Die Buchhaltung spricht eine deutliche Sprache. Ein Fiasko ist es geworden, alles was wir hineingesteckt haben ist verloren. Der Bildschirm wirft ein fahles Licht auf sein Gesicht, lässt die Nase scharf hervortreten und zeichnet Falten um seinen Mund. Er reibt sich heftig den Kopf, weil er ihn sich früher wieder an der niedrig hängenden Lampe gestoßen hat. Am liebsten würde er alles hinschmeißen, ich bemerke es wohl, am liebsten würde er einfach davon laufen, so wie früher, als kleiner Bub, wenn er mit den Eltern aus der Stadt, Äpfel oder Birnen holen gekommen ist und sie ihm wieder Angst gemacht haben, mit den Geschichten über den alten Mann.
Es sind zwei Bilder die er von seinem Großvater im Kopf hat. Das hat er mir oft erzählt. Das eine zeigt den Opa als nebuloses Untier, das im Gestrüpp knackt und raschelt und jeden Moment erscheinen kann, „Und dann Gnade dir Gott, wenn er kommt, dann hilft nur wegrennen!“ „In die Furchen hat er sich gelegt, dass ich nichts hab anbauen können!“ So oder ähnlich wurde von den Eltern über den Großvater gesprochen.
Dieses Bild ist ziemlich nebulos und stützt sich auf diverse Erzählungen und Geschichten von Begebenheiten, die sich lange vor seiner Geburt zugetragen haben. Vater und Mutter wurden jedoch nicht müde sie ihm immer wieder zu erzählen. Und wenn sie dann von der kleinen Stadtwohnung hinaus auf den Hof des Großvaters fuhren, lebte er in ständiger Furcht, vor dem alten Mann, den er kaum kannte. Auch wenn ihm aufgefallen war, dass die Schilderungen ständig an Farbe zunahmen, je öfter sie erzählt wurden, so war für ihn doch alles wie eine Legende und es war genauso wie im Märchenbuch, der ewige Kampf zwischen Gut und Böse. Die Eltern waren gut, der Opa war böse, so einfach war das. In seinem Kinderhirn machte der alte Mann damals eine ständige Metamorphose durch und war bald Teufel, bald Zauberer, bald Drache.
Dann gibt es noch das zweite Bild. Es zeigt seinen Großvater als gebrechlichen alten, einsamen Mann, der nichts Ungeheuerliches an sich hat. Er erinnert sich an die verwitterten Züge im Gesicht des alten Mannes, an die von Wind und Wetter gegerbte Haut und das schlohweiße Haar, das ihm in wirren Strähnen in die Stirn fiel. Besonders gut ist meinem Freund auch das schlecht sitzende Gebiss, des Opas, das bei jedem zweiten Wort einen Sprung in Richtung Freiheit tat und mit einem energischen Zungenschlag wieder auf seinen Platz verwiesen wurde, im Gedächtnis geblieben.
Und dann gibt es diese eine Begegnung von der er so oft spricht und die der Motor war hinter seinem Entschluss. Und auch mich hat er angesteckt mit seinem feurigen Eifer. Sie war aber auch zu verlockend, die Vorstellung von einem Leben in Freiheit und Unabhängigkeit. Sein eigener Herr sein, sein eigener Chef sein.
Es war an einem sonnigen Herbsttag als er mit den Eltern auf den Hof gekommen war, um Obst zu holen. Die Äste der alten Obstbäume bogen sich unter der Last der reifen Zwetschken, Äpfel und Birnen. Er war in der Nähe des Hauses geblieben, sich der Gefahr wohl bewusst, der er hier ausgesetzt war, denn jeden Moment konnte ja der Großvater erscheinen. Doch das war ja gerade das Interessante, er gefiel sich als Held in seinen Tagträumen. Der Opa war das Ungeheuer, er der flinke kleine Kerl, der mit List und Schlauheit, das Untier besiegte. Er stand also vor der Haustür, die in seiner Phantasie der Eingang zur Unterwelt war und schrie „Komm heraus wenn du dich traust!“ „Ah ja, ich trau mich schon!“ sagte da plötzlich eine Stimme und im nächsten Augenblick stand der Großvater leibhaftig im Türrahmen. Er musterte den kleinen Buben, der wie zur Salzsäule erstarrt stehen geblieben war, mit scharfem Blick. „Komm her zu mir!“ es klang durchaus freundlich. Ängstlich musterte das Kind den Opa von Kopf bis Fuß, sehr gefährlich sah er nicht aus. „Traust dich net?“ brummte der Großvater. „Wer weiß was alles über mich geredet ham!“ und mit einer raschen Bewegung setzte er sich auf die Bank vor dem Haus. Vorsichtig immer noch einen Sicherheitsabstand wahrend, ging das Kind auf den Mann zu. Da streckte dieser die Arme aus und hob den Buben hoch und setzte ihn neben sich auf die Holzbank. Da saß er nun und starrte auf seine dünnen Beine und die Knie die spitz unter der kurzen Hose hervorstanden. Er wagte es nicht hoch zusehen und erst als er eine Tür quietschen hörte, bemerkte er, dass der Großvater scheinbar schon wieder am Rückweg in sein Haus war. „Magst eine?“ wollte er wissen. Die Neugier siegte und er folgte dem Opa in die kleine Küche. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander und wäre die Mutter hier gewesen, hätte es ein großes Theater gegeben, wegen der ganzen Unordnung und all den Bazillen. Der Großvater kramte in den Sachen herum und förderte schließlich einen Brotlaib zu Tage. „Magst eh ein Stück oder?“ Irgendwo fand er auch die Butter und hatte so die Zutaten für ein Butterbrot. „Den Apfel dazu gibt’s draußen!“ lachte er und das Kind lachte auch, weil dem Großvater beim Lachen fast das Gebiss aus dem Mund gesprungen wäre.
Später zeigte der Opa ihm den Stall und damals erwachte sie, seine Liebe zum Landleben.
Damals begann es zu brennen, das Feuer in seinem Herzen, das mein Freund auch in meinem Herzen entzündet hatte.
Er erzählte mir auch von dem dicke Schwein, das der Opa liebevoll Rosa genannt hatte. Katzen waren herum gesprungen und Hasen waren unter einem alten Leiterwagen hervor gehoppelt. Er hatte es schön gefunden bei dem Großvater und er hatte ihn gemocht an diesem Tag im Herbst vor vielen Jahren.
Dann war die Mutter gekommen, sie hatte nach ihm gerufen. Als er zusammen mit dem Großvater aus dem Stall getreten war, hatte sie hysterisch zu schreien begonnen „So ist das also, du verschleppst uns den Buben!“ Der alte Mann war stumm dagestanden mit herunterhängenden Armen. Da war er zu ihm hingelaufen und hatte sich an ihn gepresst, sein Gesicht in dem kratzigen Rock verborgen, damit er die keifende Mutter nicht mehr sehen musste und er hatte die schwielige, raue Hand des Großvaters gepackt und sich daran festgehalten.
Jetzt sitzt er hier, in der kleinen Küche vor dem Computer mit mir, seinem besten Freund. Wir wissen alles voneinander. Der Großvater ist schon lange tot und auch seine Eltern leben nicht mehr.
Zuerst hat er alles verkaufen wollen, aber etwas in ihm hat das nicht zugelassen. Er war überzeugt gewesen, dass er hier leben wollte und er hat auch mich überzeugt.
Und jetzt. Wir sind gescheitert. Wir haben unseren Traum in den Sand gesetzt. Unser ganzes Geld steckt in diesem Projekt, in seinem Projekt.
Auch das geborgte Geld von der Bank ist verplempert. Die Großbauern rund herum haben unsere Bemühungen um einen biologischen Anbau von Beginn an belächelt. Wenn sie mit ihren riesigen Traktoren über die Felder fahren, hinter sich Fontänen von Gift über ihrer Saat verteilend, lachen sie uns nur aus. „ Wie der alte Trottel!“ grinsen sie kopfschüttelnd.
Fruchtwechsel so fanden wir, wäre für vieles die Lösung, wenn das früher geklappt hat, warum dann nicht auch jetzt? Man könnte vielen Schädlingen durch diese einfache Maßnahme ganz giftfrei begegnen. Für den Großvater und seine Generation war das selbstverständlich gewesen, warum also nicht auch für uns?
Im Andenken an seinen Großvater haben wir versucht einen anderen Weg zu gehen. Es muss doch andere Möglichkeit geben, dachten wir. Leider ist alles ganz anders gekommen, es hat nicht sollen sein.
Und jetzt ist alles aus, wir sind am Ende und ich werde es ihm jetzt sagen.
„Ich mache nicht mehr mit, ich habe mich schon viel zu lange da mit hinein ziehen lassen.
Es ist aus, aus und vorbei, wir sind fertig. Finanziell und überhaupt, wahrscheinlich auch miteinander!“ sage ich und ich fühle mich gar nicht gut dabei.
Er starrt mich an, ungläubig, entsetzt. „Das ist jetzt aber nicht dein Ernst?“
„Doch, doch, es ist mein Ernst, es fällt mir nicht leicht, glaub mir. Aber eigentlich ist es ja dein Traum. Es ist dein Großvater, dein Hof und deine Geschichte, was geht mich das alles an?“
Ich gehe zur Tür. Ich weiß wenn ich jetzt dieses Haus verlasse, gibt es keinen Weg zurück.
Ich schaue ihn noch einmal an und Abschied liegt in meinem Blick, wenn ich jetzt seine Gestalt mit meinen Augen vermesse.
Das scharfe Profil, die graugrünen Augen, die mich jetzt so ungläubig anstarren.
Ich fühle mich elend wenn ich jetzt die Türklinke niederdrücke. Mit einem lauten, mir nur allzu vertrautem Knarzen schwingt die alte, verwitterte Holztüre auf.
„Wenn du mich jetzt in diesem Dilemma sitzen lässt, dann mach die Tür schnell hinter dir zu, damit ich nicht auf blöde Gedanken komme!“ höre ich ihn noch sagen.
Dann bin ich draußen.
Es ist Herbst, mich fröstelt. Die Abende sind schon sehr kühl. Schnell gehe ich den Abhang hinunter zu meinem Auto und blicke mich nicht mehr um.
Texte: alle Rechte bei der Autorin Eva Russ
Bildmaterialien: Cover by eva
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2012
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