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Manchmal ist es ein Musikstück, ein Duft oder eine alte Fotografie, die eine längst vergessene Begebenheit aus den Tiefen unserer Erinnerung empor hebt und wieder zu neuem Leben erweckt; und jetzt, im Betrachten dieses Bildes, gehe ich weit zurück in meinen Gedanken.

Ich war ungefähr sechs oder sieben Jahre alt und mein täglicher Schulweg führte durch eine abgeschiedene Wohngegend unserer Stadt. Damals war auch noch kaum Verkehr und die wenigen Autos die sich hier her verirrten, waren Anrainer, die eines der schmucken Häuschen bewohnten, die schon seit Generationen in Familienbesitz waren. Darum durfte ich diese Strecke auch alleine gehen, denn aus Sicht meiner Eltern drohten hier keine unmittelbaren Gefahren und es konnte also meiner Selbständigkeit nur zuträglich sein, einmal Verantwortung für mich selbst zu übernehmen.
Mir war das allerdings gar nicht recht, denn mit einer überbordenden Phantasie ausgestattet, sah ich überall Schrecknisse von denen meine guten Eltern keine Ahnung hatten. So wurde dieser recht kurze, harmlose Spaziergang, für mich zu einem täglichen Horrortrip.
Schon frühmorgens beim Frühstückskakao sitzend, fühlte ich eine unnennbar Beklemmung, bei der Aussicht nun wieder allein vor die Aufgabe gestellt zu sein, an all den stummen, alten Häusern vorbeizumarschieren, die mit ihren altmodischen Fassaden und finster glänzenden Fenstern so bedrohlich auf mich wirkten. Sie schienen mir alle ein Abbild von jenem einen, das in meinem Märchenbuch abgebildet, ganz offensichtlich die Heimstatt der bösen Hexe war.

Die Vorstellung, dass nun in dieser Straße scheinbar eine ganze Hexenarmee wohnhaft war, trug nicht zur Entspannung meiner Nöte bei. Mit fliehenden Schritten, hastete ich blicklos durch die Gasse immer in der Hoffnung auch nur ja niemals einer solch finsteren Gestalt ansichtig zu werden.
Dann geschah es eines Morgens. Es war viel zu spät, um noch Vorkehrungen für eine Flucht treffen zu können und ich rannte aufgrund meines stets gesenkten Blickes direkt in sie hinein.
„Vorsicht, kleine Dame!“ hörte ich zeitgleich mit dem Zusammenstoß eine heisere Stimme und ein feiner Geruch nach frischem, süßem Gebäck stieg mir in die Nase. Ich war so erschrocken, dass ich wie angewurzelt stehen blieb und als ich meinen Kopf hob, stand da eine sehr alte Frau, offensichtlich noch im Morgenmantel, direkt vor mir. Ich wagte kaum sie anzusehen.

Da war sie, eine von ihnen, ja, ganz bestimmt, eine Hexe.

Panik erfasste mich und all die Angst und all der Schrecken der letzten Wochen fuhr mir plötzlich in die Beine und wie ein fliehendes Pferdchen, galoppierte ich davon. Verängstigt, saß ich meine Schulstunden ab und verließ mittags nach dem letzten Läuten, langsamen Schrittes das Klassenzimmer. Ich trödelte in der Garderobe herum und schließlich schon ganz allein zurück geblieben, ordnete ich die Hausschuhe all meiner Klassenkameraden neu an.
Dann gab es nichts mehr zu tun und ich stand auf der Straße. Vom Schultor aus konnte man die ersten Bäume jener Gasse bereits sehen. Die Sonne lachte vom Himmel, es war ein kühler aber freundlicher Herbsttag, es gab keinen sichtbaren Grund sich zu fürchten und doch war mir so klamm ums Herz.
Ich umkreiste die Schule, einmal, zweimal wie ein Planet seine Sonne, ich befand mich gerade ein drittes Mal in der Umlaufbahn, als ich die Stimme meiner Lehrerin hinter mir hörte. „Ja, Anja, was machst du denn heute noch da? Gehst du denn nicht nach Hause?“ Ertappt blieb ich stehen, starrte verlegen meine Schuhe an und wusste nicht recht was ich sagen sollte. Meine Lehrerin, Frau Sabine, hatte gleich am ersten Schultag mein Herz erobert. Sie war eine junge, fröhliche Person die uns den Schulalltag möglichst angenehm gestaltete. Aber nun war die Schule aus und ich war mir nicht sicher ob sie auch hier draußen, im richtigen Leben die Kompetenzen hatte, die im Unterricht unbestreitbar vorhanden waren. „Ob sie wohl die Macht hat, jenem unheimlichen Wesen, dem ich heute Morgen begegnet bin, Einhalt zu gebieten, wenn es mir was böses will?“ überlegte ich.
„Na mein Mädchen, was grübelst du denn nach? Komm, gib mir die Hand, ich begleite dich ein Stück, wir haben ja fast denselben Weg!“ Ich horchte auf, denselben Weg, was hatte denn das nun wieder zu bedeuten? Aber das war natürlich ein sehr verlockendes Angebot. So schob ich vertrauensvoll meine Hand in die meiner Lehrerin und zusammen bogen wir in die düstere Gasse ein.
„Siehst du die herrlichen, alten Bäume die hier so dicht an dicht stehen, Anja? Man nennt sie Platanen und sie können viele hundert Jahre alt werden. Wenn die reden könnten, die würden uns Geschichten erzählen. Da könnte man ganze Bücher damit füllen. Überhaupt finde ich sie geben dieser Straße etwas sehr geheimnisvolles. Findest du nicht auch?“ erzählte meine Lehrerin fröhlich. Ich schwieg betreten. „ ... und die schönen alten Häuser, die passen richtig gut zu den schönen alten Bäumen.“ Dann blieb sie plötzlich stehen. „So, hier wohne ich! Magst du kurz mit rein kommen?“ Entsetzt erkannte ich, dass wir vor dem Haus standen, an dem ich heute Morgen den Zusammenstoß mit der alten Frau gehabt hatte. In meinem Kopf überstürzten sich die Gedanken.
Frau Sabine, meine hübsche, fröhliche, junge Lehrerin, war sie etwa … ? Aber nein, das konnte nicht sein. Mittlerweile waren wir durch die Haustür getreten. Jene alte Frau, eilte uns entgegen. Auch sie blieb überrascht stehen. „Ja bist du nicht das kleine Fräulein von heute Morgen?“ fragte sie dann.
Und langsam dämmerte mir die Erkenntnis, dass die alte Dame wohl doch keine böse Hexe sein konnte. Als ich schließlich noch von ihrem leckeren Nussgebäck ein paar Stücke mit auf den restlichen Heimweg bekam, war ich vollends davon überzeugt, böse Hexen gibt es nur im Märchen.

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: Alle Rechte bei Eva Russ
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Nadja und alle Menschen die es nicht verlernt haben ab und zu wieder ein Kind zu sein;

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