfen, wird ihren Job auch nicht retten.“ Andrea fuhr herum. Neben ihr stand Nicole Haffer. Andrea wollte zu einer Erklärung ansetzen als eine Stimme sie unterbrach. „Ich möchte dich kurz sprechen, Nicole.“ Alexander Scheffelbaum hatte sich erstaunlich schnell aus dem Getümmel befreit. Seine Augen blickten hart über die Stirn zog eine Falte. „Natürlich, Alex.“, erwiderte die Prokuristin mit fester Stimme, fasste Alexander Scheffelbaum am Arm und führte ihn einige Schritte zur Seite. Andrea konnte nicht verstehen worüber sie redeten. Aber die Körpersprache war eindeutig. Die Prokuristin war in der Verteidigung. Natürlich war die Unterstellung sie würde sich dem Junior an den Hals werfen eine Frechheit. Aber was hätte sie dagegen tun sollen. Im Zweifel stand Aussage gegen Aussage.
Nicole Haffer wandte sich in Richtung Ausgang. In ein paar Minuten würde Andrea ihr folgen. Das Alexander Scheffelbaum jetzt noch mit ihr tanzen würde war kaum anzunehmen. Doch er kam schnurstracks auf sie zu. „Ich hoffe Sie lassen sich durch Frau Haffer’s Ausrutscher nicht den Abend vermiesen, Frau Vollborn.“ Der Junior sprach sie das erste Mal mit Namen an. Andrea fiel es wie Schuppen von den Augen. Alexander Scheffelbaum hatte bis jetzt keine Ahnung wer sie war. „Wenn Sie Ihre Aufforderung zum Tanz zurückziehen möchten, verstehe ich das.“, bot Andrea an. Alexander Scheffelbaum schüttelte entschieden den Kopf. Seine Augen gingen in die Runde. „Das ist eine Betriebsfeier, aber der Job hat draußen zu bleiben. Einige verstehen das anscheinend nicht.“ Er sah wieder auf Andrea. „Sie waren heute die einzige die nicht versucht hat mir irgendetwas einzureden.“ Andrea lächelte. „Wir haben auch kaum miteinander gesprochen.“ Der Junior bot ihr den Arm. Er lächelte zurück. „Das können wir nach unserem Tanz gerne ändern.“
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Nicole Haffer musste einen Aussetzer gehabt haben. Anders konnte sich Alexander diese verbale Entgleisung nicht erklären. Wenn sein Vater diesen Satz gehört hätte wäre Nicole die längste Zeit kaufmännische Leiterin der Scheffelbaum-Gruppe gewesen. Er brauchte davon jedoch nichts zu erfahren. Nicole machte ihren Job erstklassig. Alex konnte auf ihre Erfahrung bauen. Nur musste sie lernen in kleineren Strukturen zu denken. Bei einem Familienunternehmen lief manches eben anders als bei einem internationalen Konzern. Andrea Vollborn hatte einen Fehler gemacht. Belege waren verschwunden. Sicher nicht mit Absicht. Dafür wurde sie abgemahnt. Alex hatte die Abmahnung selbst unterschrieben. Ansonsten waren die Vorgaben seines Vaters eindeutig. Eine Entlassung von Andrea Vollborn kam nicht in Frage. Zumindest nicht so kurz nach diesem Überfall.
Den Rest des Abends hatte Alexander eigentlich mit Andrea Vollborn verbracht. Zuerst wollte er nur sicher gehen, dass dieser dumme Satz von Nicole nicht noch die Runde machte. Aber dann hatte ihn diese Frau irgendwie interessiert. Geschieden. Allein erziehend. Einige schwere Jahre lagen hinter ihr. Aber sie schaffte es aus eigener Kraft. Ihren Abschluss als Betriebswirt, den Job bei der Scheffelbaum-Gruppe. Eine neue Wohnung. Sie lag sogar im selben Viertel wie seine eigene. Diese hatte Alex bewogen Andrea Vollborn zu fragen sich mit ihm ein Taxi zu teilen. Zuerst lehnte sie ab. Wie sähe das denn aus, wenn sie zusammen in ein Taxi stiegen. Diesem Argument konnte sich Alexander nicht verschließen. Aber der Hauptsitz der Firma lag in der Nähe der Stadthalle. Das Taxi dorthin zu bestellen war eine Lösung. Außerdem wollte Alexander noch ein paar Schritte gehen.
Er saß nach Nicoles Entgleisung zwischen zwei Stühlen. Doch nach diesem Abend war an eine wirkliche Zusammenarbeit der beiden Frauen nicht mehr zu denken. Alex sah nur eine Möglichkeit. Andrea Vollborn musste versetzt werden. Möglichst weit weg und möglichst schnell. Alex hatte auch bereits eine Idee. Eine ihrer Tochtergesellschaften, die für diverse Importmarken den Kundendienst übernahm brauchte eine selbstständig arbeitende Buchhalterin. Nach dem was er jetzt von Andrea Vollborn wusste war sie für diese Stelle die ideale Besetzung. Auch wenn das Geld kostete. Bei ihrem Gehalt würde man etwas tun müssen und an dem Angebot die Kosten für den Umzug zu übernehmen kam man nicht vorbei. Aber Andrea Vollborn wäre weg und alle Beteiligten wahrten das Gesicht. Nahm sie dieses Angebot nicht an dann musste sie eben von sich aus kündigen. Damit wäre der Fall auch erledigt.
Die Nachtluft erfrischte. Alexander hatte seiner Begleiterin den Arm angeboten. Ihre Berührung tat ihm gut. Schweigend gingen sie durch die Strassen. Nach einer Weile brach er das Schweigen. „Heute Abend an der Bar waren Sie meine Rettung, Frau Vollborn. Ich konnte nicht mehr.“ Andrea lachte. „Sie waren mehrmals kurz vor dem einschlafen. Ich hätte mich wegstehlen können und Sie hätten es nicht bemerkt.“ „Aber Sie haben es nicht getan?“, stellte Alex fest. „Sie taten mir Leid.“, antwortete die Frau an seiner Seite.
Der Stammsitz der Firma lag vor ihnen. „Wir gehen hinten rein.“, entschied Alexander. Andrea hielt ihn zurück. In ihren Augen lag eine Bitte. „Können wir nicht den Haupteingang nehmen, Herr Scheffelbaum?“ Alexander nickte. „Natürlich.“, erwiderte er. Die Einbrecher waren seinerzeit durch den Personaleingang in die Firma eingedrungen. Für seine Begleiterin keine gute Erinnerung. Dass sie mitten in der Nacht nicht unbedingt über den dunklen Parkplatz gehen wollte fand er verständlich. Alex zog den Schlüssel aus der Tasche seines Mantels und öffnete die Tür. Er schaltete das Licht ein und lies Andrea Vollborn den Vortritt. Im Flur blieb sie stehen. „Ich muss nur mal schnell wohin, Herr Scheffelbaum.“, entschuldigte sie sich. „Ich bin im meinem Büro und rufe uns ein Taxi.“, antwortete Alex. Seine Begleiterin verschwand hinter der Tür mit dem bewussten Symbol. Alexander verschloss den Haupteingang und stieg die Treppe nach oben.
Die Etage auf der sich sein Büro befand lag noch im Dunkeln. Alexanders Hand suchte den Lichtschalter als sie gepackt wurde. Der Schlag in den Unterleib traf ihn unerwartet, Alex stöhnte auf. Ein zweiter lies in endgültig zusammen sinken. Er wurde unter dem Armen gepackt und über den Korridor geschleift. Die Tür zu seinem Büro flog auf und Alexander landete unsanft auf dem Boden. Ein Tritt in die Seite lies ihn erneut aufstöhnen. „Halt die Schnauze!“, fauchte eine Stimme. Das Licht flammte auf. Jemand riss Alexander den Mantel von der Schulter. Es war ein Mann. Schwarz gekleidet und maskiert. Neben der Tür sah Alex einen zweiten. Dieser musste das Licht angeschaltet haben. In seiner Hand lag eine Pistole. „Hände auf den Rücken.“, befahl der Kerl an der Tür. Alexander führte die Hände nach hinten. „Wer sind Sie verdammt?“, quetschte er hinaus. „Halt dein Maul.“, fuhr ihn der Mann neben ihm an und zerrte Alexander die Handgelenke mit etwas hartem zusammen. Der zweite sah auf den Flur hinaus. „Bist du allein?“ Alexander nickte. „Ich wollte mir ein Taxi rufen.“, erklärte er. „Hast du kein Handy?“, wunderte sich der Einbrecher. Alexander schüttelte den Kopf. „Das hab ich nicht mit.“ Der Einbrecher tastete ihn ab. Er zog Alexanders Mobiltelefon aus der Innentasche des Sakkos und steckte es selbst ein. „Der Kerl lügt.“ Sein Kumpan nickte. „Ich geh nachsehen.“, erklärte er und verließ das Zimmer. Mein Gott. Andrea Vollborn, schoss es Alexander durch den Kopf. Die arme Frau hatte es nicht verdient das zweite Mal überfallen zu werden.
Andrea wusch sich im Waschbecken der Damentoilette die Hände. Lange hätte sie es nicht mehr ausgehalten. Das Alexander Scheffelbaum ihr anbot zusammen ein Taxi zu nehmen schmeichelte ihr Nur vor der Stadthalle gemeinsam einzusteigen, kam nicht in Frage. In der Firma würde es schon genug Gerüchte geben. Mehrfach hatte Andrea versucht sich von Alexander Scheffelbaum zurückzuziehen. Der Junior hatte bestimmt etwas Besseres zu tun als den Abend mit ihr zu verbringen. Doch als er sie höflich, aber bestimmt bat noch nicht zu gehen, blieb ihr nichts anderes übrig als zu bleiben. Sie plauderten nett miteinander. Dem ersten Tanz mit dem Junior folgte ein zweiter. Das es noch ein dritter wurde kam für Andrea überraschend. Aber ablehnen wollte sie auch nicht. Sie hielt sich selbst nicht für eine gute Tänzerin. Dazu fehlte ihr einfach die Übung. Aber mit dem Junior zu tanzen war eine Freude. Alexander Scheffelbaums Griff war fest und zu packend. Seine Führung energisch und schwungvoll. Er wusste was die Frauen von ihm erwarteten.
Andrea selbst erwartete nicht allzu viel von dem Abend. Sicher gab es in der Firma Mitarbeiter die sich in dieser Aufmerksamkeit gesonnt und versucht hätten den Junior auch in Zukunft auszunutzen. Aber Alexander Scheffelbaums Worte waren eindeutig gewesen. Der Job hatte an diesem Abend draußen zu bleiben. Das der Junior sie nicht ziehen lies, hieß nicht das Andrea nicht mehr auf der Abschussliste stand. Sie hatte eine Abmahnung die mit A. Scheffelbaum unterschrieben war und auch wenn Nicole Haffer sich daneben benommen hatte, beim nächsten Fehler war Andrea draußen. Trotzdem genoss sie den Abend. So wohl hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Dem Junior zu grollen kam ihr nicht in den Sinn. Andrea nahm ihren Mantel und griff ihre Handtasche. Sie öffnete die Tür. Der Eingangsbereich lag wieder im Dunkeln. War der Junior schon wieder draußen. Eigentlich musste er nicht in sein Büro um ein Taxi zu rufen. Sein Handy hatte er bestimmt dabei. Doch aus dem Treppenhaus drang ein schwaches Licht.
Zügigen Schrittes ging sie den Flur entlang. „Hände hoch und kein Wort.“, fauchte plötzlich jemand. Erschrocken hob Andrea Vollborn die Hände. Nicht schon wieder, fuhr es ihr durch den Kopf. „Deinen Mantel.“, verlangte der Mann. „Lass ihn fallen. Die Handtasche auch.“ Andrea stellte ihre Handtasche ab und lies ihren Mantel zu Boden gleiten. Ein Rascheln hinter ihr zeigte, dass der Räuber die Sachen durchwühlte. Es knirschte. Das musste ihr Mobiltelefon gewesen sein. „Gehen wir.“, forderte der Mann. „Nach oben. Ins Büro deines Chefs.“ Wortlos stieg Andrea die Treppe nach oben.“ Sie ging den Flur entlang und öffnete die Tür von Alexanders Büro. Sie betrat diesen Raum, das erste Mal. Er war hell erleuchtet. Schützend hob Andrea ihre Hand vor die Augen. Schemenhaft nahm sie einen dunkel gekleideten Mann war. „Wo ist Herr Scheffelbaum?“, fragte Andrea. „Ich bin hier, Frau Vollborn?“ Langsam an das Licht gewöhnend blickte Andrea sich um. Mitten im Zimmer auf dem Fußboden vor dem Besprechungstisch entdeckte sie ihn.
Alexander Scheffelbaums Hände lagen auf dem Rücken. Sie waren mit Kabelbindern zusammengezogen. Tief schnitt das Plastik in seine Haut. An den Fußgelenken sah sie die gleichen Dinger. Nur das seine Füße gekreuzt waren und unnatürlich in die Luft ragten. Der Mantel lag achtlos auf dem Boden. Mit Ausnahme des Gürtels. Dieser bildete die Verbindung zwischen seinen Hand- und Fußgelenken. Damit sorgte dieses Teil für die eigenartige Position der Beine. In den Augen ihres Chefs war keine Angst. Darin lag nur tiefe Sorge. Machte er sich etwa Sorgen um sie?
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Alexander Scheffelbaums Blick blieb an seiner Mitarbeiterin hängen. Sie stand mit erhobenen Händen mitten im Zimmer. Alexander fühlte sich schuldig. Was hatte ihn überhaupt geritten in sein Büro zu gehen? Während Andrea Vollborn auf der Toilette war hätte er einfach mit seinem Handy ein Taxi rufen können. Dann wären sie sicher schon auf dem Weg nach Hause stattdessen befanden sich Nicole Haffers Assistentin und Alexander selbst in der Gewalt von Gangstern. Der Mann hinter Andrea Vollborn stieß sie in den Raum. Die Frau landete auf dem Boden. „Auah.“, schrie sie. Ihre Augen trafen sich. „Lassen Sie sie gefälligst in Ruhe.“, rief Alexander von unten. Doch spürte er selbst wie hilflos diese Geste wirkte. Die Gangster durchwühlten sein Büro. Alexanders kleiner Safe in einem der Büroschränke entging ihnen natürlich nicht. „Wo ist der Schlüssel?“, herrschte einer der beiden ihn an. „In meinem Mantel. Am Schlüsselbund.“, antwortete Alexander.
Der Mann packte den Mantel und durchwühlte die Taschen. Zufrieden trat er mit dem Schlüssel in der Hand an den Safe. Doch die Freude der Gangster wehrte nicht lange. „Wo ist die Kohle?“ „Dort drin bestimmt nicht.“, erwiderte Alex. Ein Tritt in die Seite ließ ihn aufheulen. „Wir wollen Bares.“, herrschte der zweite Einbrecher Alexander an. „Ich hab keine Ahnung, ob wir überhaupt Bargeld in der Firma haben.“, stöhnte Alex. Sein Blick suchte Andrea Vollborn. Als Nicole Haffers Assistentin musste sie es doch wissen. Der Einbrecher hob wieder den Fuß. „Lassen Sie ihn.“, schrie die Frau neben ihm. „Unten im Tresor sind knapp dreißigtausend Euro. Das ist aber alles. Wirklich.“ Der Mann packte Andrea Vollborn am Kragen und zerrte sie mit dem Rücken auf den Boden. „Wo soviel ist gibt es noch mehr.“, schrie er sie an. „Nein.“, entgegnete Alexanders Leidensgefährtin entschieden. „Als Assistentin der kaufmännischen Leiterin bin ich für die Bargeschäfte verantwortlich.“ Sie zählte die wenigen Geschäfte gegen Barzahlung zusammen. „Was brauchen wir Bargeld? Die Einnahmen verbleiben nur in der Firma um unsere Fernfahrer entsprechend auszustatten.“
Der Eindringling packte Andrea Vollborn am Arm. „Komm mit. Wir gehen zum Tresor.“ Nicoles Assistentin riss sich los. „Ich führe nur das Kassenbuch. Die Kombination kenne ich nicht.“ „Kennt er sie?“, fragte der Einbrecher neben Andrea. „Ich weiß es nicht.“, erklärte sie. „Ich hab mit dem Geld nichts zu tun.“, sprang Alexander auf den Zug auf. Sicher hatte Nicole Haffer ihm die Kombination irgendwann gesagt. Aber im Kopf hatte er die Zahlen nicht. „Ich kenne sie nicht.“ „Das werden wir sehen.“, lachte einer der Einbrecher, hob Andrea Vollborn auf die Füße und schob sie an den Raumteiler, der Alexanders Schreibtisch von der Besprechungsecke abteilte. Es handelte sich um fest verschraubte Stützen mit Einlegeböden. Der Mann riss Andrea die Jacke herunter. „Was soll das? Lassen Sie mich. Bitte.“ Der Kerl reagierte darauf mit keinem Wort. „Mit dem Rücken an das Ding und Hände über den Kopf.“, lautete nun seine Anweisung. Alexander sah, wie Andrea die Befehle des Einbrechers befolgte. Sie biss sich auf die Lippen, als der Mann ihre Hände hinter den Pfeiler zwang und mit Kabelbindern festzurrte. Die Füße zog er mit Klebeband an den Pfosten. Dann trat er zur Seite.
Alexanders Augen suchten seine Leidensgefährtin. Ihre Blicke trafen sich. So wie Andrea Vollborn vor dem Pfosten stand, war sie trotz der Situation für Alexander Scheffelbaum ein faszinierender Anblick. Die Dicke aus der Buchhaltung. Wer verbreitete nur so einen Schwachsinn. Durch die unnatürliche Haltung der Arme, stand ihr Busen fast waagerecht. Im Ausschnitt ihres Tops bildeten die Brüste eine tiefe Rinne. Das Top selbst war etwas nach oben gezogen und gab einen Streifen von Andrea Vollborns Bauch frei. Dieser zeigte weiche helle Haut. Sicher ihre Hüfte hatte eine ausgeprägte weibliche Form, aber sie passte zu ihr. Die Beine waren vielleicht etwas stramm. Aber dennoch stimmten die Proportionen und die Pumps taten ein Übriges. Andrea Vollborn war 35. Alexander hatte sich nie für Frauen interessiert, die älter als er waren und ganz bestimmt hätte er Andrea vor zwei Wochen noch keines Blickes gewürdigt. Aber heute? Etwas war anders. Es machte ihm Spaß mit ihr zu tanzen. Natürlich, sie schwebte nicht wie eine Feder über das Parkett. Doch ihren weiblichen Körper in den Armen zu halten und kreisen zu lassen besaß etwas Faszinierendes. Außerdem wurde Alexander das Gefühl nicht los Andrea Vollborn hatte sich beim Tanzen ganz fallen lassen. In der Regel fühlte sich Alexander von seinen Tanzpartnerinnen beobachtet. Das mochte er nicht. Doch Andrea Vollborn gab sich nur der Situation hin
„Die Kombination für den Tresor?“ Alexanders Gedanken wurden rüde unterbrochen. „Er scheint damit ein Problem zu haben.“, kommentierte sein Partner das Schweigen. „Sieh mal zu, dass du seinem Gedächtnis etwas nachhilfst.“, sagte er zu seinem Kumpan. Was meinte er damit? Da gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. Alexander schloss die Augen und wartete auf die Schläge. Doch nichts passierte. „Lassen Sie das….Bitte.“ Andrea Vollborns Stimme holte ihn zurück. Alexander sah in ihre Richtung. Der Kerl, der sie gefesselt hatte stand vor ihr. Seine Hände schoben sich unter ihr Top und bewegten sich in Richtung des Busens. Andreas flehender Blick lag auf ihm. „Herr Scheffelbaum. Bitte. Ich bitte Sie. Helfen Sie mir.“ „Sie fällt mir nicht ein.“, gab Alexander verzweifelt zurück. Die Männer lachten. Die Hände ihres Peinigers hatten inzwischen Andreas BH freigelegt. „Bitte denken Sie nach, Herr Scheffelbaum…. Ich flehe Sie an.“ Andreas Stimme klang verzweifelt. Alexander kämpfte mit seinen Gedanken. Was hatte Nicole Haffer gesagt? Irgendwas mit fünf, dann eine drei und wie dann weiter? Für die restlichen Zahlen brauche er ja nur einen Blick auf sein Autokennzeichen zu werfen, scherzte sie seinerzeit. Da war es. Alex stotterte die Kombination hinaus.
„Warum nicht gleich so. Das hätte deiner Freundin eine Menge Ärger erspart.“ Alexander fiel auf, dass er während des Nachdenkens die Stimme von Andrea Vollborn nicht mehr gehört hatte. Er sah nach oben. Die Hände des Kerls ließen von der Frau am Pfosten ab. Der flehendliche Blick war einem festen kämpferischen gewichen, in den sich jetzt noch ein Schuss Erleichterung mischte. Andreas BH war noch an seinem Platz und der Kerl war noch so höflich das Top wieder darüber zu ziehen. Der zweite Mann ging hinaus. Nach ein paar Minuten betrat er wieder das Zimmer. „Damit ihr keinen Unsinn macht.“, sagte er grinsend. Kurze Zeit später waren die Männer verschwunden und das Licht aus. Den Raum erfüllte nur das tiefe Atmen von Andrea Vollborn und ihm selbst. Die Einbrecher hatte sie mit Geschirrtüchern aus der Teeküche ruhig gestellt.
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„Schön, dass du mich abholst, Brüderchen“, sagte Julia zu ihrem anderthalb Jahre älteren Bruder Daniel. „Sieh zu, dass du einsteigst.“, antwortete dieser. Besonderen Spaß machte es ihm nicht am Freitagabend kurz nach Mitternacht durch die Gegend zu fahren und seine Schwester abzuholen. In dieser Zeit hatte er in der Regel etwas Besseres vor. Schweigend glitt das Auto durch die nächtlichen Straßen. Plötzlich schrie Julia. „Halt an, Daniel. Sofort.“ Der Junge trat auf die Bremse. „Was ist los?“, fluchte er. Julia wies mit der Hand auf ein Gebäude. „Dort unsere Firma.“
„Ich weiß wo du arbeitest.“, entgegnete ihr Bruder. Er sah hinüber. Sie befanden sich an der Rückseite des Gebäudes. Dort lag der Personaleingang. Davor ein Parkplatz mit Schrankenanlage. Wenn Daniel seine Schwester auf Arbeit fuhr, setzte er sie gewöhnlich davor ab. „Siehst du nicht?“, fragte Julia. Sie wies mit der Hand in Richtung des Gebäudes. Auf dem im matten Schein der Straßenbeleuchtung liegenden Parkplatz stand nur ein einziger Wagen. Ein großer Audi. Wenn es Daniel richtig deutete ein Coupe. Ein Mann schlug gerade die Tür zu. „Das ist der Wagen von Frau Haffer, der kaufmännischen Leiterin.“, erklärte Julia. „Aber wer ist der Typ?“
„Was geht dich das an?“, erwiderte Daniel. „Wenn die Chefs nachts arbeiten wollen kannst du sie auch nicht dran hindern. Und wenn sie ihren Kerl mit in die Firma nimmt auch nicht. Ich will jetzt ins Bett.“ „Da stimmt was nicht.“, widersprach seine Schwester. „Dann ruf die Polizei?“, gab er lapidar zurück. „Um mich lächerlich zu machen?“ Julia tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Wir warten.“, entschied sie. „Wie du meinst“, sagte ihr Bruder. „Aber damit machst du dich wirklich lächerlich.“
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Alexander Scheffelbaum zog an den Fesseln. Es half nichts. Die Kabelbinder bekam er nicht ab. Auch der Gürtel seines Mantels war so zwischen seinen Amen und Beinen verknotet, dass er keine Möglichkeit sah ihn zu lösen. Es blieb nur warten. Aber warten worauf? Morgen war Samstag. Er könnte nicht damit zu rechnen, dass jemand in die Firma kam. Ihn persönlich würde vor Montag niemand vermissen. Er hatte keine Verabredungen für dieses Wochenende getroffen. Alexander wusste nicht was Andrea Vollborn geplant hatte, aber sie war geschieden und besaß derzeitig auch keinen Partner. Zumindest war da ihre Tochter. Aber auf sie wollte Alexander Scheffelbaum seine Hoffnungen nicht setzen.
Sicher war nur eines. Bis Montag würden sie es in dieser Position nicht aushalten. Das war unmöglich. Alexander brauchte eine Idee. Nur für ihn gab es eine Chance sich zu befreien. Andrea saß fest. Alex blickte zu seiner Leidensgefährtin. Im Halbdunkel, der durch das Fenster herein scheinenden Mondlichtes sah er wie das geknebelte Gesicht mit den großen weit aufgerissenen Augen kämpfte. Die Ursache dieses Kampfes entdeckte Alexander als sein Blick nach unten wanderte. Andrea hatte sich bereits von ihren Schuhen befreit und zerrte an dem Klebeband, das ihre Füße an dem Pfeiler hielt. So wie es aussah besaß sie gute Chancen ihre Füße freizubekommen. Aber das nützte ihr gar nichts. Die Hände bekam Andrea definitiv nicht los. Trotzdem kämpfte sie. Scham stieg in Alexander hoch. Während er sich tiefsinnige Gedanken über ihre Lage machte, kämpfte Andrea dagegen an. So einer Frau war er noch nie begegnet. Die meisten seiner Bekanntschaften hätten heulend in den Fesseln gehangen. Für sich nannte er die gefesselte Frau dort am Regal bereits beim Vornamen. Wenn er bloß den verdammten Gürtel abkriegen könnte. Dann wären sie gerettet.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Eine Schere! Klar hatte er in seinem Schreibtisch eine Schere. Genauer gesagt lag sie im obersten Fach seines Rollcontainers. Und dieser stand unter seinem Schreibtisch. Alexander sah in diese Richtung. Auch wenn Andrea Vollborn ihre Füße freibekam, der Container stand zu weit weg. Er musste näher heran. Das war seine Aufgabe. Mit aller Kraft, die Alexander Scheffelbaum aufbringen konnte begann er sich seitwärts in Richtung seines Schreibtisches zu Rollen. Rolle für Rolle ging es voran. Alexander hatte es fast geschafft. Doch dann hielt er plötzlich inne. Hatte er sich verhört? Sein Blick viel auf seine Leidensgefährtin. Auch sie hatte ihre Bemühungen eingestellt und lauschte. Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Kamen die Gangster zurück? Schnell rollte sich Alexander zwei Mal von seinem Schreibtisch weg. Wenn die Männer wieder in sein Büro kamen und den Plan errieten war alles vorbei. Aus den Augenwinkeln sah er wie Andrea versuchte auch wieder ihn ihre Pumps zu gelangen. Die Schritte entfernten sich. Erneut umfasste Stille den Raum.
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Andrea sah nach unten. Alexander Scheffelbaum lag ganz ruhig auf dem Fußboden. Die Schritte waren verklungen. Die Gangster befanden sich demnach noch im Haus. Aber im Prinzip hatten sie keine Wahl. Sie mussten hier weg. Dazu mussten sie sich befreien. Dafür gab es nur einen Weg. Einer von ihnen musste an den Schreibtisch. In jedem Schreibtisch lag etwas, das ihnen helfen konnte sich zu befreien. Eine Schere, ein Brieföffner oder ein Cuttermesser. Nur kam Andrea da allein nicht heran. Ihre Füße würde sie sicher freibekommen. Nur so lang Andrea sich auch streckte. Allein ging es nicht. Als Alexander Scheffelbaum vorhin teilnahmslos auf dem Boden lag, hatte sie schon gedacht er hätte sich aufgegeben. Doch dann schien er zu begreifen und begann sich in Richtung seines Schreibtisches zu rollen. Jetzt lag der Junior wieder ganz still auf dem Boden. Wartete er oder hatte ihr Leidensgefährte nun endgültig kapituliert?
Im Prinzip standen ihre Chancen sich zu befreien ganz gut. Wären die Gangster aus dem Haus, dann hätten sie alle Zeit der Welt. Nur jetzt musste es schnell gehen. Wenn die Männer noch einmal nach ihnen sahen und sie bei ihrer Befreiung überraschten war es aus. Auch Alexander Scheffelbaum schien dies zu ahnen und rollte sich wieder in Richtung seines Schreibtisches. Andrea streifte erneut ihre Pumps ab und begann sich des Klebebands an ihren Füssen zu entledigen. Alexander hatte seinen Schreibtisch erreicht. Aber wie nun weiter? Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung kam er auf die Knie. Er saß neben seinem Schreibtisch. Der Rollcontainer stand darunter. Hatte Alexander eine Möglichkeit ihn hervor zu ziehen. Mit rutschenden Bewegungen seiner Knie bewegte er sich unter den Tisch. Der Rollcontainer reichte nicht bis zum Ende. Es gab eine Lücke. Der Kopf des Junior-Chefs schob sich in den Spalt und drückte den Container etwas hervor. Jetzt hatte Alexander mehr Platz. Mit seiner Schulter lehnte er sich an die Rückwand und ließ sich einfach zur Seite fallen. Durch den Schwung schob sich der Container bis in die Reichweite ihrer Füße.
Andreas Bemühungen standen auch kurz vor dem Abschluss. Mit aller Kraft zog sie ihren Fuß aus der Umklammerung des Klebebandes und streckte ihn aus. Mit knapper Not erreichte sie den Griff der Schublade. Alexanders Gesicht kam von den Anstrengungen gezeichnet hinter dem Möbel wieder zum Vorschein. Er schwitzte, aber seine Augen leuchteten. Andreas Zehen klinkten sich in den Griff. Sie musste sich verdammt weit vorstrecken. Auch wenn der Kerl ihr Top wieder über den BH gezogen hatte, gab es in dieser Stellung einen nicht unerheblichen Teil ihres Bauches frei. Sie fühlte die Blicke des Juniors auf ihr ruhen. Gefiel ihm was er sah? Als der Kerl sich vorhin an ihr zu schaffen machte, hatte Alexander seinen Blick abgewendet. Aus Abscheu oder Scham? Er sah gut aus. Das war nicht zu bezweifeln. Aber sie? Nun ja, für Männer die auf ihren Typ standen, hatte Andrea vielleicht einen gewissen Reiz. Aber sie glaubte nicht, dass der Junior diesen Typ Frau überhaupt beachtete. Wenn sie bedachte, mit welchen Frauen sich Alexander Scheffelbaum sonst umgab, war die Wahrscheinlichkeit, das sie sein Typ war vermutlich gleich null. Trotzdem hatte er den Abend im Wesentlichen mit ihr verbracht und so unangenehm schien ihm das nicht gewesen zu sein.
Aber jetzt mussten sie erst einmal weg, riss Andrea ihre Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Mit aller Kraft zog sie an der Schublade. Sie flog heraus. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Mittendrin lag eine Schere. Die Laute die aus Alexanders geknebeltem Mund drangen, waren Laute der Erleichterung. Sofort machte er sich auf den Weg zu dem Ziel ihrer Bemühungen. Er rollte sich einfach darauf. Alexanders Hände mussten die Schere schnell gefunden haben, denn nur einige Minuten später streckten sich mit einem Stöhnen unter dem Knebel die Beine ihres Junior-Chefs. Schnell kam er auf die Knie. Hinter dem Rücken arbeiteten Alexanders Hände fieberhaft. Aus seinem Blick sprach Zuversicht. Diese Zuversicht war nicht unbegründet stellte Andrea fest, als er sich erhob und mit den nun freien Händen die Fesseln an seinen Füssen durch trennte. Der Knebel kam ab. Jetzt war Andrea an der Reihe. Als erstes ihren Knebel. Andrea war froh das Ding aus ihrem Mund zu haben. „Bist du in Ordnung?“, fragte er. Andrea nickte nur. Das der Junior sie plötzlich duzte war ihr irgendwie peinlich. Alexander Scheffelbaum. war für seine saloppen Umgangsformen bekannt. Aber ihn von jetzt auf gleich so einfach Alex zu nennen konnte sich Andrea nicht vorstellen.
Alexander schnitt ihre Hände los. „Wir rufen die Polizei.“, erklärte er. Doch das Telefon war tot. „Verdammt.“, stieß Alexander hervor. „Wir müssen aus dem Gebäude.“, erwiderte Andrea. „Das ist ein Problem. Die haben meinen Schlüssel. Ich hab die Eingangstür wieder abgeschlossen.“, antwortete Alexander. „Wir schleichen uns durch das hintere Treppenhaus, Herr Scheffelbaum. Die Tür neben dem Rechenzentrum besitzt eine Notöffnung.“ Der Junior warf ihr einen erstaunten Blick zu. Wenn er mir jetzt das du anbietet nehme ich an. Aber machen musste er es, dachte sie. Doch Alexander reichte ihr lediglich die Jacke. „Das ist genial. Nichts wie los.“
Der Flur war dunkel. Die Fenster des Treppenhauses zeichneten sich als hellgraue Vierecke ab. Doch der schwache Schein reichte um die Treppe bis in das Untergeschoss hinab zu steigen. Andrea hielt sich dicht hinter Alexander Scheffelbaum. Er kannte das Gebäude seit es erbaut wurde. Vermutlich wäre er selbst auf die Idee mit der Tür neben dem Rechenzentrum gekommen. Die Haupttreppe konnten sie nicht herunter. Dort saßen sie in der Falle. Der Junior hatte den Haupteingang wieder verschlossen. Dieses Treppenhaus hier endete jedoch vor dem Personaleingang. Der war nachts zwar auch verschlossen, aber im Untergeschoss, nur eine halbe Treppe Tiefer lag das Rechenzentrum.
Unvermittelt blieb der Junior stehen. Andrea wäre beinahe auf ihn gerannt. Er legte den Finger über die Lippen. Seine andere Hand wies nach oben. Andrea Vollborn verstand und wich langsam zurück. Alexander öffnete die Tür zum nächst besten Büro und schob Andrea hinein. „Dort unten steht ein Mann und bewacht den Ausgang.“, flüsterte er. „Einer der beiden aus dem Büro?“, fragte Andrea leise. Ihr Begleiter zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht sind es auch mehr als zwei.“ „Dann sitzen wir in der Falle.“, stellte Andrea fest. „Nicht unbedingt. Der Kerl ahnt nicht, dass wir hier sind. Wir können ihn überraschen.“ Seine Augen wanderten durch den halbdunklen Raum und blieben an einem Schrank hängen. Alexander ging hinüber. Er griff nach etwas länglichen und wog es in der Hand. Ein Kegelpokal. „Damit könnte ich ihn niederschlagen und dann nichts wie raus.“, erklärte er. Andrea nickte. Hier drinnen saßen sie fest. Wenn sie aus dem Gebäude wollten blieb nur dieser Weg.
„Dann los.“, flüsterte Alexander Scheffelbaum. Er öffnete leise die Tür. Andrea folgte. Vorsichtig schlichen sie wieder die halbe Treppe herunter. Der Einbrecher stand genau unter ihnen. Andreas Begleiter nickte ihr kurz zu, packte das Geländer und schwang sich hinüber. Er landete genau auf dem Einbrecher. Mit einem Angriff von oben hatte der Mann nicht gerechnet. Er ging in die Knie. Alexander schlug zu. Der Gangster brach zusammen. Andrea sprintete los. Über den Flur. Die halbe Treppe herunter. Sie spürte Alexanders Atem im Nacken. Der Notausgang lag in Reichweite. Unvermittelt schlug die Tür vom Rechenzentrum auf. Darin stand ein zweiter Mann. In seiner Hand lag eine Pistole. Hinter ihm erschien ein weiteres Gesicht. Andrea wollte ihren Augen nicht trauen. Auch der Junior schien überrascht. „Nicole?“ Der Einbrecher den Alexander nieder geschlagen hatte war wieder auf den Beinen. Wutentbrannt stieg er die Treppe nach unten. Er packte Andreas Begleiter an den Schultern und drehte ihn um. Seine Faust traf Alexander im Gesicht. Blut spritzte. Der Junior sackte zusammen. Noch einmal wollte der Mann zuschlagen. Doch Nicole Haffer hielt ihn zurück. „Das reicht. Fesselt sie und sorgt dafür das die beiden das Maul halten.“
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„Das sind Benzinkanister.“, schrie Julia. Daniel schreckte auf. Er war beinahe eingeschlafen. Persönlich hielt er es für Schwachsinn hier zu parken und den Personaleingang der Scheffelbaum-Gruppe zu beobachten. Aber mit seiner Schwester zu streiten brachte nichts. Wenn sich Julia etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unmöglich sie davon abzubringen. Nun, er würde ihr schon eine Gegenleistung für diese Warterei aus der Nase ziehen. Vielleicht bereits morgen. Oder besser gesagt heute. Denn die Uhr zeigte jetzt weit nach Mitternacht. Es gab da ein Mädchen. Eine Freundin von Julia. Sie lernte auch bei Scheffelbaum. Ein Date mit ihr musste seine Schwester als Gegenleistung für diese Warterei schon klar machen.
„Siehst du nicht, Daniel. Die Typen schleppen Benzinkanister in die Firma.“ Julias Stimme hatte einen schrillen Ton. „Ich sehe und jetzt halt die Klappe.“, fauchte er. „Du schreist noch das ganze Viertel zusammen.“ Zwei Männer, darunter jener der bereits vorhin an dem Audi gewesen war luden zwei große Kanister aus dem Kofferraum des Wagens und verschwanden gerade im Haus. „Da ist was faul.“, antwortete Julia keineswegs ruhiger. „Ich muss darüber.“ Sie sprang aus dem Wagen und rannte über die Straße. „Verdammt.“, fluchte Daniel. Er stieg aus und sprintete hinter her. Kurz vor dem Personaleingang hatte er Julia eingeholt. Ohne zu Zögern packte er seine Schwester, presste ihr die Hand auf dem Mund und zerrte sie zurück auf die Straße.
Natürlich stimmte mit den beiden Männern etwas nicht. Wer schleppte schon nachts Benzinkanister in ein Haus. Aber mit seiner aufgeregten Schwester in Hörweite dieser Kerle zu diskutieren hielt er nicht für klug. Julia wehrte sich. Sie hieb mit den Fingernägeln auf seinen Arm und versuchte sich loszureißen. Wenn jemand diese Szene beobachtete konnte sich Daniel den Anruf bei der Polizei sparen. Die wären sicher schon auf dem Weg. Er drückte seine Schwester an eine Hauswand und löste den Griff. „Du kannst da nicht rein, Julia.“ „Ich muss.“, widersprach sie. Das ist Frau Haffers Auto. Die Typen haben sie bestimmt entführt und als Geisel genommen.“ „Mit dir haben sie dann eine zweite.“, erklärte Daniel. „Ich rufe die Polizei. Wir warten hier. Ok.“, Julia nickte. Daniel kramte nach dem Handy. In diesem Moment flitzte seine Schwester los. „Diese Irre.“, stöhnte der Junge und wählte den Notruf.
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Alexander Scheffelbaum spürte die feuchte Wärme des Blutes unter das Klebeband über seinem Mund kriechen. Er lag auf dem Fliesenboden vor dem Rechenzentrum. Die Hände waren mit Kabelbindern auf dem Rücken zusammen gezogen. Auch die Füße hatten die Männer wieder mit diesen Kunststoffstreifen gefesselt. Neben ihm lag Andrea Vollborn. Auch sie war mit Plastikstrapsen gefesselt und die festen Lagen Tape über dem Mund verwandelten ihr hübsches Gesicht in eine Fratze. Auf der Treppe saß Nicole Haffer. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen. Die Hand mit der Waffe lag in ihren Schoss. Die Männer waren einmal kurz draußen gewesen, mit zwei Benzinkanistern zurückgekommen und damit im Rechenzentrum verschwunden.
„Ihr Mittelständler seit richtige Idioten.“, drang die Stimme von Nicole Haffer an Alexanders Ohren. Er sah auf. Auch Andrea hatte den Kopf gewandt. „Anstatt einen Headhunter zu beauftragen, versucht ihr es selbst.“, fuhr die Frau fort. „Habt ihr einmal meine Referenzen geprüft? Nein. Stattdessen erteilt ihr mir sofort Prokura. Alex, dein Vater ist ein gutmütiger Trottel und du bist nicht viel besser. „Sie lachte. „Eure Firma war für meine Partner und mich der reinste Selbstbedienungsladen. Zumindest bis eine übereifrige Assistentin auf die Idee kam ihre Nase in meine Angelegenheiten zustecken.“ Sie stand auf und kniete sich neben Andrea. Ihre Hand fuhr über den Po der gefesselten Frau. „Ganz schön üppig. Ein paar Pfunde zuviel.“ Andrea drehte ihren Kopf weg. „Was meinst du wer diesen Spitznamen in der Firma lanciert hat?“, fragte Nicole Haffer. „Zwei, drei Nebensätze zu den richtigen Leuten. Dann ist es rum. Nur zur Sicherheit. Ich brauchte jemanden, der die Arbeit macht und nicht an meinem Stuhl sägt. Die Dicke aus der Buchhaltung. Mit diesem Ruf macht niemand Karriere.“
Nicole Haffer packte Andrea an den Haaren und hob ihren Kopf. Alexanders Leidensgefährtin stöhnte in den Knebel. „Du warst perfekt für den Job.“, fuhr Nicole Haffer fort. „Gut genug um mich von dem Tageskram zu entlasten und loyal. Dummerweise nicht nur mir gegenüber. Wärst du nicht zum Senior gerannt hätte das dir eine Menge Ärger erspart. Meine Partner mussten zuschlagen.“ Sie lachte auf. „Die Sache hatte aber auch was Positives. Durch den Raub waren wir bei den Beständen wieder pari.“ Nicole lies Andreas Kopf sinken. Ihr Blick ging zu Alexander. „Du bist Schuld, Alex. Ich hätte sie auch gegen deinen Vater aus der Firma getrieben. Das hätte einem netten Familienbetrieb noch ein paar Jahre gegeben. Aber so ist heute Nacht Schluss. Aber warum musstest du dieser dicken Schlampe unbedingt helfen? Seit wann stehst du eigentlich auf fette Weiber?“
„Red nicht so viel.“, mahnte eine Stimme aus dem Rechenzentrum. „Wir sind fertig.“ Einer der beiden Männer stand in der Tür. Nicole erhob sich. „Mach sie los.“, wies Nicole Haffer ihren Kumpan an. „Die Vollborn zuerst.“ Der Mann kniete sich hin und zog Andrea das Tape vom Mund. „Was haben Sie vor? Sie Hexe!“ Andrea spie ihre Worte förmlich aus. „Was suchen Sie im Rechenzentrum?“ „Nachdem Alex mich runtergeputzt hat, wusste ich das meine Tage hier gezählt sind.“, erklärte Nicole Haffer grinsend, während ihr Komplize Andreas Fesseln mit einem Messer durchtrennte. Die Pistole steckte jetzt auf dem Rücken im Bund seiner Hose. „Ich habe einen Zahllauf angelegt.“, fuhr Nicole fort.“ Mit dem Notfall-User. Der Empfänger ist ein Nummernkonto auf den Caymans. Die Daten sind schon bei der Bank. Morgen früh ist die Firma pleite.“ Verdammt, schoss es Alexander durch den Kopf. Das war also das Ziel der Männer. Die Zugangsdaten des Notfall-User lagen im Tresor. Davon wussten nur ein paar Leute. Man brauchte ihn wenn im System gar nichts mehr ging. Er besaß Administratorenrechte und natürlich auch keine Betragsbeschränkung. „Das funktioniert nicht.“, entgegnete Andrea. „Das Geld kann man zurückholen.“ „Nicht, wenn das Rechenzentrum ausgebrannt ist.“, widersprach Nicole Haffer. „Der Raum ist stabil. Die Feuerwehr wird den Brand gelöscht haben bevor er auf den Rest des Hauses übergreift.“ Sie grinste. „Eigentlich sollte ich gefesselt und geknebelt oben in meinem Büro liegen. Dass ihr beide noch einen Abstecher in die Firma macht konnte niemand ahnen. Aber dadurch wirkt die Sache umso glaubwürdiger.“
Der Räuber packte Andrea und hob sie auf die Beine. „Damit kommen Sie nie durch.“, fauchte seine Leidensgefährtin. „Doch das kommen wir.“, antwortete Nicole Haffer. „Am besten wir entsorgen euch beide im Rechenzentrum. Ein heimliches Liebespaar von Einbrechern überrascht und im Feuer eingeschlossen.“ Sie warf ihren Komplizen einen fragenden Blick zu. Dieser hatte Alexanders Füße befreit und machte sich an seinen Händen zu schaffen. „Das wäre eine Idee.“, erklärte der Mann. „Dafür müssten die beiden am besten nackt sein.“ „Kein Problem.“ Nicole nickte und hob grinsend die Waffe. „Also Dickerchen zeig Alex deine Speckrollen.“ Alexander riss sich mit den jetzt freien Händen das Tape vom Mund. „Das ist Mord, Nicole. Das kannst du nicht machen.“ „Und ob ich das kann, Alex.“, lachte die Frau. Die Tür vom Personaleingang knarrte. Nicoles Aufmerksamkeit wurde einen Augenblick abgelenkt.
Mit einer Behändigkeit die Alexander seiner Begleiterin auf keinem Fall zugetraut hätte, sprang Andrea Vollborn vor. Nicole Haffer wankte an das Treppengeländer zurück. Andrea Vollborn trat zu. Der Absatz ihrer Pumps bohrte sich in den Schuh ihrer Gegnerin. Diese schrie auf. Die Pistole polterte auf den Boden. Der Mann neben Alexander hechtete zu seiner Komplizin. Doch mitten im Sprung sackte er zusammen. Auch Alexander hatte zugetreten. Der Einbrecher lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und hielt sich den Unterleib. Nichts wie raus hier, dachte Alexander und schwang sich auf die Beine. Andrea Vollborn war bereits am Ausgang. Sie wandte sich noch einmal um. Entsetzen stand in ihren Augen. „Alex, hinter dir!“ Alexander fuhr herum. Dem zweiten Einbrecher war der Tumult nicht entgangen. Er sprintete die Treppe hinauf. Seine Hand griff nach der Waffe. Alexander Scheffelbaum schlug zu. Der Verfolger taumelte. Das reichte. Alex umfasste Andreas Taille und stürzte mit ihr aus dem Personaleingang. Auf der Treppe wären sie beinahe über jemanden gefallen. Eine junge Frau. Andrea schien sie zu kennen. „Hau ab, Julia.“, schrie sie und fasste das Mädchen am Arm. Zu dritt rannten sie über den Parkplatz.
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Joachim Scheffelbaum sah aus dem Fenster seines Büros. In den Besuchersesseln auf der anderen Seite des Schreibtisches saßen seine Frau Ursula und Alexander. Der Überfall lag beinahe eine Woche zurück. Die Polizei hatte die Gangster noch auf dem Betriebsgelände festgenommen. Auch diese Nicole Haffer. Wie hatte er nur auf diese Frau hereinfallen können? Die Referenzen von Nicole Haffer waren ebenso falsch wie ihr Name. Sie war eine gesuchte Betrügerin. Das man sie bis jetzt noch nicht gefasst hatte lag nur daran, dass sie wirklich gut war. Ihre Tarnung funktionierte ausgezeichnet. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie nur ihren persönlichen Gewinn im Sinn hatte. Dass die Menschen und die Unternehmen, die sie mit ihrer Arbeit beglückte schweren Schaden davon trugen interessierte diese Frau nicht.
Die Scheffelbaum-Gruppe war mit einem blauen Auge davon gekommen. Das Geld konnte man zurückholen und der Schaden durch das ausgegossene Benzin im Rechenzentrum hielt sich in Grenzen. Aber Joachim hätte das erste Mal in seinem Leben vor Scham im Boden versinken können. Nicht nur das er diese Betrügerin eingestellt hatte. Er gab ihr auch freie Hand und unterstützte diese Frau. Als Andrea Vollborn zu ihm kam und über die Unregelmäßigkeiten berichtete, hätte er nur Nachforschen müssen. Aber was tat er? Joachim rief seine Prokuristin an und ließ sich beschwatzen. Außerdem hätten ihm diese Attacken der Betrügerin gegen ihre Assistentin auffallen müssen. Wäre da nicht der Überfall und die Gefahr einer schlechten Presse bei der Entlassung von Andrea Vollborn gewesen hätte er die Kündigung dieser Frau selbst unterschrieben.
Als Mittelständler war Joachim Scheffelbaum auf gute Menschenkenntnis bei der Auswahl seiner Mitarbeiter angewiesen und bei der Auswahl seiner kaufmännischen Leiterin hatte er versagt. War es Zeit zu gehen und Alexander allein das Ruder zu überlassen? Dafür war es eigentlich noch zu früh. Aber dieser Vorfall musste Konsequenzen haben. „Joachim, es bringt nichts wenn du grübelst.“, vernahm er die Stimme seiner Frau. „Wir müssen eine Entscheidung fällen.“ Ursula war hinter ihn getreten. Ihre Hand lag auf seiner Schulter. „Ich weiß.“, erklärte Joachim Scheffelbaum. Er drehte sich um und sah seine Frau an. „Du kommst zurück und übernimmst die kaufmännische Leitung.“, erklärte er entschieden. Ursula schüttelte den Kopf. „Nein. Mir gehören 50% der Anteile. Ich müsste wieder Geschäftsführerin werden. Willst du Alexander zurückstufen? Damit machen wir uns doch lächerlich.“
„Dann muss es eine Weile mit drei Geschäftsführern gehen?“, beharrte Joachim auf seiner Meinung. „Außerdem ist es nicht für ewig. Ein Nachfolger für diese Haffer muss her.“ „Diesen zu suchen ist aber Alexanders Aufgabe.“, betonte seine Frau. Sicher ist sie das., dachte Joachim Scheffelbaum. „Wenn wir den Nachfolger haben, kann Alex diesen Bereich gleich übernehmen. Das wäre sowieso der nächste Schritt gewesen.“, erklärte er. „Ich bin Ingenieur. Von Buchhaltung habe ich keine Ahnung.“, warf sein Sohn ein. „Deshalb brauchst du einen erfahrenen kaufmännischen Leiter.“, erwiderte Joachim Scheffelbaum. „Den suchst du dir aber selbst aus. Diesmal über einen Headhunter und geprüften Referenzen.“ „Ihr redet immer von einem Mann.“, gab Alexander zurück. „Es kann auch eine Frau sein.“, relativierte seine Mutter. „Dann können wir uns den Headhunter sparen.“, erklärte Alexander. „Ich will Andrea Vollborn.“
„Lass den Unsinn, Alex.“, widersprach seine Mutter. „Diese Haffer hat Frau Vollborn vermutlich eingestellt, weil sie alles andere als eine fähige Assistentin wollte.“ „Andrea Vollborn wurde eingestellt, weil diese Betrügerin jemanden wollte, der ihr das Tagesgeschäft abnahm.“, entgegnete Alexander. „Eben genau weil sie Zeit brauchte ihre Betrügereien zu organisieren. Ich halte das für einen guten Anfang. Seit Montag regiert ja auch nicht das Chaos.“ „Als kaufmännische Leiterin hat sie weit mehr Aufgaben als das Tagesgeschäft zu organisieren.“, gab Ursula Scheffelbaum zurück. „Was Alex sagt hat was für sich.“, warf Joachim ein. „Sie hat das laufende Geschäft im Griff. Darauf kann man aufbauen.“ Er sah zu seiner Frau hinüber. „Für den Rest gibt es dich. Du hilfst ihr eine Weile. Ein paar Monate. Als Coach. Nach einem halben Jahr sind wir schlauer.“ „Was ist wenn Frau Vollborn es nicht packt?“, wollte Ursula Scheffelbaum wissen.
„Sie übernimmt die Stelle erstmal kommissarisch.“, erklärte Joachim. „Auch ohne Prokura. Das schützt uns und hilft ihr bei einem Scheitern das Gesicht zu wahren.“ „Das wäre fair.“, stimmte Ursula Scheffelbaum zu.“ „Andrea Vollborn ist eine vernünftige Frau.“, bestätigte Alexander. „Wenn man offen mit ihr spricht wird sie diese Lösung akzeptieren. Außerdem wäre noch eine andere Sache fair.“ Seine Eltern sahen ihn fragend an. „Wenn ihr es Andrea mitteilen würdet.“, klärte Alexander sie auf. „Ich will keine Gerüchte in der Firma. Das wir zusammen überfallen wurden ist für Spekulationen bereits Anlass genug.“ Er stand auf. „Wartet mit der Änderung der Geschäftsverteilung noch ein halbes Jahr. Wenn Andrea es packt werde ich gern ihr Chef.“ „Läuft etwas zwischen euch?“, wollte seine Mutter wissen. Alexander schüttelte den Kopf. „Ich finde Frau Vollborn nett und mich plagt wie euch beide das schlechte Gewissen. Mehr aber auch nicht.“
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„Mach heute nicht mehr so lange, Alex.“ Seine Mutter stand in der Bürotür. Alexander schüttelte den Kopf. „Nur noch ein paar Unterschriften.“, erwiderte er. „Na dann bis morgen.“, verabschiedete sich seine Mutter. Alexander zeichnete die restlichen Schreiben ab und schlug die Mappe zu. Er blickte auf die Uhr. Gleich acht. Seine Mutter hatte Recht. Es reichte für heute. Die Lust in seine zugegeben nicht sehr anheimelnde Wohnung zu fahren hielt sich in Grenzen. Er würde irgendwo etwas essen gehen. Mit ein wenig Glück lief ihm ein Bekannter, mit dem man nett plaudern konnte über den Weg. Alexander stand auf nahm seine Jacke und trat auf den Flur hinaus. Im Haus war es still. Nur aus Nicole Haffers altem Büro drang noch Licht.
Alexander Scheffelbaum hielt inne. Der Tag war anstrengend gewesen. Nachdem seine Eltern mit Andrea Vollborn gesprochen hatten gab es eine kurzfristig angesetzte Betriebsversammlung. Die Reaktionen auf Andreas Beförderung waren grundsätzlich positiv. Bei einigen sogar euphorisch. Doch darauf mochte Alex nichts geben. Vermutlich handelte es sich um jene Mitarbeiter die in Nicole Haffers Horn gestoßen hatten. Ob es eine gute Idee wäre Andrea Vollborn zu fragen, ob sie mit ihm zusammen etwas essen ging? Alexander trat in die Tür und klopfte. „Wie fühlt sich unsere neue kaufmännische Leiterin?“ Die Frau hinter dem Schreibtisch hob den Kopf. „Ohne Ihre Mutter schaffe ich das nie.“, entgegnete Andrea Vollborn. „Das wird schon mit der Zeit. Wie wäre es zur Feier des Tages mit einem Abendessen. Oder wartet die Tochter?“
Dieses in der dritten Person reden machte Alexander noch irre. Nur zu gern hätte er Andrea zu der Frau hinter dem Schreibtisch gesagt. Frau Vollborn wollte ihm nicht mehr über die Lippen. In seinem Büro nach ihrer Befreiung sagte er einfach du. Sie ging nicht darauf ein. Doch bei ihrem Kampf mit den Gangstern rief sie ihn einfach Alex. Doch danach verfiel Andrea wieder ins Formelle. Ein wenig kompliziert war ihre Situation schon. Andrea war die ältere, aber Alex Geschäftsführer. Bei Nicole Haffer war das aber kein Problem gewesen. Warum lag seine Hemmschwelle bei der Frau dort nur so hoch.
Andrea Vollborn schüttelte den Kopf. „Nach dem Gespräch mit Ihren Eltern hab ich meine Tochter angerufen. Lena weiß was zu tun ist, wenn ich später komme. Auf sie kann ich mich verlassen. Also warum nicht? Hunger hab ich auf jeden Fall. Sie stand auf und zog ihren Mantel über. Alexander bot ihr wieder den Arm. Freudig griff seine Begleiterin zu. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung, dass sie ihn Alex nannte.
- E N D E -
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2018
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